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Die Haidelerche singt nur Grabeslieder.
S. S. Blicher.
Die Halbinsel Jütland besitzt nicht nur die nämlichen Naturschönheiten, welche Seeland und Fühnen darbieten: herrliche Buchenwaldungen und duftende Kleefelder in der Nähe der salzigen Meeresflut; sie besitzt auch noch außerdem eine wilde öde Natur in den mit Haidekraut bewachsenen Wüsteneien und den sich weithin erstreckenden Sümpfen. Ost und West sind eben so verschieden, wie das grüne saftige Blatt und das weißlichgraue Seegras an dem Meeresufer. Von den Marselisborger Wäldern bis zu den Wäldern südlich vom Koldinger Fjord ist das Land reich und blühend: es ist die dänische Natur in ihrer Größe. Hier erhebt sich der »Himmelberg« mit seiner Wildniß von Gebüsch und Haidekraut, und von ihm aus breitet sich nach Westen hin vor den Blicken die reiche Landschaft mit Wäldern und Binnenseen aus.
Die Westküste dagegen trägt keinen Baum, keinen Strauch, nur weiße Sandbänke stellen sich dem einbrechenden Meere entgegen, das die todte traurige Küste mit Sandflug und scharfen Winden peitscht. Zwischen diesen Gegensätzen, welche die Ost- und die Westküste, gleich Hesperien und Sibirien, darbieten, zieht sich die große mit Haidekraut bewachsene Einöde hin, welche sich vom Lüneburger Sande bis nach Skagen erstreckt. Keine Einfriedigung läßt hier die Grenze der Besitzungen erkennen. In den sich kreuzenden Geleisen muß man die Nebenwege suchen. Verkrüppelte Eichen, mit weißlichgrünem Moos bis zu den äußersten Zweigen bedeckt, kriechen gleichsam über den Erdboden hin, als fürchteten sie sich vor Sturm und Meeresnebel. Wie Nomaden, wenn auch ohne Heerden, wandern hier die sogenannten Taterbanden umher, die ihre besondere Sprache und eigenen Sitten bewahrt haben. Plötzlich zeigt sich mitten in der öden Haide eine Kolonie, ein anderes fremdes Volk, deutsche Auswanderer, die durch Fleiß und Betriebsamkeit der mageren Gegend Fruchtbarkeit abzuzwingen suchen.
Von Veile aus beabsichtigte Otto den Weg über Viborg einzuschlagen, als den geradesten und kürzesten nach dem Gute seines Großvaters, das zwischen Nisumfjord und Lemvig lag.
Wie liebe Freunde der Kindheit begrüßte Otto die ersten Büschel Haidekraut. Hinter ihm lagen nun die schönen Buchenwälder, der Haidestrich begann, aber die Haide war ihm lieb. Gerade diese Natur war es, an welche sich fast alle seine theuren Erinnerungen knüpften.
Mehr und mehr erhob sich das Land; so weit das Auge reichte, reihte sich ein brauner Hügel an den andern. Häuser und Bauerhöfe wurden seltener, die Kirschgärten verwandelten sich in Kohlpflanzungen. Nur an einzelnen Flecken war das Haidekraut von niedrigem Grase verdrängt, welches sich moosartig, oder wie die grünen Wasserlinsen auf den Teichen, ausbreitete. Hier versammelten sich die Vögel zu Hunderten und flatterten zwitschernd empor, wenn der Wagen vorüberfuhr.
»Ihr verstehet das grüne Plätzchen auf der Haide zu finden und euch auf demselben glücklich zu fühlen!« seufzte Otto. »O, könnte ich euch darin ähnlich werden!« In größerer Ferne erhoben sich kahle Hügel, ohne Haidekraut, ohne Ackerland; braun und gelb leuchteten die steilen Abhänge herüber, die von der Ahlhaide überzogen waren. Dicht am Wege hütete ein kleiner Junge und ein niedliches Mädchen ihre Schafe. Der Knabe blies die Rohrflöte, und das Mädchen stimmte einen Choral an. Mit einem schöneren Liede glaubte sie den Reisenden nicht empfangen zu können, um sein Herz zur Mildthätigkeit zu bewegen.
Der Tag war warm und schön, am Abende stellte sich vom Meere der kalte Nebel ein, der jedoch im Innern des Landes an Stärke verliert.
»Ein Kuß zum Willkommen aus der Heimat!« sagte Otto. »Der Todeskuß des Meerweibes, auf Fühnen würde man sagen, des Elfenmädchens!«
Seit einigen Jahren übersiedelt man arme Kinder mit Vorliebe nach der Ahlhaide, um, statt Kopenhagens Gauner, ehrliche jütländische Bauern werden zu können. Einen solchen Burschen hatte Otto zum Kutscher erhalten. Er war völlig zufrieden, und doch wurde Otto durch seine Erzählung verstimmt. Lebenserinnerungen regten sich in seiner Brust. »Danke Gott!« sagte er, indem er dem Burschen ein ansehnliches Geschenk in die Hand drückte, »auf der Haide hast du Haus und Heimat; in Kopenhagen hättest du vielleicht auf der bloßen Erde dein Nachtlager aufschlagen können, und der anbrechende Tag hätte dir Hunger und Kälte gebracht!«
Je weiter Otto nach Westen gelangte, eine desto ernstere Stimmung bemächtigte sich seiner. Es war, als ob sich die öde Natur und der kalte Meeresnebel in seine Seele senkten. Die Bilder von dem fröhlichen Edelhofe auf Fühnen wurden von den Erinnerungen an die Heimat beim Großvater verdrängt. Seine Verstimmung nahm mit jedem Augenblicke zu. Erst, als er sich der Heimat bis auf eine Meile genähert hatte, verschwand seine Schwermuth bei dem Gedanken, daß er nun bald alle seine Lieben überraschen würde.
Er erblickte das rothe Dach des Wohnhauses auf dem Gute, sah die Weidenpflanzungen und hörte das Gebell des Kettenhundes. Auf dem mit Haidekraut bewachsenen Hügel unmittelbar vor dem Thore stand eine Schaar Kinder. Otto vermochte das langsame Fahren in den tiefen Geleisen nicht länger auszuhalten. Er sprang aus dem Wagen und lief mehr als er ging. Die Kinder auf dem Hügel wurden seiner gewahr und blickten alle nach der Richtung hin, aus welcher er kam.
Durch das lange Fahren und dadurch, daß er sich ganz seinen finsteren Gedanken hingegeben hatte, war sein kräftiger Körper völlig erschlafft, nun aber kehrte augenblicklich alle Spannkraft zurück; seine Wangen glühten und hörbar klopfte sein Herz.
Vom Hofe her ertönte Gesang; es war ein Choral. Otto schritt durch das Thor. Auf dem Hofe standen eine Menge Bauern mit entblößten Häuptern; vor der Thür des Wohnhauses hielt ein Wagen; einige Männer waren eben im Begriff, einen schwarzen Sarg auf denselben zu heben. In der Thür aber stand der alte Pfarrer und sprach mit einem andern schwarzgekleideten Manne.
»Herr Jesus! Wer ist denn gestorben?« waren Otto's erste Worte, und sein Antlitz ward todtenbleich.
»Otto!« riefen Alle.
»Otto!« rief auch erstaunt der alte Pfarrer, reichte ihm die Hand und sagte ernst: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt!«
»Laßt mich des Todten Antlitz schauen!« bat Otto. Keine Thräne trat ihm in die Augen, dazu waren Ueberraschung und Schmerz zu groß.
»Soll ich den Sargdeckel noch einmal abnehmen?« fragte der Mann, welcher ihn so eben erst festgeschraubt hatte.
»Laßt ihn in Frieden schlafen!« erwiderte der Pfarrer.
Otto starrte den schwarzen Sarg an, in welchem sein Großvater ruhte. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Otto folgte mit dem Pfarrer hinter demselben, hörte diesen Erde auf den Sargdeckel werfen, hörte Worte, deren Sinn er nicht verstand, sah, wie die letzte Ecke des Sarges seinen Blicken entschwand. Alles erschien ihm wie ein Traum.
Sie kehrten nach dem Pfarrhause zurück; eine blasse Gestalt kam ihnen entgegen. Es war Rosalie, die alte Rosalie.
»Wir haben hienieden keine bleibende Stätte, sondern die zukünftige suchen wir!« sagte der alte Pfarrer. »Stärkt euch durch Speise und Trank! Der Körper vermag nicht wie die Seele zu leiden. Wir haben ihm die letzte Ehre erwiesen, haben ihn bis zu seiner Ruhestätte begleitet; sein Bett war wohl bereitet! Ich habe das Abschiedsgebet gesprochen, er ruht in Gott und wird erwachen zum Schauen seiner Herrlichkeit! Amen!«
»Otto! Du lieber Otto!« rief Rosalie. »So muß mir gerade der bitterste Tag diese Freude bringen! Wie habe ich doch deiner gedacht! Mit wie großem Schmerze hat es mich erfüllt, daß du unter Fremden die erschütternde Todesnachricht erhalten solltest, daß Niemand da wäre, der deinen Gram mitfühlen könnte, daß kein Auge deinen Verlust mit dir beweinen würde! Und nun bist du hier, jetzt, wo ich dich so weit entfernt glaubte! Ein wahres Wunder ist es! Erst heute hättest du den Brief erhalten können, in dem wir dir den Tod des Seligen meldeten!«
»Ich wollte euch überraschen!« entgegnete Otto, »und nun stand mir selbst die traurigste Ueberraschung bevor!«
»Setze dich, mein Kind!« sagte der Pfarrer und führte ihn trotz seines Widerstrebens an den gedeckten Tisch. »Wenn der Baum fällt, der uns Schatten und Frucht gab, von dem wir in unserm eigenen kleinen Garten Setzlinge und Samenkörner ausgepflanzt haben, dann dürfen wir seinem Falle wol wehmüthig zusehen, dürfen den Verlust fühlen, aber trotzdem dürfen wir darüber den eigenen Garten nicht vergessen, dürfen nicht die Pflege dessen vergessen, was wir von dem gesunkenen Baume gewonnen haben, dürfen nicht aufhören, für die Lebenden zu leben! Ich betrauere, wie Ihr, den stolzen Baum, der auch meine Seele und mein Herz erfreute, aber ich weiß, daß er in einen besseren Garten verpflanzt ist, wo sich Christus selbst das Amt des Weingärtners vorbehalten hat.«
Die Einladung des Pfarrers, während seines Besuches in der Heimat bei ihm seinen Aufenthalt zu nehmen, lehnte Otto dankend ab. Schon heute wollte er in seiner eigenen kleinen Kammer im Trauerhause übernachten, und auch Rosalie wünschte wieder in dasselbe zurückzukehren.
»Wir haben viel mit einander zu besprechen,« sagte der Pfarrer und legte seine Hand auf Otto's Schulter. »Im kommenden Sommer werden Sie schwerlich meine Hand noch drücken können, dann wird der Rasen sie wol drücken!«
»Ich werde Sie morgen besuchen!« entgegnete Otto und fuhr mit der alten Rosalie nach Hause zurück.
Obwol Otto es verhindern wollte, küßte ihm, als dem neuen Herrn, das Gesinde Hand und Rock; das alte Mädchen brach darüber in Thränen aus. Otto trat in das Zimmer, in welchem die Leiche gestanden hatte. Mehrere Möbel waren deshalb herausgenommen, und gerade diese Leere wirkte noch ergreifender auf Otto. Die langen weißen Trauergardinen flatterten vor den offenen Fenstern im Winde. Rosalie führte ihn an der Hand in das kleine Schlafzimmer, in welchem der Großvater gestorben war. Hier stand noch alles, wie sonst, die große Bücherspinde mit den Glasthüren, in welchem er seinen geistigen Schatz aufbewahrt hatte. Wieland und Fielding, Millot's Weltgeschichte und van der Hagens Narrenbuch nahmen den Ehrenplatz ein; sie hatten des alten Herrn Lieblingslectüre gebildet. Aber auch die Werke fehlten nicht, denen Otto seine erste geistige Anregung zu verdanken hatte: Albertus Julius, der englische Zuschauer und Ewald's sämmtliche Schriften. An der Wand hingen Pfeifen, Pistolen und ein großer alter Säbel, den der Großvater einst getragen hatte. Auf dem Tische unter dem Spiegel stand ein Stundenglas, welches abgelaufen war. Rosalie zeigte nach dem Bette. »Dort starb er, zwischen sechs und sieben Uhr Abends. Er war nur drei Tage krank. Während der beiden letzten lag er in fortwährenden Fieberphantasien. Er richtete sich in die Höhe und schüttelte die Bettpfosten; zwei starke Männer mußte ich bei ihm wachen lassen. »Zu Pferde! Zu Pferde!« schrie er, »die Kanonen sollen vorrücken!« Nur Krieg und Schlachten erfüllten sein Gehirn. Auch von Ihrem seligen Vater sprach er, aber hart und bitter! Jedes Wort glich einem Messerstiche; auch jetzt noch war er eben so hart gegen ihn wie sein ganzes Leben lang!«
»Und verstanden die Männer seine Rede?« fragte Otto mit gerunzelter Stirn.
»Nein, für den Uneingeweihten waren es unverständliche Worte, und selbst wenn ein Sinn in ihnen gelegen hätte, würden sie doch geglaubt haben, daß nur die Krankheit aus ihm redete. »Da steht die Mutter mit den beiden Kindern! Das eine soll in die Flanken einhauen, soll mir Ehre und Freude bringen! Mutter und Tochter kenne ich nicht!« Das waren die einzigen Aeußerungen, die er über Sie, Ihre Mutter und Schwester that. Am Mittage des dritten Tages ließ das Fieber allmählich nach; der starke, finstere Mann war schwach und sanft wie ein Kind geworden; ich saß an seinem Bette. »Hätte ich doch Otto hier!« sagte er. »Das Fieber hat mich tüchtig geschüttelt, Rosalie, allein jetzt fühle ich mich weit besser. Ich will ein wenig schlafen, das stärkt!« Darauf lächelte er mich freundlich an, schloß die Augen und lag ganz still. Ich sprach ein Gebet und entfernte mich dann, um ihn nicht zu wecken, ganz leise. Bei meiner Rückkunft lag er noch immer unverändert da. Als ich einige Zeit an seinem Bett gesessen hatte, berührte ich seine Hände, welche auf der Decke lagen. Sie waren eiskalt. Da erschrak ich; ich befühlte seine Stirn und sein Gesicht. Er war todt, war gestorben, ohne den geringsten Todeskampf!«
Lange noch sprachen sie von dem Verstorbenen; erst gegen Mitternacht stieg Otto die schmale Treppe nach der kleinen Dachkammer empor, in der er als Kind und Knabe geschlafen hatte. Hier stand noch alles, wie vor einem Jahre, nur in zierlicherer Ordnung. An der Wand hing die Scheibe, deren Centrum er einmal beinahe getroffen hätte. Auf der Kommode lagen die Schlittschuhe neben der mit dem Kopfe nickenden Gipsfigur. Die lange Reise, sowie die erschütternde Ueberraschung bei seiner Ankunft hatten ihn stark angegriffen. Er öffnete das Fenster; dicht vor demselben erhob sich wie eine Mauer ein großer weißer Sandhügel und entzog ihm die Aussicht. Wie oft hatte er nicht in den vom Regen in dem Sande gerissenen Furchen die Umrisse von Städten und Thürmen, ja ganze auf dem Marsche begriffene Armeen zu erkennen geglaubt; jetzt erschien ihm der Hügel nur wie eine Mauer, die an ein Leichentuch erinnerte. Nur ein schmaler Streifen des blauen Himmels war zwischen dem Hause und dem Abhange des Hügels sichtbar. Noch nie hatte Otto gefühlt, noch nie darüber nachgedacht, was es heißt, allein in der Welt dazustehen, Niemanden zu haben, mit dem man sich durch Bande der Blutes vereinigt weiß und auf dessen Liebe man vertrauen darf.
»Einsam, wie in dieser schweigenden Nacht, stehe ich in der Welt. Mitten in dem großen Menschengewühl bin ich doch allein. Nur ein Wesen kann ich mein nennen, nur eines als Bruder an mein Herz drücken, und doch überfällt mich ein Schauder bei dem Gedanken an ein Zusammentreffen mit demselben, doch würde ich es als einen Segen betrachten, könnte ich sagen: sie ist todt! – Vater! Du stürztest ein Wesen und machtest drei unglücklich. Nie habe ich dich geliebt, Bitterkeit erwachte in meiner Brust, als ich dich kennen lernte! Mutter! Deine Züge sind in meiner Erinnerung erloschen, aber dich schätze ich! Du warst ganz Liebe, ihr brachtest du dein Leben, ja mehr als das Leben zum Opfer! Bete für mich bei deinem Gotte! Betet für mich, ihr Todten, falls es eine Unsterblichkeit gibt, falls das Fleisch nicht etwa nur in Gras und Würmern wiedergeboren wird und die Seele sich in den Strömen der Luft verliert. Absichtlich sind wir darüber in Unwissenheit gelassen, ewig sollen wir schlafen! Ewig!« – Otto preßte die Stirn gegen den Fensterrahmen; matt sanken seine Arme herab. »Mutter, arme Mutter! Dir war der Tod Gewinn, wäre er auch nur ein ewiger Schlaf ohne Traum! – Eine kurze Spanne Zeit haben wir nur zu leben, und theilen doch die Lebenstage mit dem Schlafe. Mein Körper sehnt sich nach diesem kurzen Tode! – Ich will schlafen, schlafen, wie alle die Meinigen. Sie erwachen nicht wieder!« Er warf sich auf das Bett; vom Meere her wehte ein kalter Luftzug durch das offene Fenster. Der ermattete Körper siegte und versank in einen todtenähnlichen Schlaf, während die zweifelnde Seele, in ruheloser Thätigkeit, lebhafte Träume gebar.