Hans Christian Andersen
O. Z.
Hans Christian Andersen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

14.

Ein thöricht Wesen dünkt mich der Mensch,
Treibt dahin auf den Wogen der Zeit,
Endlos geschleudert auf und nieder,
Und wie er ein Fleckchen Grün erspäht,
Gebildet von Schlamm und stockendem Moor,
Und der Verwesung grünlichem Moder,
Ruft er: Land! und rudert drauf hin,
Und besteigt's – und sinkt und sinkt –
Und wird nicht mehr gesehn.
Das goldene Fließ von Grillparzer.

Als Otto am folgenden Morgen zu der alten Rosalie hinunterkam, ordnete sie den Kaffeetisch. Stille Ruhe und Gottergebenheit lag auf ihrem sanften Antlitz. Otto war bleich, bleicher als gewöhnlich, aber auch schöner als ihn Rosalie je gesehen hatte. Ein Jahr hatte ihn älter und männlicher gemacht; der feine Flaum auf seinen Wangen kräuselte sich zum Barte; ein Ausdruck männlichen Ernstes lag in dem Auge, in welchem sie beim Abschiede noch den angeborenen melancholischen Blick gesehen hatte. – Mit einem gewissen Wohlgefallen betrachtete sie sein schönes trauriges Gesicht und mit inniger Liebe reichte sie ihm die Hand.

»Komm, Otto, hier steht dein Stuhl und hier deine Tasse! Ich will dein Willkommen trinken. Es schien mir gar lange, daß ich dich nicht sah, und doch dünkt es mich jetzt, wo ich dich wieder habe, nur ein kurzer Zeitraum gewesen zu sein. Wäre nur der Platz dort nicht leer!« Mit diesen Worten zeigte sie auf den gewöhnlichen Platz des Großvaters am Tische.

»Hätte ich ihn nur vorher noch sehen können!« klagte Otto.

»Im Tode nahm sein Antlitz einen völlig sanften Ausdruck an,« fuhr Rosalie fort. »Die Strenge und der Ernst, die um seine Augen zu lagern pflegten, waren geglättet. Ich selbst habe ihn mit ankleiden helfen. Man zog ihm seine Lieblingsuniform an, die er bei allen festlichen Gelegenheiten trug, gürtete ihm den Säbel um und setzte ihm den Staatshut auf den Kopf. Ich wußte, daß dies sein Wunsch gewesen war!« – Still bekreuzigte sie sich.

»Sind sämmtliche Papiere des Großvaters versiegelt?« fragte Otto.

»Die wichtigsten, alle, die für dich das größte Interesse haben werden, sind in den Händen des Pfarrers. Noch im vorigen Jahre überreichte er sie demselben und zwar gleich am Tage nach deiner Abreise. Meines Wissens befindet sich auch der letzte Brief deines Vaters darunter.«

»Mein Vater!« rief Otto und blickte zur Erde. »Ja,« fuhr er fort, »nur zu wahr sind die Worte der Schrift, daß die Sünden der Väter an den Kindern heimgesucht werden bis ins dritte und vierte Glied!«

»Otto!« entgegnete Rosalie mit bittendem und doch auch wieder vorwurfsvollem Blicke. »Dein Großvater war ein harter Mann. Du hast ihn gekannt, hast seine finstern Augenblicke gesehen, und doch war er damals schon vor Alter und Kummer weicher geworden. Seine Liebe zu dir besänftigte jedes Aufbrausen. Hätte er deinen Vater so lieb wie dich gehabt, so hätte vielleicht Alles einen bessern Ausgang genommen. Allein wir dürfen nicht richten!«

»Und was habe ich gethan?« fragte Otto. »Du, Rosalie, kennst die Geschichte meines Lebens. Ist es nicht, als ruhte ein Fluch auf mir? Ich war ein wilder Junge, der dir oft Thränen ausgepreßt hat, aber trotzdem hieltest du die Strafe von mir fern. In meinem bösen Blute, in diesem Blute, das seit meiner Geburt in meinen Adern rollt, lag der Fluch, der mich trieb!«

»Allein du wurdest gut und liebreich, wie du es jetzt bist!« versetzte Rosalie.

»Doch erst, als es mir gelang, mich selbst und mein Schicksal kennen zu lernen. In der Wildheit der Jugend, weder mich noch die Welt kennend, ließ ich selbst das Zeichen des Elends, das jetzt auf meiner Seele lastet, in mein Fleisch eingraben. Ja, Rosalie, es gibt für mich kein Vergessen; in voller Klarheit habe ich mir die Erinnerungen aus jener Zeit bewahrt, ehe mich der Großvater zu sich nahm, ehe ich als Knabe hier ins Haus kam. Ich entsinne mich noch deutlich des großen Gebäudes, aus dem ich abgeholt wurde, der vielen Menschen, welche in demselben arbeiteten, sangen und lachten und mir seltsame Geschichten davon erzählten, wie schlecht man in der schönen Welt behandelt würde. Als ich anfing über Eltern und das Verhältniß der Kinder zu denselben nachzudenken, glaubte ich, es wäre das Haus meiner Eltern. Nach meinen Gedanken war es eine große Fabrik, die sie besaßen; gab es darin doch so viele Arbeitsleute, die sich alle mit mir herumtummelten. Ich war wild und ausgelassen, und obgleich ich nur ein sechsjähriger Bursche war, besaß ich eine Ausdauer und einen Willen, als zählte ich schon zehn Jahre. Rosalie! Du hast noch viele Beweise dieses Bösen in meinem Blute gesehen; es artete fast in Trotz aus. Deutlich entsann ich mich noch des starken lustigen Heinrichs, der am Weberstuhle beständig sang. Er zeigte mir und den Uebrigen seine tätowirte Brust, auf der seine ganze Leidensgeschichte eingegraben war; auf dem Arme stand sein und seiner Geliebten Namen. Ich hatte meine Freude daran und wünschte meinen Namen ebenfalls auf meinem Arme zu haben. »Es thut weh,« sagte er, »und dann schreist du, Junge!« Das war für mich erst recht ein Ansporn, meinen Willen durchzusetzen. Ich ließ ihn mit einer Nadel ein O und ein Z in meine Schulter stechen und weinte dabei nicht, weinte nicht einmal, als das Pulver die Schriftzüge einbrannte. Dafür wurde ich aber auch höchlichst gelobt und war stolz darauf, diesen Namenszug zu tragen, stolz, bis ich hier vor drei Jahren mit Heinrich wieder zusammentraf. Ich erkannte ihn sofort, aber er mich nicht; um seine Erinnerung wach zu rufen, zeigte ich ihm meine Schulter und bat ihn den Namen, bat ihn, dieses O und Z zu lesen. Er aber rief nicht Otto Zostrup, sondern nannte einen Namen, der das Glück meiner Kindheit tödtete und mich für immer unglücklich machte!«

»Es war ein entsetzlicher Tag!« sagte Rosalie. »Du kamst zu mir und verlangtest eine Erklärung. Der Großvater gab sie dir, und nun warst du nicht länger derselbe Otto, der du früher gewesen. Aber weshalb davon noch reden? Du bist gut und klug, edel und unschuldig! Sammle nicht Kummer in deinem Herzen aus einer längst vergangenen, vergessenen Zeit, die es auch für dich sein muß.«

»Aber Heinrich lebt noch!« entgegnete Otto; »ich habe ihn getroffen, mit ihm gesprochen; mir war, als ob mich alle Besinnung verließe.«

»Wo und wann?« fragte Rosalie.

Da erzählte Otto von seiner Wanderung mit Wilhelm im Thiergarten, erzählte von ihrem Besuche des Taschenspielers, in welchem er Heinrich wiedererkannte. »Gewaltsam riß ich mich von meinen Freunden los und wanderte allein die ganze Nacht im Walde umher. O, Rosalie, ich dachte an den Tod, dachte an ihn in einer Weise, wie ein Christ es nicht darf. Ein schöner Morgen folgte derselben; ich ging an das Ufer des Meeres hinab, welches ich liebe, dessen Wellen mich so oft getragen haben. – Seitdem jenem Namenszuge auf meiner Schulter eine Deutung gegeben war, die mich an meine unglückliche Geburt erinnerte, hatte ich sie nie vor Jemandem entblößt. O, mit einem Mauersteine habe ich sie blutig gerieben! Die Buchstaben sind verschwunden, und doch glaube ich sie in der tiefen Narbe noch immer zu erkennen. Für mich ist dort immer noch ein Kainszeichen eingebrannt. An jenem Morgen fühlte ich Lust, ein Bad zu nehmen. Die frischen Wellen gossen wieder Leben in meine Seele. Da überraschten mich mit einem Male Wilhelm und mehrere Bekannte. Sie riefen mich, ja, sie nahmen meine Kleider an sich. Mein Blut gerieth in Wallung; mein ganzes Unglück, das mir in dieser Nacht wieder so lebendig vor der Seele gestanden hatte, erfüllte mich von Neuem. Es war mir, als wollten die beiden erloschenen Buchstaben auf meiner Schulter wieder zum Vorschein kommen und das Geheimniß meines Kummers verrathen. Lebensüberdruß bemächtigte sich meiner. Was ich ihnen zurief, weiß ich nicht mehr, aber es war mir, als müßte ich in das Meer hinausschwimmen, um nie zurückzukehren. Ich schwamm, bis es Nacht vor meinen Augen wurde. Wilhelm rettete mich. Nie haben wir seitdem von dieser Stunde geredet. O, Rosalie, lange, lange ist es mir nicht möglich gewesen, mein Herz so ausschütten zu können, wie dir gegenüber in diesem Augenblicke. Der kann nicht als ein Freund gelten, dem man nicht alle seine Gedanken anvertrauen kann! Niemandem habe ich sie enthüllen können, außer dir, die den ganzen Sachverhalt schon kennt. Ich leide wie ein Verbrecher und bin gleichwol unschuldig, wie auch der Häßliche und Verwachsene an seinem Elend unschuldig ist.«

»Zwar besitze ich deine Kenntnisse nicht, Otto!« ergriff Rosalie das Wort und drückte ihm die Hand, »habe mich nie eines so hellen Kopfes rühmen können wie du, aber dafür habe ich, was du dir noch nicht erworben haben kannst: Erfahrung. In Leid wie in Freud' verwandelt die Jugend leicht Spinnegewebe in ein Ankertau. Selbsttäuschung hat das Blut in deinen Adern, den Gedanken in deiner Seele umgewandelt; klammre dich aber nicht unaufhörlich an diesen schwarzen Punkt! Das wirst du auch nicht! Er wird dich vielmehr zur Thätigkeit antreiben, wird deine Seele erheben, anstatt sie niederzudrücken! Nun hat dich auch noch die traurige Ueberraschung durch den Tod des Großvaters, den du gesund und munter anzutreffen hofftest, tief gebeugt und deine Gedanken noch mehr umwölkt. Aber es warten deiner noch bessere Tage, glückliche Tage! Du bist jung, und Jugend macht Leib und Seele gesund!«

Sie führte Otto in den Garten, dessen Weidenpflanzung die anderen Bäume gegen den scharfen Westwind schützte. Die Stachelbeersträucher waren mit Früchten bedeckt, die indeß noch nicht die völlige Reife erlangt hatten. Einen Strauch hatte Otto als Setzling gepflanzt. Nun war er groß. Rosalie hatte seine Zweige, damit er den Sonnenstrahlen recht ausgesetzt wäre, an ein Spalier gebunden. Otto dachte nicht an die gute Absicht, sondern nur an die Fesseln. »Laß ihn frei wachsen,« sagte er, »er wird sonst nur verletzt werden, wenn einmal das morsche Staket zusammenbricht!« Und mit diesen Worten schnitt er die Bänder durch.

»Du bist doch immer noch der alte Otto!« sagte Rosalie. Darauf suchten sie ihre kleine Wohnstube auf, dessen einziger Schmuck in einem auf dem Tische stehenden Crucifix und aus einem Glase mit Blumen vor demselben bestand. Ueber dem Kreuze hing ein Kranz von verwelktem Haidekraut. »Den gabst du mir vor zwei Jahren, Otto!« sagte Rosalie. »Da es damals keine Blumen noch irgend etwas Grünes außer dem Haidekraut mehr gab, flochtest du mir den Kranz davon. Später habe ich ihn nicht von dem Crucifixe wegnehmen wollen.«

Sie wurden durch einen Besuch unterbrochen. Der alte Pfarrer trat ein.


 << zurück weiter >>