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In China – das weißt du doch wohl – ist der Kaiser ein Chinese, und alle, die ihn umgeben, sind auch Chinesen. Es ist nun schon viele Jahr her, daß sich folgendes zugetragen hat, aber gerade deshalb ist es der Mühe wert, die Geschichte zu hören; sonst vergißt man sie. Das Schloß des Kaisers war das prächtigste der Welt. Es bestand ganz und gar aus feinem Porzellan und war außerordentlich kostbar, aber zugleich auch so zerbrechlich, daß man sich recht sehr in acht nehmen mußte, wenn man es anrührte. Im Garten blühten die merkwürdigsten Blumen, und an den allerschönsten waren silberne Glocken befestigt, die immerfort klingelten, damit man ja nicht an den Blumen vorüberging, ohne sie zu betrachten. Ja, im Garten des Kaisers war alles aufs scharfsinnigste ausgeklügelt, und dabei war er so groß, daß selbst der Gärtner dessen Ende nicht kannte. Nachdem man sehr weit darin gegangen war, kam man in einen herrlichen Wald mit hohen Bäumen und tiefen Seen. Der Wald erstreckte sich bis an das tiefe blaue Meer. Hier konnten große Schiffe unter den überhängenden Zweigen dahinsegeln, und hier am Ufer wohnte eine Nachtigall, die so entzückend sang, daß selbst der arme Fischer, wenn er des Nachts sein Netz auswarf, in seiner Arbeit innehielt und der Nachtigall lauschte! »Mein Gott, wie schön das ist!« sagte er; dann aber mußte er wieder seinem Gewerbe nachgehen und dachte nicht mehr an den Vogel. Wenn jedoch die Nachtigall in der nächsten Nacht wieder sang und der Fischer aufs neue in ihre Nähe kam, wiederholte er: »Mein Gott, wie schön ist doch das!«
Von allen Ländern der Welt kamen Reisende nach der Kaiserstadt und bewunderten sie, sowie auch das Schloß und den Garten, aber wenn sie die Nachtigall vernahmen, sagten sie stets: »Das ist doch das allerbeste!«
Nach ihrer Heimkehr erzählten dann die Reisenden, was sie alles gesehen hatten, und die Gelehrten schrieben Bücher über die Stadt, das Schloß und den Garten. Aber auch die Nachtigall wurde nicht vergessen; sie wurde im Gegenteil besonders hoch gepriesen, und diejenigen, welche dichten konnten, machten schöne Gedichte über die »Nachtigall am tiefen blauen Meer.«
Die Bücher wurden dann in der ganzen Welt verbreitet, und einige davon gerieten endlich auch in die Hand des Kaisers. Dieser saß auf seinem goldenen Stuhl, las und las und nickte jeden Augenblick mit dem Kopfe; denn es freute ihn, diese prächtigen Beschreibungen von der Stadt, dem Schlosse und dem Garten kennen zu lernen. »Aber die Nachtigall ist doch das allerbeste!« stand da geschrieben.
»Was soll das heißen?« sagte der Kaiser. »Die Nachtigall? Die kenne ich ja gar nicht. Gibt es denn einen solchen Vogel in meinem Kaiserreiche und überdies in meinem eigenen Garten?
Davon habe ich ja noch nie etwas gehört! Das muß man wahrhaftig erst aus den Büchern erfahren!«
Darauf rief er seinen Kavalier, der so vornehm war, daß er, wenn ein Geringerer es wagte, ihn anzureden oder ihn um etwas zu fragen, nichts als »P« antwortete, und das bedeutet eigentlich gar nichts.
»Hier soll sich ja ein höchst merkwürdiger Vogel, ›Nachtigall‹ genannt, aufhalten!« redete ihn der Kaiser an. »Man sagt, er sei das allerbeste in meinem Königreiche. Weshalb hat man mir nie etwas von ihm gesagt?«
»Ich habe seinen Namen noch nie gehört«, sagte der Kavalier. »Er ist nicht bei Hofe vorgestellt worden.«
»Ich will, daß er heute abend hierherkommt und vor mir singt!« fuhr der Kaiser fort. »Die ganze Welt weiß, was ich besitze, nur ich weiß es nicht.«
»Ich habe seinen Namen noch nie gehört!« entgegnete der Kavalier. »Aber ich will ihn suchen und ich werde ihn finden.«
Allein, wo war er zu finden? Der Kavalier lief treppauf und treppab, durch Säle und Gänge, doch keiner von all denen, die er traf, hatte je von einer Nachtigall reden hören. Da lief der Kavalier wieder zum Kaiser zurück und sagte, die Geschichte von der Nachtigall sei gewiß nur eine Erfindung derjenigen, welche die Bücher geschrieben hätten. »Eure Majestät können sich gar nicht vorstellen, was alles geschrieben wird. Das sind Erdichtungen, die zur sogenannten schwarzen Kunst gehören.«
»Allein das Buch, worin ich es gelesen habe«, erwiderte der Kaiser, »ist mir von dem großmächtigen Kaiser zugeschickt worden; folglich kann es keine Unwahrheit sein. Ich will die Nachtigall hören! Sie muß heute abend hier sein! Sie steht in allerhöchster Gnade bei mir! Und wenn sie nicht kommt, lasse ich dem ganzen Hof, nachdem er zu Abend gegessen hat, auf den Bauch treten.«
»Tsing – Pe!« sagte der Kavalier und lief eilig wieder treppauf und treppab durch alle Gänge und Säle. Der halbe Hof folgte; denn sie wollten sich nicht gerne auf den Bauch treten lassen. Das war ein Fragen nach der merkwürdigen Nachtigall, die alle Welt kannte, nur allein der Hof nicht.
Schließlich trafen sie in der Küche ein armes kleines Dienstmädchen, und dieses antwortete auf ihre Frage nach der Nachtigall: »Die Nachtigall! Ja, die kenne ich recht wohl. O, wie die singen kann! Jeden Abend darf ich meiner armen, kranken Mutter etwas von den Speiseresten bringen. Meine Mutter wohnt drunten am Strande, und wenn ich dann ins Schloß zurückkehre und unterwegs im Wald ein wenig ausruhe, dann höre ich die Nachtigall schlagen. O, da treten mir oft Tränen in die Augen, und es ist mir gerade, als ob mich meine Mutter küßte.«
»Liebes Küchenmädchen!« sagte der Kavalier, »ich will dir eine feste Anstellung in der Küche verschaffen, sowie die Erlaubnis, den Kaiser speisen sehen zu dürfen, wenn du uns zu der Nachtigall führen kannst, denn sie muß heute abend bei Hofe erscheinen und singen.«
Darauf gingen sie alle zusammen nach dem Walde hinaus, wo die Nachtigall zu singen pflegte; ja der halbe Hof ging mit. Als sie nun eine Strecke weit gegangen waren, begann eine Kuh zu brüllen.
»Aha!« rief ein Hofjunker, »da ist sie! Solch ein kleines Tier hat doch wirklich eine merkwürdige Kraft in seiner Kehle. Ich habe sie sicher früher schon einmal gehört.«
»Nein, das sind Kühe, die brüllen«, sagte das kleine Küchenmädchen, »von der Wohnung der Nachtigall sind wir noch weit entfernt.«
Jetzt quakten die Frösche im Sumpfe.
»Herrlich!« sagte der chinesische Hofprediger. »Nun höre ich sie. Das klingt gerade wie kleine Kirchenglocken.«
»Nein, das sind die Frösche!« entgegnete das kleine Küchenmädchen, »aber nun werden wir sie wohl bald hören.«
Dann begann die Nachtigall zu schlagen.
»Das ist sie!« rief das kleine Mädchen. »Hört, hört! Und dort drüben sitzt sie!« Damit deutete sie auf einen kleinen grauen Vogel droben in den Zweigen.
»Ist es möglich!« sagte der Kavalier, »so hatte ich sie mir nicht vorgestellt! Wie einfach sie aussieht! Sie hat gewiß die Farbe verloren, weil sie so viele vornehme Leute um sich sieht.«
»Liebe Nachtigall!« rief das kleine Küchenmädchen ganz laut, »unser allergnädigster Kaiser wünscht, daß du vor ihm singst!«
»Mit dem größten Vergnügen!« sagte die Nachtigall und begann sogleich zu schlagen, daß es eine wahre Lust war.
»Das klingt gerade wie kristallene Glocken!« sagte der Kavalier. »Seht nur, wie sie ihre kleine Kehle anstrengt! Es ist doch merkwürdig, daß wir sie früher nie gehört haben! Ah, sie wird bei Hofe Glück haben!«
»Soll ich dem Kaiser noch einmal vorsingen?« fragte die Nachtigall, denn sie glaubte, der Kaiser befinde sich unter den Anwesenden.
»Meine vortreffliche, liebe Nachtigall!« begann der Kavalier, »ich habe die große Freude, Sie zu einem heute abend stattfindenden Hoffeste einzuladen, wo Sie Seine Kaiserliche Majestät mit Ihrem reizenden Gesang bezaubern sollen.«
»Es nimmt sich freilich im Grünen am besten aus!« entgegnete die Nachtigall. Aber als sie jedoch hörte, daß es des Kaisers bestimmter Wunsch war, ging sie willig mit.
Im Schlosse war alles festlich geschmückt. Die porzellanenen Wände und Fußböden erglänzten im Scheine vieler tausend Lampen. Die schönsten Blumen, die recht hell läuten konnten, waren in den Gängen aufgestellt. Es war ein solches Hin- und Herlaufen – und der Wind zog von allen Seiten durch die Gänge –, daß alle Glocken zusammenklangen und man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte.
Mitten in dem Saale, wo der Kaiser saß, war für die Nachtigall eine kleine goldene Säule aufgestellt worden. Der ganze Hof war hier versammelt, und das kleine Küchenmädchen hatte die Erlaubnis bekommen, hinter der Türe zu stehen; denn nun hatte sie den Titel einer wirklichen Hofköchin erhalten. Alle Anwesenden waren in Gala, und aller Augen waren auf den kleinen grauen Vogel gerichtet, dem der Kaiser freundlich zunickte.
Und nun sang die Nachtigall so entzückend, daß dem Kaiser die Tränen in die Augen traten, ja, die Tränen liefen ihm über die Wangen herab, und nun sang die Nachtigall noch schöner, daß es jedem tief zu Herzen ging. Der Kaiser war so befriedigt, daß er der Nachtigall eine große Auszeichnung zuteil werden ließ, nämlich die, einen goldenen Pantoffel um den Hals zu tragen. Aber die Nachtigall dankte für diese Ehre und sagte, sie sei schon hinreichend belohnt.
»Ich habe in den Augen des Kaisers Tränen glänzen sehen«, sagte sie, »und das ist mir der reichste Schatz! Die Tränen eines Kaisers haben eine wunderbare Macht! Ja, ich bin reich belohnt.« Darauf sang sie aufs neue mit ihrer süßen, bezaubernden Stimme.
»Das ist die liebenswürdigste Art, sich angenehm zu machen«, sagten die Damen rundherum und dann nahmen sie Wasser in den Mund, um zu schluchzen, wenn sie sich mit jemand unterhielten. Auf diese Weise, meinten sie, auch Nachtigallen zu sein. Ja, selbst die Diener und die Kammerzofen ließen ihre Befriedigung ausdrücken, und das will viel sagen, denn gerade ihnen kann man es am allerschwersten recht machen. Die Nachtigall hatte wirklich großen Erfolg gehabt!
Sie mußte nun am Hofe bleiben und bekam ihren eigenen Käfig sowie die Erlaubnis, sich des Tages zweimal und des Nachts einmal im Freien ergehen zu dürfen. Dabei wurde sie stets von zwölf Dienern begleitet, die sie alle an einem um ihr Bein geschlungenes seidenes Band festhielten. Diese Spaziergänge waren kein Vergnügen für die Nachtigall.
In der ganzen Stadt sprach man von dem merkwürdigen Vogel, und wenn sich zwei Fremde auf der Straße trafen, so sagte der eine: »Nacht –!« und der andere »gall!« und dann seufzten sie und verstanden recht gut, was diese Silben bedeuteten. Ja, elf Krämerkinder wurden sogar nach ihr benannt, aber keines von allen hatte nur eine Spur von einer Singstimme.
Eines Tages wurde dem Kaiser ein großes Paket überreicht, darauf stand geschrieben: »Nachtigall.«
»Das ist wohl ein neues Buch über unsern berühmten Vogel!« sagte der Kaiser. Aber es war kein Buch, sondern ein kleines Kunstwerk lag in der Schachtel, eine künstliche Nachtigall, die der lebendigen gleichen sollte, aber reich mit Diamanten, Rubinen und Saphiren besetzt war. Sobald man den künstlichen Vogel aufzog, sang er eins der Stücke, die die wirkliche Nachtigall vortrug, und dabei bewegte er den Schwanz auf und nieder und glänzte von Silber und Gold. Um den Hals trug er ein Bändchen, worauf geschrieben stand: »Die Nachtigall des Kaisers von Japan ist arm im Vergleich zu der des Kaisers von China.«
»Das ist herrlich!« riefen alle zusammen. Und der Überbringer des künstlichen Vogels erhielt sogleich den Titel: »Kaiserlicher Oberhofnachtigallenüberbringer.«
»Nun müssen sie zusammen singen. Das wird ein reizendes Duett werden!«
Darauf mußten die beiden Nachtigallen also zusammen singen, aber es wollte nicht recht gehen, denn die wirkliche Nachtigall sang nach ihrer Weise, und der Kunstvogel ging nach der aufgezogenen Walze. »Mein Vogel ist nicht schuld daran«, sagte der Musikmeister, »er ist sogar besonders taktfest und ganz nach meiner Schule!« Nun mußte der künstliche Vogel allein singen. – Er hatte ebenso großen Erfolg wie der wirkliche, und dann war er ja auch viel hübscher; er funkelte wie lauter Armbänder und Brustnadeln.
Dreiunddreißigmal sang er ein und dasselbe Lied hintereinander, und selbst dann war er noch nicht müde. Die Hofleute hätten es auch gerne noch einmal gehört, aber der Kaiser sagte, nun solle auch die lebendige Nachtigall etwas vortragen – – aber wo war sie? Niemand hatte bemerkt, daß sie zum offenen Fenster hinausgeflogen war, fort nach ihren grünen Wäldern.
»Was soll denn das heißen!« rief der Kaiser, und alle Hofleute schalten und sagten, die Nachtigall sei ein höchst undankbares Tier. »Den besseren von beiden haben wir aber doch«, trösteten sie sich dann, und darauf mußte die künstliche Nachtigall von neuem singen. Das war nun das vierunddreißigstemal, daß sie dasselbe Stück zu hören bekamen, aber sie kannten es immer noch nicht vollständig; denn es war außerordentlich schwer. Der Musikmeister lobte auch seinen Vogel über die Maßen, ja er versicherte, er sei sogar besser als die wirkliche Nachtigall, nicht allein in Beziehung auf das Kleid und die vielen herrlichen Edelsteine, sondern auch in Hinsicht auf ihr Inneres.
»Denn, sehen Sie, meine Herrschaften, vor allem Eure Kaiserliche Majestät! bei der wirklichen Nachtigall kann man nie berechnen, was sie nun singen wird, aber bei der künstlichen ist alles genau bestimmt. So ist es und so bleibt es. Man kann Rechenschaft davon ablegen, man kann sie aufmachen und die menschliche Berechnung zeigen; wie die Walzen liegen, wie sie sich drehen und wie sich eins ans andere reiht –!«
»Gerade so habe ich auch gedacht!« riefen alle wie aus einem Munde. Und dann erhielt der Musikmeister die Erlaubnis, die künstliche Nachtigall am nächsten Sonntag dem Hofe zu zeigen. »Meine Untertanen sollen sie auch singen hören!« sagte der Kaiser. Und als sie sie hörten, wurden sie so vergnügt darüber, als ob sie sich am Tee berauscht hätten; denn das ist echt chinesisch. Und alle riefen »O!« und hoben den Zeigefinger auf, indem sie befriedigt dabei nickten. Nur die armen Fischer, die die wirkliche Nachtigall hatten singen hören, meinten: »Es klingt ja ganz hübsch und ist auch dem Gesange der wirklichen Nachtigall ähnlich, aber es fehlt doch etwas, jawohl, ich weiß nur nicht, was.«
Die wirkliche Nachtigall aber wurde aus Land und Reich verwiesen. Der künstliche Vogel hatte seinen Platz auf einem seidenen Kissen dicht neben des Kaisers Bett. Alle Geschenke, die er erhalten hatte, Gold und Edelsteine, lagen um ihn herum, und im Titel war er zum »Hofkaiserlichen Nachttischsänger auf der ersten Rangstufe zur linken Seite« erhoben worden. Die linke Seite hielt nämlich der Kaiser für die vornehmere, weil hier das Herz war, denn auch bei einem Kaiser sitzt das Herz auf der linken Seite. Der Musikmeister aber schrieb fünfundzwanzig Bände über den künstlichen Vogel. Es war ein solch gelehrtes und langes Werk, worin die allerschwersten chinesischen Wörter vorkamen, daß alle Leute behaupteten, sie hätten es gelesen und auch verstanden. Denn im entgegengesetzten Fall hätten sie ja bekannt, daß sie dumm seien, und es wäre ihnen auf den Bauch getreten worden.
So ging es ein ganzes Jahr lang fort. Der Kaiser, der Hof und alle andern Chinesen kannten jeden einzelnen Ton im Gesange der künstlichen Nachtigall auswendig; aber gerade deshalb gefiel er ihnen am allerbesten. Nun konnten sie ja selbst mitsingen, und das taten sie auch. Die Straßenjungen sangen »zizizi! klukklukkluk!« und auch der Kaiser sang mit –! O, es war entzückend!
Eines Abends jedoch, als der künstliche Vogel gerade im besten Singen war, und der Kaiser in seinem Bette lag und zuhörte, machte es plötzlich inwendig im Vogel: »Schwupp!« es zersprang etwas: Schnurr! liefen alle Räder herum, und dann verstummte die Musik.
Der Kaiser sprang sogleich aus seinem Bette und ließ seinen Leibarzt herbeirufen. Aber was konnte der helfen? Hierauf holte man einen Uhrmacher, und nach vielem Hin- und Herreden und Untersuchen gelang es diesem, den Vogel annähernd wieder instand zu setzen. Allein er erklärte zugleich, das Kunstwerk müsse nun aufs äußerste geschont werden. Denn die Zapfen seien schon sehr abgelaufen, und es sei nicht möglich, neue einzusetzen, ohne Gefahr zu laufen, daß das Musikwerk gar nicht mehr richtig gehe. Das war nun eine große Betrübnis. Jetzt wagte man den künstlichen Vogel nur noch einmal im Jahre singen zu lassen, und schon das war fast zu viel. Aber dann hielt der Musikmeister eine kleine Rede und versicherte mit vielen schwierigen Ausdrücken, daß der Vogel trotzdem noch ebensogut sei als vorher, und so war er auch ebensogut als vorher.
So verstrichen fünf Jahre. Da brach über das Land eine wirklich große Betrübnis herein. Die Chinesen liebten ihren Kaiser eigentlich von Herzen; nun war er krank, und zwar, wie man sagte, hoffnungslos. Es war auch schon ein neuer Kaiser im voraus gewählt worden, und das Volk stand vor dem Schlosse auf der Straße und fragte den Kavalier, wie es mit dem Kaiser stehe.
»P!« antwortete er und schüttelte den Kopf.
Kalt und bleich lag der Kaiser in seinem großen, prächtigen Bette. Der ganze Hof hielt ihn schon für tot, und jeder lief hinaus, um dem neuen Kaiser zu huldigen. Auch die Kammerdiener gingen fort, um darüber zu verhandeln, und die Kammerzofen veranstalteten eine große Kaffeegesellschaft. Überall in den Sälen und Gängen waren Teppiche gelegt, damit man keinen Tritt hören solle, und deshalb war es überall still, totenstill. Aber der Kaiser war noch nicht tot; steif und bleich lag er in dem prächtigen Bette mit den langen Samtvorhängen und den schweren goldenen Quasten. Ganz oben an der Wand stand ein Fenster offen, und der Mond schien herein und beleuchtete den Kaiser und den künstlichen Vogel.
Der arme Kaiser konnte kaum mehr atmen. Es war ihm gerade, als ob ihm jemand die Brust zusammenschnüre. Er schlug die Augen auf, und da sah er, daß es der Tod war, der auf seiner Brust saß. Er hatte sich des Kaisers goldene Krone aufgesetzt; in der einen Hand hielt er dessen goldenes Schwert und in der andern dessen prächtige Fahne, und ringsum, aus allen Falten der schweren Samtvorhänge schauten seltsame Köpfe hervor. Die einen waren sehr häßlich, die andern aber so friedenbringend und mild: das waren die bösen und guten Taten des Kaisers, die ihn nun, da ihm der Tod auf dem Herzen saß, anblickten.
»Erinnerst du dich daran?« flüsterte eine nach der andern. »Erinnerst du dich auch daran?« Und dabei flüsterte sie ihm so vielerlei zu, daß ihm der kalte Schweiß ausbrach.
»Das habe ich nicht gewußt!« seufzte der Kaiser. »Musik, Musik! Die große chinesische Trommel soll spielen«, rief er, »damit ich nicht alles höre, was sie sagen!«
Aber die Köpfe erzählten immer weiter, und der Tod nickte wie ein Chinese zu allem, was sie sagten.
»Musik, Musik!« schrie der Kaiser. »Du kleiner, köstlicher Goldvogel singe doch, singe! Ich habe dir Gold und Kostbarkeiten gegeben, ich habe dir sogar meinen goldenen Pantoffel um den Hals gehängt, ach, singe doch, singe!«
Aber der Vogel schwieg; es war niemand da, um ihn aufzuziehen, und sonst konnte er ja nicht singen. Aber der Tod sah den Kaiser mit seinen großen, leeren Augenhöhlen immerfort an, und es war so still, so fürchterlich still ringsum.
Da erklang plötzlich dicht neben dem Fenster ein herrlicher Gesang. Er rührte von der kleinen, lebendigen Nachtigall her, die von ihres Kaisers Krankheit gehört hatte und nun kam, um ihm Trost und Hoffnung zuzusingen. Und während sie sang, erbleichten die Schreckgestalten mehr und mehr; das Blut pulsierte wieder rascher in dem schwachen Körper des Kaisers, und selbst der Tod lauschte und sagte: »Fahre fort, liebe Nachtigall, fahre fort!«
»Ja, wenn du mir den prächtigen goldenen Säbel gibst! Ja, wenn du mir die reiche Fahne und des Kaisers Krone gibst!«
Und der Tod gab jedes der Kleinodien für einen Gesang hin, und die Nachtigall sang und sang. Sie sang von dem stillen Friedhof, wo die weißen Rosen wachsen, wo der Holunder duftet und wo das frische Gras von den Tränen der Hinterbliebenen benetzt wird. Da bekam der Tod Sehnsucht nach seinem Garten und schwebte wie ein kalter, weißer Nebel zum Fenster hinaus.
»Hab Dank, hab Dank! Du himmlischer kleiner Vogel!« sagte der Kaiser. »Ich kenne dich wohl. Dich habe ich aus meinem Reich und Land verbannt, und doch hast du nun mit deinem Gesang die bösen Geister von meinem Bette und den Tod von meinem Herzen vertrieben! Wie soll ich es dir lohnen?«
»Du hast mich schon belohnt!« antwortete die Nachtigall. »Als ich zum ersten Mal vor dir sang, bist du zu Tränen gerührt worden, und das vergesse ich niemals! Das sind die Edelsteine, die dem Herzen eines Sängers wohltun –; aber nun schlafe und werde frisch und gesund! Ich werde dich in Schlummer singen!«
Darauf sang sie – und der Kaiser fiel in einen süßen Schlaf, ja sanft und wohltuend war sein Schlummer.
Die Sonne schien auf sein Lager, als er neu gestärkt und gesund erwachte. Von den Dienern war noch keiner zurückgekommen; denn sie glaubten alle, der Kaiser sei tot. Aber die Nachtigall saß noch da und sang.
»Du mußt immer bei mir bleiben!« sagte der Kaiser. »Du brauchst nur zu singen, wenn du selbst Lust dazu hast, und den künstlichen Vogel will ich in tausend Stücke zerschlagen.«
»Tue das nicht!« sagte die Nachtigall. »Er hat ja getan, was er konnte! Behalte ihn daher wie bisher. Ich selbst aber kann nicht in einem Schlosse wohnen und leben. Laß mir Freiheit zukommen, wenn ich selbst Lust dazu verspüre. Dann will ich abends dort am Fenster auf dem Zweige sitzen und dir vorsingen, daß du froh, aber zugleich auch nachdenklich gestimmt wirst. Ich will dir dann von den Glücklichen und von denen, die Leid tragen, singen, und zugleich auch von dem Bösen und Guten, das dir von deiner Umgebung verhehlt wird. Der kleine Singvogel fliegt weiter umher, zu dem armen Fischer, zum Dache des Landmanns, zu jedem, der fern von dir und deinem Hofe ist. Ich liebe dein Herz mehr als deine Krone, und doch hat die Krone etwas vom Dufte des Heiligen an sich. – Ja, ich werde kommen und dir vorsingen! – Aber eins mußt du mir versprechen.«
»Alles!« sagte der Kaiser. Er stand da in seinen kaiserlichen Gewändern, die er sich selbst angelegt hatte, und drückte den schweren, goldenen Säbel beteuernd an sein Herz.
»Um eins bitte ich dich! Sage ja niemand, daß du einen kleinen Vogel hast, der dir alles mitteilt; dann wird es noch besser gehen.«
Darauf flog die Nachtigall von dannen.
Die Diener kamen herein, um nach ihrem toten Kaiser zu sehen; – – ja, da standen sie, und der Kaiser sagte: »Guten Morgen!«