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Es war einmal ein Mann, der wußte immer viele neue Märchen; aber dann wußte er auf einmal keine mehr. Er sagte, sie seien ihm ausgegangen. Das Märchen, das sonst immer aus freien Stücken zu ihm gekommen sei, klopfte nun nicht mehr an seine Türe. Aber warum kam es denn nicht mehr? Der Mann hatte allerdings seit Jahr und Tag gar nicht mehr an das Märchen gedacht und nicht erwartet, daß es kommen und anklopfen solle; aber es war auch gewiß nicht dagewesen. Denn draußen gab es Krieg und drinnen gab es Sorge und Not, wie der Krieg sie mit sich zu führen pflegt.
Storch und Schwalbe kehrten von ihrer langen Reise zurück! Sie dachten an keine Gefahr; aber als sie ankamen, waren ihre Nester verbrannt. Die Häuser der Menschen waren auch verbrannt; die Hecken zerstört, ja größtenteils ganz verschwunden. Die Pferde der Feinde sprengten über die alten Gräber hin; es waren harte, trübe Zeiten; aber auch sie nahmen ein Ende.
Und nun hatten sie ein Ende, hieß es. Doch das Märchen klopfte immer noch nicht bei dem Manne an und ließ nichts von sich hören.
»Es ist gewiß wie so viele andere gestorben und verdorben«, sagte der Mann. Nachdem ein ganzes Jahr verflossen war, sehnte er sich innig nach dem Märchen. »Ach, wenn es doch wiederkommen und bei mir anklopfen würde!« Und er erinnerte sich an all die mannigfachen Gestalten, in denen es zu ihm gekommen war: bald jung und schön wie der Frühling, ein liebliches Mädchen mit einem Waldmeisterkranz im Haar und einem Buchenzweige in der Hand, dessen Augen wie tiefe Waldseen beim Sonnenschein leuchteten; bald hatte es seinen Kasten geöffnet und seidene Bänder mit Versen und Inschriften darauf, die alte, liebe Erinnerungen wachriefen, flattern lassen; aber am allerschönsten war es doch gewesen, wenn es als altes Mütterchen mit silberweißem Haar und großen, klugen Augen kam. Dann wußte es so recht schön von den allerältesten Zeiten zu erzählen, wo die Prinzessinnen noch lange nicht auf goldenen Spindeln spannen, sondern wo noch Drachen und Lindwürmer draußen lagen und Wache hielten. Dann erzählte es so lebendig, daß es den Leuten ganz schwarz vor den Augen wurde und sich der Fußboden von Menschenblut dunkelrot zu färben schien. Es war gräßlich mit anzuhören, und es wurde einem angst und bange dabei, und doch war es so wunderschön und behaglich; denn es war ja schon so lange her, daß dies alles geschehen.
»Ach, wenn es doch noch einmal bei mir anklopfen würde!« sagte der Mann und starrte nach der Türe, bis ihm selbst schwarze Punkte vor den Augen tanzten und er schwarze Flecken auf dem Fußboden sah. Er wußte nicht, war es Blut oder war es ein Trauerflor aus vergangenen trüben Tagen.
Und wie er so da saß, kam ihm auf einmal der Gedanke, ob sich das Märchen nicht am Ende versteckt habe, gerade wie jene Prinzessin in dem richtigen Märchen, die sich nur suchen lassen wollte. Ja, wenn er es fand, dann strahlte es gewiß wieder in neuem Glanze und noch schöner als je zuvor!
Wer weiß, vielleicht hat es sich in dem hingeworfenen Strohhalm, der dort am Brunnenrande hängt, versteckt! Vorsichtig! vorsichtig! Vielleicht liegt es in einer getrockneten Blume in einem der großen Bücher auf dem Regal dort drüben!
Der Mann ging hin und öffnete eines der allerneuesten Lehrbücher, aber da war gar keine Blume darin. Es handelte von Holger Danske, dem alten sagenhaften Greise, und da stand geschrieben, daß die ganze Geschichte nur eine Erfindung sei, die ein französischer Mönch geschrieben habe. Das Ganze sei nur ein Roman, der erst später ins Dänische übersetzt und dann gedruckt worden sei. Holger Danske habe also nicht existiert und könne demnach auch nicht wiederkommen, wie man immer gesungen hatte und auch so gerne geglaubt hätte. Es verhalte sich mit Holger Danske genau so wie mit Wilhelm Tell; es sei alles nur Sage, auf die man sich nicht verlassen könne, ja, das stand in dem hochgelehrten Buche.
»Nun, deshalb glaube ich doch, was ich will«, sagte der Mann. »Es wächst kein Wegerich, wo noch kein Fuß hingetreten ist, heißt es im Sprichwort.«
Er klappte das Buch zu, stellte es wieder auf seinen Platz und trat zu den blühenden Blumentöpfen am Fenster. Vielleicht hatte sich das Märchen in die rote Tulpe mit den gelben Rändern versteckt oder in die helle Rose oder in die dunkelrote Kamelie. Der Sonnenschein spielte auf den Blättern, aber es war kein Märchen da.
Die Blumen, die während der traurigen Kriegszeit dagestanden hatten, waren alle viel schöner gewesen, aber sie waren alle abgeschnitten und in Kränze gebunden worden; diese hatte man dann auf die Särge gelegt und die Fahnen darüber gebreitet. Vielleicht war mit den Särgen auch das Märchen begraben worden! Ach nein! denn das hätten die Blumen doch wissen müssen, und die Särge hätten es erfahren, die Erde hätte es erfahren, jedes kleine Hälmchen, das hervorsproßte, würde es erzählt haben. Das Märchen stirbt niemals.
Vielleicht war es auch dagewesen und hatte angeklopft! Aber wer hätte damals Sinn für das Märchen gehabt? Trübe, schwermütig, ja fast zornig sah man den Sonnenschein des Frühlings wieder erwachen, hörte man das Vogelgezwitscher, nahm man das frische Grün wahr. Selbst die alten frischen Volkslieder waren verstummt, und so wurden sie mit so vielem andern, was dem Herzen teuer war, eingesargt.
Da konnte das Märchen wohl angeklopft haben; man hatte es nur nicht gehört und nicht »Herein« gerufen, und so war es wieder fortgegangen.
»Ich will mich aufmachen und es suchen!« sagte der Mann.
»Hinaus aufs Land, hinaus ans Meeresufer!«
Draußen liegt ein alter Herrenhof mit roten Mauern, zackigem Giebel und wehender Fahne auf dem Turm. Die Nachtigall singt zwischen den feingekerbten Buchenblättern, während sie die blühenden Apfelbäume betrachtet, und meint, es seien lauter Rosen auf den Zweigen. Hier sind die Bienen beim goldenen Sommersonnenschein fleißig und umschwärmen ihre Königin.
Der Herbststurm weiß von der wilden Jagd, von den Wäldern und von den Menschengeschlechtern, die alle vergehen müssen, zu erzählen. Zur Weihnachtszeit dringt der Gesang der wilden Schwäne vom Wasser herüber, während man sich in dem alten Hause am Kaminfeuer dazu aufgelegt fühlt, alten Liedern und Sagen zu lauschen.
In dem ältesten Teile des Gartens, dort wo eine große Kastanienallee den Spaziergänger mit ihrem Halbdunkel einladet, wanderte der Mann, der das Märchen suchte, auf und ab. Hier hatte ihm früher einmal der Wind die Geschichte von »Waldemar Daae und seinen Töchtern« zugeflüstert. Die Dryade des Baumes, die die Märchenmutter selbst war, hatte ihm hier den »letzten Traum des alten Eichbaums« erzählt. Zu Zeiten der Großmutter standen hier beschnittene Hecken, jetzt aber wucherten nur Farnkräuter und Nesseln zwischen den umgestürzten Trümmern alter Steinfiguren. Moos wuchs in deren Augen, aber sie konnten trotzdem noch ebenso gut sehen wie vorher. Nur allein der Mann, der dem Märchen nachjagte, sah nicht mehr so gut wie früher; er konnte das Märchen nicht finden. Wo war es nur geblieben? Über die alten Bäume flogen die Krähen in Scharen dahin und schrien: »Fort von hier! Fort von hier!«
Da ging er aus dem Garten über den Wallgraben in das Erlengehölz; dort stand ein kleines, sechseckiges Haus mit einem Geflügelhof. Mitten in der Stube saß die alte Frau, die das Federvieh zu besorgen hatte, und sie wußte über jedes Ei, das gelegt wurde, und über jedes Küklein, das aus dem Ei kroch, genau Bescheid. Aber sie war nicht das Märchen, das der Mann suchte; das konnte sie durch ihren Taufschein und ihren Impfschein, die beide in ihrer Truhe lagen, beweisen.
Dicht neben dem Hause liegt ein mit Weißdorn und Goldregen bewachsener Hügel. Hier steht ein alter Grabstein, der vor vielen Jahren vom Kirchhofe einer Landstadt hierhergebracht wurde. Es ist das Denkmal eines biederen Stadtrats, auf dem seine Gattin und seine fünf Töchter mit gefalteten Händen und steifen Halskrausen in Stein gehauen ihn umgaben. Wenn man das Denkmal recht lange betrachtete, schien es, als ob der Stein einem etwas aus alten Zeiten erzählen wollte; wenigstens war es dem Manne, der das Märchen suchte, so gegangen. Als er nun an jenem Tage wieder hierherkam, sah er auf der Stirne des in Stein gehauenen Stadtrats einen lebendigen Schmetterling sitzen; dieser bewegte die Flügel, flatterte eine kurze Strecke fort und setzte sich wieder dicht neben dem Grabstein nieder, wie um zu zeigen, was dort wuchs. Und was war es? Ein vierblätteriges Kleeblatt, nein, sieben vierblätterige Kleeblätter dicht nebeneinander. Kommt das Glück, kommt es haufenweise. »Das Glück ist Goldes wert«, dachte der Mann, »aber es wäre mir doch lieber gewesen, ich hätte ein hübsches neues Märchen gefunden.«
Die Sonne ging wie ein großer roter Feuerball unter, die Wiese dampfte und das Moorweib braute In Dänemark sagt man, wenn die Nebel aufsteigen: »Das Moorweib braut«, wie bei uns: »Die Hasen backen« oder »Der Fuchs braut« oder auch »Die Hasen rauchen«. Der Übersetzer
Es war spät am Abend; der Mann stand allein in seinem Zimmer, schaute hinaus in den Garten und über die Wiese, das Moor und den Strand hin. Hell und klar schien der Mond; ein weißer Dunst lagerte über der Wiese, als sei sie ein großer See. Der Sage nach war auch hier einst ein solcher gewesen, und der Mondschein zeigte nun das Bild der Sage mit seinem zauberischen Schimmer. Da fiel dem Manne wieder ein, was er kürzlich zu Hause in der Stadt gelesen hatte, daß nämlich Wilhelm Tell und Holger Danske gar nicht existiert hätten, aber im Volksglauben blieben sie eben doch, gerade wie der See hier draußen, lebendige Bilder der Sage. Ja, Holger Danske kommt gewiß wieder!
Wie der Mann so sinnend dastand, pochte es laut gegen das Fenster? War es ein Vogel? War es eine Fledermaus oder eine Eule? Ihnen öffnet man nicht, wenn sie auch anklopfen. Aber dann sprang das Fenster von selbst auf und eine alte Frau guckte zu dem Manne herein.
»Womit kann ich Euch dienen?« redete er sie an. »Wer seid Ihr? Ihr seht ja zum zweiten Stockwerk herein, steht Ihr denn auf einer Leiter?«
»Sie haben ein vierblätteriges Kleeblatt in der Tasche«, erwiderte sie, »ja, Sie haben deren sogar sieben, wovon eins ein sechsblätteriges ist.«
»Wer seid Ihr?« fragte der Mann wieder.
»Ich bin das Moorweib«, antwortete sie. »Das Moorweib, das draußen braut. Ich war eben in voller Arbeit; der Zapfen saß schon in der Tonne; aber da riß ihn eins der kleinen Moorkinder im Übermut heraus und schleuderte ihn bis zum Schlosse hinauf, wo er gegen das Fenster flog. Nun läuft das Bier aus der Tonne, und niemand hat einen Prosit davon.«
»Sagt mir doch –«, begann der Mann.
»Warten Sie ein wenig«, sagte darauf das Moorweib, »ich habe im Augenblick etwas anderes zu tun«, und damit war sie verschwunden.
Der Mann war eben im Begriff, das Fenster zu schließen, da stand das Moorweib schon wieder da.
»Nun bin ich fertig«, begann sie, »aber nun muß ich morgen noch einmal brauen, wenn das Wetter günstig ist. Was wollten Sie mich denn fragen? Ich kam nur wieder, weil ich immer Wort halte, und weil Sie überdies sieben vierblätterige Kleeblätter, von denen das eine sogar ein sechsblätteriges ist, in der Tasche haben. Das flößt Respekt ein; denn das sind Ordenszeichen, die an der Landstraße wachsen, aber nicht von jedem gefunden werden. Was haben Sie denn zu fragen? Stehen Sie doch nicht so einfältig da; ich muß gleich wieder zu meinem Zapfen und meiner Tante zurück.«
Nun erkundigte sich der Mann nach dem Märchen und fragte, ob das Moorweib es nicht auf seinem Wege gesehen habe.
»Ei du meine Güte!« rief das Moorweib. »Haben Sie denn noch nicht genug Märchen? Ich sollte wahrhaftig meinen, die meisten hätten nachgerade genug davon. Jetzt gibt es anderes zu tun und auf anderes aufzupassen, selbst die Kinder machen sich nicht mehr soviel daraus. Geben Sie dem Jüngelchen eine Zigarre und dem kleinen Mädchen ein neues Kleid, das ist ihnen lieber. Märchen erzählen! nein, da gibt es wahrhaftig Besseres zu tun und wichtigere Dinge zu verrichten!«
»Was wollt Ihr damit sagen?« fragte der Mann. »Was wißt Ihr überhaupt von der Welt? Ihr seht ja nur Frösche und Irrwische.«
»Hüten Sie sich ja vor den Irrwischen!« erwiderte das Weib. »Sie sind draußen, sie sind losgelassen. Ja, von ihnen müssen wir reden. Begleiten Sie mich aufs Moor hinaus, dort ist meine Gegenwart jetzt notwendig, aber dort will ich Ihnen alles mitteilen. Schnell, kommen Sie, solange Ihre sieben vierblätterigen Kleeblätter mit dem einen sechsblätterigen darunter noch frisch sind und der Mond noch scheint.«
Fort war das Moorweib.
Es schlug Mitternacht auf dem alten Turme, und ehe eine weitere Viertelstunde vergangen, war der Mann schon außerhalb des Gartens und stand nun auf der Wiese. Der Nebel hatte sich gelegt; das Moorweib hatte zu brauen aufgehört.
»Das dauerte lange, bis Sie kamen«, sagte das Moorweib. »Ja, das Hexengesindel kommt schneller vorwärts als die Menschen, und ich bin froh, daß ich zum Hexengesindel gehöre.«
»Was habt Ihr mir nun zu sagen?« fragte der Mann. »Handelt es sich um das Märchen?«
»Denken Sie denn sonst an gar nichts weiter? Müssen Sie immer wieder darnach fragen?« erwiderte das Weib.
»Wolltet Ihr mir denn vielleicht etwas über die Zukunftspoesie mitteilen?« fuhr der Mann fort.
»Werden Sie nur nicht hochtrabend!« entgegnete das Moorweib, »dann werde ich Ihnen antworten. Sie haben nur für die Dichterei Sinn und fragen nach dem Märchen, als ob es ein ›Mädchen für alles‹ sei. Sie ist allerdings die Älteste zu Hause, gilt aber immer für die Jüngste. Ich kenne sie wohl, denn ich bin auch einmal jung gewesen, und das ist keine Kinderkrankheit. Jawohl, ich war einmal ein ganz niedliches Elfenmädchen und habe mit den andern im Mondscheine getanzt, habe der Nachtigall gelauscht, bin in den Wald gegangen und bin dort auch dem Märchenfräulein begegnet, das sich immer draußen herumtrieb. Bald schlug es sein Nachtlager in einer halb aufgebrochenen Tulpe oder in einer Wiesenblume auf, bald schlüpfte es in die Kirche und hüllte sich in den Trauerflor, der von den Altarleuchtern herunterhing.«
»Ihr wißt ja vortrefflich Bescheid!« rief der Mann.
»Ja, ich sollte doch meinen, daß ich zum mindesten ebensoviel weiß als Sie«, erwiderte das Moorweib. »Märchen und Poesie, das sind zwei Ellen von ein und demselben Stücke, und man kann sie verwenden, wie man will. Aber deren Werke kann man leicht nachmachen und sie dann besser und billiger haben. Ich gebe sie Ihnen sogar ganz umsonst, wenn es Sie darnach gelüstet, denn ich habe einen ganzen Schrank voll Poesie auf Flaschen. Es ist die Essenz, das Allerfeinste davon, sowohl die süße als die bittere Würze. Ich habe alles auf Flaschen, was die Menschen nur irgend an Poesie gebrauchen, um sich an den Feiertagen das Taschentuch damit zu besprengen und daran zu riechen.«
»Ihr erzählt ja ganz absonderliche Dinge«, versetzte der Mann, »habt Ihr wirklich Poesie auf Flaschen?«
»Mehr als Sie vertragen können«, antwortete das Weib. »Kennen Sie vielleicht die Geschichte von dem ›Mädchen, das auf Brot trat, um sich ihre neuen Schuhe nicht zu beschmutzen‹? Sie ist sowohl geschrieben als auch gedruckt zu haben.«
»Diese Geschichte habe ich ja selbst erzählt!« erwiderte der Mann.
»Ja, dann kennen Sie sie freilich«, fuhr das Weib fort, »und wissen auch, daß das Mädchen in die Erde bis zum Moorweib hinabsank, gerade in dem Augenblick, als des Teufels Urgroßmutter dieser einen Besuch abstattete, um meine Brauerei zu besehen. Sie sah das herabsinkende Mädchen und erbat es sich als ein Präsent zur Erinnerung an den Besuch. Ich gab es ihr auch und erhielt ein Gegengeschenk, das ich aber bis jetzt noch nie benützt habe, nämlich eine Reiseapotheke, einen ganzen Schrank voll auf Flaschen gezogener Poesie. Die Urgroßmutter gab an, wo der Schrank stehen sollte, und dort steht er noch. Sehen Sie einmal hierher. Sie haben ja Ihre vierblätterigen Kleeblätter, von denen das eine ein sechsblätteriges ist, in der Tasche, also werden sie ihn sicherlich sehen können.«
Und wirklich, mitten im Moor lag etwas, das einem großen Erlenstumpf glich; das war der Schrank der Urgroßmutter. Das Moorweib behauptete nun, dieser Schrank stehe ihm und jedermann sonst, sobald einer nur wisse, wo der Schrank sich befinde, zu allen Zeiten und in jedem Lande der ganzen Welt offen. Der Schrank ließ sich auch von vorne und hinten, auf allen Seiten und an allen Ecken öffnen; er war ein vollkommenes Kunstwerk, obwohl er nur wie ein alter Erlenstumpf aussah. Alle Dichter der Welt, ganz besonders die unseres eigenen Landes, waren hier nachgemacht. Der Geist derselben war studiert, rezensiert, renoviert, konzentriert und auf Flaschen gezogen worden. Mit großem Verständnis, wenn man nicht Genie sagen will, hatte die Urgroßmutter aus der Natur das herausgezogen, was gleichsam nach diesem oder jenem Dichter schmeckte, dann etwas Teufelszeug hinzugesetzt, und nun hatte sie seine Poesie für alle Zeiten auf Flaschen.
»Laßt mich einmal sehen«, sagte der Mann.
»Sehr gern, aber ich habe Ihnen noch viel wichtigere Dinge mitzuteilen«, entgegnete das Moorweib.
»Jetzt sind wir aber gerade beim Schranke«, wandte der Mann ein, während er hinaufschaute. »Hier sind ja Flaschen in allen Größen. Was ist in dieser hier und was in der dort drüben?«
»Hier ist der sogenannte Maienduft«, antwortete das Weib. »Ich habe ihn zwar noch nie versucht, weiß aber, daß sogleich ein schöner Waldsee mit Wasserlilien, Binsen und wilder Krausenmünze entsteht, sobald man nur einen Tropfen davon auf die Erde gießt. Sprengt man aber zwei Tropfen auf ein altes Aufsatzheft, selbst auf das eines Schülers aus der untersten Klasse, dann verwandelt es sich in ein duftiges Schauspiel, das sich sehr gut aufführen läßt und bei dem man leicht einschlafen kann, weil es einen so starken Duft ausströmt. Es soll wahrscheinlich eine Schmeichelei für mich sein, denn die Flasche trägt die Aufschrift: ›Gebräu des Moorweibes‹.
Hier dagegen steht die Skandalflasche. Sie sieht aus, als ob sie nur schmutziges Wasser enthielte, und es ist auch schmutziges Wasser, aber mit Brausepulver aus Stadtklatsch, drei Lot Lügen und zwei Gran Wahrheit versetzt und umgerührt mit einem Birkenzweige, der nicht nur aus einer Zuchtrute, die in Salzwasser gelegen und aus dem blutigen Rücken des Sünders geschnitten wurde oder von der Rute des Schulmeisters stammte, nein – die direkt aus dem Besen genommen wurde, womit man den Rinnstein fegt.«
Hier stand auch die Flasche aller Flaschen; sie nahm den halben Schrank ein, nämlich die Flasche mit den Alltagsgeschichten. Sie war mit Schweinshaut und dann noch mit einer Blase zugebunden; denn sie konnte sehr leicht etwas von ihrer Kraft verlieren. Jedes Volk konnte hier seine eigene Suppe erhalten, die, je nachdem man die Flasche schüttelte, herausfloß. Hier gab es altdeutsche Blutsuppe mit Räuberklößchen, auch dünne »Hausmannssuppe« mit wirklichen Hofräten, die wie Wurzeln darin lagen, und auf der Oberfläche schwammen philosophische Fettaugen. Dann gab es englische »Gouvernantensuppe« und die französische »Potage à la coque«, aus Hahnenknochen und Sperlingseiern hergestellt, auf dänisch »Cancansuppe« genannt, aber am besten von allen schmeckte doch die »Kopenhagener Familiensuppe«, aber natürlich nur für den, der dort wohnt.
Hier stand auch die Tragödie in einer Champagnerflasche; sie konnte knallen, und das soll sie ja auch. Das Lustspiel nahm sich wie feiner Sand aus und war ganz dazu geeignet, den Leuten Sand in die Augen zu streuen, das heißt, das feinere Lustspiel. Das gröbere war auch auf Flaschen gezogen, bestand aber meist aus Zukunftsplakaten, auf denen der Name des Stückes das Beste war. Es waren ausgezeichnete Lustspieltitel darunter, die man aber heutzutage gar nicht mehr kennt.
Bei diesen Erklärungen versank der Mann in tiefe Gedanken. Aber das Moorweib sprach schnell weiter; sie wollte so rasch als möglich mit dem Schranke fertig werden.
»Nun haben Sie sich den Kram wohl lange genug angesehen!« sagte sie. »Jetzt wissen Sie, was darin ist. Aber das Wichtigere, das Sie hören sollten, wissen Sie immer noch nicht. Die Irrwische sind nämlich in der Stadt, und das hat mehr zu bedeuten als Poesie und Märchen. Ich sollte eigentlich nichts davon verlauten lassen, aber es muß eine Art Fügung, ja ein Verhängnis sein, was mich plötzlich überkommt. Es ist mir, als ob mich etwas zwänge, davon zu reden; ich kann es absolut nicht zurückhalten. Die Irrwische sind in der Stadt! Sie sind losgelassen! Nehmt euch wohl in acht, ihr Menschen!«
»Ich verstehe kein Wort davon«, sagte der Mann.
»Seien Sie so gut und setzen Sie sich auf den Schrank«, entgegnete sie. »Aber fallen Sie nicht hinein, sonst schlagen Sie mir die Flaschen entzwei, und Sie wissen doch, was sich in ihnen befindet. Nun will ich Ihnen also die große Begebenheit erzählen; sie hat erst gestern stattgefunden, hat sich aber allerdings auch schon früher zugetragen. Diesmal aber währt sie noch dreihundertvierundsechzig Tage. Sie wissen doch, wie viele Tage das Jahr hat?«
Darauf erzählte das Moorweib:
»Hier draußen im Moore hat sich gestern etwas Großes ereignet: es war nämlich Taufschmaus. Ein kleiner Irrwisch wurde geboren, nein, zwölf Irrwische wurden geboren, und zwar von der Gattung, denen es gegeben ist, sobald sie wollen, als Menschen auftreten und unter diesen herumwandeln und so handeln zu können, als seien sie geborene Menschen. Es war ein großes Ereignis im Moore, und deshalb tanzten alle Irrwischmännchen und Irrwischweibchen als kleine Lichter über das Moor und die Wiesen hin. Es gibt nämlich auch weibliche Irrwische, aber man redet meistens nicht von ihnen. Ich saß hier auf meinem Schrank und hatte die zwölf kleinen neugeborenen Irrwische auf dem Schoße. Sie schimmerten wie Leuchtkäfer, ja sie begannen schon zu hüpfen, und mit jeder Minute nahmen sie an Größe zu, so daß sich schon nach einer Viertelstunde jeder von ihnen mit seinem Vater oder Onkel messen konnte. Nun besteht ein uraltes unumstößliches Gesetz, oder besser gesagt, eine Vergünstigung, daß, sobald der Mond gerade so steht, wie er gestern stand, und der Wind so weht, wie es gestern der Fall war, es allen Irrlichtern, die in dieser Stunde und Minute geboren werden, verliehen und vergönnt ist, Menschen zu werden, und daß dann jeder von ihnen ein ganzes Jahr lang rings umher seine Macht ausüben darf. Der Irrwisch kann im ganzen Lande, ja in der ganzen Welt umherschweifen, wenn er sich nicht etwa davor fürchtet, in die See zu fallen oder bei einem heftigen Sturme ausgeblasen zu werden. Er kann in einen Menschen hineinfahren, aus ihm sprechen und alle Bewegungen machen, die er will. Der Irrwisch kann jedwede weibliche oder männliche Gestalt annehmen und in deren Geiste, aber doch seiner eigenen angeborenen Natur gemäß handeln, so daß er schließlich das ausrichtet, was er bezweckt. Aber innerhalb eines Jahres muß er dreihundertfünfundsechzig Menschen auf Irrwege und Abwege führen, und zwar auf wirkliche Abwege, und sie vom Wahren und Guten ablenken. Wenn ihm das gelingt, erreicht er das Höchste, was einem Irrlicht zu Gebote steht, nämlich die Ehre, Vorläufer vor des Teufels Staatskutsche zu werden, einen brandroten Rock zu tragen und helle Flammen aus dem Halse ausatmen zu dürfen. Darnach kann einem gewöhnlichen Irrwisch vergeblich der Mund wässern. Für einen ehrgeizigen Irrwisch, der einst eine Rolle spielen möchte, ist es aber auch mit großen Gefahren und viel Beschwerden verbunden. Denn, wenn der Mensch entdeckt, wen er eigentlich vor sich hat, und ihn wegbläst, dann muß der Irrwisch wieder in den Sumpf zurück; und falls der Irrwisch, ehe das Jahr um ist, Heimweh nach seiner Familie bekommt und seine Absicht aufgibt, dann muß er ebenfalls fort; er kann nicht länger klar brennen, erlischt nach kurzer Zeit und kann dann nie wieder angezündet werden.
Ist aber das Jahr zu Ende, ohne daß er dreihundertfünfundsechzig Menschen von der Wahrheit und von dem, was gut und schön ist, abgelenkt hat, dann ist er verurteilt, in einem faulen Baumstamm zu liegen und zu leuchten, ohne sich rühren zu können, und das ist die fürchterlichste Strafe für einen ruhelosen Irrwisch. Dies alles wußte ich wohl und sagte es auch den zwölf kleinen Irrwischen, die ich auf dem Schoße hatte, und sie waren vor Freude ganz ausgelassen darüber. Ich sagte ihnen zwar, es wäre das Sicherste und Bequemste für sie, wenn sie auf die Ehre verzichten wollten und nichts unternehmen würden. Aber davon wollten die jungen Flämmchen nichts wissen; im Geiste sahen sie sich schon mit den Flammen aus dem Halse heraus brandrot leuchten.
»Bleibt bei uns!« sagten die alten Irrwische. »Nein, treibt euer Spiel mit den Menschen!« riefen andere dazwischen. »Die Menschen trocknen die Wiesen aus; sie trainieren überall; was soll da aus unseren Nachkommen werden?«
»Wir wollen flammen, hell flammen!« sagten die neugeborenen Irrlichter, und damit war es entschieden.
Gleich darauf wurde ein ganz kurzer Ball gehalten, der währte kaum eine Minute. Die Elfenmädchen drehten sich mit den andern dreimal im Kreise; denn für gewöhnlich tanzten sie immer nur unter sich. Nun wurden Patengeschenke ausgeteilt – »Hüpfsteine werfen« nennt man es – und wie Kieselsteine flogen die Gaben über das Moorwasser hin. Jedes der Elfenmädchen schenkte einen Zipfel seines Schleiers. »Nimm hin!« sagte es zu dem Patchen, »dann kannst du sofort den höheren Tanz und die schwierigsten Schritte und Wendungen, wenn du sie brauchst. Dadurch bekommst du die rechte Haltung und kannst dich in der steifsten Gesellschaft bewegen.« Der Nachtrabe lehrte jeden der jungen Irrwische »Bra! bra! brav!« sagen, und zwar, es auch am rechten Platze zu sagen, und das ist eine große Gabe, die stets belohnt wird. Die Eule und der Storch ließen auch etwas fallen, aber sie meinten, es sei nicht der Mühe wert, davon zu sprechen, und deshalb reden wir auch nicht davon. König Waldemars wilde Jagd stürmte gerade über das Moor hin, und als die Herrschaften von dem Fest hörten, schenkten sie ein Paar von den ausgezeichneten Hunden, die mit Windeseile dahinjagen und einen Irrwisch oder auch drei recht wohl zu tragen vermögen. Auch zwei alte Alpgespenster, Alpdrücken genannt, die sich von der Reitkunst nähren, nahmen an dem Festgelage teil. Sie lehrten die Irrwische sofort die Kunst, durch ein Schlüsselloch zu schlüpfen; wer diese Kunst versteht, für den gibt es keine verschlossenen Türen mehr. Sie erboten sich auch, die jungen Irrlichter nach der Stadt zu führen, wo sie sehr gut bekannt waren. Gewöhnlich ritten sie nur auf ihrem eigenen, langen Nackenhaar, das sie in einen Knoten zusammengebunden hatten, durch die Luft; allein diesmal setzten sie sich auf die Jagdhunde, nahmen die jungen Irrwische, die die Menschen verlocken und verführen sollten, auf den Schoß und – husch! fort waren sie! Gestern nacht hat sich das alles zugetragen, und jetzt sind die Irrlichter in der Stadt und haben ihr Werk schon begonnen, aber wie und auf welche Weise, das möchten Sie natürlich gerne wissen! Ich habe einen Wetterpropheten in meiner großen Zehe, durch den erfahre ich immer etwas; ich weiß es also.«
»Das ist ja ein vollkommenes Märchen!« sagte der Mann.
»Nein, es ist höchstens der Anfang eines solchen«, erwiderte das Weib. »Können Sie mir vielleicht sagen, wo sich die Irrlichter jetzt herumtreiben und wie sie sich benehmen und in welchen Gestalten sie aufgetreten sind, um die Menschen auf Irrwege zu bringen?«
»Ich glaube«, erwiderte der Mann, »es ließe sich ein ganzer Roman über die Irrlichter schreiben, und zwar gleich einer in zwölf Bänden, einen über jedes Irrlicht, oder vielleicht noch besser ein vollständiges Schauspiel.«
»Dann schreiben Sie es doch«, meinte das Weib, »aber nein, lassen Sie es lieber bleiben!«
»Das ist freilich bequemer und angenehmer«, erwiderte der Mann, »dann braucht man sich nicht in den Zeitungen durchhecheln zu lassen, was für unsereinen oft ebenso unangenehm ist, als für einen Irrwisch in einem faulen Baumstamm zu liegen, zu leuchten und sich nicht rühren zu dürfen.«
»Mir ist es einerlei«, sagte das Weib, »aber lassen Sie lieber andere schreiben, diejenigen, welche es verstehen, und diejenigen, welche es nicht verstehen. Ich gebe Ihnen gerne aus einer Tonne einen alten Zapfen, der die Kraft hat, den Schrank mit der Poesie auf Flaschen zu öffnen. Daraus können die Schriftsteller sich dann das nehmen, woran es ihnen gebricht. Aber Sie, mein guter Mann, scheinen mir die Finger nun nachgerade genug mit Tinte beklext zu haben, und Sie müssen nun eigentlich in dem Alter angekommen sein, da man vernünftig zu werden pflegt, so daß es Sie nicht mehr reizen sollte, jedes Jahr auf die Märchenjagd auszugehen. Es gibt jetzt viel Wichtigeres zu tun; Sie haben doch wohl verstanden, was geschehen ist?«
»Jawohl, die Irrlichter sind in der Stadt«, erwiderte der Mann, »ich habe es gehört und auch verstanden. Aber was soll ich denn dabei tun? Ich würde ja mit Grobheiten überhäuft, wenn ich zu den Leuten sagen wollte: Seht einmal, da geht ein Irrwisch in einem ehrbaren Rocke!«
»O, sie gehen auch in Unterröcken!« sagte das Weib, »der Irrwisch kann alle Gestalten annehmen und überall auftreten. Er geht auch in die Kirche, aber nicht um des Herrn willen, sondern er ist vielleicht gerade in den Pfarrer gefahren. Er hält am Wahltage eine Rede, aber nicht um des Volkes und Landes, sondern um seines eigenen Vorteils willen. Er ist auch Künstler, sowohl im Farbentopfe als auch im Theatertopfe; wenn er aber vollständig regiert, dann hat der Topf ein Ende. Doch ich schwatze und schwatze hier und rede alles heraus, was mir auf der Zunge liegt, und zwar zum Nachteil meiner eigenen Familie. Aber ich bin eben dazu bestimmt, die Retterin der Menschen zu werden. Es geschieht wahrhaftig nicht aus Absicht oder um die Rettungsmedaille zu erhalten, ja, es ist das Allertörichste, was ich tun kann; denn ich plaudere es ja einem Dichter aus, und dann wird es bald die ganze Stadt erfahren.«
»Die Stadt nimmt sich das wenig zu Herzen«, entgegnete der Mann; »nicht ein einziger Mensch wird sich darum bekümmern, und wenn ich ihnen im vollsten Ernste zurufe: ›Die Irrlichter sind in der Stadt, sagte das Moorweib, darum nehmt euch in acht!‹, dann werden sie denken, ich erzähle ihnen nur ein Märchen.«