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»Jetzt schlagen Sie sich dieses Comödienspiel aus dem Kopfe!« sagte Herr Gabriel am nächsten Morgen; »wir wollen nun rechtschaffen auf die Wissenschaft losgehen.«
Peter hätte beinahe wie der junge Madsen gedacht: »daß man so seine schöne Jugendzeit verwenden muß, um eingepfercht zu werden und über dem Buche zu sitzen!« Als er aber bei dem Buche saß, leuchtete ihm so viel Neues und Gutes aus demselben in seinen Gedanken ein, daß er ganz davon erfüllt wurde. Er las von den großen Männern der Welt und von ihren Thaten; gar viele von ihnen seien die Kinder armer Leute gewesen: der Held Themistokles sei der Sohn eines Töpfers, Shakespeare ein armer Weberjunge gewesen, der als junger Mensch die Pferde vor dem Theater hielt, bei welchem er später der mächtigste Mann der Dichtkunst für alle Lande und alle Zeiten wurde. Er las von dem Sängerkampf auf der Wartburg, wo die Dichter wetteiferten, die schönste Dichtung darzubringen, einem Kampf gleich den Wettstreiten der alten griechischen Poeten bei den großen Volksfesten. Von diesen erzählte Herr Gabriel mit besonderer Vorliebe. Sophokles habe im hohen Greisenalter eine seiner besten Tragödien geschrieben und vor allen Anderen den Siegespreis gewonnen; vor Freude über diese Ehre, dieses Glück brach sein Herz. Oh, wie herrlich schön, so inmitten seiner Siegesfreude zu sterben! Erfüllt von Gedanken und Träumereien war unser kleiner Freund Peter, allein er hatte Niemand, gegen den er sich aussprechen konnte. Von Madsen und Primus würde er nicht verstanden werden, auch nicht von Madame Gabriel; sie war entweder lauter guter Laune, oder auch lauter trauernde Mutter; als letztere saß sie da, in Thränen aufgelöst; ihre beiden kleinen Mädchen schauten sie verwundert an; diese so wenig wie Peter vermochten es herauszufinden, weshalb sie so sehr betrübt und voll Kummer sei.
»Die armen Kinder!« sagte sie dann; »eine Mutter denkt stets an deren Zukunft. Die Knaben kommen schon durch. Cäsar fällt, aber er erhebt sich wieder! die zwei älteren plätschern immer im Waschfaß, die werden zur Marine gehen können und werden schon gute Partien machen, aber meine kleinen Mädchen! – wie wird ihre Zukunft sich gestalten; sie werden das Alter erreichen, in welchem das Herz empfindsam wird, und dann bin ich überzeugt, daß derjenige, den jede von ihnen lieb hat, ganz und gar nicht nach dem Sinne Gabriel's sein wird, er wird ihnen Einen geben, den sie nicht ausstehen können, und dann werden sie unglücklich! Daran denke ich als Mutter und das ist meine Betrübniß, mein Kummer! Ihr armen Mädchen! Ihr werdet sehr unglücklich werden!« Und Madame Gabriel weinte.
Die kleinen Mädchen schauten sie an, Peter schaute sie an, wehmüthig gestimmt; er wußte nichts zu sagen, und so zog er sich in sein Kämmerchen zurück, setzte sich an das alte Clavier und entlockte demselben Töne, Phantasien, wie sie aus seinem Herzen quollen.
Am frühen Morgen ging er hellen Kopfes an seine Studien und lag seiner Pflicht ob; deshalb wurde ja für ihn bezahlt. Er war ein gewissenhafter, rechtschaffener Mensch; in seinem Tagebuche schrieb er nieder, was er jeden Tag gelesen und gelernt, wie spät in der Nacht er sich ans Clavier gesetzt und gespielt habe, stets leise, gedämpft, um nicht Madame Gabriel zu wecken. Nur Sonntags, als am Ruhetage, stand im Tagebuche: »An Julia gedacht«, »war beim Apotheker,« »ging an der Apotheke vorüber«, »an Mutter und Großmutter einen Brief geschrieben«. Peter war noch Romeo und der gute Sohn.
»Außerordentlich fleißig!« sagte Herr Gabriel. »Nehmen Sie sich ein Beispiel an ihm, junger Madsen, Sie fallen beim Examen durch.«
»Der Schurke!« sprach Madsen in sich hinein.
Primus, der Propstensohn, litt an Schläfrigkeit. »Das ist eine Krankheit,« sagte die Propstin; er durfte nicht strenge behandelt werden.
Die Pfarrwohnung des Propstes lag nur zwei Meilen von dem Städtchen entfernt, und dort war Reichthum und Herrschaftlichkeit.
»Der Mann wird es noch zum Bischof bringen!« sagte Madame Gabriel. »Er hat gute Conjugationen beim Hofe, und die Propstin ist ein hochadeliges Fräulein, sie weiß die ganze Heroldik, das ist die Waffenlehre, auswendig.«
Es war Pfingsten. Ein Jahr war schon verstrichen, seit Peter in Herrn Gabriel's Haus gekommen; Kenntnisse hatte er gewonnen, aber die Singstimme war nicht wieder gekommen; ob sie wohl je wiederkehren würde?
Das Haus Gabriel war beim Propste zu großem Mittag und Ball bis in die Nacht hinein eingeladen. Es kämen dort viel Gäste aus der Stadt und von umliegenden Herrensitzen; die Apothekerfamilie war eingeladen, Romeo sollte seine Julia wiedersehen, vielleicht den ersten Tanz mit ihr tanzen.
Es war ein wohlgehaltener Pfarrhof, weiß berappt und ohne Misthaufen im Hofe, mit grün angestrichenem Taubenschlag, um welchen sich Immergrün rankte. Die Propstin war eine hohe, volle Dame: »glaukopis Athene« nannte Herr Gabriel sie; »die Blauäugige«, nicht »die Kuhäugige«, wie Juno genannt wird, meinte Peter. Es war an ihr etwas vornehm Sanftes, ein Streben, das Kränkliche darzustellen; sie litt gewiß an Schläfrigkeit, wie Primus. Sie war in seidenem Kornblumen-Kleide und trug große Locken; die Locke rechts wurde gehoben durch ein großes Medaillonportrait von ihrer Großmutter, der Frau Generalin, und die zur Linken von einem eben so großen Traubenbüschel von weißer Emaille.
Der Propst hatte ein pauschwangiges, rothbackiges Gesicht mit glänzendweißen Zähnen, dazu angethan, in einen gebratenen Rehrücken tapfer einzubeißen. Seine Conversation bestand stets in Anekdoten; er konnte sich mit jedem Menschen unterhalten, aber Niemand hatte jemals ein Gespräch mit ihm geführt.
Auch der Herr Stadtrath war da, und unter den Gästen von den Herrensitzen bemerkte man Felix, den Sohn des Handelsherrn; er war jetzt confirmirt und ein eleganter junger Herr in Kleidern und Manieren; er sei Millionair, sagte man; Madame Gabriel hatte nicht den Muth, ihn anzusprechen.
Peter war hocherfreut, Felix zu sehen, der ihm sehr freundlich entgegentrat und ihm Grüße von seinen Eltern brachte; sie läsen, sagte er, alle die Briefe, die Peter an Mutter und Großmutter schrieb.
Der Ball begann. Die Tochter des Apothekers sollte den ersten Tanz mit dem Stadtrath tanzen, das Versprechen hatte sie zu Hause ihrer Mutter und dem Stadtrath geben müssen. Der zweite Tanz wurde Peter zugesagt, aber Felix kam heran und bemächtigte sich der Julia ohne weitere Ceremonien als ein freundliches Kopfnicken.
»Sie erlauben, daß ich diesen einen Tanz mit ihr tanze! Das Fräulein willigt indeß nur ein, wenn Sie es erlauben,« sprach er zu Peter.
Peter machte ein höfliches Gesicht, sagte Nichts, und Felix tanzte mit der Tochter des Apothekers, der schönsten Dame auf dem ganzen Ball. Er tanzte auch den nächsten Tanz mit ihr.
»Den ersten Tanz nach Tische vergönnen Sie mir doch wohl?« fragte Peter mit blasser Miene.
»Ja, der Tanz gehört Ihnen!« sagte sie mit reizendem Lächeln.
»Sie wollen mir doch wohl meine Tänzerin nicht entführen?« sagte Felix, welcher in der Nähe stand. »Das nenne ich nicht Freundschaft. Wir beiden alten Freunde aus der Stadt! Sie sagen, Sie freuen sich, mich wiederzusehen! Nun, so vergönnen Sie mir auch die Freude, das Fräulein zu Tische zu führen!« und er umfaßte Peter mit einem Arm und drückte scherzend seine Stirn an die seinige. »Erlaubt! Nicht wahr? Erlaubt!«
»Nein!« sagte Peter und seine Augen leuchteten im Zorn.
Felix sprang scherzweise ein paar Schritte zurück, als fürchte er sich vor ihm; darauf sagte er: »Sie haben vollkommen Recht, junger Herr! Ich würde auch Nein sagen, wenn mir der Tanz versprochen wäre, mein Herr!« – und er zog sich zurück mit einer eleganten Verbeugung vor der jungen Dame. Aber eine Weile darauf, als Peter allein in einem Winkel stand und an seiner Cravatte zupfte, kam Felix auf ihn zu, legte den Arm um seinen Hals und sagte mit einem höchst einschmeichelnden Blick:
»Seien Sie unvergleichlich! Meine Mutter und Ihre Mutter und die alte Großmutter werden Alle sagen, daß es Ihnen ähnlich sieht! Ich verlasse morgen diese Gegend, und ich werde mich zu Tode langweilen, wenn ich die junge Dame nicht zu Tische führen kann. Mein lieber, einziger Freund!«
Da war der Widerstand Peter's gebrochen, als einziger Freund konnte er denselben nicht mehr behaupten; er selbst führte Felix der jungen Schönheit zu.
Als die Gäste den Pfarrhof des Propsten verließen, war es heller Morgen. Das Haus Gabriel befand sich in einem Wagen für sich, und das ganze Haus, außer Peter und der Madame, schlummerte.
Sie sprach von dem jungen Herrn Felix, dem jungen Handelsherrn, dem Sohn des reichen Mannes, der ja Peter's Freund sei, wie sie selbst ihn hatte sagen hören: »Ihre Gesundheit, mein Freund!« »Und Mutter und Großmutter sollen leben!« »Wie negligent, wie galant!« sagte sie, »man sieht sogleich, daß er ein Kind des Reichthums oder ein Grafenkind ist. Das können wir Anderen uns nicht aneignen! Da muß man sich beugen!«
Peter sagte Nichts. Er trug den ganzen Tag schwer an den Ereignissen im Pfarrhofe des Propsten. Als er sich Abends zur Ruhe legte, verjagten sie den Schlaf. Es sprach in seinem Innern: »man beugt sich und fügt sich!« – das hatte er gethan, er war dem Sohn des Reichthums zu Willen gewesen, – »weil man arm geboren ist, abhängig von diesen Reichgeborenen gestellt ist. Sind sie denn besser als wir? Und weshalb wurden sie besser geschaffen als wir?«
Es erhob sich etwas Böses in ihm, Etwas, worüber Großmutter sich betrübt haben würde. Er dachte an sie. Arme Großmutter! Auch du bist so arm gestellt worden. Und das hat Gott thun können! Und er fühlte, wie sein Sinn in Zorn glühte, aber es kam ihm auch zu gleicher Zeit das Gefühl, daß er dadurch in Gedanken und Worten gegen den lieben Gott sündigte. Er trauerte darüber, daß er das kindliche Gemüth verloren hatte, und doch besaß er es gerade jetzt so ganz und reich. Glücklicher Peter!
Eine Woche später kam ein Brief von der Großmutter an. Sie schrieb, wie sie eben schreiben konnte, große und kleine Buchstaben unter einander, die ganze Liebe ihres Herzens im Großen und Kleinen, in Allem, was Peter betraf.
»Mein lieber, süßer Herzensjunge!
Ich denke an dich, ich sehne mich nach dir, und das thut die Mutter auch. Es geht ihr gut, sie wäscht! Und Herr Felix war gestern bei uns mit Gruß von dir. Ihr seid zum Ball beim Propsten gewesen, und du bist so honnet gewesen! Das wirst du immer bleiben und deine alte Großmutter erfreuen und auch deine sehr arbeitsame Mutter; sie meldet dir von Fräulein Frandsen.«
Und nun folgte eine Nachschrift von Peter's Mutter:
»Fräulein Frandsen heirathet, die alte Person! Buchbinder Hof ist auf sein Gesuch Hofbuchbinder mit großem Schild: » Hofbuchbinder Hof« geworden, und sie wird Madame Hof; das ist alte Liebe, die rostet nicht, mein süßer Junge!
Deine Mutter.«
Zweite Nachschrift: Großmutter hat dir sechs Paar wollene Socken gestrickt; die bekommst du mit Gelegenheit; ich habe ein Stück Speckkuchen, dein Leibessen, eingelegt, ich weiß, daß du bei Herrn Gabriel gar keinen Speck kriegst, weil Madame sich fürchtet vor dem, was ich schwer zu buchstabiren habe, vor Truchinen. Du sollst an sie nicht glauben, aber nur essen.
Deine eigene Mutter.«
Peter las den Brief und las sich sein frohes Gemüth wieder an. Felix sei brav, wie habe er ihm doch Unrecht gethan. Sie hatten sich an jenem Abend beim Propsten ohne Abschied getrennt. »Felix ist besser als ich!« sagte Peter.