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V.

Herr Gabriel, der sehr ehrenwerthe Gelehrte, bei welchem Peter in Pension sollte, war selbst auf dem Bahnhofe, um ihn zu empfangen. Herr Gabriel war ein gerippenhagerer Mann, mit großen glänzenden Augen, die so sehr hervorstanden, daß man, wenn er nießte, befürchten müsse, sie flögen ihm aus dem Kopfe heraus. Er war von drei seiner eigenen kleinen Knaben begleitet. Einer derselben fiel über seine eigenen Beine und die beiden anderen traten Peter auf die Füße, um ihn besser und richtig nahe zu sehen zu bekommen; außerdem waren zwei größere Knaben im Gefolge, von welchen der älteste ungefähr vierzehn Jahre alt, mit sehr weißem Teint, vielen Sommersprossen und Blüthen im Gesicht war.

»Der junge Madsen, in drei Jahren Student, wenn er fleißig ist! – Primus, Sohn eines Propstes!« Dieser war der Jüngere, er sah aus wie ein Milchbrod. »Beide Pensionaire, Studirende bei mir!« sagte Herr Gabriel. Seine eigenen Knaben nannte er »Kleinkinderkram«.

»Trine, nimm du den Koffer des Angekommenen auf den Schiebekarren,« sagte er zum Dienstmädchen; »Essen für Sie ist zu Hause aufgehoben,« sagte er zu Peter.

»Gefüllten Puterhahn!« sagten die beiden Herren Pensionaire.

»Gefüllten Puterhahn!« sagte der Kleinkinderkram und der Eine fiel wieder über seine eigenen Beine.

»Cäsar, gieb auf deine Füße Acht!« rief Herr Gabriel, und so schritten sie zur Stadt hinein und zur Stadt wieder hinaus. Da lag ein großes, halbbaufälliges Haus von Fachwerk mit Jasminlaubhütte nach der Straße hinaus; hier stand Madame Gabriel mit mehr »Kleinkinderkram«, zwei Mädchen.

»Der neue Studirende!« sagte Herr Gabriel.

»Herzlich willkommen!« sagte Madame Gabriel, eine jugendliche, behäbige Frau, roth und weiß, mit Spucklocken und mit viel Pomade im Haar. »Gott, wie Sie ausgewachsen sind!« sagte sie zu Peter. »Sie sind ja eine ganz entwickelte Mannsperson! ich glaubte, Sie seien wie Primus oder der junge Madsen. Süßer Gabriel, wie gut, daß die Zwischenthür zugenagelt wurde. Du kennst meine Ansichten!«

»Dummes Zeug!« sagte Herr Gabriel, und Alle traten sie nun ins Haus. In der Wohnstube lag auf dem Tische ein aufgeschlagener Roman und auf demselben ein Butterbrod; man war versucht zu glauben, es sei als Lesezeichen hingelegt, es lag quer über das offene Buch.

»Darf ich nun meiner Pflicht als Hausfrau obliegen?« sagte Madame Gabriel, und mit allen fünf Kindern und den beiden Pensionairen zusammen führte sie Peter durch die Küche, über den Vorsaal und in ein kleines Zimmer, dessen Fenster nach dem Garten gingen; hier sei sein Studir- und Schlafzimmer, es liege neben dem der Madame Gabriel, in welchem sie mit allen fünf Kindern zusammen schlief und zu welchem die Zwischenthüre anstandshalber und des Geredes der Leute wegen, »welches Niemanden schont«, heut, auf ausdrückliches Verlangen der Madame von Herrn Gabriel selbst zugenagelt worden war.

»Hier bei uns werden Sie es haben, wie bei Ihren Eltern! Theater haben wir auch in der Stadt. Der Apotheker ist Director der »Privatgesellschaft«, und dann haben wir auch reisende Schauspieler. Aber jetzt müssen Sie Ihren Puterhahn essen,« und mit diesen Worten führte sie Peter in das Speisezimmer, in welchem Leinen gezogen waren und nasse Wäsche zum Trocknen hing.

»Das thut wohl nichts zur Sache!« sagte sie; »es gehört ja zur Reinlichkeit und daran sind Sie gewiß gewöhnt.«

Und Peter setzte sich zum Puterhahn, während die Kinder des Hauses, nicht die beiden Pensionaire, die sich zurückgezogen hatten, eine dramatische Vorstellung, ihnen selbst und dem Fremden zum Vergnügen, zum Besten gaben.

Es waren kürzlich reisende Schauspieler im Städtchen gewesen, welche Schiller's »Die Räuber« aufgeführt hatten; die beiden ältesten Knaben waren davon ganz erfüllt und spielten sofort zu Hause das ganze Stück, alle Rollen, ungeachtet sie von diesen nur die Worte »Träume kommen aus dem Magen« behalten hatten. Aber diese wurden von ihnen Allen gesprochen, je nach Befinden mit den verschiedensten Betonungen. Da stand Amalia mit zum Himmel emporgehobenen Augen und träumerischem Blick; »Träume kommen aus dem Magen«, sagte sie und barg ihr Gesicht in beide Hände. Carl Moor trat mit Heldenschritten auf und sprach: »Träume kommen aus dem Magen!« und darauf stürzte die ganze Kinderschaar ein, Knaben und Mädchen, Alle waren sie Räuber, und ermordeten einander unter dem Rufe: »Träume kommen aus dem Magen.«

Das seien Schiller's »Die Räuber.« Diese Vorstellung und gefüllten Puterhahn bekam Peter bei seinem Eintritt in das Haus des Herrn Gabriel.

Nun begab er sich nach seiner kleinen Kammer, deren von der Sonne stark versengte Fensterscheiben nach dem Garten gingen. Er setzte sich und blickte in den Garten hinaus; dort schritt Herr Gabriel einher, vertieft im Lesen eines Buches. Er näherte sich dem Fenster, blickte in die Kammer, seine Augen schienen auf Peter gerichtet zu sein, welcher ehrerbietig grüßte. Herr Gabriel öffnete seinen Mund so weit er es vermochte, blöckte die Zunge heraus und bewegte sie nach allen Richtungen grade nach dem Gesicht des wahrhaft erschrockenen Peter, der nicht begreifen konnte, weshalb ihm solche Behandlung widerfahre. Darauf ging Herr Gabriel einige Schritte vom Fenster fort, kehrte aber wieder um und streckte wieder die Zunge vor dem Fenster aus.

Weshalb that er das? Er dachte nicht an Peter, auch nicht daran, daß die Fensterscheiben durchsichtig waren, er sah nur, daß man sich in denselben spiegeln konnte, und wollte deshalb, da er an verdorbenem Magen litt, seine Zunge sehen; aber das wußte Peter nicht.

Frühzeitig Abends zog Herr Gabriel sich auf sein Zimmer zurück und Peter folgte seinem Beispiele. Es war allmälig spät geworden. Er vernahm Zank, weiblichen Zank in Madame Gabriels Schlafstube.

»Ich werde zu Gabriel hinauf gehen und ihm sagen, was für Pack Ihr seid!«

»Wir werden auch zu Gabriel hinaufgehen und ihm sagen, was Sie sind, Madame.«

»Ich bekomme die Krämpfe!« rief Madame Gabriel.

»Oho, die Madame kriegt die Krämpfe, das ist spaßhaft!«

Nun tönte die Stimme der Madame tiefer aber verständlich: »Was wird der junge Mensch drin von unserm Haus denken, wenn er all diese Unanständigkeiten hört!«

Und der Zank verlief sich und hörte auf; aber bald erhob er sich wieder, immer lauter.

»Punktum fynalis!« rief die Madame, »geht und macht Punsch! Lieber Vergleich und Friede, als Zank!«

Und es wurde still; man ging drin mit den Thüren, die Mädchen verließen das Zimmer, und Madame klopfte an die Thüre, die zu Peters Zimmer führte:

»Junger Mann!« sagte sie, »ja, jetzt haben Sie einen Begriff von dem, was eine Hausfrau Alles leiden muß. Danken Sie Gott, daß Sie kein Dienstmädchen haben. Ich liebe den Frieden und deshalb gebe ich Punsch. Ich gönnte Ihnen auch gern ein Glas, man schläft reizend darnach, aber Niemand darf nach zehn Uhr über die Flur gehen, das leidet mein Gabriel nicht. Doch, Punsch sollen Sie trotzdem bekommen! In der Thüre hier ist ein großes zugekittetes Loch, ich stoße den Kitt aus, setze einen Trichter in das Loch, Sie halten Ihr Wasserglas unter, und ich schenke Ihnen Punsch ein. Es geschieht aber ganz im Geheimen, auch geheim vor meinem Gabriel, ihn dürfen Sie mit Haushaltungsangelegenheiten nicht fatiguiren.«

Und nun bekam Peter Punsch, und es herrschte Friede im Zimmer bei Madame Gabriel, Friede und Stille im ganzen Hause. Peter ging zu Bette, dachte an Mutter und Großmutter, sprach sein Abendgebet und schlief ein.

Das, was man die erste Nacht in einem fremden Hause träumt, ist von Bedeutung, hatte Großmutter gesagt. Peter träumte, er nehme das Bernsteinherz, welches er noch immer trug, und lege es in einen Blumentopf, wo es zu einem hohen Baum durch die Zimmerdecke und das Dach hindurchwuchs; derselbe trug Herzen zu tausenden von Silber und Gold; der Blumentopf platzte dabei und es fand sich kein Bernsteinherz mehr vor, es war zu Erde in der Erde geworden – war verschwunden, für immer verschwunden.

Darauf erwachte Peter, das Bernsteinherz hatte er noch und es war warm an seinem eigenen warmen Herz.


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