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I.

»Ihre Tochter wünscht Sie zu sprechen, Mr. Jordan.«

»Später.«

»Sie sagt, es eile sehr.«

»Später.«

Der junge Mann an der Tür verneigte sich knapp und ging.

George Jordan, ein Fünfziger, ungewöhnlich groß und breit, stand vor seinem Schreibtisch und sagte ruhig einen Brief an. Ein Fräulein, jung aber häßlich, schrieb emsig in ihr dickes Heft das Gesicht ausdruckslos wie bei einer Wachspuppe. Zwei ältere Männer mit Mappen unter dem Arm standen erwartungsvoll unweit vom Schreibtisch. Der Fernsprecher klingelte. George Jordan nahm den Hörer ab, hielt die Hand auf die Sprechmuschel und sagte erst den angefangenen Satz für den Brief zu Ende. Dann erst nahm er den Hörer ans Ohr.

»Hier Jordan. Wer? Genderson? Ja, was haben Sie? Wie? Elbing pleite? Wieviel verlieren wir dabei? ... Na, ungefähr, ungefähr! Was? So ... dann sehen Sie mal zu, daß wir die Fabrik übernehmen. Keine Sorge, wir machen die Verluste schon wieder wett. Danke. Keine Zeit. Schluß.«

Er hängte ein.

»Elbing ist fertig, Norfolk«, wandte er sich an einen der wartenden Männer.

»Das hatten Sie längst vorausgesehen«, antwortete er.

»Allerdings, es war zu erwarten. Ja ... Machen Sie mir bis morgen eine genaue Aufstellung unserer Forderungen an ihn. Was haben Sie, Jenkins?«

Die Frage galt dem zweiten Herrn.

»Die Sache mit der englischen Lieferung«, lautete die Antwort. »Da wird einiges beanstandet ...«

»Selbst erledigen!« schnitt Jordan ab.

Jenkins verneigte sich und ging.

»Und Sie, Norfolk?« fragte Jordan.

»Die Zeitungen brachten einige versteckte Angriffe gegen uns«, berichtete Norfolk. »Es ist nichts Gefährliches, aber wir sollten grundsätzlich ...«

»Die Berichterstatter und Schriftleiter kaufen!« bestimmte Jordan. »Werden widerrufen. Machen Sie allein.«

Er wollte sich wieder dem Schreibfräulein zuwenden, aber Norfolk ging nicht.

»Noch etwas?« fragte Jordan stirnrunzelnd.

»Ja, eine Sache, die verschwiegen behandelt werden muß.«

»Warten Sie.«

Jordan sagte wieder einen Satz, den das Fräulein mitschrieb, da klingelte aufs neue der Fernsprecher.

»Hier Jordan. Ja? Mary? Aber ich habe jetzt keine Zeit. Was? Es gibt keine Privatsachen, die wichtiger sind als das Geschäftliche. Nein. Ich sagte: warten. Dabei bleibts.« Er hängte ein. Wieder gab er Briefe an, das Fräulein schrieb, Norfolk mit seinen Mappen wartete. Es war dumpf und vollgeraucht in diesem Raum, denn Jordan rauchte fast ununterbrochen, und so streng er sonst war, gestattete er allen Angestellten das Rauchen, auch hier. Er war der Ansicht, daß ein Raucher bei Rauchverbot schlecht arbeite. »Schluß mit den Briefen«, sagte er nach einer Viertelstunde, und das Fräulein klappte augenblicklich ihr Heft zu, stand auf und ging.

»Was ist, Norfolk?« fragte Jordan, als er mit dem Mann allein geblieben war, und deutete auf den Sessel gegenüber dem Schreibtisch. »Setzen Sie sich!«

»Danke, ich stehe lieber«, antwortete Norfolk, Dann berichtete er hastig: »Es handelt sich um den Fall Dick Perkins ...«

Jordan sah jäh auf.

»Dick Perkins! Natürlich! Konnte ich mir denken!« rief er wütend. »Ich habe die Sache satt! Verdammt noch mal, ich habe wirklich Besseres zu tun, als mich um jeden dummen Arbeiter zu kümmern ...«

Norfolk zog mit verzweifelter Miene die schmächtigen Schultern in die Höhe.

»Mr. Jordan«, sagte er beschwichtigend, »Sie wissen sehr gut, daß ich Sie nicht wegen einer belanglosen Sache mit irgendeinem Arbeiter behelligen würde. Aber diese Sache, so harmlos sie auf den ersten Blick erscheint, kann für uns die unangenehmsten Folgen haben, wenn wir nicht rechtzeitig Maßnahmen ergreifen ...«

»Schon gut. Berichten Sie!« Jordan lehnte sich mit gelangweilter Miene in seinem Sessel zurück, seine Finger trommelten gereizt auf der Schreibtischplatte, die halbaufgerauchte Zigarre wanderte aus einem Mundwinkel in den anderen.

»Dick Perkins war in unserer Abteilung für Anilinfarben beschäftigt. Vor zwei Wochen ist er spurlos verschwunden. Es steht fest, daß er am Morgen des betreffenden Tages unsere Fabrik betreten hat, um zwölf Uhr hat man ihn noch an seiner Maschine gesehen, nach der Mittagspause aber nicht mehr. Es wäre alles in bester Ordnung, wenn wir einen einzigen Menschen hätten, der aussagte, Perkins habe um die Mittagszeit die Fabrikräume verlassen. Einen solchen Zeugen haben wir nicht. Also besteht die Möglichkeit, daß Perkins innerhalb der Fabrikräume verschwunden ist.«

Jordan nahm die erloschene Zigarre in die Finger und sah seinen Direktor durchdringend an.

»Kann er verunglückt sein?«

»Bei uns?«

»Ja, bei uns.«

Norfolk dachte einen Augenblick nach.

»Nein«, sagte er bestimmt. »In seiner Abteilung gewiß nicht. Es müßte sich doch um einen Unglücksfall handeln, bei dem der Mensch sozusagen spurlos vernichtet wird. Sagen wir, ein Mann stürzt durch eigene Unvorsichtigkeit in einen Kessel mit Chemikalien ... Nein, in jener Abteilung gibt es derartige Chemikalien nicht.«

»Ist in der Fabrik genau nachgeforscht worden?«

»Alles genauestens untersucht.«

»Keine Spur?«

»Nein.«

»Dann hat der Mann die Fabrik eben verlassen und ist draußen, irgendwo, irgendwie verschwunden. Geht uns nichts an.«

»Ganz meine Ansicht. Aber ich sagte Ihnen schon, daß die Mutter dieses Arbeiters den Fall angezeigt hat. Bedenklich ist, daß sie behauptet, ihren Sohn um die Mittagszeit vor den Fabriktoren erwartet zu haben. Sie ist also gewissermaßen Zeugin dafür, daß er die Fabrik nicht verlassen hat. Zu dieser Meinung neigt auch der Untersuchungsrichter, der die Sache bearbeitet.«

»Wie heißt dieser Untersuchungsrichter?«

»Hornung.«

»Kenne ich nicht. Hatten noch nie mit ihm zu tun?«

»Bis jetzt nicht, Mr. Jordan.«

Jordan überlegte.

»Ganz gleich!« rief er plötzlich heftig. »Ich hab die Sache wirklich satt. Kaufen Sie den Mann und fertig!«

Norfolk schüttelte den Kopf.

»Er ist leider augenblicklich nicht zu kaufen.«

»Gibts nicht! Hat man mit ihm gesprochen?«

»Ja, ich selbst. Er begriff meine Anspielungen einfach nicht, wollte sie nicht begreifen. Ich vermute, er weiß sehr gut, warum wir eine Untersuchung dieses an sich lächerlichen Falles vermeiden wollen. Im Scherz allerdings erzählte er, daß er sich ein Warenhaus zu kaufen wünsche oder es beabsichtige – ich weiß schon nicht genau – das hunderttausend Dollar koste.«

»Das ist eben sein Preis«, sagte Jordan böse.

»Viel zu hoch. Zahlen wir nicht. Wie ist sein Vorleben?«

»Einwandfrei.«

»Gibts nicht. Jeder Mensch hat was auf dem Kerbholz. Suchen Sie danach, finden Sie es! Dann legen wir ihm die Daumenschrauben an. Hat er Familie?«

»Seine junge Frau soll sehr lebenslustig sein ...«

»Warten Sie!« Jordan hielt den Blick starr auf einen Tintenfleck auf dem Tisch gerichtet und dachte angestrengt nach. »Wir wollen es hier versuchen«, sagte er nach einer Weile entschlossen. »Ich selbst werde es versuchen! Eine lebenslustige junge Frau? Das wird sehr einfach sein. Richten Sie es so ein, daß ich sie noch heute abend kennen lerne.«

»Jawohl, Mr. Jordan«, antwortete Norfolk gehorsam, aber sein Ton drückte Zweifel aus.

»Spätestens um elf«, bestimmte Jordan. »Jetzt ist die Uhr acht.«

»In drei Stunden? Ich wills versuchen.«

»Fertig. Sagen Sie draußen, meine Tochter könne jetzt rein. Wünsche heute nicht mehr gestört zu werden. Sie erreichen mich hier oder zu Hause durch den Fernsprecher.«

»Jawohl.« Norfolk hastete hinaus.

Er hatte die Tür kaum hinter sich geschlossen, als sie sich schon wieder öffnete und ein junges Mädchen eintrat. Mary Jordan mochte nicht mehr als zwanzig Jahre zählen, aber sie sah um fünf Jahre reifer aus. Obwohl nicht gerade hübsch, hatte sie doch etwas an sich, was sie in den Augen der Männer anziehend machte. Im Gegensatz zu ihrem Vater, der in seiner Kleidung die Einfachheit betonte, war sie streng nach der neuesten Mode gekleidet und auch – allerdings unauffällig – geschminkt.

»Papa, ich habe mich verliebt«, sagte sie mit der ihr anerzogenen amerikanischen Kürze ohne jede Einleitung und setzte sich ihm gegenüber.

Er rauchte wieder eine Zigarre und blätterte in Papieren.

»Was für Ausdrücke!« bemerkte er tadelnd. »Das Wörtchen Liebe ist nichts für unsereins. Ein Reicher kann alles haben, nur nicht Liebe.«

»Weiß ich«, versetzte sie kühl. »Dennoch liebe ich ihn.«

»Was ist er?«

»Briefträger.«

Jordan sah kurz auf, und seine buschigen Augenbrauen hoben sich sekundenlang. Dann saß er wieder so ernst und so gleichgültig da wie immer.

»Briefträger sind im allgemeinen sehr billig«, sagte er trocken.

»Meiner nicht. Er will mich heiraten.«

Er klappte den Aktendeckel zu, faltete die großen, kräftigen Hände darüber und sah sie ein wenig neugierig und ein wenig gelangweilt an.

»Mary, du bist erwachsen genug, um selbst zu wissen, was du zu tun hast. Einmal wirst du natürlich heiraten – weiß ich. Ich hin auf einen reichen Schwiegersohn nicht angewiesen. Du kannst heiraten, wen du willst, meinetwegen auch deinen Briefträger. Deine Sache. Nicht ich habe mit ihm auszukommen, sondern du. Was geht also die ganze Sache mich an?«

Sie schüttelte heftig den Kopf.

»Ich will ihn aber gar nicht heiraten! Ich will ihn so haben, als Freund. Das sollst du einrichten. Du kannst alles.«

Er zuckte die Achseln.

»Mein liebes Kind ...«

»Wenn du mich liebes Kind nennst, willst du nein sagen«, unterbrach sie ihn unzufrieden.

»Allerdings will ich nein sagen. Ich habe wirklich Besseres zu tun, als dir einen Freund zu gewinnen. Ich denke, wenn er bereit ist, dich zu heiraten, wind er auch bereit sein, dein Freund zu sein.«

»Eben nicht. Er sagt, das verträgt sich nicht mit seinen Idealen ...«

»Idealen!« rief Jordan unwillig. »Laß dir doch nicht so was vorsingen ... Dein Briefträger mit Idealen wird ein gewöhnlicher Mitgiftjäger sein. Schlag ihn dir aus dem Sinn, Mary. Ich rate dir gut.«

»Du beurteilst ihn falsch. Er hat wirklich so was wie Ideale. Freunde sein? Er hat noch nie eine Freundin gehabt, aber wenn ich mit ihm mal ausgehe, kennt er jedes zweite Mädel. Sie alle sind seine Freundinnen, aber eine bestimmte hat er nicht.«

»Er sagt natürlich, daß er dich liebt?« fragte er.

»Er sagt es nicht nur, er liebt mich wirklich.« Jordan schüttelte bekümmert den Kopf.

»Ich hielt dich für verständiger, Mary. Nun, ich sehe, daß eben jeder Mensch dieselben schmerzlichen Erfahrungen machen muß. Die Erfahrungen der Väter nützen den Kindern nichts. Hm ... Wie ich dich kenne, hast du deinen – Briefträger gleich mitgeberacht?«

»Ja«, antwortete sie und lächelte. »Er wartet draußen.«

Jordan seufzte.

»Also, sei es denn ... Schick ihn her und bleib selbst draußen.«


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