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Suche nach den Jungen

Die Bärinmutter ist allein; sie äugt hinauf zur almgekrönten Bergkuppe. Dumpfes Bellen schwillt drüben. Das Abendlicht versprüht, und kühldämmerig steigen die Schatten. Ein unfaßbares Weh ergreift sie, wie es sie noch nie erfüllt; und da entringt sich ihr die Klage, die Mutterklage, ein Ton, langgezogen, heulend, düster und schwer zürnend, drohend und doch suchend: Ho, ho-haoh-hoh! Jetzt sollen ihr die dort oben kommen! Sie mißt denselben Weg, den sie gemacht, zurück, die Jungen zu suchen, durch Hochwald, Jungbestand, über Windbruch, Moor, durch Schlangenholz, Wacholder, über die Wiese, hinaus in den Rasen, wo sie heute schon war. Dort drüben knattert aufgeglüht das Lagerfeuer, und im Umkreis radauen ununterbrochen die Hunde. Unbeweglich wie aus Holz steht sie da, lauscht, fängt den Wind. Dort war es gewesen. Die Nase am Boden, sucht sie den Ort ab, findet hier den Ruch der Bundschuhe, der Schafe, der Hunde, die Spur der Jungen und kommt am erschlagenen Hunde vorbei hoffend zum Baum. Im Harz der Bastwunden klebt ungelöscht das Lebenszeichen aller drei, die untrügliche Witterung. Sie äugt hinauf. Nichts regt sich in Sehhöhe. Ast für Ast klimmt sie in schwerer Last bis zur schwankenden Krone; und wie sie nun hinter der Witterung nicht weiter kann, gräbt sie in mütterlicher Ungeduld und grimmer Suchwut ihre Fänge durch Rinde und Bast tief in den Splint, raspelt in scharfem Ring splitternde Wunde in den Wipfel, greift mit der Brante eine ausgestreckte Länge hinauf, beugt den Ellbogen ein und knickt den Wipfel drei Bärenlängen ab, so wie der Urhahn einen höchsten Fichtenquirl ohne Mühe und Not abkneift.

Als die Jungen nicht mit herabfallen und über ihr die leere Himmelshöhe sich öffnet, stöhnt sie empört auf, dröhnt mit wildem Gepolter aus den Ästen zu Boden und bleibt dort eine Weile ganz verstört stehen, als ob sie einen schweren Schlag auf den Kopf erhalten hätte. Doch nun dringt ihr in einer Pause des schneidenden Hundegebells von dem hochaufwirbelnden Lagerfeuer ein Laut entgegen, nur ein einziger – schon geht das Hundegetrommel von neuem los –, aber ihrem feinen Gehör hat er sich deutlich und todsicher gekündet, der Klagelaut ihrer Brut. Sie kann sich nicht halten und ruft aus aufgurgelndem Innern ihren wilden, gliederlähmenden Ruf in die aufschauernde Waldnacht: Ho-haoh-ho hooh. Darauf ein ohrenzerreißendes Geheul beim Lager, Aufwüten der Hunderotte, zwei Knaller hintereinander, und wieder unablässiges Hundeläuten die ganze Nacht. Kein Hund, kein Hirte hat den Mut, näher zu kommen, denn die kürzeste Waldnacht ist ganz des Bären, wenn das Sonnwendfeuer des Hirten ist. Gerade dort, wo in der Spur der Jungen die Verhelung im Quellbach unter der Fichte die Lücke gerissen hat, beginnt die Bärin die Umkreisung. Sie läßt sich auch nicht tief zu Bach, weil sie ja die Jungen alle oben beim Feuer glaubt. Und so zieht sie, wie das Gewitter zieht, ohne wiederzukehren, dumpf klagend geradeswegs unter dem Lagerfeuer hinweg, vernimmt den Kreischschrei ihres Blutes, gibt hohlwarnend an, daß sie auf Rache streift, und schlägt weitab, immer noch orgelnd, einen großen Bogen frei auf den Almboden hinaus, wo der den Hauptrücken mit jähen Abgründen an Klippen und Rinnen rändert. Und da – was ist das? – Über steilem Riß vernimmt sie es einmal tieftönend klöppeln, Rachewut strömt über in ihr, und es bäumt sich, wie noch nie, gegen alles Leben die heiße Mordgier auf. Sie zieht ohne Säumen unter hochüberwölbendem Himmel hinaus in den silberfahlen Reif der Mitternacht, da der Mond sich ganz ausschläft, nimmt sich sichere Windkunde von Großvieh, das sich von der Herde abgetrennt hat, und verhofft einen Augenblick. Keinen Ausweg gibt es für das Vieh aus dem abstürzenden Kamin. Ein wildes Röcheln voll des Hasses, und blindlings stürzt sie sich in den Riß. Hörner krachen dumpf aneinander, Leiber wühlen dumpf nach Rettung. Umsonst – zu beiden Seiten sind Krummholzbüsche an die Felswand genistet, vorn droht der Wasserabfall, hinten der schwarze Räuber. Schwer wuchtend sitzt er nach furchtbarem Brantenhieb auf die Wirbelsäule rittlings auf dem obersten Rind, schlägt ihm die Pranken beidseits des Rückens zwischen die Rippen und zerfleischt mit scharfen Zangen die Bänder zwischen Widerrist und Schultern. Blöde glotzend stieren die andern sechs Stück, und als das geschlagene Opfer, halb an den zähen Fleischwall des Gestaues gelehnt, schmerzröhrend zusammenstürzt, da wälzen sich die übrigen eins ums andre in den Schacht hinein, wo sonst nur Luchs und Wildkatze turnen, werden im klaffenden Spalt wieder stehend und erwarten mit gequollenen Lichtern das fürchterliche Los. Es wird ihnen. Als der Morgenstern das Ende der kürzesten Nacht bestrahlt, tönt die letzte Todesklage aus dem Riß, und Bärinmutter, von Blut heiß besudelt, überläßt es der errötenden Sonnmorgenandacht, Blut und Alpenrose in einen einzigen roten Teppich zu verweben; sie dringt, da sie es nun den Räubern ihrer Jungen abgetragen, satt von Blutrausch in das unendliche Krummholzfeld ein, um sich hier, immer noch sorgend und bangend um das Geschick ihrer Jungen, für die Dauer des Tages einzuschieben.

Lange, bevor die Lämmer zur Nachtruhe den Lagerplatz aufsuchen, ist Bärinmutter auf und nimmt in entgegengesetzter Richtung wie gestern die Linie unter dem Lagerplatz her bis zu dem seines Wipfels beraubten Baum. Kein Laut dringt vom verschwelten Lagerfeuer. Als sie die Stelle nochmals vergeblich abwittert und im Quellbächlein den nächsten Weg hinunter in den Wald nimmt, stößt sie auf die Spur ihrer Jungen. Hoffende Mutterfreude bricht in ihr auf. In Hast und fliegender Eile hält sie die im Moorgrund immer deutlicher eingeprägte Spur durch; und sie steht vor ihren Jungen. Zwei sind es nur, aber sie hat sie sicher, und nachdem sie mit Umarmung, Schlecken und Freudensprung Wiedersehen gefeiert, führt sie die Jungen unter entsprechendem Sicherheitsaufwand geradeswegs zu den sieben toten Rindern, vertreibt die paar feigen Köter und gibt sich blutgierig dem Racheschmaus hin. Dann verläßt sie mit Rauhbautz und Mutz für immer diesen Ort der schlechten Erinnerungen, wo schwüler Dunst schwerer Rachetat giftig durch die Harzwürze von Latsche und Wacholder schwadet.


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