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XLII.

Hier ist Enevolds Rists Erklärung, wie er sie einige Tage später in einem Brief an Professor Arvidson niederlegte.

»Wir waren uns ja beide klar darüber, daß der verhaftete Knud Aage Hansen die Wahrheit ausgesagt hatte. Wir standen dadurch einem mystischen, fremden Verbrechertyp gegenüber, dem sogenannten Amerikaner Stamsund, der eine ganz unerklärliche und intime Kenntnis von dem aristokratischen, hochangesehenen Baron Milde besaß. Was der verhaftete Knud Aage aussagte und was von den Untersuchungen der Polizei bestätigt wurde, bewies, daß der Amerikaner ein Verbrecher internationalen Stiles sei, im Besitz einer hochentwickelten Technik und einer ganz ungewöhnlichen Verkleidungskunst. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Milde diesen Stamsund unter Umständen kennengelernt, bei denen er eine andere und vertrauenerweckendere Rolle gespielt hatte. Natürlich war es undenkbar, daß Milde mit einem Hochstapler auf vertraulichem Fuße stand. Hätten wir diese Seite der Sache gleich näher in Betracht gezogen, würden wir schneller zu einem Abschluß gekommen sein. Mildes Umgangskreis war nicht groß, und wir hätten leicht denjenigen herausfinden können, dem solche Doppelrolle zuzutrauen war. Der fremde Kunsthändler hätte bald unser Mißtrauen erweckt, gerade weil er fremd und von niemandem näher gekannt war. Indessen sollten wir erst später und auf anderen Wegen auf die richtige Spur kommen.

Zwei Möglichkeiten lagen vor: Mord oder Selbstmord. Anfangs meinten alle, daß letzteres das wahrscheinlichste sei. Plötzlich aber wiesen die Spuren direkt auf Mord hin, und mit der Verhaftung von Knud Aage Hansen meinte man den Mörder gefunden und die Sache aufgeklärt zu haben. Seine Erzählung von dem Amerikaner klang wie eine Räubergeschichte. Da aber wurde das Unwahrscheinliche dadurch glaubhaft, daß es die einzige Möglichkeit zur Lösung des Rätsels bot. Der Einbrecher konnte ja keine Verbindung mit Baron Milde gehabt, sondern mußte sein Wissen erst von anderswoher erhalten haben. Also vom Amerikaner. Ergo existierte der Amerikaner. Woher aber kannte der Amerikaner Baron Milde?

Hier sind wir bei den hunderttausend englischen Pfund angelangt. Eine Verbindung zwischen dieser Summe und Mildes Tod lag ja nahe. Guggenheim machte uns zuerst darauf aufmerksam, daß Milde bedeutende und geheimnisvolle Ausgaben hatte. Da Milde das Geld in englischem Gold verlangt hatte, war anzunehmen, daß er es einer bestimmten Person auszahlen wollte. Aber wem? Der einzige, mit dem er vor seinem Tode in Kopenhagen gesprochen hatte, war Hengler. Er war sogar recht viel mit ihm zusammengewesen. Natürlich konnte aus diesem Grunde allein kein Verdacht auf Hengler fallen. Er aber war außer Guggenheim der einzige, der etwas von diesen hunderttausend Pfund wissen konnte.

Halten wir uns vorerst an den Amerikaner. Was beabsichtigte er in jener tragischen Nacht? Die Tatsachen erzählen es klar und deutlich und verraten einen ganz niederträchtigen Plan: Er wußte von den Hunderttausend. Er wollte Milde ermorden und das Geld stehlen, gleichzeitig aber wollte er das Verbrechen auf einen anderen abwälzen, auf Knud Aage Hansen, den er zu dem Einbruch verführte. Am liebsten sollte der verblüffte Knud Aage dann auf frischer Tat, an der Leiche des Ermordeten, ertappt werden. Der Zufall aber wollte es anders. Als der Amerikaner kam, um Milde zu ermorden, war er, wie Sie wissen, tot. Denn Milde hat Selbstmord begangen.

Jetzt wissen wir, daß der Amerikaner und Hengler ein und dieselbe Person sind, damals aber wußten wir es nicht. Warum verschwand Hengler nicht unmittelbar nach Mildes Tod, den Raub hatte er sich ja gesichert? Weil er noch viel weitgehendere Pläne hatte, für deren Verwirklichung er mit grausamer Kaltblütigkeit arbeitete. Indem wir Einblick in diese Pläne bekommen, haben wir gleichzeitig die Ursache zu Mildes Selbstmord. Erinnern Sie sich noch, lieber Freund, wie Ihr Mißtrauen gegen Hengler entstand? Es war nach Torbens Rückkehr. Solch ein Mißtrauen braucht keine bestimmte Ursache zu haben, es kann allein auf Grund eines persönlichen Beisammenseins, durch eine Art Gedankenübertragung entstehen. Sie waren in jenen Tagen besonders empfänglich für seelische Einwirkungen, nervös überreizt wie die ganze Sache Sie gemacht hatte. Dazu kam Henglers tägliches Beisammensein mit Torben, Torbens zunehmende Verstimmung und sein Widerstand gegen die Lösung des Rätsels. Es war unverkennbar, daß Torben unter Henglers Einfluß geraten war und daß Hengler unter anderm wünschte, daß die Sache niedergeschlagen werden sollte. Warum aber wünschte Hengler es? Da besucht Guggenheim Sie, über das traurige Schicksal seines Freundes bewegt, und erzählt Ihnen von Mildes mystischen Geldzahlungen. Das deutete direkt auf Erpressungen großen Stils – und das war es auch, eine gemeine teuflische Ausplünderung, die noch eine Weile, bis zum vollständigen Ruin fortgesetzt werden sollte.

Währenddessen beschäftigen Ihre Gedanken sich beständig mit dem einen: Hengler, der Amerikaner, Hengler ... Und er selbst? Glauben Sie mir, er fühlte den Verdacht in der Luft um sich herum. Selbst der kaltblütigste Mensch kann aus der Fassung gebracht werden, kann einen Fehler begehen. Und jetzt beging Hengler einen Fehler. Im Grunde war er vorsichtig bis zur Uebertreibung – und gerade dadurch brach er sich den Hals. Er durchschaute unsere gemeinsame Arbeit und wollte durch einen genialen Trick den Verdacht niederschlagen, daß er und der Amerikaner ein und dieselbe Person seien.

Darum arrangierte er seinen nächtlichen Besuch in meiner Villa. Daß er dabei zufällig auf einen gemeinen Einbruchsdieb stieß, berührt die Sache nicht. Er wußte, daß ich über den Zeitpunkt, wo Sie von ihm und Torben Abschied nahmen, genau unterrichtet sei. Mit fabelhafter Geschwindigkeit nahm er seine Maskierung vor und fuhr mit einem kleinen Rennwagen zu meiner Villa heraus. Als ich selbst kam, fand ich den Amerikaner vor. Ich versichere Ihnen, er ist ein Schauspielergenie. Den Verdacht aber, den er vernichten wollte, bestärkte er dadurch nur.

Darauf erlebten wir die Tage, als wir mehr und mehr merkten, wie Torben unter Henglers Einfluß geriet. Gestehen Sie es nur, lieber Professor, es gab Tage, wo auch Sie für Torbens Leben fürchteten. Ohne weiteres aber konnten wir nicht helfen. Unser ganzer Verdacht war ja auf Ahnungen und Berechnungen begründet. Da entschlossen Sie sich, heimlich nach Marienburg zu reisen, weil alle Bestrebungen sich auf diesen Ort richteten, und weil Mildes altes Schloß und die drei verschlossenen Zimmer, nach allem zu urteilen, der Schauplatz für den Schlußakt des Dramas werden sollten. Zwischen uns bestand die stillschweigende Uebereinkunft, daß ich nachkommen sollte, sobald ich wußte, daß auch Hengler sich aufmachen würde.

Dann reiste Hengler, und ich folgte ihm auf den Fersen. Vorher aber war es mir endlich geglückt, durch die intimen Verbindungen, die ich mit der Berliner Polizei habe, Aufschlüsse über Hengler zu bekommen – das heißt, nicht über Hengler direkt, sondern über den schrecklichen Menschen, der sich unter diesem Namen verbirgt, wie unter so vielen anderen Namen. Und indem ich die Handlungsweise dieses Menschen von früheren Affären mit unserer Sache verglich, wurde ich mir über zwei Dinge klar: Was den alten Milde in den Tod getrieben hatte, und welches Schicksal Torben zugedacht war. Hiermit haben Sie die Erklärung für meine Worte in der Brandnacht auf Marienburg: Man mußte wissen, wer Hengler war, um alles zu verstehen. Henglers Person nur konnte das Rätsel lösen.

Und die Lösung des Rätsels ist, wie wir jetzt ja klar sehen, daß der alte Milde ein Dieb war. Kein Dieb im gewöhnlichen Sinne, aber doch ein Dieb, der von dem bürgerlichen Gesetz getroffen werden und von den Höhen der Gesellschaft in das tiefste Elend herabgestürzt werden konnte. Ich weiß, weder Sie noch ich werden ihn verurteilen, wir werden dabei bleiben, in ihm einen vornehmen und edlen Menschen zu sehen. Aber er litt an einer unglücklichen Leidenschaft, die nicht selten in der Welt der Psychiatrie vorkommt, und von der fast ausschließlich hochgebildete Kulturmenschen betroffen werden: er ging an seiner Sammlermanie zugrunde.

Aehnliche Tragödien sind oft in der großen Welt vorgekommen. Sie können mir glauben, daß mysteriöse Museumsdiebstähle häufig auf diese Weise zu erklären sind. Seltene Schätze, die spurlos aus den Museen verschwinden, sind sicher oft in dem Besitz irgendeines leidenschaftlichen Sammlers, der sie, vor den Blicken der Welt verborgen, betrachtet und sich ihrer freut. Denn das ist ja gerade das Typische bei diesen psychologisch interessanten Fällen, daß diese Unglücklichen sich die Schätze nicht aneignen, um damit zu prahlen, sondern um sie für sich allein zu haben; darin liegt ihr perverser Genuß. Ich weiß nicht, wie viele Jahre Baron Milde auf diese Weise Schätze in den drei Zimmern gesammelt hatte, die er so eifersüchtig vor den Blicken anderer verbarg. Ebensowenig weiß ich, wieviel bei dem Brand verlorengegangen ist, obgleich man es vielleicht feststellen könnte, würde man sich der Zeitungsnotizen erinnern, die von gewissen Kunstgegenständen handeln, die während der letzten unruhigen Jahre in Deutschland verschwunden sind. Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht wissen, Menschenleben sind wertvoller als Kunstgegenstände. Ebensowenig interessiert es mich, wie er in den Besitz dieser Dinge kam, die die Ursache zu seinem Tode werden sollten. Persönlich ist er sicher nicht aktiv gewesen. Ueberall in Europa sind eine Menge einzelne Menschen und ganze Banden am Werke, die halbverrückten Sammlern seltene Kunstwerke zu erschwinglichen Preisen verkaufen. Ich weiß auch nicht, wann dieser Mann, der sich Lorenzo Hengler nannte, als sein Helfershelfer zuerst in die Erscheinung trat; ich weiß nur, daß mit ihm das Unglück begann.

Dr. Hengler ist ein Mann, der in den letzten Jahren die Polizei in allen europäischen Hauptstädten beunruhigt hat. Die tüchtigsten Beamten haben versucht, seiner habhaft zu werden, doch ist es ihnen nie geglückt. Nicht allein, weil er ein ungewöhnlich schlauer und kaltblütiger Mensch ist, sondern weil er ganz neue Methoden benutzt; er ist ein neuer Typ in der Verbrecherwelt. Er läßt andere arbeiten und betritt selbst erst den Plan, wenn die Frucht geerntet werden soll. Ursprünglich war er sicher ein Verbrecher wie alle anderen, jedenfalls kennt er die Verbrecherwelt und ihre Wege in- und auswendig. Er weiß, wann Bankdiebstähle und große Coups geplant werden. Nach gelungener Tat tritt er auf und verlangt einen Anteil, oder er droht mit Auslieferung an die Polizei. Er ist der Verbrecher, der die Verbrecher verfolgt, unbarmherzig und grausam bis zum letzten. Er besitzt unerschöpfliche Hilfsquellen. Viele Menschen sind seine Sklaven geworden. Er tritt in den mannigfachsten Verkleidungen, unter den verschiedensten Namen auf. In Kopenhagen ist er ein angesehener Kunsthändler, in London vielleicht ein Bankier, in Paris besitzt er ein Theater.

Daß so ein Mensch die Chance ausnutzen würde, als er von dem Geheimnis des angesehenen dänischen Barons erfuhr, ist klar. Er hat dem armen Milde sicher ein Vermögen erpreßt. Und hiermit haben wir die Erklärung für die anscheinend so sinnlosen Umstände bei Mildes Tode: Es war sicher Mildes Absicht gewesen, von Hengler bis zum Aeußersten getrieben, alles zu gestehen, die gestohlenen Gegenstände auszuliefern und die Erniedrigung auf sich zu nehmen, in der Ueberzeugung, daß es sich nicht um ein gewöhnliches ehrenrühriges Verbrechen handelte. Verschiedene Bemerkungen, die er Guggenheim gegenüber geäußert hat, lassen darauf schließen. Die hunderttausend Pfund sollten die letzte Auszahlung an Hengler sein. Dies aber paßte nicht in Henglers Pläne, und kaltblütig beschloß er, den alten Milde aus dem Weg zu räumen. Es war ihm ein leichtes, die Sache so zu deichseln, daß ein anderer in den Verdacht des Mordes kam; der verhaftete Knud Aage Hansen.

Hengler rechnete so: Der Alte ist verbraucht. Er will sich selbst ausliefern, und damit ist auch meine Rolle zu Ende gespielt. Nein, ich räume den Alten aus dem Weg, dann ist da Platz für einen neuen Mann mit frischen Kräften, für seinen Sohn, einen angesehenen Diplomaten und adelsstolzen Aristokraten. Zu ihm werde ich sagen: ›Mein Herr, Ihr Vater, der so plötzlich starb, mit Anteilnahme des ganzen Landes, war leider ein Dieb.‹ Dann kann das Spiel weitergehen.

Indessen zeigte es sich, daß der alte Milde dennoch im letzten Augenblick den Entschluß faßte, seinem Leben mit einem Revolverschuß ein Ende zu machen. Oder ist die andere Möglichkeit eingetroffen? Das wird nie aufgeklärt werden. Ich bin derselben Meinung wie Torben, daß man Tote ruhen lassen soll. Jene Erklärung ist die beste.

Jedenfalls aber erreichte Hengler sein Ziel, und das Spiel mit Torben begann. Obgleich Torben anfangs tief erschüttert war, zeigte es sich doch bald, daß er aus anderem Guß war als der Alte. Ich glaube, daß er an jenem Morgen, nachdem er sich überzeugt hatte, daß die heimlichen Zimmer wirklich die gestohlenen Kunstgegenstände enthielten, den Entschluß faßte, Hengler zu töten. Daher sein zielbewußtes und verändertes Benehmen. Sicher war es seine Absicht, Feuer auf dem Schlosse anzulegen, die Kunstsachen mit dem Südflügel verbrennen zu lassen, darauf Hengler in seinem Zimmer zu erschießen und die Leiche den Flammen zu überlassen. Das Schicksal aber wollte es anders und kam ihm zuvor. Der Blitz schlug ein. Haben wir ein Recht, etwas anderes zu glauben? Haben wir ein Recht, anzunehmen, daß er wirklich in jener Nacht den ersten Teil seines Planes ausgeführt hat, die Vernichtung der kompromittierenden Kunstsachen, und im Begriff stand, den zweiten Teil auszuführen, als wir ihn vor Henglers Tür überraschten? Nein, wir haben kein Recht dazu. Wir würden dadurch ohne Berechtigung in ein Menschenleben eingreifen, das, nach vielem unverschuldeten Leid, mit neuem Mut von vorn angefangen hat, vielen zum Segen.

Ich aber kann diesen Mann, diesen Hengler nicht vergessen. Ich kenne jetzt mehrere seiner Namen: Savage, Winterfeldt, Robert Robertson, Fausto Italiano und andere. Er beschäftigt meine Phantasie unausgesetzt. Ich fühle mein Schicksal mit dem seinen verbunden und sehe ein verlockendes Ziel winken: Mich zum Kampf mit ihm zu rüsten, obgleich ich weiß, daß es um den Preis des Lebens gehen wird. Lieber Freund, wenn wir uns in Kopenhagen nicht wiedersehen, dann habe ich die Arbeit begonnen, die endlich auch meinem Leben Inhalt verleihen soll.«

Bald nach Empfang dieses Briefes suchte Sune Arvidson seinen Freund Rist auf. Er traf ihn nicht in seiner Wohnung, und er war auch nicht in einer der Bars, wo er sein geckenhaftes und anscheinend so untätiges Leben zu verbringen pflegte.

Rist hatte tatsächlich Kopenhagen verlassen.

*

 


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