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XX.

Rist erzählte jetzt von den Ereignissen der Nacht. Der Professor hörte aufmerksam zu. Es war, als ob er die ganze Zeit etwas berechnete oder Vergleiche zog zwischen dem, was Rist erzählte und was er selbst wußte. Rist erzählte das Ganze mit gemachter Gleichgültigkeit; das war nun einmal seine Art. Als er geendet hatte, zündete er sich eine Zigarre an. Er schien etwas ermüdet.

»Ich hätte heute gern mit Ihnen gefrühstückt,« sagte er, »wenn Sie aber verreisen, muß ich mich allein trösten. Wie gefällt Ihnen übrigens mein Abenteuer?«

Arvidson vermied eine Antwort, indem er eine Gegenfrage stellte: »Es würde mich interessieren zu erfahren, wann Sie gestern nacht in Ihre Villa kamen.«

»Ganz genau kann ich es nicht sagen, ich glaube aber, die Uhr war ungefähr eins.«

»Dann muß der Verbrecher sich einige Zeit vorher im Hause aufgehalten haben.«

»Natürlich. Er hatte ja schon die Affäre mit dem Einbrecher hinter sich.«

»Kann man annehmen, daß der Zusammenstoß mit dem Einbrecher ungefähr zwanzig Minuten gedauert hat?«

»Das mag wohl stimmen.«

»Danach wäre er also um halb zwölf Uhr in Ihrem Hause gewesen. Als ich gestern abend nach Hause kam, sah ich nach der Uhr. Sie war ein Viertel vor zwölf.«

Rist riß die Augen auf.

»Als Sie in Ihre Wohnung auf dem St. Annaplatz kamen, war die Uhr ein Viertel vor zwölf,« rief er erstaunt. »Was in aller Welt hat das mit dem Umstand zu tun, daß der Mann eine Stunde später in meinem Hause draußen auf dem Strandwege einbricht?«

Professor Arvidson ließ sich durch die Einwendung Rists nicht anfechten, sondern setzte seinen Gedankengang laut fort: »Ungefähr um dieselbe Zeit muß Torben Milde nach Hause gekommen sein, und der Kunsthändler Hengler einige Minuten später, da er einen etwas längeren Weg hat. Ich versuche nämlich Ihre Aussage mit etwas anderem in Einklang zu bringen,« erklärte der Professor.

»Haben Sie vielleicht eine Idee bekommen, eine Idee, die die Sache von einer ganz neuen Seite beleuchtet?«

»Nicht unmöglich.«

»Und haben Sie diese Idee gestern abend um zwölf Uhr bekommen?«

»Nehmen wir es an.«

»Und darf man erfahren, worin diese Idee besteht?«

»Nein,« antwortete der Professor, »das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Es ist nur ein Einfall, eine Eingebung, wenn Sie wollen, die in meinen Berechnungen, nicht durch das Resultat verschiedener Begebenheiten, sondern durch einen reinen Zufall aufgetaucht ist. Und bevor ich diese Idee jemandem mitteilen kann, muß ich sie erst prüfen, sie mit gewissen Tatsachen in Einklang zu bringen versuchen.«

»Es ist also eine ungewöhnliche Idee?«

»Sie ist ganz unerhört,« antwortete der Professor und lächelte.

»Und auf Grund dieser neuen Hypothese wollen Sie jetzt nach Marienburg reisen?«

»Ja.«

»Wo wollen Sie wohnen?«

»Beim Förster, einem alten Freund von mir.« Er warf schnell einige Worte auf eine Visitenkarte. »Hier ist seine Adresse,« sagte Arvidson, »wenn Sie mir telegraphieren, dann richten Sie das Telegramm nicht an mich, sondern an den Förster.«

»Sie glauben, daß Dinge eintreffen werden, die ein Telegramm nötig machen?«

»Ja. Sie werden selbst merken, wann es nötig wird, eine eilige Nachricht zu senden.«

»Weiß Torben Milde von Ihrer Reise?«

Der Professor fuhr zusammen. »Das wäre ein Unglück,« sagte er.

Rist betrachtete den Professor einen Augenblick forschend und ernst.

»Gut,« sagte er darauf, »wenn sich etwas mit Torben Milde ereignet, werde ich telegraphieren.«

Arvidson antwortete nicht.

»Ist Torben abgereist?« fragte Rist.

»Ja, er ist heute morgen um neun Uhr nach Schweden abgereist. Der Kunsthändler Hengler hat ihn an den Dampfer begleitet.«

»Woher wissen Sie das?«

»Vom Portier des Hotels,« antwortete Arvidson, »es hatte besonderes Interesse für mich.«

Von der Straße ertönte jetzt die Hupe eines Autos. Der Professor sah nach der Uhr.

»Das ist das bestellte Auto,« sagte er, »es ist Zeit, daß ich aufbreche.«

»Noch eine Frage,« sagte Rist, indem er sich erhob, »ich habe vergeblich nach einem Grund gesucht, weshalb der Mörder mir heute nacht einen Besuch gemacht hat, aber ich kann keinen triftigen finden. Er kam nicht, um mich zu bestehlen.«

»Nein.«

»Und nicht, um mich zu ermorden.«

»Auch nicht. Dann hätte er sein Vorhaben ausgeführt.«

»Nicht, um die Untersuchung aufzuhalten.«

»Nein, denn auch das ist ihm nicht geglückt.«

»Dann ist nur die unglaubliche und abenteuerliche Lösung übrig, daß er eine Sensation, eine spannende Abwechslung in einem langweiligen Dasein erleben wollte.«

»Das glauben Sie?«

»Es fällt mir schwer,« antwortete Rist.

Der Professor sagte: »Vergessen Sie nicht, daß wir es mit einem außerordentlich verschlagenen Menschen zu tun haben, einem herzlosen und kalt berechnenden Mann, der keine Rücksichten kennt. Allerdings ist er ein Künstler in seinem Fach und behandelt die Wissenschaft des Verbrechens rein artistisch, eine Expedition wie die von heute nacht aber wäre doch zu riskant für ihn gewesen, er hat buchstäblich sein Leben aufs Spiel gesetzt. Soviel würde er nicht wagen, wenn der Einsatz nicht sehr groß wäre. Sie können überzeugt sein, daß er mit seinem Streich einen wichtigen Vorteil zu erringen versuchte.«

»Aber welchen Vorteil?«

»Vielleicht hat ihm daran gelegen, nachts, gerade zwischen halb zwölf und zwei Uhr, in Ihrer Wohnung gesehen zu werden.«

»Sie meinen, daß er sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zeigen wollte?«

»Ja, damit er beweisen kann, daß er unmöglich zur selben Zeit an einem anderen Ort gewesen ist.«

»Da fallen mir Ihre Zeitberechnungen wieder ein – – « begann Rist, als aber das Auto draußen tutete, unterbrach er sich, und der Professor reichte ihm die Hand zum Abschied.

*

... Niemand verstand es wie Rist, die Zeit totzuschlagen, wenn er in der richtigen Stimmung war. Dann konnte er die Zeit und die Stadt und seine Umgebung gleichsam mit Untätigkeit sättigen. Alles um ihn herum schien stillzustehen, nichts ereignete sich, nur die Stunden zogen durch sein Bewußtsein, betäubend leer. Besonders der heutige Tag schien ihm für diese Schwärmerei geeignet. Es war, als ob ihn ein Gram überkam, weil er schon viel zu lange in Tätigkeit gewesen war. Jetzt wollte er der Stadt mal wieder sein eigentliches Gesicht zeigen. Er bewies seinen Mangel an Beschäftigung nicht dadurch, daß er sich auf einer Chaiselongue oder in einer Hängematte rekelte, sondern indem er überall dort auftrat, wo andere etwas zu tun hatten, was es auch sein mochte, verhandelten, diskutierten, flirteten. Indem er sich dort zeigte und eine unsagbare Langeweile und Interesselosigkeit um sich verbreitete, gab er der wirklichen, der mit Sorgfalt kultivierten Trägheit Ausdruck; es war ein Nirwana der Faulheit mitten in der Geschäftigkeit der Stadt, mit einer Eleganz und kalten Vornehmheit präsentiert, die jede Neuigkeit, jede Sensation, selbst die aufregendste, abwies.

Als er sich schließlich gegen Abend im Schein der untergehenden Sonne auf dem Königsmarkt befand und den vergangenen Tag und all die Aergernisse durchdachte, die er durch seine Gegenwart und sein Wesen seiner Umgebung bereitet hatte, hatte er abermals mit überzeugender Klarheit die Vorstellung, daß sich in dieser schönen und merkwürdigen Stadt, deren Oberfläche er soeben behaglich durchkreuzt hatte, noch immer der Mörder befand, jener gefährliche und einsame Mensch, der ihn vielleicht, vom Menschengewimmel verdeckt, heute wieder beobachtet hatte.

Der Mörder hatte ihn heute nacht verlassen, ohne eine Spur zu hinterlassen, und Rist sah ein, daß er in den Ereignissen zurückgehen müsse, wollte er eine Verbindung finden.

Darum durchdachte er die unheimliche Affäre noch einmal, Glied für Glied: den Mord, die Verhaftung, die Havanna-Katrine. Eigentlich nahm die Sache hier ihren Anfang, dachte er, insofern, als der Verhaftete Knud Aage Hansen zum erstenmal in Gesellschaft des Amerikaners auftrat.

Er beschloß also Havanna-Katrine aufzusuchen, weniger, weil er sich davon ein Resultat versprach, als weil er den Wunsch hatte, seinem Müßiggang eine neue Note hinzuzufügen. Er nahm einen Wagen und fuhr hinaus. Es zeigte sich aber, daß er so wenig willkommen war, daß er seinen Spazierstock zwischen die Türritze stecken mußte, damit die Tür ihm nicht vor der Nase zugeschlagen wurde.


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