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XL.

Endlich war dieser furchtbare Tag zu Ende, und es war Abend geworden. Torben hatte sich lange Mühe gegeben, seine Gäste bei guter Stimmung zu halten. Zum Schluß aber war es qualvoll geworden, und Torbens übertriebene Freundlichkeit und Heiterkeit bildeten nur eine schneidende Disharmonie zu der Nervosität und Feindseligkeit der anderen.

Nach dem Diner zogen die Herren sich auf ihre Zimmer zurück. Guggenheim war sehr müde, und nachdem er Arvidson noch einmal einige warnende Worte zugeflüstert hatte, ging er gleich zu Bett. Torben rief dem Bankier einige Worte nach, die im Augenblick keine besondere Bedeutung zu haben schienen, an die sich Arvidson aber später wieder erinnerte:

»Lieber Guggenheim,« sagte er, »wenn es Ihnen heute nacht zu warm werden sollte, dann legen Sie sich nur draußen auf der großen Veranda auf den Diwan, die Nachtluft kühlt.« Der Bankier hatte sein Zimmer im Erdgeschoß, und von der Veranda führte eine Treppe in den Garten. Professor Arvidsons Zimmer lag im ersten Stockwerk. Der Lohndiener Rist begleitete ihn hinauf mit einem großen Leuchter in der Hand, obgleich auf dem ganzen Weg elektrisches Licht brannte, Rist aber war ein fürsorglicher Lohndiener.

Als sie in das Zimmer gekommen waren, fragte der Professor: »Ich bin sehr müde. Kann ich mich schlafen legen?«

»Ja,« antwortete der Detektiv, »aber entkleiden Sie sich nicht.«

»Sie erwarten also, daß heute nacht etwas geschehen wird?«

»Meinen Sie, daß dieser Zustand noch länger andauern kann?«

»Wo ist der Förster?«

»In der Wohnung des Verwalters, er hält sich bereit.«

»Und Hengler?«

»Ist offenbar schon zu Bett gegangen. Er hat ein Zimmer in der Nähe der drei verschlossenen Räume.«

»Finden Sie das nicht merkwürdig?«

»Ich glaube, daß es einen besonderen Zweck hat, denn Torben hat es selbst angeordnet.«

Rist ließ Arvidson allein. Der Professor machte es sich in einem der großen Lehnstühle bequem, nachdem er die Vorhänge von den Fenstern zurückgezogen und das Licht gelöscht hatte.

Die Nacht war wolkig und herbstlich dunkel, nachdem er aber eine Weile hinausgeblickt hatte, konnte er doch die Konturen unterscheiden. Die jagenden Wolken, die den Regen gleichsam über den Wald schleppten, die Baumwipfel, die sich im Wind duckten und die kohlschwarze Silhouette der Hofgebäude. Die florleichten Gardinen flatterten wie Segel ins Zimmer. Als der Professor im Begriff war einzuschlafen, vermischten sich seine unheimlichen Ahnungen mit der Wirklichkeit, es war, als ob das Rätselhafte mit dem Gewitter von draußen zu ihm ins Zimmer käme. Er mochte wohl eine Stunde geschlafen haben, als Rist ihn weckte. Er schlug die Augen auf und wurde von einer plötzlichen Helligkeit geblendet, die durch die Fenster kam. Es war der Blitz. Rist schloß die Fenster und drehte das elektrische Licht an. Der Professor erhob sich hastig:

»Das Gewitter ist da,« sagte er, »die Luft scheint mir aber noch immer unerträglich drückend. Wenn der Regen doch herabströmen würde, das wäre wie eine Befreiung!«

Rist trat auf ihn zu, legte die Hand auf seine Schulter und sagte leise aber sehr ernst: »Torben ist nicht mehr in seinem Zimmer.«

Im selben Augenblick war Arvidson vollkommen wach.

»Ich habe nach ihm gesucht, kann ihn aber nirgends finden,« fuhr Rist fort.

Da flammte ein Blitz auf und der Donner rollte durchs Haus.

»Und die anderen?« fragte der Professor.

»Sonst ist alles still. Haben Sie Ihren Revolver bei sich?«

»Ja.«

»Gut, kommen Sie mit.«

Sie gingen auf den Korridor hinaus. Rist hielt eine elektrische Blendlaterne in der Hand, aber er zündete sie nicht an. Die Blitze folgten einander jetzt rasch und warfen jedesmal eine weiße Lichtmasse durch die hohen Korridorfenster. Arvidson fühlte sich seltsam bewegt in dieser Umgebung. Beim Schein der Blitze sah er das Innere des großen Hauses auf kurze Augenblicke, den teppichbelegten Korridor zwischen den Türen und den alten, lackglänzenden Malereien, das kunstvoll geschnitzte Geländer und mittendrin den schwarzen Schacht, der zur Halle hinunterführte. Das ganze Haus schien beim Donnergetöse zu erbeben. Rist führte ihn hinter eine der großen Standuhren im Korridor und flüsterte dicht an seinem Ohr: »Bleiben Sie hier stehen!« Darauf verschwand er selbst schnell und lautlos die Treppe hinunter. Der Professor sah ihn einen Augenblick beim aufleuchtenden Blitzschein mit tierhafter Behendigkeit die Treppe hinunter in das Dunkel der Halle gleiten. Gleich darauf wurde die Halle unten von einem strahlenförmig roten Lichtkreis beleuchtet; es war die Blendlaterne des Detektivs. Professor Arvidson wartete gespannt. Er konnte sein eigenes Herz schlagen hören. Neben ihm arbeitete das große Uhrwerk in der Standuhr. Wenn nach dem kurzen Aufleuchten der Blitze die Dunkelheit ihn umgab, war die Uhr wie ein lebendes Wesen, das in seiner Nähe unablässig die angstvollen Sekunden zählte.

Endlich kam Rist zurück. Arvidson fühlte dessen Hand auf seinem Arm, und plötzlich sah er ihn selbst blaß und mit funkelnden Augen, mit einem intensiv lauschenden und spähenden Ausdruck im Gesicht.

»Guggenheim schläft,« sagte er, »ich konnte durch die geschlossene Tür seine Atemzüge hören. Er schläft fest.«

»Aber wo ist Torben? Ist er ausgegangen?«

»Bei diesem Wetter, kaum, ich bin überzeugt, daß er sich irgendwo im Hause befindet. Er hält sich sicher irgendwo in der Nähe auf, und wir müssen ihn finden. Jede Minute kann verhängnisvoll werden.«

Bei einem Donnerschlag, der in diesem Augenblick durch das ganze Haus dröhnte, packte Rist seinen Freund am Arm. Seltsam, dachte Arvidson, er scheint sich wie ein Kind beim Gewitter zu fürchten.

»Das Gewitter steht gerade über uns,« sagte er.

»Mir war, als ob ich eine menschliche Stimme hörte,« flüsterte der Detektiv.

Sie lauschten beide angespannt.

Und bevor der nächste Donnerschlag kam, der alles unter seinem mächtigen Getöse begrub, hörten sie deutlich den Laut einer menschlichen Stimme.

Es war ein Ruf, ein unartikulierter Schrei. Dann wurde alles still. Bald darauf aber hörten sie es wieder: Es war ein Ruf um Hilfe!

»Er kommt aus dem südlichen Flügel,« sagte Rist, »das Unglück ist über uns, – wenn wir nur nicht zu spät kommen!«

Er entzündete seine Blendlaterne und eilte über den Korridor, der Professor folgte ihm auf den Fersen. Der scharfe Lichtkegel der Laterne eilte ihnen voran und bildete seltsame, jagende Schatten längs der Wände. Unterwegs hörten sie noch einmal den Schrei. Als sie in den Südflügel kamen, wurde der Korridor in seiner ganzen Länge von dem Laternenlicht erhellt. In der Tiefe des Korridors sahen sie eine menschliche Gestalt, einen Mann, im roten Morgenrock mit Verschnürungen auf der Brust. Es war Torben. Er stand ganz ruhig und wartete, daß sie näherkamen. In seiner rechten Hand, die schlaff herabhing, hielt er einen Revolver, er stand mitten auf dem Gang, als ob er ihr Näherkommen verhindern wollte. Arvidson sah, daß Torben furchtbar bleich war.

»Hier kommt niemand vorbei,« sagte der junge Baron bestimmt. Mit besonderem Interesse betrachtete er Rist, und indem er lächelte, sagte er: »Aha. Ich hatte gleich den Eindruck, daß Sie kein Lohndiener seien. Was wollen Sie?«

»Ein Mensch ist in Lebensgefahr,« antwortete Rist ungeduldig, »wir haben einen Hilferuf gehört.«

»Auch ich habe ihn gehört,« antwortete Torben, und indem er auf die nächste Tür zeigte, fügte er hinzu: »von dort drinnen kam er.«

»Aus Dr. Henglers Zimmer?« fragte Rist schnell und erschrocken.

»Ja.«

»Sind Sie aus dem Zimmer gekommen, Torben? Um Gottes willen, Sie sind doch nicht drin gewesen!«

Torben antwortete nicht.

Plötzlich warf Rist sich gegen die Tür und versuchte, sie zu öffnen. Die Tür war verschlossen. Rist schlug wie ein Rasender dagegen, mit geballten Fäusten und schrie: »Aufmachen! Aufmachen!«

Unmittelbar darauf wurde das Schloß umgedreht und die Tür von drinnen geöffnet. Rist ging als erster hinein. Torben kam zuletzt und schloß die Tür hinter sich.

Das Zimmer war erleuchtet.

Mitten im Zimmer stand Dr. Hengler, völlig angekleidet, sogar den Hut hatte er auf dem Kopf und seinen braunen Automobilmantel über dem Arm.

Auf dem Fußboden aber, gleich unter dem Fenster lag ein Mensch leblos hingestreckt, ein Mann in einem dunkelblauen Anzug. Rist beugte sich hastig über ihn, lauschte auf seine Herzschlage und kehrte das Gesicht dem Licht zu.

Es war ein ganz unbekannter Mensch.

Rist richtete sich wieder auf.

»Was ist hier vorgegangen?« fragte er.

Dr. Hengler zeigte auf das offene Fenster, wo eine losgerissene Gardine im Winde flatterte, und antwortete: »Er ist durchs Fenster gekommen. Tot ist er nicht. Ich weiß, wie ich schlage.«

Im selben Augenblick aber wurde die bisher so dunkle Fensteröffnung von einem blutigroten Schein erleuchtet, der mit entsetzlicher Geschwindigkeit an Stärke zunahm, und aus dem Innern des Schlosses erklang der Lärm von trampelnden Schritten und Menschenstimmen. Aus dem Durcheinander von Stimmen löste sich der gellende Ruf:

»Feuer! Das Schloß brennt!«


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