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Fünftes Kapitel.

Ulysses. Die Zeit hat einen Quersack auf dem Rücken,
Almosen fürs Vergessen drein zu stecken.
*     *     *     Beharrlichkeit, mein guter Herr,
Hält rein der Ehre Glanz.

Troilus und Cressida.

Ich habe mir keine Mühe um jenes Interesse geringerer Art gegeben, welches wohl aus dem Geheimniß der Namen und der Personen sich hätte mit leichter Mühe ziehen lassen mittelst ein wenig Schlauheit in dem frühern Theile dieser Erzählung. Wie der Leser in Charles Spencer auf den ersten Blick Sidney Morton entdecken konnte, so hat er gewiß auch in Philipp de Vaudemont (dem Fremden, welcher Fanny befreite,) den Helden meiner Erzählung augenblicklich erkannt; aber da die beiden jungen Männer ebenso wenig ein Recht auf den aufgegebenen als auf den neu angenommenen Namen haben, wird es einfacher und bequemer seyn, sie mit den Namen zu bezeichnen, unter welchen sie jetzt der Welt bekannt waren.

Wirklich war Philipp de Vaudemont kaum dasselbe Wesen wie Philipp Morton. Bei dem kurzen Besuch, den er dem ältern Gawtrey gemacht, als er Fanny seiner Obhut übergab, hatte er keinen Namen genannt; und den, welchen er jetzt annahm, als er am nächsten Tag gegen Abend wieder in Simons Hans zurückkehrte, hörte der Alte zum ersten Mal. Wieder in seine gewöhnliche Apathie versunken, zeigte Simon kein Erstaunen darüber, daß ein Franzose das Englische so gut verstehe – er bemerkte kaum, daß der Name französisch war. Simons Alter schien ihn täglich dem Zustand näher zu bringen, wo das Leben bloser Mechanismus wird, und die zum Abschied sich rüstende Seele sich nicht mehr um ihre Hülle kümmert, welche schweigend und vernachläßigt in den einsamen Staub zusammensinkt.

Vaudemont kam mit wenig Gepäck (denn er hatte auch eine Wohnung in London,) und ohne Diener; ein einziges Pferd ward in den Stall eines benachbarten Wirthshauses eingestellt, und er schien, wie Soldaten oft, mehr für die Bequemlichkeit des Thieres als seine eigene besorgt. Es war nur Eine Dienerin in der bescheidnen Haushaltung, welche alle gröberen Geschäfte verrichtete; denn Fannys Fleiß konnte das bestreiten. Die einzige Dienerin und die Hausmannskost genügten dem einfachen, hartgewöhnten Abenteurer.

Fanny mit einem vor Freude strahlenden Gesicht ergriff seine Hand und führte ihn in sein Zimmer. Das arme Kind, mit seinem weiblichen Instinkt, der sie nie verließ, hatte sich den ganzen Tag abgemüht, das Zimmer nach ihren Begriffen von Behaglichkeit einzurichten. Sie hatte ihrem kleinen Schatze so viel entwendet, um davon einige kleine Einkäufe zum machen, worüber das Orakel der Vorstadt war zu Rathe gezogen worden, und mit Blumen auf dem Tisch und einem Feuer im Kamin erschien das Zimmer ganz einladend.

Sie beobachtete ihn, als er sich umsah, und empfand den Verdruß getäuschter Erwartung, als er nicht die von ihr gehoffte Bewunderung äußerte, unmuthig endlich über die Gleichgültigkeit, die ihm in der That in Bezug auf äußere Bequemlichkeit zur Gewohnheit geworden war, zupfte sie ihn am Aermel und sagte:

»Warum sprecht Ihr nicht? Ist es nicht hübsch? Fanny that ihr Möglichstes!«

»Und ich sage Fanny tausend Dank! Es ist Alles, was ich wünschen konnte.«

»Dort ist noch ein Zimmer, größer als dies, aber das verruchte Weib, das uns beraubte, hat dort geschlafen: und zudem habt Ihr gesagt, Ihr liebet den Kirchhof. Seht!« und sie öffnete das Fenster und deutete auf den Kirchthurm, der dunkel gegen den Abendhimmel emporstieg.

»Das ist besser als Alles!« sagte Vaudemont; und er schaute zum Fenster hinaus in stummer Träumerei, welche Fanny nicht störte.

Und jetzt hatte er einen festen Sitz! Nach einer so wilden, unruhigen, wechselvollen Laufbahn rastete der Abenteurer in diesem bescheidnen Winkelchen! Aber Ruhe ist nicht Friede – Dunkelheit nicht Zufriedenheit. Oft wenn er Morgens und Abends nach der Stelle schaute, wo seiner Mutter Herz, nicht Liebe und Gram mehr fühlend, moderte, verscheuchten die empörten und bittern Gefühle des mißhandelten Verstoßenen und des Sohns, der seiner Mutter Namen nicht zu reinigen vermochte, die milde und ergebene Melancholie, zu welcher die Zeit in der Regel den Gram um die Todten sänftigt Und mit welcher die Meisten von uns der fernen Vergangenheit und der einst fröhlichen Kindheit gedenken!

In dieses Mannes Brust lagen, verborgen durch seine äußere Ruhe, Erinnerungen und Wünsche, die so stark sind wie Leidenschaften. In seinen frühern Jahren, als er sich hatte harten Kämpfen um seine Existenz unterziehen müssen, hatte er keine Muße gefunden zu stetigem, brütendem Nachdenken über die Entziehung von Rechten, über die Verläumdung des Namens seiner Mutter, welche zuerst die Nacht in seinen Morgen gebracht hatten.

Seine Erbitterung gegen die Beauforts war allerdings immer eine heftige, aber eine unregelmäßige, stoßweise kommende Leidenschaft gewesen. Genau in dem Verhältniß als vermöge seltner und romantischer Ereignisse und Zufälle, welche die Fiktion nicht erfinden kann, und welche die Erzählung mit Mißtrauen aus der großen Schatzkammer des wirklichen Lebens entlehnt, er auf der socialen Leiter höher emporgestiegen war, genau in dem Verhältniß wurde ihm Alles, was seine Kindheit verloren, Alles was die Räuber seines Erbes gewonnen hatten, die Größe und Macht des Reichthums, vor Allem aber das stündliche, ruhige Glück eines fleckenlosen Namens deutlicher und so zu sagen handgreiflich fühlbarer.

Er hatte Eugenien geliebt, wie ein Knabe zum erstenmal eine hochbegabte Frau liebt. Er betrachtete sie, die so Feinfühlende und Gebildete, so Zarte und so Begabte mit den Gefühlen, die man einem Wesen höherer Art schuldig ist, mit einer unauslöschlichen Erinnerung an den helfenden Engel, dessen Antlitz ihm geleuchtet, als er am dunkeln Abgrund stand. Sie war die Erste, die seinem Geschick eine versöhnende Wendung gegeben – die Erste, die ihn auf den rechten Pfad geführt – die Erste, die den Wilden in seiner Brust gezähmt hatte; er war wie der junge Löwe, der zauberisch beherrscht wird durch das Auge von Einer!

Die Skizze seiner Geschichte war bei Lord Lilburne richtig erzählt worden. Trotz seines Stolzes, der sich empörte gegen solche Verpflichtungen, die er gegen einen andern Menschen, gegen eine Frau haben sollte – welcher sich sträubte und kämpfte gegen eine Maske, die ihn auf einmal und allein sicherte gegen die Entdeckung des Vergangenen und gegen die Schrecknisse der Zukunft – hatte er doch ihr, der Weisen und Edeln, sich gefügt und nachgegeben, da er in ihr Urtheil keinen Zweifel setzen konnte; und in der That hatten die verläumderischen Lügen des Lakaien, dessen Verschwiegenheit und Zuverläßigkeit Eugenie, in der Nacht von Gawtreys Tod, lieber ihre eigne Ehre, als das Leben, eines Andern hatte anvertrauen wollen, Philipp, wie Liancourt richtig angab, keine andre Wahl gelassen, als zu thun, was Madame de Merville für ihr Glück oder für ihren guten Namen am zuträglichsten fand. Darauf war ein kurzer Frühling gefolgt – der Festtag seines Lebens – der Mai der jungen Hoffnung und der Leidenschaft, der glänzenden Aussicht und der Wonne – schließend mit jenem plötzlichen Tod, der ihn wieder einsam in der Welt zurückließ.

Als er aus dem Schmerz, der nach Eugeniens Tod sich seiner bemächtigte, erwachte und sich unter den fremden Gesichtern und den aufregenden Scenen eines orientalischen Hofes fand, wandte er sich mit harter, widerwilliger Verachtung ab von Genuß und Lust, als einer Untreue gegen die Todte. Der Ehrgeiz beschlich ihn – sein Geist stählte sich, wie seine Wange unter jener brennenden Sonne sich bräunte – sein abgehärteter Körper, seine früh geweckte Thatkraft, seine natürliche Verachtung der Gefahr machten ihn zu einem tapfern und geschickten Soldaten. Er erwarb sich Ruf und Rang.

Aber mit der Zeit nahm sein Ehrgeiz einen höhern Flug – er fühlte sich in seiner Sphäre eingeengt; die orientalische Trägheit, welche die langen Zwischenräume zwischen den Thaten ausfüllte, nagte an seinem rastlosen Temperament; er kehrte nach Frankreich zurück; sein Ruf, Liancourts Freundschaft, und Eugeniens Verwandte, dankbar, wie oben angedeutet, für die Großmuth, womit er ihnen den größten Theil ihrer Verlassenschaft übergab, eröffnete ihm eine neue, aber eine peinliche und bittere Laufbahn. An dem indischen Hofe war von seiner Geburt nicht die Rede gewesen. Ein Abenteurer war dort den Andern gleich. Aber in Paris forderte ein Mann, der emporzusteigen strebte, allen Sarkasmus des Witzes, alle Verlästerungen der Parteien heraus; und im verfeinerten, civilisirten Leben – was ist da die Stärke der Waffen gegen ein Witzwort?

So nagten im Land der Civilisation wieder alle die Leidenschaften, die aus gedemüthigter Eigenliebe und gekränktem Emporstreben entspringen, an seiner Brust. Er erkannte da, daß, je mehr er sich aus dem Dunkel emporrang, desto schärfer die Nachforschungen nach seiner wahren Herkunft werden würden; und sein unter Qualen zuckender Stolz stach seinen Ehrgeiz beinah zu Tod.

Durch regelmäßige Mittel im Leben vorwärts zu kommen war in der That für diesen Mann schwer. Immer scheu zurückbebend vor dem Namen, den er trug – immer noch stark in der Hoffnung, das wieder zu erlangen, worauf er ein volles Recht zu haben überzeugt war – jenen Nationalstolz hegend, der den Sohn eines freien Staates nie verläßt, wie hart auch sein mütterliches Land sich gegen ihn gezeigt haben mag, und besonders trotz seines Ehrgeizes und seiner Leidenschaften beseelt, gerade in Folgen des Unglücks, das er erduldet, von einem unbesiegbaren Glauben an die endliche Gerechtigkeit des Himmels, hatte er es abgelehnt, die letzten Bande zu zerreißen, die ihn an sein verlorenes Erbe und sein verlassenes Heimathland knüpften, sich geweigert, sich naturalisiren zu lassen und sich ein gesetzlich unbestreitbares Recht auf den Namen, den er trug, zu erwerben – er begnügte sich, ein im Lande lebender Ausländer zu seyn.

Auch war Vaudemont nicht eigentlich geschaffen für die Krisis in der socialen Welt, wo die Männer der Journale und der Zunge die Männer der That beiseite drängen. Er hatte die Literatur nicht kultivirt – er besaß kein Bücherwissen – die Welt war seine Schule, das strenge Leben sein Lehrmeister gewesen. Dennoch, ausgezeichnet in jenen körperlichen Fertigkeiten und Talenten, welche die Menschen bewundern und wornach der Soldat strebt, ruhig und voll Selbstbeherrschung in seinem Wesen, im Besitz ausgezeichneter persönlicher Vorzüge des glücklichsten Talentes und einer geübten Beobachtung der Charaktere, bekämpfte er fortwährend die ihn umgebenden Hindernisse und wußte sich in Gunst zu setzen bei den Inhabern der Gewalt.

Es war bei einem Mann, der so aufgewachsen und in solchen Verhältnissen war, natürlich, daß er keine Sympathie für die sogenannte Volkssache hatte. Er war kein Bürger in dem Staat, er war ein Fremder in dem Lande. Er hatte zu viel geduldet, und duldete noch, von den Menschen, um jene Philanthropie zu haben, die, manchmal überschwenglich aber immerhin edel, in der That meist ihren Grund hat in den Studien, die wir, nicht auf dem Markt des Lebens, sondern im einsamen Gemach, treiben. Ach! die Menschen verlieren nur zu oft den demokratischen Enthusiasmus in dem Verhältniß, als sie Ursache finden, ihr Geschlecht mit Mißtrauen oder mit Verachtung anzusehen, und gäbe es nicht Hoffnungen für die Zukunft, welche uns einzuflößen dies harte, praktische Alltagsleben nicht genügt: der Nimbus und die Glorie, welche dem große Glauben an die Volkssache angehören, würden gedämpft und getrübt unter der Ungerechtigkeit, den Thorheiten und den Lastern der Welt, wie sie ist, zu der lauen Sektirerei vorübergehender Parteisucht erbleichen.

Ueberdies war Vaudemonts Denke und Ansichtsweise die des Lagers, und bestärkt worden durch die ihm im Orient geläufig gewordenen Systeme. Er betrachtete das Volk wie in der Regel der für Zucht und Ordnung eingenommene Soldat. Daher waren seine Theorien, oder vielmehr seine Unbekanntschaft mit dem, was in der Theorie gesund ist, für Carl X, bei seinen Uebergriffen, aber nicht für die Zaghaftigkeit, durch welche jene Uebergriffe mit Entthronung und Schmach endeten. Im innersten Herzen ergrimmt, von stolzem Schmerz genagt, gehorchte er den königlichen Befehlen und folgte dem verbannten Monarchen; seine Hoffnungen in Frankreich waren gefallen, seine Laufbahn für immer vernichtet.

Aber als er England betrat, gewann sein zuversichtliches, an Hülfsquellen reiches Gemüth neue Nahrung. In dem Land, wo er keinen Namen hatte, konnte er vielleicht das Gebäude seines Glücks wieder gründen. Es war eine schwierige Aufgabe, eine unwahrscheinliche Hoffnung: aber die auf der Brücke von Paris gehörten Worte – Worte, die ihn oft während seiner Verbannung in Mühsalen und Gefahren, welche wir in unsrer Erzählung nicht alle zu schildern brauchen, getröstet und gestärkt hatten, – klangen wieder in seinem Ohr, als er an die Küste seiner Heimath sprang: »Zeit, Glaube, Thatkraft!«

Wenn dies sein Charakter war in den größern und entfernteren Beziehungen des Lebens, waren in den engeren Kreisen der Geselligkeit und Freundschaft viele seltene und edle Eigenschaften sichtbar. Zwar war er streng, vielleicht herrisch – von einer Gemüthsart, die immer zu befehlen trachtete; aber er besaß eine innige Empfänglichkeit für Wohlwollen und Freundlichkeit, und wenn die ihm Entgegenstehenden ihn fürchteten, so liebten ihn dafür seine Untergebenen. In seinem Charakter war jene Mischung von Zartheit und Trotz, welche man in den alten Schilderungen der Krieger findet.

Obgleich in der Literatur so wenig bewandert, hatte ihm doch das Leben eine gewisse Poesie der Empfindung und der Gedanken beigebracht, – mehr Poesie vielleicht in den stummen Gedanken, welche in seinen glücklicheren Augenblicken seine Einsamkeit erfüllten, als in der Hälfte der Blätter, die sein Bruder an dem träumerischen See gelesen und. geschrieben hatte. Eine gewisse Gedankengröße, ein Adel aufwallenden Gefühls machten ihn oft in dem Sinne handeln, wovon die Buchmänner dichten. Bei all seiner Leidenschaftlichkeit verachtete er die Zügellosigkeit; bei all seinem ehrgeizigen Streben nach der Macht, die der Reichthum gibt, verschmähte er seinen Luxus. Einfach, männlich, streng, enthaltsam, war er von dem Gepräge, welches in frühern Zeiten den glücklichen Männern der That aufgedrückt war. Aber zu erfolggekrönter That ist die Gunst der Umstände unentbehrlicher, als zu erfolgreichem Studiren.

Es war zu erwarten, daß er, je mehr er an ein reineres und edleres Leben sich gewöhnte, mit um so größerer und innigerer Demüthigung auf seine frühere Genossenschaft mit Gawtrey zurückblickte. Er war in dieser Hinsicht strenger gegen sich, als irgend ein Anderer von gewöhnlichem Gerechtigkeitssinn und Ehrlichkeit gewesen seyn würde, bei unparteiischer Erwägung der Umstände, des Mangels, des Hungers, der Verzweiflung, die ihn unter Gawtreys Dach getrieben, der Unvollkommenheit seiner frühern Erziehung, des knabenhaften Zutrauens und der Neigung, die er gegen seinen Beschützer gefühlt, und seiner Unwissenheit und Unschuld in Bezug auf alle die schlimmeren Streiche des unglücklichen Verbrechers. Aber dennoch, wenn mit der nunmehr erlangten Einsicht der Mann ruhig zurückschaute, so glühte seine Wange vor reuevoller Schaam über seine unbesonnene Theilnahme an einem so zweideutigen und gewissenlosen Leben, dessen wahre Beschaffenheit damals nicht begriffen zu haben, dem Knaben unter den von uns geschilderten Umständen verziehen werden konnte.

Zwei Vortheile indeß ergaben sich aus der Verirrung und Reue; erstens die Demüthigung, die er empfand, beugte einigermaßen einen Stolz, der sonst leicht anmaßend und unfreundlich geworden wäre; und sodann, wie ich oben angedeutet, seine innige Dankbarkeit gegen den Himmel für seine Befreiung aus den Schlingen, die seine Jugend bedroht hatten, gab seiner Zukunft den Leitstern eines ernsten und herzlichen Glaubens. Er ließ im Leben durchaus keinen Zufall gelten. Was auch seine Kämpfe, seine Schwermuth, sein Gefühl in der Welt erlittenen Unrechts – er verzweifelte nie; denn Nichts konnte jetzt seinen Glauben an die Alles lenkende Vorsehung erschüttern.

Vaudemonts Gewöhnungen und Lebensweise stimmten wohl zusammen mit der ruhigen Haushaltung, in welcher er jetzt ein Gast war. Wie die meisten Männer von starker Constitution, die an ein thätiges Leben, nicht an Studiren gewohnt sind, stand er früh auf; und gewöhnlich ritt er nach London, von wo er spät Mittags zu ihrem frugalen Mahl zurückkehrte. Und wenn er, vielleicht um die Stunde, wo Simon und Fanny sich zur Ruhe begaben, oft noch einmal nach London ritt, öffnete ihm sein eigener Hauptschlüssel, zu welcher Zeit er zurückkehren mochte, das Haus, ohne daß er die Familie im Schlaf störte.

Manchmal, wenn die Sonne zu sinken begann, und die Luft warm war, schlich der Alte, auf diesen kräftigen Arm gestützt, hinaus durch die benachbarten Gäßchen, und kehrte immer über den einsamen Begräbnißplatz nach Hause zurück, oder wenn der blinde Hausherr an seinem Kamin sitzen blieb und sich zu einem Schlaf zurechtsetzte, eilte Philipp mit Fanny fort, und an den Tagen, wo sie ausging, ihre Arbeit zu verkaufen, oder ihre kleinen Einkäufe zu machen, begleitete er sie immer pünktlich, und ihre Wange flammte von Stolz, wenn sie ihn ihr Körbchen tragen, oder in sinnender Geduld draußen warten sah, während sie ihre Geschäfte in den Läden abmachte.

Obgleich in der That Fannys Verstand innerlich reifte, täuschte doch oft die Oberfläche das Auge hinsichtlich der Tiefe. Es war mehr das, daß irgend Etwas die Geisteskräfte in ihrem Wachsthum zurückhielt, als daß sie selbst gefehlt hätten. Ihre Schwäche war mehr die eines Kindes, als eines mit unheilbarem Schwachsinn behafteten Geistes. Zum Beispiel, sie führte den kleinen Haushalt mit Geschick und Klugheit; sie konnte das für ihre einfachen Verhältnisse Erforderliche im Kopf rechnen so schnell wie Vaudemont selbst; sie kannte den Werth des Geldes, was bei manchen von uns klugen Leuten nicht der Fall ist.

Ihre schon in ihre Kindheit bemerkenswerthe Geschicklichkeit in verschiedenen Zweigen weiblicher Handarbeit war nicht nur durch Beharrlichkeit, sondern auch durch Erfindungsgeist und ein eigenthümliches Talent zu einer wunderbaren, ausnehmenden Vollkommenheit gediehen. Ihre Stickerei, zumal in der damals seltneren Gattung, Blumen auf Seide zu sticken, war sehr gesucht bei den großen Modistinnen von London, zu welchen sie immer ihren Weg fand durch die Vermittlung der Miß Semper. So daß dieß Alles sie Jahre lang in Stand gesetzt hatte, alle Lebensbedürfnisse für sich und ihren blinden Beschützer zu bestreiten, und ihre Sorgfalt für den Alten war schön in ihrer ängstlichen Aufmerksamkeit. Wo ihr Herz Antheil nahm, da zeigte sich nie eine Geistesschwäche.

Vaudemont war gerührt, als er sah, wie viel liebevolle und mitleidige Achtung sie in der Nachbarschaft, zumal unter den geringern Klassen, zu genießen schien – selbst der Bettler, der an den Ecken herumzog, bettelte nicht von ihr, sondern wünschte ihr, wenn sie vorüberging, Gottes Segen; und der rohe, mißvergnügte Arbeiter wich an der Mauer aus und erwiederte mit erheiterter Stirne das Lächeln, womit die Harmlose seine Artigkeit freundlich vergalt. Wirklich wurde das Gewinnende und Einnehmende, was sie ihrer Jugend, ihrer Schönheit, ihrem Unglück und ihrem rührenden Fleiße verdankte, erhöht durch manche kleine Züge von Menschenliebe und Freundlichkeit; manches kranke Kind hatte sie gepflegt, und mancher Tisch ohne Brod hatte dem für ihres Vaters Grab beiseite gelegten Schatz etwas entzogen.

»Meint Ihr nicht,« flüsterte sie einmal Vaudemont ins Ohr, »daß Gott uns mehr liebt, wenn wir gut sind gegen die Kranken und Hungernden?«

»Gewiß, so lehrt man uns glauben.«

»Nun, ich will Euch ein Geheimniß anvertrauen – sagt es nicht weiter. Großpapa sagte einmal, mein Vater habe böse Dinge gethan; wenn nun Fanny gut ist gegen diejenigen, denen sie helfen kann, so denke ich, wird Gott sie freundlicher erhören, wenn sie ihn bittet, ihrem Vater zu verzeihen, was er gethan. Glaubt Ihr das auch? Sagt es – Ihr seyd so klug!

»Fanny. Ihr seyd klüger als wir Alle, und ich fühle mich besser und glücklicher, wenn ich Euch reden höre.«

Es gab in der That viele Augenblicke, wo Vaudemont der Ansicht war, ihre geistigen Mängel hätten längst können gut gemacht und ausgeglichen werden durch gewandte geistige Pflege und durch regelmäßigen Umgang mit ihren Altersgenossinnen; aber vor diesem Umgang hatte Fanny selbst in der Schule zurückgeschauert. Zu andern Zeiten wieder hatte sie etwas so Abwesendes und Zerstreutes, oder so Phantastisches und Unzusammenhängendes in ihrem Wesen, daß Vaudemont mit dem harten, weltlichen Auge des Mannes nur traurige Verwirrung darin las. Dennoch, wenn auch das Gewebe der Ideen verworren, war doch jeder Faden für sich ein goldener.

Fannys großer Zweck – das große Ziel ihres Ehrgeizes – ihre einzige Hoffnung, war ein Grab für ihren vermeintlichen Vater. Rührte dies nun von jener frühe eingesogenen Religion, welche sich an das Grab knüpft, die man vielleicht am meisten in katholischen Ländern fühlt, und welche ihr im Kloster war eingeflößt worden, oder von der Nähe ihrer Wohnung beim Kirchhof, und der Neigung und Liebe her, womit sie den Platz betrachtete, – was immer der Grund seyn mochte, sie hatte seit Jahren, so wie andere junge Mädchen den Wunsch nach dem Altare hegen, den Traum von dem Grabstein gehegt.

Aber der Schatz wuchs so langsam an; bald war der alte Gawtrey von einer Krankheit befallen: – bald trat eine Schwierigkeit in Einziehung des Miethzinses ein – bald eine Schwankung im Preise der Arbeiten; und bald, was am öftersten der Fall war, eine Bitte und ein Anspruch an ihre Mildthätigkeit, wodurch die frommen Ersparnisse gehemmt und gemindert wurden. Dies war eine Gesinnung, worin ihr neuer Freund innig mit ihr sympathisirte; denn auch er erinnerte sich, daß er mit seinem ersten Gold den bescheidenen Grabstein erkauft hatte, der noch das Gedächtniß seiner Mutter auf Erden erhielt.

Mittlerweile verstrichen die Tage, und keine neue Gewaltthat bedrohte Fanny. Vaudemont erfuhr ganz allmälig – denn Fannys Bericht war sehr verwirrt – die eigentliche Beschaffenheit der Gefahr, in die sie gerathen. Es schien sich so zu verhalten, daß eines Tages Fanny, durch das schöne Wetter auf die Straße gelockt, welche aus der Vorstadt weiter ins Land führte, von einem Gentleman in einem Wagen war angehalten worden, der sie, wie sie sagte, sehr freundlich anredete; nach einigen Fragen, die sie mit ihrer gewöhnlichen, arglosen Unschuld beantwortete, ihre Beschäftigung erfuhr, darauf bestand, einige Arbeiten, die sie eben in ihrem Körbchen hatte, ihr abzukaufen, und ihr eine beständige Abnahme unter weit bessern Bedingungen zu verschaffen versprach, als sie bisher gehabt, wenn sie in dem Hause einer Mrs. West, etwa eine Meile von der Vorstadt London zu, anfragen wolle.

Dies versprach sie zu thun, und that es auch nach der Adresse, die er ihr gab. Sie ward zu einer Frau geführt, die weit auffallender geputzt war, als Fanny je zuvor eine Dame gesehen hatte – der Gentleman war auch anwesend. – Beide überhäuften sie mit Complimenten, und kauften ihre Arbeiten zu einem Preise, der alle Hoffnungen des armen Mädchens, den Grabstein für William Gawtrey betreffend, verwirklichen zu wollen schien – als ob sein schlimmes Geschick diesen ungestümen Mann noch jenseits des Grabes verfolgte, und sein Denkstein sogar mit dem Gold des Verführers erkauft werden sollte!

Dann wies die Frau sie an, wieder zu kommen; in der Zwischenzeit aber begegnete sie Fanny auf der Straße, und wie sie mit ihr redete, traf es sich zum Glück, daß Miß Semper die Putzmacherin des Weges kam – sich umwandte, die Frau sehr scharf ansah, sie mit sehr zornigen Worten anließ, Fanny bei der Hand ergriff und sie wegführte, während die Frau forthuschte und dem Mädchen erzählte, die besagte Dame sey eine sehr schlimme Frau und Fanny solle nie wieder mit ihr sprechen. Fanny versprach dies sehr gerne, und in der That kam die Frau, den Pöbel oder die Behörden scheuend, ihr nie wieder nahe.

»Und,« sagte Fanny, »ich gab das Geld, das sie mir Beide gegeben, der Miß Semper, welche sagte, sie wolle es zurück schicken.«

»Ihr thatet recht, Fanny, und wie Ihr der Miß Semper ein Versprechen gabet, so müßt Ihr mir auch eines geben: nie wieder ohne mich oder sonst Jemand aus dem Hause zu gehen. Oder nein, mit Niemand – nur mit mir! Ich will alles Andere unterlassen, um Euch zu begleiten.«

»Wollt Ihr? Ach, ja, ich verspreche es! Ich ging sonst gerne allein, aber das war, ehe Ihr kamet, Bruder!«

Und da Fanny ihr Versprechen wirklich hielt, hätte das ein kecker Held der Galanterie seyn müssen, der es gewagt hätte, sie zu belästigen an der Seite eines so stattlichen und, kräftigen Beschützers.



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