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Achtes Kapitel.

Constance. Wenn ich ihn treffe in des Himmels Saal,
Erkenn' ich ihn nicht mehr.

König Johann.

Eines Abends, nachdem der Laden geschlossen und das Geschäft zu Ende war, saß Mr. Roger Morton und seine Familie in der hübschen und behaglichen Hinterstube, welche gewöhnlich an die Waarenzimmer eines englischen Gewerbsmanns stößt. Glücklich oft, in Wahrheit glücklich, ist dies kleine Heiligthum, nahe, und doch auch wieder fern, dem Treiben und Sorgen des geschäftigen Verkehrs, dem es doch seine heimliche Behaglichkeit und seine friedliche Sicherheit verdankt. Man schaue die Reihen schweigender Läden in einer Stadt bei Nacht hinab, und stelle sich vor die fröhlichen und friedlichen Gruppen, die im Innern versammelt sind bei dem nächtlichen, geselligen Mahl, das die Sitte der Zeit verbannt hat bei den geschäftsloseren Classen, die nicht spinnen und weben. Zwischen die beiden Extreme des Lebens gestellt, könnte der Gewerbsmann, der nicht Mehr wagt, als seine Mittel erlauben, der in seinen Büchern Klarheit und Ordnung, und sichern Gewinn sieht, der Beschäftigung genug hat, ihn in heilsamer Bewegung zu erhalten, und Vermögen genug, um jedes neue Kind ohne einen Seufzer zu begrüßen, von den über und von den unter ihm Stehenden gleichermaßen beneidet werden – wenn das rastlose, unruhige Menschenherz je die Zufriedenheit beneidete!

»Und so kommt also der kleine Knabe nicht?« sagte Mrs. Morton, indem sie Messer und Gabel übereinander legte und ihren Teller wegschob, zum Zeichen, daß sie mit ihrem Nachtessen fertig sey.

»Ich weiß nicht. – Kinder, geht zu Bett; so – so – das ist recht. Gute Nacht! – Katharine sagt weder Ja noch Nein. Sie verlangt Zeit zur Ueberlegung.«

»Es war ein recht schönes Anerbieten von Eurer Seite; manche Leute wissen es doch nie, wenn es ihnen gut geht.«

»Das ist sehr wahr, meine Liebe, und Du bist eine sehr verständige Person. Käthe selbst könnte jetzt eine ehrbare Frau, und noch mehr eine sehr reiche Frau seyn. Sie hätte Spencer heirathen können, den jungen Brauer – einen trefflichen Mann, dem es gewiß gut gegangen wäre!«

»Spencer! ich erinnere mich seiner nicht.«

»Nein; nachdem sie davongelaufen, zog er sich vom Geschäft zurück und verließ den Ort. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Er war mächtig in sie verschossen, wahrhaftig. Sie war ungemein schön, meine Schwester Katharine.«

»Schön ist Wer schön handelt, Mr. Morton,« sagte die Frau, die von den Blattern ziemlich gezeichnet war. »Wir haben Alle unsere Versuchungen und Proben zu bestehen; die Welt ist ein Jammerthal, und ohne die Gnade sind wir übertünchte Gräber.«

Mr. Morton mischte sich seinen Branntwein mit Wasser und rückte seinen Stuhl in die gewohnte Ecke.

»Ihr habt Eures Bruders Brief gelesen?« sagte er nach einer Pause; »er gibt dem jungen Philipp ein sehr gutes Zeugniß.«

»Das menschliche Herz ist ein sehr trügliches Ding,« versetzte Mrs. Morton, welche, beiläufig bemerkt, durch die Nase sprach. »Wollte Gott, daß er ist, was er scheint, aber der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!«

»Wir müssen das Beste hoffen,« sagte Mr. Morton mild; »und, – thu noch ein Stück Zucker in den Grog, meine Liebe.«

»Es ist ein wahrer Segen, denk' ich, daß wir den andern kleinen Jungen nicht bekamen. Ich glaube beinahe, man hat ihn nie auch nur seinen Catechismus gelehrt, die Leute wissen gar nicht, was es heißt, eine Mutter seyn, und zudem wäre es eine große Verlegenheit gewesen, Mr. Morton, wir hätten nie sagen können, Wer er sey; und ich zweifle nicht, Miß Pryinall Sprechender Name: »die ihre Nase in alles hineinsteckt«. – Anm.d.Hrsg. würde sehr neugierig gewesen seyn.«

»Miß Pryinall soll – –!« Mr. Morton hielt an sich, nahm einen tüchtigen Schluck Branntwein und Wasser und sagte dann: »Miß Pryinall will ihren Finger in Jedermanns Pasteten haben.«

»Aber sie kauft viel Flanell und thut der Stadt viel Gutes; sie hat es herausgebracht, daß Mrs. Giles eine solche Person war!«

»Die arme Mrs. Giles! – sie kam in das Arbeitshaus In England bekanntlich das Armenhaus.

»Die arme Mrs. Giles, ei freilich! Es wundert mich, Mr. Morton, daß Ihr, ein verheiratheter Mann mit Familie, sagen möcht: die arme Mrs. Giles!«

»Meine Liebe, wenn Leute, denen es einmal gut gegangen, ins Arbeitshaus kommen, so kann man sie wohl arm nennen; – aber das laß ich auf sich beruhen; nur wenn der Knabe zu uns kommt, müssen wir ein scharfes Auge auf Miß Pryinall haben.«

»Ich hoffe er wird nicht kommen– es wäre sehr unangenehm, und wenn ein Mann Frau und Kinder hat, je weniger er sich mit andern Leuten und ihren Kindern bemengt, desto besser. Denn wie die Schrift sagt: Ein Mann soll seinem Weibe anhängen, und –«

Hier hörte man die Glocke heftig und gellend anziehen, und Mrs. Morton brach aus in ein:

»Ha! das muß ich sagen! In dieser Stunde! Wer mag es seyn? Und Alles schon zu Bette! Geht und seht, Mr. Morton.«

Etwas widerstrebend und langsam erhob sich Mr. Morton; er ging in den Gang und riegelte die Thüre auf. Eine kurze Unterredung in flüsterndem Ton folgte, zu nicht geringem Aerger der Mrs. Morton, die, mit der Kerze in der Hand, im Gange stand.

»Was gibt's, Mr. Morton?«

Mr. Morton kehrte sich um und sah sehr erschüttert aus.

»Wo ist mein Hut? Ha, hier. Meine Schwester ist angekommen, im Gasthaus.«

»Gnädiger Himmel! Sie wird doch nicht gar sagen, sie sey Eure Schwester?«

»Nein, nein; da ist ihr Billet – sie nennt sich eine kranke Frau. Ich werde bald zurück seyn.«

»Sie kann nicht hieher kommen – sie soll nicht ins Haus kommen Mr. Morton. Ich bin eine ehrbare Frau – sie kann nicht ins Haus kommen. Ihr versteht –«

Mr. Morton hatte von Natur ein strenges, ernstes Gesicht – streng gegen Jedermann außer gegen seine Frau. Der gellende Ton, an den er so lange gewohnt war, verletzte jetzt sein Herz ebenso wie sein Ohr. Er runzelte die Stirne –«

»Still, Weib, Du hast kein Gefühl!« sagte er und eilte aus dem Hause, den Hut in die Stirne drückend.

Das war die einzige rauhe Rede, welche Mr. Morton je seiner besseren Hälfte gab. Sie bewahrte sie und bewegte sie in ihrem Herzen und ihrem Gedächtniß; sie verknüpfte sich unauflöslich mit ihren Gefühlen gegen die Schwester und das Kind; und sie war nicht die Frau, die je vergeben hätte.

Mr. Morton schritt rasch durch die stillen, vom Mond beschienenen Straßen bis er das Gasthaus erreichte. Ein Clubb war in dieser Nacht in einem der untern Zimmer versammelt; und als er über die Schwelle trat, begrüßten die Töne: »Hoch! hurrah!« vermischt mit dem Stampfen von Füßen und dem Klirren von Gläsern seinen Eintritt. Er war ein steifer, nüchterner, ehrbarer Mann – ein Mann der, ausgenommen bei Wahlen, denn er war ein eifriger Politiker, nie an den lärmenden Gelagen seiner ausgelasseneren Mitbürger Theil nahm. Diese Töne, der Ort, berührten ihn unangenehm. Er blieb stehn und die Schaamröthe stieg ihm ins Gesicht. Er schämte sich hier zu seyn – schämte sich die verlassene, und wie er glaubte, verirrte Schwester aufzusuchen.

Eine hübsche Kellnerin, erhitzt und roth von Bestellungen und Complimenten, kam mit einer Mulde voll Gläser an ihm vorbei.

»Ist hier eine Dame, mit dem Telegraphen angekommen?«

»Ja, Sir, eine Treppe hoch, Nr. 2, Mr. Morton!«

Mr. Morton! Er bebte zurück bei dem Laut seines eignen Namens. »Mein Weib, hat Recht,« murmelte er. »Am Ende ist es doch unangenehmer als ich gedacht.«

Die schwache Treppe schütterte unter seinen hastigen Schritten. Er öffnete die Thüre von Nr. 2, und die Katharine, die er zuletzt gesehen im fröhlichen Alter von sechszehn Jahren, in strahlender Blüthe, und abgesehen von ihrem stolzen Ausdruck, das Modell für eine Hebe, – diese Katharine, alt ehe die Jugend verstrichen, blaßgewelkt, das dunkle Haar in Silbergrau verwandelt, mit hohlen Wangen und trüben Augen – diese Katharine sank an seine Brust!

»Gott segne Dich, Bruder! Wie freundlich, daß Du kommst! Wie lange, daß wir uns nicht gesehen!«

»Setz Dich Katharine, meine theure Schwester. Du bist schwach – Du bist sehr verändert – sehr. Ich hätte Dich nicht erkannt.«

»Bruder, ich habe meinen Knaben mitgebracht; es ist mir schmerzlich, mich von ihm zu trennen – sehr – sehr schmerzlich! aber es ist gut und recht, und Gottes Wille geschehe!«

Sie wandte sich bei diesen Worten nach einem kleinen, unförmlichen, zwerghaften Sopha, der sich im dunkelsten Winkel des niedern, düstern Zimmers zu verstecken schien; und Mr. Morton folgte ihr. Mit der einen Hand zog sie den Shawl weg, den sie über das Kind gebreitet hatte, und den Zeigefinger der andern Hand an die Lippen legend – und diese Lippen lächelten jetzt – flüsterte sie:

»Wir wollen ihn nicht aufwecken; er ist so ermüdet. Aber ich wollte ihn nicht zu Bette bringen, als bis Ihr ihn gesehen.«

Und da schlief der arme Sidney, seine schöne Wange auf seinen Arm gelehnt; die weichen seidnen Locken von der zarten, unbewölkten Stirn weggestrichen; seine natürliche blühende Farbe durch Hitze und durch die Reise erhöht; das liebliche Angesicht so unschuldig und so friedlich; der Athem so leicht und regelmäßig, als hätte nie ein Seufzer ihn unterbrochen.

Mr. Morton fuhr mit der Hand über die Augen.

Es lag etwas gar Rührendes in dem Contrast zwischen der sorgenwachen, unseligen Frau, und dem Schlummer des unbewußten Knaben, und in diesem Augenblick, welches Herz, dem je das Licht christlicher Barmherzigkeit – natürlicher Zärtlichkeit gedämmert, hätte, vorausgesetzt selbst, daß das Urtheil der Welt begründet gewesen wäre, sich an Katharinens angebliche Verirrung erinnert? Es liegt eine so sittliche Heiligkeit in der Liebe einer Mutter, daß sie, wie auch immer das Band mochte geknüpft worden seyn, das sie an das Kind bindet, gleichsam geweiht und geheiligt wird; und die Vergangenheit ist vergessen, und die Welt und ihre harten Urtheile sind vernichtet, wenn diese Liebe allein sichtbar ist; und Gott, der über das Kleine wacht, gießt sein Lächeln aus über die menschliche Vertreterin, in deren Zärtlichkeit und Liebe die seinige weht!

»Ihr werdet freundlich gegen ihn seyn – nicht wahr?« sagte Mrs. Morton, und die Aufforderung geschah in dem vertrauensvollen, beinah getrosten Ton, welcher sagt: Wer wollte nicht freundlich seyn gegen ein so liebliches und hülfloses Wesen? »Er ist sehr empfindlich und gelehrig; Ihr werdet nie Veranlassung haben, ihm ein hartes Wort zu sagen – nie! Ihr habt selbst auch Kinder, Bruder!«

»Es ist ein schöner Knabe – recht schön. Ich will ihm Vater seyn.«

Während dieser Worte beschlich ihn die Erinnerung an seine sauergesinnte, mürrische, herbe Frau, aber er sagte bei sich selbst: »Sie muß ein solches Kind lieb gewinnen, – die Weiber werden immer durch Schönheit eingenommen.«

Er bückte sich und drückte leise seine Lippen auf Sidneys Stirne. Mrs. Morton deckte wieder den Shawl auf ihn und zog ihren Bruder in die andre Ecke des Zimmers

»Und jetzt,« sagte sie und erröthete als sie sprach, »muß ich Eure Frau sehen, Bruder; es gibt so Viel zu sagen über ein Kind, was nur eine Frau im Gedächtniß behalten kann. Ist sie recht gutmüthig und freundlich, Eure Frau? Ihr wißt, ich habe sie nie gesehen; Ihr habt geheirathet, nachdem – nachdem ich fort war.«

»Sie ist eine sehr brave Frau,« sagte Mr. Morton und räusperte sich; »und hat mir etwas Geld zugebracht; sie hat ihren eigenen Willen, wie die meisten Frauen; aber das lass' ich auf sich beruhen – sie ist ein gutes Weib, wie die Weiber sind, und klug und scheut keine Arbeit und Mühe – ich weiß nicht, was ich anfinge ohne sie.«

»Bruder – ich habe eine Gunst zu erbitten – eine große Gunst.«

»Etwas, wobei ich mit Geld helfen kann?«

»Nein, mein Anliegen hat Nichts mit Geld zu schaffen. Ich habe nicht mehr lang zu leben – schüttelt den Kopf nicht – ich habe nicht mehr lange zu leben. Ich bin ohne Sorge wegen Philipps – er hat so viel Muth – so viel Charakterstärke – aber dies Kind! Ich kann es nicht ertragen, es ganz zu verlassen; laßt mich in dieser Stadt bleiben – ich kann überall wohnen; aber um ihn nur manchmal zu sehen, zu wissen, daß ich in seiner Nähe bin, wenn er krank wird – laßt mich hier bleiben – laßt mich hier sterben!«

»Ihr müßt nicht so traurig reden – Ihr seyd noch jung – jünger als ich – ich denke nicht ans Sterben.«

»Der Himmel verhüte es, aber –«

»Gut – gut,« unterbrach sie Mr. Morton, welcher anfing zu fürchten, seine Gemüthsbewegung möchte ihn zu einem Versprechen hinreißen, das ihm seine Frau zu halten nicht gestatten dürfte; »Ihr sollt sprechen mit Margarethen, d. h. mit Mrs. Morton – ich will sie veranlassen, Euch zu sehen – ja, ich denke, ich kann das schon machen, und wenn Ihr mit ihr einig werdet, wegen des Hierbleibens, – aber seht Ihr, da sie das Geld in die Ehe gebracht hat, und eine gar besondere Frau ist –«

»Ich will sie sprechen; Dank Euch, Dank Euch; sie kann es mir nicht abschlagen. – Und Bruder,« fuhr Mrs. Morton nach einer kleinen Pause und mit fester Stimme fort, »und ist es möglich, daß Ihr meine Erzählung nicht glaubt? Daß Ihr, wie alle Andere; meine Kinder als Kinder der Schande betrachtet?«

In Katharinens Stimme, als sie so sprach, lag ein Ernst und eine Redlichkeit, welche Viele überzeugt hätten. Aber Mr. Morton war ein Mann der Thatsachen, ein praktischer Mann – ein Mann der glaubte, daß das Gesetz immer Recht habe, und daß das Unwahrscheinliche nie wahr sey.

Er sah zu Boden als er ihr antwortete: »Ich glaube, Ihr seyd eine hartgetäuschte Frau gewesen, Katharine; und das ist Alles, was ich über die Sache sagen kann. Laßt uns den Gegenstand nicht weiter berühren.«

»Nein, ich ward nicht getäuscht; mein Gatte – ja, mein Gatte – war edel und großmüthig vom Anfang bis ans Ende, um der Aussichten seiner Kinder willen – um dessen willen, was sie, durch ihn, von seinem stolzen Oheim zu erwarten hatten, hielt er unsere Heirath geheim. Tadelt Philipp nicht – verdammt nicht den Todten!«

»Ich begehre Niemand zu tadeln,« sagte Mr. Morton etwas gereizt; »ich bin ein einfacher Mann– ein Gewerbsmann, und kann mich nur an das halten, was in meinen Kreisen für recht und ehrlich gilt, und dafür kann ich Mr. Beauforts Handlungsweise nicht halten – nehmt es wie Ihr wollt, während er Euch, wie Ihr glaubt, heirathet, entledigt er sich seines Zeugens, vernichtet ein Certifikat und macht kein Testament. Indeß Alles das lass' ich auf sich beruhen. Ihr thut ganz recht, nicht den Namen Beaufort zu führen, da er ungewöhnlich ist und immerhin die Geschichte allgemeiner bekannt machen würde. Je Weniger geredet, je eher geholfen. Ihr müßt immer bedenken, daß Eure Kinder werden natürliche Kinder genannt werden, und sich selbst ihre Bahn durchs Leben machen müssen. Kein Schaden eben das! – Ein warmer Tag für Eure Reise.«

Katharine seufzte und wischte sich die Augen; sie machte der Welt keine Vorwürfe mehr, da der Sohn ihrer eignen Mutter ihr nicht glauben wollte.

Die Geschwister unterhielten sich einige Minuten über die Vergangenheit – über die Gegenwart; aber Befangenheit und Zwang herrschte auf beiden Seiten – es war so schwierig, Einen Gegenstand zu vermeiden; und nach einer Trennung von sechszehn Jahren bleiben wenig gemeinschaftliche Interessen selbst zwischen Solchen, die einst miteinander um ihrer Eltern Kniee spielten. Mr. Morton war endlich froh, in Katharinens Erschöpfung einen Vorwand zu finden, sie zu verlassen. »Sey getrost, und nimm ein Glas warmen Getränks, ehe Du zu Bette gehst. Gute Nacht!« Das waren seine Abschiedsworte.

 

Lang war die Besprechung, schlaflos die Nacht von Mr, und Mrs. Morton. Anfangs erklärte die schätzbare Dame ganz rund heraus, sie wolle und könne Katharinen nicht besuchen; sie bei sich zu empfangen, das kam gar nicht zur Sprache. Aber sie war heimlich entschlossen, in diesem Punkt nachzugeben, um mit desto stärkerer Entschiedenheit auf einem andern zu bestehen, nämlich auf der Unmöglichkeit, daß Katharine in der Stadt bleibe. Eine solche Nachgiebigkeit zum Behuf des Widerstandes ist eine sehr gewöhnliche und scharfsinnige Politik bei verheiratheten Frauen.

Als daher Mrs. Morton plötzlich mit guter Art von ihres Gatten Beredtsamkeit erschüttert schien und sagte: »Hu, das arme Geschöpf! wenn sie denn so krank ist und Ihr es so sehr wünscht, so will ich sie morgen besuchen;« da fühlte Mr. Morton, wie sein Herz weicher und zugänglicher wurde für die vielen trefflichen Gründe, welche seine Frau geltend machte für ihre Weigerung, Katharinen ihren Aufenthalt in der Stadt nehmen zu lassen. Er sey ein politischer Charakter; er habe viele Feinde; die jetzt vergessene Geschichte von der Verführung seiner Schwester würde gewiß wieder aufgerührt werden, würde Nachtheile für seine Ruhe und Behagen, vielleicht für sein Gewerbe, gewiß für seine älteste Tochter haben, die jetzt dreizehn Jahre alt war: es würde dann unmöglich seyn, den bisher beschlossenen Plan auszuführen – Sidney für den rechtmäßigen Sohn und Waisen eines entfernten Verwandten auszugeben; es würde von Miß Pryinall als eine ergiebige Quelle von Klatschereien benützt werden.

Zu all diesen Gründen hin drängte sich noch ein nicht minder starker dem Mr. Morton selbst auf: die ungemeine, erbarmungslose Strenge seiner Frau mußte zur Folge haben, daß alle andern Frauen in der Stadt mit großer Freude jeden Anlaß aufgriffen, welcher dazu dienen konnte, ihr mackelloses Schicklichkeitsgefühl in ein bedenkliches Licht zu stellen. Ueberdies sah er ein, daß, wenn Katharine blieb, dies eine beständige Quelle der Erbitterung in seinem Hause seyn würde; er war ein Mann, der ein unverkümmertes, friedliches Leben liebte, und so sehr als möglich Alles mied, was häuslichen Hader nähren konnte.

Und so waren, als endlich das Ehepaar sich den Rücken kehrte und zum Schlaf anschickte, die Friedensbedingungen festgestellt, und die schwächere Partei, wie in der Diplomatie gewöhnlich, den Interessen der vereinigten Mächte geopfert.

Am andern Morgen nach dem Frühstück ging Mrs. Morton am Arm ihres Gatten aus. Mr. Morton war eigentlich ein schöner Mann, von ernstem, gesetztem, strengem Benehmen und Aussehen, was viel dazu beigetragen, seinen Ruf in der Stadt zu erhöhen. Mrs. Morton war klein, wie aus Draht gezogen und knöchern. Sie hatte ihren Gatten dadurch gewonnen, daß sie verzweiflungsvolle Liebe zu ihm an den Tag legte, um Nichts zu sagen von einer Mitgift, die ihn in den Stand setzte, sein Geschäft auszudehnen, seinen Laden neu anzustreichen und neu zu versehen, und sich in die Classe der ersten Gewerbsmänner seiner Vaterstadt emporzuschwingen. Er glaubte noch immer, sie liebe ihn aufs Zärtlichste – eine gewöhnliche Selbsttäuschung der Ehemänner, zumal der unter dem Pantoffel stehenden. Mrs. Morton war vielleicht wirklich, auf ihre Weise, zärtlich gegen ihn gesinnt, denn obwohl ihr Herz nicht warm war, gibt es doch oft große Zärtlichkeit bei sehr wenig Gemüth.

Die würdige Dame war jetzt in ihrer Art aufs beste gekleidet. Sie besaß einen anständigen Stolz, den Lohn zur Schau zu stellen, welcher weiblicher Tugend gebührt. Blumen schmückten ihren Livornoer Hut, und ihr grünseidnes Kleid strotzte von vier Falbeln – das war, wie ich mir habe sagen lassen, damals die Mode. Auch trug sie einen sehr schönen schwarzen Shawl, äußerst schwer, obgleich der Tag sehr heiß war, mit einer breiten Bordüre; eine flotte Sévignébroche von gelben Topasen blitzte an ihrer Brust; eine ungeheure vergoldete Schlange stierte aus ihrem Gürtel hervor; ihr Haar, oder richtiger gesprochen ihre Stirn war in sehr zähe Locken gedrechselt, und ihre Füße in sehr enge halbgeschnürte Stiefeln, von welchen der Wohlgeruch des neuen Leders noch nicht gewichen war. Die letztgenannte Qual, denn il faut souffrir pour être belle, war es, was die gewöhnliche Säure in der Mrs. Morton Gemüthsart noch mehr reizte und verschärfte. Das friedseligste Gemüth wird unwirsch, wenn der Schuh drückt, und unglücklicherweise gehörte Mrs. Roger Morton zu den Frauen, die im Winter immer Frostbeulen und im Sommer Leichdorne haben.

»Also ist Eure Schwester eine Schönheit, sagt Ihr«?«

» War eine Schönheit, Mrs. Morton, – war eine Schönheit. Die Menschen verändern sich.«

»Ein böses Gewissen, Mr. Morton, ist –«

»Meine Liebe, könnt Ihr nicht schneller gehen?«

»Wenn Ihr meine Leichdorne hättet, Mr. Morton, würdet Ihr nicht so sprechen.«

Das glückliche Paar versank in Schweigen, das nur unterbrochen wurde durch einige: »Was macht Ihr! Im Original: » How d'ye dos?«, was bekanntlich die englische Begrüßungsformel darstellt im Sinne von »Wie geht es Ihnen?« Pfizer bevorzugt auch im weiteren Text durchweg »Was macht Ihr?« als vermeintlich zutreffende Übertragung … – Anm.d.Hrsg.« und »Guten Morgen!«, die sie mit ihren Bekannten wechselten, bis sie den Gasthof erreichten.

»Laßt uns schnell hinaufgehen,« sagte Mrs. Morton.

Ganz ruhig – ruhig bis zum Trübseligen, erschien am Morgen das Gasthaus, wo es in der Nacht so lärmend hergegangen. Die Läden waren zum Theil geschlossen, um die Sonne abzuhalten – das Trinkzimmer stand leer – der Gang roch nach abgestandenem Rauch – ein alter Hund, faul nach den Fliegen schnappend, lag vor der Treppe, keine Seele war im Schenkzimmer zu sehen. Der Gatte und die Gattin, froh nicht beobachtet zu werden, schlichen sich auf den Zehen die Treppen hinauf und traten in Katharinens Zimmer. Katharine saß auf dem Sopha, und Sidney – wie Mrs. Roger Morton möglichst vortheilhaft gekleidet, noch nicht ahnend, welche Veränderung seines Schicksals ihm bevorstand, sondern vergnügt über die Abwechslung, neue Bekannte zu sehen, wie dies bei hübschen Kindern gewöhnlich ist, die darauf zählen, gepriesen und geliebkost zu werden, – stand neben ihr.

»Meine Frau – Katharine,« sagte Mr. Morton. Katharine stand mit Lebhaftigkeit auf und sah ihrer Schwägerin forschend in ihr hartes Gesicht. Sie unterdrückte den Kampf, der bei diesem Anblick in ihrem Herzen sich empörte, und streckte beide Hände aus, nicht sowohl zum Willkomm, als flehentlich bittend. Mrs. Roger Morton richtete sich auf und machte dann eine Verbeugung – es war eine unwillkührliche Aeußerung der Wohlerzogenheit, ihr abgenöthigt durch das edle Angesicht; die matronenhafte Haltung Katharinens, die sie sich so ganz anders gedacht – sie machte eine flüchtige Verbeugung, und Katharine ergriff ihre Hand und drückte sie.

»Das ist mein Sohns;« und sie wandte das Gesicht weg. Sidney trat seiner künftigen Beschützerin entgegen, und Mrs. Roger murmelte:

»Komm her, mein Lieber! Ein hübscher kleiner Junge!«

»Ein so hübsches Kind als ich nur je sah!« sagte Mr. Morton, indem er Sidney auf seinen Schoos nahm und sein goldenes Haar streichelte.

Dies mißfiel der Mrs. Roger Morton, aber sie setzte sich und sagte: ›es sey sehr warm.‹

»Jetzt geh zu der Frau dort, mein Lieber,« sagte Mr. Morton. »Ist es nicht eine recht hübsche Frau? Glaubst Du nicht, Du werdest sie recht lieb haben?«

Sidney, das artigste Kind von der Welt, ging keck auf Mrs. Morton zu, wie man ihn geheißen; Mrs. Morton war verlegen. Das geht manchen Leuten so mit den Kindern von Andern; ein Kind entfernt entweder in einer Gesellschaft allen Zwang, oder es steigert den Zwang zehnfach. Mrs. Morton zwang sich jedoch zu einem Lächeln und sagte: »Ich habe einen kleinen Knaben zu Hause etwa von Deinem Alter.«

»Habt Ihr?« rief Katharine lebhaft; und als ob diese Aeußerung sie auf einmal zu Freundinnen gemacht hätte, rückte sie einen Stuhl näher zu dem ihrer Schwägerin; – »Mein Bruder hat Euch Alles gesagt?«

»Ja, Madame.«

»Und ich darf hier bleiben – irgendwo in der Stadt – und ihn manchmal sehen?«

Mrs. Roger warf ihrem Gatten einen Blick zu – ihr Gatte warf einen Blick nach der Thüre – und Katharinens rasches Auge wanderte vom Einen zum Andern.

»Mr. Morton wird Alles erklären, Madame,« sagte die Frau.

»Hm, hm! – Katharine, meine Liebe, ich fürchte davon kann nicht die Rede seyn;« begann Mr. Morton, der, wenn es einmal seyn mußte; ganz gut den Geschäftsmann zu machen wußte. »Ihr seht, Vergangenes ist vergangen, und es hilft Nichts, es wieder aufzurühren. Aber viele Leute in der Stadt werden sich Deiner noch erinnern.«

»Niemand wird mich sehen, Niemand als Ihr und Sidney.«

»Es würde gewiß auskommen; würde es nicht Im Original: » won't it, etc.«, wofür die zutreffende Übertragung »nicht wahr, etc.« lauten sollte. – Anm.d.Hrsg., Mrs. Morton?«

»Ganz gewiß. In der That, Madame, es ist unmöglich. Mr. Morton ist so gar respektabel, und seine Nachbarn blicken auf Alles was er thut, mit solcher Aufmerksamkeit; und dann, wenn wir auf den Herbst eine Wahl haben; seht Ihr, Madame, er hat einen großen Einfluß im Ort und ist ein öffentlicher Charakter.«

»Das lass' ich auf sich beruhen,« sagte Mr. Morton. »Aber ich sage, Katharine, kann Euer kleiner Junge nicht einen Augenblick ins andere Zimmer gehen? Margarethe, ich dächte, Ihr nähmet ihn und machtet Bekanntschaft mit ihm.«

Hoch erfreut, auf ihren Gatten die ganze Last einer Erklärung werfen zu können, welche selbst auf die schicklichste und gönnerhafteste Weise zu geben, sie sich zuvor vornehme Würde genug zugetraut hatte, streckte Mrs. Morton ihre Finger zwischen die des Knaben, öffnete die Thüre, welche in das Schlafzimmer führte, und ließ den Bruder mit seiner Schwester allein.

Und dann begann Mr. Morton mit mehr Takt und Zartgefühl, als man von ihm hätte erwarten mögen, Katharinen mit der harten Nothwendigkeit einer Trennung, auf welcher er bestand, möglichst zu versöhnen. Er legte besonderes Gewicht auf das, was für das Kind das beste sey. Die Knaben seyen in ihrem Verkehr mit einander so brutal. Er habe sogar für besser erachtet, Philipp dem Mr. Plaskwith als einen entfernteren Verwandten darzustellen, als er wirklich sey, und er wolle Katharinen beiläufig bitten, Philipp zu schreiben, daß er sich dies merke. Was aber Sidney betreffe, so werde der früher oder später in eine gewöhnliche Schule gehen – Genossen seines Alters haben – wenn seine Geburt bekannt würde, so wäre er so vielen Kränkungen ausgesetzt – daher weit besser, und so leicht und bequem, ihn aufzuziehen als das rechtmäßige, oder vielmehr legale Kind eines entfernten Verwandten.

»Und,« schluchzte die arme Katharine, die Hände ringend, »wenn ich todt bin, so soll er nie wissen, daß ich seine Mutter war?«

Das Schmerzliche und Qualvolle dieser Frage schnitt dem Befragten ins Herz. Er war für Rührung empfänglich unter all den äußeren Hüllen, welche weltliche Gedanken und Gewohnheiten Schichte auf Schichte über die menschlichen, edleren Gefühle seines Innern gelegt hatten. Er schlang seine Arme um Katharine und drückte sie an seine Brust –

»Nein, meine Schwester, – meine arme Schwester – er soll es wissen, wenn er alt genug ist, es zu verstehen, und ein Geheimniß zu bewahren. Er soll auch wissen, wie wir Alle Dich einst schätzten und liebten; wie jung Du warest, wie von Schmeicheleien und Versuchungen umgeben; wie Du getäuscht wurdest, denn ich weiß das – bei meiner Seele, ich weiß es – ich weiß, es war nicht Deine Schuld. Auch soll er wissen, wie zärtlich Du Dein Kind geliebt, und wie Du seinetwillen selbst den Trost und die Freude, ihm nahe zu seyn, geopfert hast. Er soll Alles – Alles wissen.«

»Mein Bruder – mein Bruder, ich verzichte auf ihn – ich bin zufrieden. Gott lohne es Dir. Ich will gehen – schnell gehen. Ich weiß jetzt, Du wirst für ihn sorgen.«

»Und Ihr seht,« fuhr Mr. Morton fort, sich wieder fassend und sich die Augen wischend, »es ist, unter uns gesagt, das Beste, wenn Mrs. Morton hierin ihren Willen hat. Sie ist eine sehr gute Frau – sehr; aber es ist klug, sie nicht zu verletzen. – Ihr könnt jetzt hereinkommen, Mrs. Morton.«

Mrs. Morton und Sidney traten wieder ein.

»Wir haben Alles ins Reine gebracht,« sagte der Gatte. »Wann können wir ihn haben?«

»Heute noch nicht,« sagte Mrs. Roger Morton; »Seht Ihr, Madame, wir müssen sein Bett herrichten und die Leintücher recht lüften; ich bin sehr eigen in solchen Dingen.«

»Gewiß, gewiß. Wird er allein schlafen – verzeiht die Frage.«

»Er wird ein eigenes Zimmer haben,« sagte Mr. Morton. »He, meine Liebe? Zunächst an dem Martha's. Martha ist unser Stubenmädchen – sehr gutmüthiges Mädchen und so zärtlich mit Kindern.«

Mrs. Morton sah ernst drein, besann sich einen Augenblick und sagte: »Ja, er kann dies Zimmer haben.«

»Wer kann dies Zimmer haben?« fragte Sidney in seiner Unschuld.

»Du, mein Lieber!« versetzte Mr. Morton.

»Und wo will Mama schlafen? Ich muß neben der Mama schlafen!«

»Die Mama geht fort,« sagte Katharine mit fester Stimme, in welcher nur das Ohr der Sympathie die Verzweiflung heraushören konnte, – »Mama geht fort auf eine kurze Zeit: aber dieser Herr und diese Frau werden recht – recht freundlich gegen Dich seyn.«

»Wir wollen unser Bestes thun, Madame,« sagte Mrs. Morton.

Und während sie sprach, ging plötzlich dem Geist des Knaben ein Licht auf – er stieß einen lauten Schrei aus, riß sich von seiner Tante los, stürzte sich an seiner Mutter Brust, barg sein Gesicht daran und schluchzte bitterlich.

»Ich fürchte, er ist sehr verwöhnt worden,« flüsterte Mrs. Roger Morton. »Ich dächte, wir sollten uns nicht länger aufhalten – es sieht sonst verdächtig aus. Guten Morgen, Madame; wir werden morgen Alles bereit halten.«

»Sehr wohl, Katharine,« sagte Mr. Morton; und indem er sie küßte, setzte er bei: »Sei getrosten Muthes, ich will noch allein herkommen und den Abend bei Dir zubringen.«

 

Es war die Nacht nach dieser Unterredung. Sidney war in seiner neuen Heimath eingetreten; es waren Alle freundlich gegen ihn gewesen – Mr. Morton, die Kinder, Martha das Stubenmädchen.

Mrs. Roger selbst hatte ihm ein großes Stück Brod und Marmelade gegeben, hatte aber den ganzen übrigen Abend finster drein gesehen, weil er, wie ein Hündchen an einem fremden Ort, nicht essen wollte. Sein kleines Herz war voll, und seine in Thränen schwimmenden Augen richteten sich jeden Augenblick nach der Thüre. Aber er zeigte nicht den gewaltsamen Jammer, den man bei ihm hätte erwarten mögen. Er war von Natur furchtsam, und eben seine Verlassenheit unter den ihm fremden Gesichtern erfüllte ihn mit kalter Scheue.

Aber als Martha ihn zu Bette brachte und ihn entkleidete, und er niederkniete, um sein Gebet zu sprechen, und an die Worte kam: »Ich bitte dich, Gott, segne die Mama und laß mich ein gutes Kind werden,« da konnte sein Herz nicht länger die Last seines Schmerzes bemeistern, und er schluchzte mit einer leidenschaftlichen Heftigkeit, welche die gutmüthige Dienerin in Unruhe versetzte. Sie war jedoch mit der Behandlung von Kindern vertraut und sie tröstete und liebkoste ihn, und erzählte ihm von den hübschen Sachen, die er thun, und dem hübschen Spielzeug, das er bekommen würde; und endlich geschweigt, wenn auch nicht überzeugt, schloß er die Augen, und während ihm noch die Wimpern von Thränen feucht waren, schlief er ein.

Es war verabredet worden, daß Katharine in dieser Nacht mit einer späten Kutsche, welche um zwölf Uhr die Stadt verließ, heim reisen sollte. Es war schon eilf Uhr vorbei, Mrs. Morton hatte sich zu Bette begeben, und ihr Gatte, der seiner Gewohnheit gemäß noch länger sitzen geblieben war, um zu seinem letzten Glas Branntwein mit Wasser eine Cigarre zu rauchen, hatte eben den Stummel weggeworfen und zog seine Uhr auf, als er ein leises Pochen am Fenster hörte. Er stand da stumm und erschrocken, denn das Fenster ging auf ein dunkles und bei Nacht einsames Hintergäßchen, und wegen des heißen Wetters war der Laden mit eisernem Beschlag noch nicht geschlossen; das Geräusch wiederholte sich, und er vernahm eine schwache Stimme. Er warf einen Blick auf das Schüreisen, trat dann vorsichtig an das Fenster und schaute hinaus: »Wer ist da?«

»Ich bin es – Katharine. Ich kann nicht gehen, ohne vorher noch meinen Knaben zu sehen. Ich muß – ich muß ihn noch einmal sehen.«

»Meine liebe Schwester, das Haus ist geschlossen – es ist unmöglich. Gott gnade mir, wenn Mrs. Morton Dich hörte!«

»Ich bin Stunden lang vor diesem Fenster auf- und abgegangen – ich habe gewartet, bis Alles in Deinem Hause zur Ruhe ist, bis Niemand, selbst kein Dienstbote, die Mutter zu sehen braucht, die sich zum Bette ihres Kindes stiehlt. Bruder! beim Gedächtniß unserer Mutter fordere ich Dich auf, mich zum letzten Mal das Angesicht meines Kindes sehen zu lassen!«

Wie Katharine dies sagte, dastehend in der einsamen Straße – Finsterniß und Einsamkeit unten, Gott und die Sterne droben – da hatte sie in ihrem Wesen eine Majestät, welche den ihre Worte hörenden Bruder unwiderstehlich ergriff. Obgleich sie so nahe stand, waren doch ihre Züge nicht ganz deutlich zu sehen, aber ihre Haltung – die emporgehobene Hand – der Umriß ihrer zerstörten aber immer noch achtunggebietenden Gestalt – Alles machte in dem schattenhaften Dämmer einen nur um so tieferen Eindruck.

»Komm herum, Katharine,« sagte Mr. Morton nach einer Pause; »ich will Dich einlassen.«

Er schloß das Fenster, stahl sich an die Thüre, riegelte die Thüre auf und ließ den Besuch ein – Er hieß sie ihm folgen: und das Licht mit der Hand verdeckend schlich er die Treppen hinauf.

Sie kamen ungestört und ungehört an dem Zimmer vorbei, wo die Hausfrau ihrer Gewohnheit nach, ehe sie ihre Nachthaube fand und sich zu Bette legte, ein Kapitel in einem erbaulichen Buche schläfrig las. Sie stiegen hinauf zu dem Gemach, wo Sidney lag. Morton öffnete vorsichtig die Thüre und blieb an der Schwelle stehen, wo er die Kerze so hielt, daß ihr Licht das Kind nicht aufwecken sollte, jedoch hinreichend war, Katharinen den Weg an das Bett finden zu lassen.

Das Gemach war klein, vielleicht eng, aber ängstlich sauber gehalten, denn Reinlichkeit war der Mrs. Roger Haupttugend. Die Mutter zog mit zitternder Hand die weißen Vorhänge zurück und hielt ihr Schluchzen an sich, während sie das jugendliche, ruhige Antlitz betrachtete, das ihr zugewendet dalag. Sie betrachtete es einige Augenblicke in leidenschaftlichem Schweigen; Wer mag sagen, welche Gedanken, welche Gebete unter diesem Schweigen kämpften und wogten? Dann beugte sie sich nieder, und mit blassen, krampfhaften Lippen küßte sie die kleinen Hände, welche nachläßig am Saume des Kissens herabhingen, auf welchem der Kopf lag. Hierauf wandte sie ihr Angesicht nach ihrem Bruder, mit einer stummen, flehendlichen Aufforderung in ihrem Blick – nahm einen Ring von ihrem Finger – einen Ring, der ihn bis jetzt nie verlassen hatte, den Ring, welchen Philipp Beaufort daran gesteckt hatte den Tag, nachdem das Kind geboren war.

»Laß ihn dies um seinen Hals tragen,« sagte sie, und hielt plötzlich inne, damit sie nicht laut schluchzte und den Knaben aufstörte. Bei dieser Gabe war ihr, als riefe sie den Geist des Vaters an, über der freundlosen Waise zu wachen; und dann die Hände fest zusammenpressend, wie man in einem Paroxismus heftigen Leides thut, verließ sie das Zimmer, stieg die Treppen hinab, trat auf die Straße und flüsterte ihrem Bruder zu: »Jetzt bin ich glücklich; Friede ruhe auf dieser Schwelle!« Ehe er antworten konnte, war sie fort.



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