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16. Bitteres Trennungsweh.

Das ist ein trauriges Kapitel; ich wollte, daß ich es nicht zu schreiben hätte; aber so ist das Leben – heute bringt es frohe Stunden, morgen bitteres Weh; wir aber müssen aushalten und Gott vertrauen, der Gutes und Schlimmes schickt, wenn auch nicht immer zu gleichen Teilen, doch so, wie es für uns am besten ist.

Die Mädchen waren mit Frau Rosine im Garten.

Drinnen im Hause fand die ärztliche Beratung über Bruno statt. Herr Uslar war bei dem Knaben.

Es war ihnen allen, als hänge von dieser Beratung Leben und Tod des Kindes ab; und doch konnte der Ausspruch des berühmten Professors nur die Erklärung für den Zustand des Patienten geben.

Adele und Ella versuchten mit großer Hast zu nähen; Minna hatte längst die Arbeit fortgeworfen und ging, die Hände fest ineinander gepreßt, auf und ab.

»Er fährt fort,« rief Ella und sprang auf.

Ein Wagen rollte zum Tore hinaus. Minna lief in des Vaters Stube; sie getraute sich nicht in das Wohnzimmer, wo die Beratung stattgefunden hatte. Adele, Ella, auch Frau Rosine folgten. Herr Uslar trat in die Tür; ein Blick in seine bleichen Züge und Minna erkannte – keine Hoffnung für ihren Liebling; das Todesurteil war über ihn gesprochen. Einen Augenblick ganz fassungslos, stürzte sie auf die Knie.

»Er verlangt nach dir, Minna,« sagte der Vater mit unnatürlich ruhiger Stimme. »Nimm dich zusammen; er darf nicht sehen, daß du erschrocken bist.«

»Ich kann nicht zu ihm gehen,« stöhnte Minna. »Wie soll ich ihn ansehen mit dem Gedanken, daß ich ihn verlieren werde?«

»Du hast eine starke Seele; jetzt kannst du's zeigen. Die Ärzte haben sehr hoffnungsvoll zu ihm gesprochen; er ist heiterer als vorher und verlangt nach dir; du sollst dich mit ihm freuen.«

»O, Papa! Ich kann nicht! Ich kann nicht!« rief das unglückliche Mädchen und rang die Hände.

Adele schluchzte laut. Ihr Schmerz machte Minna den eignen Schmerz verständlich; sie blieb fassungslos stehen.

»Ich will zu ihm gehen,« erklärte Ella und steckte ihr Taschentuch schnell wieder ein; dann lief sie hinüber, und durch die offene Tür hörten sie ihr liebes, freundliches Stimmchen, dazwischen die matte Stimme Brunos, der nach Minna fragte.

»Ella beschämt mich,« sagte Minna, machte einen Schritt und blieb wieder zweifelnd stehen.

»Sehen Sie, mein teures Herz, Ella fühlt den Schmerz nicht so tief wie Sie; da kann sie ihn auch eher überwinden,« tröstete Frau Rosine.

»Wir alle haben jetzt keine andre Aufgabe, als unserm Bruno das Leben so heiter und froh zu machen, als es bei seinem Leiden irgend möglich ist,« sprach gedämpft Herr Uslar. Minna lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

»Du wirst sehen, Papa, ich bin ganz vernünftig – nur – du weißt – ich hatte ja immer noch eine Hoffnung.«

»Es ist Gottes Wille,« sprach Frau Rosine.

Minna atmete ein paarmal tief, aber die Brust blieb zusammengeschnürt und wollte sich nicht erleichtern; sie ging aber doch festen Schrittes hinüber.

»Nun, mein lieber Bruno, das war eine sehr lange Beratung,« hörten sie sie herzlich sprechen. »Die Ärzte haben dich hoffentlich bei der Untersuchung nicht gequält?«

»Nein, sie machten's nicht schlimm, aber ich bin sehr müde, Minni.«

»Nun bist du gewiß zufrieden, daß wir die Meinung eines so gelehrten Professors haben?«

»Ja,« sagte Bruno, »ich muß nicht sterben, das haben sie mir versprochen.« Er legte seinen Kopf zärtlich an sie. »Ich bleibe auch gern noch bei dir, Minni.«

Sie fürchtete, daß ihre mühsam errungene Fassung nicht standhalten würde; da kam ihr Ella zu Hilfe. »Nein, wie das Kind schwatzen kann!« dachte Minna. »Wo nimmt sie das Geschick her? Was sie nur auf einmal alles zu erzählen weiß!«

Nun trat auch Frau Rosine herein und beglückwünschte Bruno über den guten Ausgang der Beratung. Wieviel Unwahrheiten, und doch alle so gut gemeint! Adele wagte sich nur ans Fenster, wo Bruno sie nicht sehen konnte; sie sah ganz verweint aus.

Der neue Rollstuhl war ein rechter Segen. Bruno konnte liegen oder sitzen, wie es ihm behagte, und den ganzen Tag, solange das Wetter schön war, im Garten zubringen. Die Luft erquickte ihn so, daß man gar nicht merkte, wie schnelle Fortschritte die Krankheit machte. Zum Glück litt er nicht viel, aber sein Hüftleiden wurde allmählich abzehrend; doch da ihn keine Schmerzen plagten, fühlte er sich glücklich. Was nur geschehen konnte, ihm das kurze Dasein zu erheitern, das geschah.

Wie solch ein kleiner, geduldiger Patient die Liebe in den Menschenherzen zu erwecken weiß! Da verging wohl kein Tag, an dem nicht selbst Frau Direktor Karling kam mit Obst, mit Kuchen, mit ein paar Blumen, und sich nach seinem Befinden erkundigte.

»Und meine Bengels sind gottlob so gesund,« pflegte Frau Direktor mit betrübtem Kopfschütteln zu sagen. Selbst Aurora war nicht teilnahmlos. Als Artur und Adalbert in den Ferien nach Hause kamen, konnten die sonst so schlecht erzogenen Jungen gesetzt neben Bruno sitzen und erzählen.

Auch Rosamunde war viel bei ihnen; sie war eifrig bemüht, sich allerhand Fertigkeiten anzueignen, die sie einmal als eine Frau Pastorin gebrauchen konnte. Ruhig und geduldig wartete sie auf die Stunde, wo Fritz Steube ernstlich wieder als Bewerber auftreten würde. Sie wußte, daß diese Stunde kommen mußte, obgleich nie mehr ein Beweis seines Gedenkens kam; hinter dem Rücken der Eltern mit Rosamunde zu verkehren, erachtete der Pastor für unehrenhaft.

Noch einmal wurde am 1. August Brunos Geburtstag festlich begangen. Die Laube war mit Gewinden geschmückt, die Ottel, der gleichfalls die Ferien zu Hause verlebte, kühn durch die Äste der nebenstehenden Bäume geschlungen hatte. Der Tisch in der Laube zeigte elf brennende Lichtchen um eine von Frau Rosine gebackene Torte, und in der Mitte ein großes dickes Lebenslicht. Von allen Seiten waren Geschenke eingetroffen, von der Großtante wie von Zarnikows, auch Herr Uslar hatte selbst viele Kleinigkeiten und schöne Bücher gekauft; der Tisch war beladen mit Geschenken. – »Ach und wie kurze Zeit wird er sich noch daran erfreuen können!« dachte Minna.

Am Nachmittag war großer Kaffee im Garten, und jeder zeigte seine beste Laune und weinte im Herzen. Als es Abend wurde, brannten die beiden kleinen Karlings drüben in ihrem Garten zu Ehren des Tages Feuerräder ab und ließen Raketen steigen.

Das Feuerwerk machte Bruno besondere Freude; solch großartige Aufmerksamkeit schmeichelte ihm, aber es war doch ein wenig zu viel, und für ein paar Tage wurde er hinfälliger. Dann ging's wieder bei sehr warmem Wetter scheinbar bergauf, und an einem solchen besseren Tage war's, wo Minna den Vater bestimmte, mit Grimmels und den Schwestern einen Spaziergang zu unternehmen. Sie selbst blieb allein mit ihrem Bruno zurück.

Der Hof war wie ausgestorben, denn auch Karlings machten eine Tagespartie. Vor Grimmels Tür saßen Maruschka, Anuscha und Joseph; man hörte es manchmal bis herüber, wenn sie lachten. Sonst war es still; die feierliche Sonntagsstille, die dem Herzen so wohl oder so wehe tut – je nachdem es gestimmt ist.

Minna unterhielt Bruno von den schönen Tagen in Sornitz; sie vermochte wieder von dieser Zeit zu reden. Bruno fing an, auch von Baron Neitung zu sprechen. »Du mußt ihm sagen; er solle mir vergeben, daß ich mich vor ihm gefürchtet habe.« Minna seufzte; sie hatte wenig Hoffnung, den Baron je wiederzusehen.

Es war Abend geworden, und Minna wollte Brunos Stuhl ins Zimmer rollen, aber er bat sie, im Freien bleiben zu dürfen.

Es war warm, kein Lüftchen regte sich; wie eine riesige, goldene Kugel schimmerte zwischen den Bäumen des nächsten Gartens der aufgehende Mond. Minna konnte Bruno einen Wunsch, der nicht gefährlich schien, schwer abschlagen, und so blieben sie im Freien.

»Minni,« fragte er, nachdem er eine Weile sinnend den Mond betrachtet hatte, »weißt du, wie es im Himmel aussieht?«

Die Frage war ihr ein Schmerz, aber sie entgegnete ruhig: »Ich male mir den Himmel nicht aus. Ich weiß, daß alles, was ich mir mit irdischen Sinnen auszudenken vermöchte, der Wahrheit doch nicht nahe kommen würde; darum vertraue ich auf Gott und denke, er wird es schon gutgemacht haben.«

Nach einer Weile fing Bruno wieder an: »Ach, wie herrlich muß es im Himmel sein! Ich denke es mir über alle Beschreibung schön. Wenn der Himmel nicht tausendmal schöner wäre als die Erde, würde man sich ja nach der Heimat und den Menschen zurücksehnen, und dann könnte man im Himmel nicht glücklich sein.«

Minnas Herz stand bei seinen Worten still vor übergroßer Qual. »Ich glaube, es wird Zeit, daß du zur Ruhe kommst,« sagte sie leise.

»Ich will noch nicht schlafen,« erwiderte Bruno und fuhr dann in seinen Betrachtungen fort: »Ich denke viel an den Himmel, Minni, und weißt du, ich freue mich jetzt, daß Mama gestorben ist. Wenn ich in den Himmel komme, werde ich nicht allein sein; denn vor dem Alleinsein würde ich mich fürchten. Sage nicht, daß der liebe Gott im Himmel ist, Minni; der liebe Gott ist ja überall – auch wo du bist – und du – du wirst mir doch sehr fehlen; ich werde mich schrecklich nach dir sehnen. – Ach, sei nicht böse, Minni.« – Sie war an seinem Stuhle hingesunken und schluchzte. – »Ich habe etwas Unbedachtes gesagt, bitte, sei nicht böse. Du sollst auch glücklich sein, wenn ich nicht mehr bei dir bin. Und ich finde ja im Himmel die liebe Mama, die wird mich schon trösten – vielleicht auch die Engel.«

»O, Bruno – Bruno!«

»Ich habe ja auch nie von so etwas gesprochen, weil dich's betrübt; aber heute muß ich davon sprechen, Minni. Ich weiß, daß ich sterben werde. Ich wachte einmal in der Nacht auf, und da wußte ich's; es war nicht, als sagte es mir jemand, aber ich wußte es. Und weil ich nicht auf der Erde bleiben darf, liebe Minni, denke ich an den Himmel; glaubst du, daß ich gut genug war, um in den Himmel zu kommen?«

»O, Bruno, du zerreißt mir das Herz!«

»Aber, Minni, einmal muß ich davon reden. Ich denke an alle meine Fehler. Du weißt, ehe ich krank wurde, war ich sehr unbändig und eigensinnig. Aber ich denke, der liebe Gott nimmt mich schon in den Himmel. Kinder werden doch nicht von ihrer Mutter getrennt? Und wenn ich nicht zu ihr komme, würde Mama gewiß sehr betrübt sein.« Einen Augenblick schwieg er ermattet; aber gleich, fing er wieder an: »Einmal – vielleicht wird es noch lange dauern; – aber einmal müssen wir ja alle wieder beisammen sein. Daran denke ich gern, daran werde ich im Himmel immer denken, wenn ich mich nach dir sehne. Ach, Minni, sei nicht zu gut, damit du nicht einmal in einen höheren Himmel kommst; ich will dich einmal wieder haben, Minni!«

Es wurde ganz still, die Geschwister hielten sich umschlungen, nur manchmal schluchzte Minna auf.

Das war der Abschied. Wenige Tage später ging die Seele Brunos nach jenen unbekannten Gefilden, wo er die Mutter zu finden hoffte. Sein Tod war sanft; aber der Schmerz, den er verursachte, war bitter.

Als sie am Abend nach dem Begräbnis an dem frischen Hügel kniete, dachte Minna, daß sie nie, nie mehr glücklich werden könnte. Sie ging heim und sah die Stätte leer, wo ihr Liebling wenige Tage zuvor noch gesessen hatte, von wo aus er ihr mit seinen dunkeln Augen auf jedem Schritte gefolgt war. Da brach sie zusammen, als würde sie von einer unsichtbaren Macht zu Boden geschleudert.

»Ich kenne Minna nicht wieder,« sprach Herr Uslar tief bekümmert zu Frau Rosine, »sie gibt sich dem Schmerze ganz hin; wie soll sie einmal das Leben ertragen? Es bringt ja so viel Schweres.«

»Lassen Sie ihr Zeit, und sie wird's überwinden,« entgegnete Frau Rosine. »Sie ist eines von den Herzen, die das Glück, doch auch das Unglück stärker empfinden als andre Menschen; aber weil sie einen frommen Sinn hat, wird sie sich allmählich mit ihrem Herrgott schon zurechtfinden.«

Woche auf Woche verging, aber anstatt gefaßter zu werden, versank Minna nur immer tiefer in ihren Gram. Der Vater, die Schwestern, das ganze Hauswesen, alles schien ihr gleichgültig; sie sprach wenig, nur das Notwendigste – von Bruno sprach sie niemals. Sie nahm wohl eine Arbeit vor, wenn sie im Garten saß, wo sie sich am liebsten aufhielt; doch die Arbeit entsank den sonst so fleißigen Händen, und ihr trauriger Blick starrte träumend vor sich hin. Sie schlich einher, als würde sie von einer unsichtbaren Last erdrückt, und ihr einziger Weg war nach dem Kirchhof. Frau Rosine sah es für eine große Gunst an, daß Minna ihr auf ihre Bitte gestattete, sie jedesmal dahin zu begleiten; aber ehe sie das Grab erreichten, erriet Frau Rosine mit ihrem zarten Empfinden, daß Minna allein zu sein wünschte. Dann blieb sie zurück und schloß sich erst am Ausgang wieder dem armen Mädchen an.

Das war die Zeit, in der sich Adele zu einem praktischen Mädchen entwickelte und Ella mit ihr. In der letzten Zeit, als Brunos Krankheit die stete Sorge Minnas verlangte, hatte der Unterricht aufgehört, und nach seinem Tode fand selbst Herr Uslar nicht mehr den Mut, die Tochter an die versäumte Pflicht zu erinnern.

Die beiden Schwestern schlossen sich durch das gemeinsame Arbeiten aneinander an; nur dem Vater vermochten sie die Älteste, die ihm eine verständnisvolle Gefährtin gewesen war, nicht zu ersetzen.

Wenn das Essen aufgetragen wurde, das die Schwestern ausgedacht und in Gemeinschaft mit Maruschka bereitet hatten, blickten sie nach Minna und hofften auf ein Lob, ja selbst ein Tadel wäre ihnen viel, viel lieber gewesen als ihre Teilnahmlosigkeit. Minna schien kaum zu wissen, was sie aß; immer und immer kehrte ihr Blick nach der Stelle zurück, auf der Bruno früher gesessen hatte. Es war, als habe der Schmerz alle Fühlfäden ihres Lebens zerrissen.

An Teilnahme fehlte es nicht; die Zarnikows bestürmten Herrn Uslar, ihnen die Kinder, oder doch Minna allein zu überlassen, aber gegen diesen Vorschlag wehrte sich Minna energisch.

»Ich bin dem Papa jetzt zu nichts nütze, aber ich fülle doch eine Lücke aus; das Haus ist ohnehin verödet.«

Die Karlings bewiesen ihre Teilnahme nicht nur mit kolossalen Kränzen; nein, am Sarge Brunos vergossen sie aufrichtige Tränen, und Frau Direktor sagte zu Frau Rosine: »Nein, diese armen Menschen, die haben doch nirgends Glück; wir wohnen nun schon über achtzehn Jahre hier, und ich bin nicht auf den Kirchhof gekommen, denn Gott sei gedankt – mir ist noch niemand gestorben. Und die Uslars sind kaum ein Jahr da und haben nun schon ihr Grab. – Aber das sage ich ja auch zu meinem Manne, im Grunde war's ein Glück, denn was Rechtes wäre aus dem armen Jungen niemals geworden. Na, und übrig haben sie's ja auch nicht; und so 'ne Krankheit ist nicht umsonst. Ich sage immer zu meinem Manne, besser man trägt das Geld zum Bäcker als zum Apotheker.«

»Ja, sehen Sie, Frau Direktor, die Menschen sind verschieden. Wie ich Minna kenne, würde sie glücklich sein, hätte sie Bruno nur ihr lebelang pflegen dürfen.« Und damit empfahl sich Frau Rendant. Es gibt Worte, die nicht böse gemeint sind und doch schmerzen. Frau Rosine konnte solche Reden nicht ertragen.

Rosamunde aber schloß sich in dieser Zeit wieder inniger an Adele an, denn Minna hatte gleichsam eine undurchdringliche Mauer um sich gezogen.

Frau Baronin Neitung und Kamilla, die sich gar nicht mehr hatten sehen lassen, kamen nach dem Tode Brunos, beide voll herzlicher Teilnahme; aber Minna flüchtete sich bei ihrem Kommen in die Schlafstube und verschloß die Tür.

Viele besorgte Briefe der Großtante kamen an, immer und immer wieder mit der Bitte, daß Minna nach Berlin kommen möchte; aber dazu war sie nicht zu bewegen. »Ich muß meinen Schmerz hier durchkämpfen; ginge ich nach Berlin und zerstreute mich, würde ich ihn nur betäuben.«

Es war längst Herbst geworden. Die Blumen im Garten, an denen sich Bruno noch gefreut hatte, verblühten, und langsam fiel der gelbe und rote Blätterregen von den Bäumen. Aber immer noch blieb Minna, bis es dunkel wurde, im Garten. »Ich kann in der Stube nicht atmen,« entschuldigte sie sich.

»Ich muß sie wirklich hereinholen,« sagte Adele eines Tages. »Es ist sehr kalt und windig; sie wird krank werden, wenn sie bei solchem Wetter im Freien bleibt.«

Es war schon dämmerig, und Adele konnte die Schwester nicht sehen, aber sie hörte, daß jemand in der Laube laut weinte. Bis dahin hatte niemand Minna weinen gehört.

»O, Minna! Minna!« rief Adele und stürzte zu ihren Füßen. »Warum können wir dir denn gar nichts sein? Wir lieben dich doch alle so sehr!«

»Darum weine ich eben,« entgegnete Minna und zog die Schwester zu sich herauf. »Ich bin recht schlecht gegen euch gewesen. Seit Bruno von uns gegangen ist, habe ich nur an mich und meinen Kummer gedacht und niemals gefragt, ob ihr nicht auch Kummer littet. Ich sah immer nach dem leeren Platze, nach dem Himmel sah ich nicht. Ich wollte ja mit dem Schmerze kämpfen, aber ich gab mich ihm nur hin, denn ich beugte mein Haupt nicht unter Gottes Willen, sondern ich lehnte mich dagegen auf; aber nun will ich besser werden.«

»Ach, liebe Minna, wir lieben dich so sehr; es ist so traurig, daß unsre Liebe dir gar nicht helfen kann.«

»O, ich habe wohl gemerkt, Adele, daß ihr euch des Haushalts angenommen habt. Ihr habt eure Pflicht getan, und ich nicht. Ich bin ganz herzlos gewesen und besonders gegen Papa.«

»O, nun wird alles wieder gut werden. Wir müssen uns ja doppelt lieben, weil – weil wir ein Herz verloren haben ...« Adele schluchzte laut; dann umarmten sich die Schwestern, und Hand in Hand kehrten sie ins Haus zurück.

An diesem Abend gab Minna dem Vater zum erstenmal wieder einen Gutenachtkuß. Sie wollte ihn mit unsicherer Stimme auch um Verzeihung bitten, aber er litt es nicht.

»Du bist mir immer eine treue Tochter gewesen,« sagte er, »du warst jetzt nur krank; ich meine, dein Herz war krank. Ein Herz, das liebt wie das deine, leidet mehr als andre, aber es hat auch die Kraft in sich, sich wieder zu erheben und zu gesunden.«


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