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9. Ach du freudenbringendes Weihnachtsfest!

Am Abend vor dem Feste wurden die Kinder zeitiger als sonst zu Bett geschickt, weil der Christbaum angeputzt werden sollte.

»Willst du nicht dabei sein und helfen, Adele?« fragte Minna; aber Adele schüttelte nur traurig den Kopf, folgte den Geschwistern und weinte sich in den Schlaf.

Unterdes schüttelte Maruschka in der Hausflur den Schnee von den Zweigen des schlanken Tannenbäumchens. Herr Uslar, angesteckt durch Minnas Eifer, gab ihm den richtigen Platz in der Wohnstube, denn um ihn auf den Tisch zu stellen, war er zu groß.

Lachend und scherzend deckte Minna den Tisch. Der Teekessel summte, die geschnittene Stolle sah verlockend aus; wer hätte jetzt noch an den Tassen mit Rosen und Veilchen Anstoß genommen?

Geschäftiger als sonst lief Herr Uslar hin und her und zeigte Minna die kleinen Weihnachtseinkäufe, die er selbst besorgt hatte. Er war kein praktischer Mann und verstand nicht zu kaufen, aber Minna war so voll Bewunderung und Freude, daß er ganz glückstrahlend und heiter wurde.

»Hast du aber auch für alle reichlich gesorgt, mein Kind?« fragte er zweifelnd. »Es will mir nicht recht in den Kopf, daß du meinen Geldzuschuß abgeschlagen hast.«

»Du weißt ja, Papachen, daß Tante mich reichlich versorgt hat, und diese Freude mußt du der alten einsamen Frau schon gönnen.«

»Aber hast du dich nicht etwa vergessen, mein Kind?«

»Ich habe nur an mein Vergnügen gedacht, Papa! Es kommt mir fast wie ein Unrecht gegen die liebe Mama vor, daß ich mich wieder so glücklich fühle; aber es ist ein so großes Glück, für andre zu sorgen und ihnen Freude machen zu können. Ich möchte mit keiner meiner Freundinnen tauschen. Sie haben nicht halb so viel Vergnügen an ihren Gesellschaften und Bällen, wie ich in unserm kleinen Häuschen, und bei dir, mein lieber, lieber Papa!«

Sie umarmte ihren Vater, und Herr Uslar sagte bewegt: »Ich habe nicht geglaubt, daß du mir deine teure Mutter ersetzen könntest, und daß ich mich jemals wieder glücklich fühlen würde. Ich wünschte, daß sie es wüßte, was für ein Segen du für uns geworden bist.«

Minna traten Tränen in die Augen, aber in diesem Augenblick ließen sich von der Hausflur her Scharren, Stampfen und laute Stimmen vernehmen. Da trocknete sie die Tränen schnell und rief ein fröhliches »Guten Abend« den lieben Nachbarn entgegen, die draußen die schneebedeckten Hüllen abschüttelten.

Der Gymnasiast wurde von Frau Rosine mit mütterlichem Stolze als ›der Einzige‹ vorgestellt und machte einen unbeholfenen Kratzfuß.

Er war ein Jüngling mit derben Gesichtszügen, großen Händen und Füßen, aber die kleinen Augen blitzten hell und gutmütig; er war auch kein hervorragendes Talent, ging aber ohne Anstoß durch alle Klassen, brachte gute Zeugnisse, und die Eltern waren nicht ohne Ursache auf ihren ›Ottel‹ stolz.

Zuerst wurde bei einer Tasse Tee die Stolle probiert und von Herrn Uslar – Grimmel wagte aus Bescheidenheit nicht seine Frau zu loben – Frau Rosine alles Lob gespendet, das sie verdiente. Dann aber mahnte Minna an die Arbeit.

»Auch wir Herren sollen beim Anputzen helfen?« fragte Herr Uslar besorgt; er traute sich selbst sehr wenig Geschicklichkeit zu.

»Niemand darf die Hände in den Schoß legen,« erklärte Frau Rosine und blickte ihren Gatten dabei an. »Wer morgen polnische Karpfen mitessen will, muß sich heute durch Fleiß auszeichnen.«

Minna setzte schon Stühle um einen zweiten Tisch, und Ottel, durch einen Puff seiner Mama aufmerksam gemacht, sprang auf, entriß ihr mit Gewalt einen Stuhl und setzte ihn so kräftig auf, daß er in allen Fugen krachte.

»Fehlt man noch am Gleichgewicht der Kräfte,« bemerkte Grimmel, und während er an dem andern Tische Platz nahm, warf er wie suchend die Blicke umher und kaute mit den Lippen, als vermisse er seinen Pfeifenstummel. Frau Rosine trat ihm auf den Fuß und sah ihn mit mißbilligenden Blicken an. Herr Uslar rauchte nur in seiner, niemals in der Wohnstube. Aber was geschah! Das liebe Mädchen trat ganz unerwartet mit einer neuen, brennenden Pfeife vor den erstaunten Rendant, aus der sie lächelnd einen Zug tat, ehe sie sie ihm dann, von dem Rauche hustend, darbot.

»Eigentlich sollten Sie die Pfeife erst am heiligen Abend erhalten,« sagte Minna, »aber ich weiß, daß Sie sich ohne Ihr Pfeifchen ungemütlich fühlen würden, und darum wird eine Ausnahme gemacht.«

»Ist doch ein sakermentsches Mädel!« rief der Rendant begeistert.

»Grimmel!« schrie Frau Rosine entsetzt. »Was für Ausdrücke erlaubst du dir!«

»Ist man nur die unverhoffte Freude,« sagte Grimmel und küßte dem jungen Mädchen mit steifer Galanterie die Hand.

Frau Rosine aber fühlte sich zum erstenmal durch die Manieren ihres Mannes und ihres Sohnes bedrückt.

Minna ordnete jetzt die Arbeit an. »Herr Ottel« – sie wendete sich zu dem Gymnasiasten – »wird die Güte haben, kleine Hölzchen zu schnitzen und in die Nüsse zu stecken, die die älteren Herren darauf mit großer Geschicklichkeit vergolden werden.«

Grimmel blies eine mächtige Rauchwolke aus, zog die Augenbrauen hoch und erklärte: »Ist man ein sehr schwieriges Unternehmen.«

»Ich fürchte, du wirst mit deinem Vater nicht zufrieden sein,« bekannte Herr Uslar.

»Du wirst es schon lernen, Papachen. Ich werde es einmal vormachen.«

Ja, das war den alten Herren ein Triumph, als sie die erste vergoldete Nuß bewundern lassen konnten!

Indes schnitt Minna Fädchen und band diese mit Frau Rosine an Nüsse, Apfel und Pfefferkuchen, denn der Baum sollte nach alter Sitte einfach, ohne kostspieliges Konfekt, ausgeputzt werden.

Nachdem diese Vorbereitungen getroffen waren, trat der Augenblick ein, wo die Tanne mit Geschmack verziert werden sollte, und diese Aufgabe lag bei den obersten Zweigen allein in Ottels Hand, der auf einen Stuhl gestiegen war, während seine Mutter ihn, trotz seines Widerstrebens, am Rockschoße hielt.

»Ottel,« sagte sie, »ich kenne dich; wenn ich dich nicht festhalte, fällst du in den Baum – und der Baum fällt mit dir auf die Erde.«

Nachdem nun das große Werk vollendet und von allen höchlich bewundert worden war, trennte man sich; draußen schlug die Werkuhr schon die Mitternachtsstunde.

»War man ein sehr gemütlicher Abend,« sagte Grimmel. Frau Rosine aber bat Minna leise, sie möchte nur ihrem Ottel seine Ungeschicklichkeiten vergeben.

Am Weihnachtsmorgen stand Minna noch zeitiger als gewöhnlich auf. Sie wollte vor dein Erwachen der Geschwister die bei Grimmels eingestellten Geschenke mit Maruschkas und Anuschas Hilfe herüberschaffen. Sobald alles untergebracht war, schloß Minna die Wohnstube ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Die Kinder wurden in Herrn Uslars Stube verbannt.

»Heute mittag wird ›Schuster‹ gemacht,« rief Minna lachend und setzte eine große Kanne mit Kaffee auf den Tisch, während Maruschka eine Schüssel Pellkartoffeln und Heringe aufstellte.

»Was wird gemacht?« fragte Herr Uslar, über dieses sonderbare Mittagsmahl etwas enttäuscht.

»Minna wird nächstens ein Deutsch sprechen, das allein Maruschka verstehen kann,« meinte Adele spitz.

»Ich vermute, daß es heute abend hoch hergehen wird, wenn uns unser liebes Haustöchterchen jetzt ein Schustermahl vorsetzt,« rief Herr Uslar gutgelaunt. »Aber wir wollen es uns schmecken lassen und nur wünschen, daß alle Leute heute ihre Mahlzeit ebenso zufrieden genießen mögen.«

Adele schwieg verstimmt, aber Minna kehrte sich nicht an ihre üble Laune. »Heute mußt du mir schon helfen, Adele,« sagte sie. »Um vier Uhr kommt die Witwe Pioter mit ihren sechs Kindern, denen mußt du mit Bruno und Ella hier in Papas Stube bescheren.«

Adele nickte steif, Bruno aber klatschte in die Hände, und Ella machte einen Freudensprung. Dann half sie Minna den Korb mit den genähten Sachen hereintragen und aus der Speisekammer Apfel, Nüsse, Pfefferkuchen, sowie einige Lebensmittel herbeischaffen. Dann verließ Minna die Geschwister und verschwand in der Wohnstube, die sie hinter sich verriegelte.

Es liegt ein wunderbarer Reiz in diesem schönsten aller Feste! Grollend, mit verdrossener Miene begann Adele ein weißes Tuch über den Tisch zu breiten. Ohne daß sie es merkte, glätteten sich aber die Unmutsfalten, und als sie die mit so viel Mühe genähten Sachen auspackte und für jedes der armen Kinder ein Häufchen zusammenlegte, sprach sie freundlicher mit den eifrig helfenden Geschwistern; als aber alles aufgeputzt war, und der Tisch ganz voll mit nützlichen und angenehmen Sachen lag, da jubelte sie, und sprang mit Ella um die Wette. Daß Minna die Aufstellung lobte, machte Adele ganz stolz, und nun gar die Dankbarkeit der armen Witwe! Mit Tränen in den Augen bedankte sie sich bei Minna; diese aber sagte: »Der Dank gehört meinen Schwestern, besonders meiner Schwester Adele, die diese Sachen für Sie gearbeitet hat.«

Adele war's gerade, als zerspränge ein Reifen, der ihr Herz einschnürte, und es wurde ihr so recht froh und leicht zumute; sie fühlte, daß sie etwas zur Freude des Festes beigetragen habe, und nun schien's ihr auf einmal, als dürfe auch sie sich mit den andern freuen. Als sich die Stube wieder geleert hatte, und Minna wieder in der Wohnstube ihr geheimnisvolles Schaffen betrieb, setzte sich Adele zwischen die Geschwister auf das Sofa, und zum erstenmal ließ sie ihre äußerst liebliche Stimme in einem Weihnachtslied erklingen, in das die Kleinen einfielen.

Als Herr Uslar von seinem Bureau, zurückkehrte, tönte ihm der fromme Kindergesang wie ein glückverheißender Gruß entgegen. Minna lauschte hinter der Wohnstubentür und Maruschka stand mit offenem Munde, Küchentuch und Teller in der Hand, vor ihrer Küche.

»Hört einmal, Kinder,« sagte Herr Uslar, als er nach Beendigung des Liedes eintrat, »habt ihr denn auch an unsre Minna gedacht?«

»Ich!« »Ich auch!« – riefen Bruno und Ella; nur Adele schwieg verlegen und stahl sich heimlich aus dem Zimmer. Sie kramte dann in ihrer Schublade, warf das Unterste zu oberst und suchte irgend etwas zu finden, womit sie Minna erfreuen könnte. Endlich wählte sie eine kleine Korallenkette – obgleich sie sich selbst gern damit schmückte – weil Minna die Kette einmal gelobt hatte.

Es war dunkel geworden, und die guten Grimmels stellten sich ein; Anuscha kam mit und schlich sich in die Küche, hoffend, daß ein Strahl der Herrlichkeit auch auf sie fallen würde.

Minna hatte gleichsam einen Zauberkreis um sich gezogen, den zu durchbrechen nicht einmal Herrn Uslar erlaubt war; zu Frau Rosinens höchstem Erstaunen war es ihr Ottel, den Minna zu ihrem Vertrauten erkor und in die Wohnstube rief.

»Wenn du die Lichter auf dem Baume anbrennen sollst, Ottel,« flüsterte ihm die erregte Mutter zu, »so brenne nur um Gottes willen bei der Gelegenheit nicht gleich das ganze Haus mit an!«

Nicht lange dauerte es, da trat der Gymnasiast wieder zu den Wartenden. »Nein, Mutterle,« sagte er leise, »nein, so was Schönes habe ich noch nie gesehen.«

»Na ja,« sagte sie, »das weiß ich doch am besten, ich habe ja alles mit besorgt.«

Die Kinder wagten kaum zu atmen. Bruno hatte mit Ella gewettet; er behauptete: »Wenn ich bis zehn gezählt habe, wird's klingeln.« Aber er kam nur bis fünf, da erscholl die Klingel. Hell und freudig erklang sie, ein Jauchzen der Kinder antwortete; Adelens Herz fing gerade so erwartungsvoll an zu klopfen, wie in früheren Jahren. Die Tür tat sich auf, und in die dunkle Hausflur strömte, wie aus der Himmelspforte, der blendende Lichterglanz.

Alle blieben einen Augenblick betroffen stehen, dann sprang Ella voraus, im nächsten Augenblick fiel ihr ein, daß Bruno nicht so schnell folgen könne, und sie blieb beschämt stehen.

»Nun, wo bleibt ihr?« rief Minna herzlich; aber um ihre Lippen zuckte es wie zurückgedrängte Tränen. Es wurde allen auf einmal so feierlich zumute; es war ihnen, als seien die aufgebauten Gaben nicht die Hauptsache, sondern nur ein Symbol der ewigen Liebe, die sich täglich von neuem in Menschenherzen offenbart.

Plötzlich brach sich der Gymnasiast Bahn und stürmte auf den Lichterbaum zu. Frau Rosine erfaßte ihn noch am Rockzipfel. »Ottel, Ottel,« rief sie vorwurfsvoll, »du darfst doch nicht der erste sein?«

»Aber es brennt ja, Mutter!«

»Jeses, Ottel, deinethalb ist der Baum doch nicht angebrannt worden!«

Doch Ottel riß sich los und löschte das Lichtchen, durch das schon ein Zweig Feuer gefangen hatte.

Nun waren sie alle voll Bewunderung der aufgebauten Gaben, auch die Dienstmädchen, die bescheiden an der Tür standen.

»Ach, Frau Rendant,« rief Adele, »sehen sie doch nur, was für einen reizenden Platz mir Minni am Fenster eingerichtet hat.«

»Ja,« sagte Minna, »der Rohrstuhl und der kleine offene Schreibtisch, und die Hyazinthen und der Kanarienvogel müssen dir einstweilen dein Boudoir ersetzen.«

An Brunos Fenster hörte man schon die Laubsäge rasseln; Herr Grimmel und der Vater sahen dem glücklich lächelnden Knaben zu.

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Adele flog herbei und umarmte die gütige Schwester ...

»Frau Rendant! Frau Rendant!« rief Ellas helle Stimme, »ich habe auch ein Boudoir.«

Sie kniete in dem Winkelchen hinter dem Ofen, wo ihr Minna eine kleine Puppenwirtschaft eingerichtet hatte. Nun mußte Frau Rendant auch hier alle die Dinge bewundern, die sie schon kannte, und Minna mußte erklären, wie sie alles so reizend zustande gebracht hatte. Dann flog Adele herbei und umarmte die gütige Schwester, und Bruno meinte, sie müsse eine Fee sein, denn ein gewöhnliches Mädchen könne keine Wünsche erraten.

»Ja, die gute Fee unsers Hauses,« sagte Herr Uslar und setzte sich auf den bequemen Lehnstuhl, den Minna für den Vater ausgesucht hatte.

Frau Rosine stolzierte mit einem gestrickten wollenen Tuch umher, und Ottel, Uhlands Gedichte in der Hand, machte eine dankbare Verbeugung, warf aber bei der Gelegenheit ein Gesellschaftsspiel zu Boden.

Maruschka stand verlegen lächelnd an ihrem Platze und wagte nicht, den schönen Kleiderstoff zu berühren. Aber Anuscha küßte dem Fräulein für ein rotseidenes Schälchen dankbar die Hand. Endlich aber ergriff Maruschka ihr Kleid, und als habe sie einen Raub ausgeführt, stürzte sie damit nach der Küche; nun wurde die Freude laut. Daß die Karpfen in ihrer braunen Sauce im Ofen schmorten, vergaßen die Mädchen in ihrem Jubel. Da war's ein Glück, daß Frau Rosine zum Rechten sah; wo die aber zugriff, wurde alles bald fertig, und so wurde denn auch nach kurzer Zeit gemeldet, daß angerichtet wäre.

In Herrn Uslars Stube war die Tafel gedeckt und ein echtes schlesisches Weihnachtsmahl – polnisch gesottene Karpfen mit Bratwürsten, Sauerkraut und Salzkartoffeln – stand darauf. Strahlend vor Freude schaute Frau Rosine zu, wie jedes der Kinder – Minna eingerechnet – auf seinem Platz eine kleine Gabe fand, mit der sie die junge Gesellschaft überraschte. Ihre Dankesbezeigungen waren jetzt auch wärmer als am Tage ihrer Ankunft.

Nun erinnerten sich Ella und Bruno, daß sie ihre Weihnachtsgeschenke vergessen hatten, und überreichten Minna etwas beschämt ein Stückchen Seife und ein Flakon; die Schwester aber schien so erfreut, als hätten sie ihr die wertvollsten Gaben geschenkt. Dann hing Adele ihrer Minna schüchtern das Kettchen um, wobei diese zu Tränen gerührt wurde, und Herr Uslar brachte unter etwas wunderlich aussehendem Zuckerwerk seiner Ältesten eine kleine Summe Geldes.

»Aber, Papa, du bist wirklich zu gütig!« rief Minna.

Nun aber ermahnte Frau Rosine, das gute Essen nicht kalt werden zu lassen; und als dann jeder sein Teil Fisch auf dem Teller hatte, wurde Schweigen geboten, damit nicht beim Sprechen eine Gräte verschluckt würde.

Ottel aber durfte auch nach dem Karpfenessen nicht sprechen; immer wenn er den Mund auftun wollte, trat ihn seine Mutter auf den Fuß oder kniff ihn in den Arm, oder warf ihm drohende Blicke zu; denn sie lebte in beständiger Angst, daß ihr Ottel, sobald er den Mund aufmachte, etwas ganz Unpassendes sagen würde.

Alt und jung hatte sich nach dem Abendessen wieder in der Wohnstube versammelt, und von dem Gesellschaftsspiele, das zum erstenmal probiert wurde, durften sich die alten Herren nicht ausschließen.

Auf einmal ging die Tür auf; eine tiefe, klangvolle Stimme rief von draußen: »Julklapp – die Schneekönigin läßt grüßen!« Und mitten in die Stube kamen drei riesige, glitzernde Schneeballen geflogen.

Ottel war der erste, der hinausstürmte, um den Boten der Schneekönigin abzufangen. Aber er sah nur in der Ferne etwas wie ein Schlittengefährt; eine Laterne blitzte einen Augenblick zwischen den niederfallenden Schneeflocken. Dann ertönte Schellengeläut, das bald in der Ferne verklang.

»Wer mag das gewesen sein?« dachte Ottel und kehrte enttäuscht zurück.

»Es sind gar keine Schneebälle,« rief ihm Ella entgegen. »Sehen Sie, Herr Ottel, was ich bekommen habe!« Sie hielt ihm eine höchst elegante Bonbonniere mit dem feinsten Konfekt gefüllt entgegen. Adele und Minna zeigten ihm jede einen Strauß der seltensten Treibhausblumen. Eingehüllt in Watte und mit Silberstaub bestäubt, hatten diese Gegenstände die Form eines Balles erhalten; die Bälle waren mit weißem Atlasband umschlungen, auf dem die Namen der drei jungen Mädchen standen.

Alle Mutmaßungen, wer der Geber sein könnte, waren bald erschöpft, weil die Familie in Tarnowitz noch ganz fremd war. Da rief Ella auf einmal: »Ich weiß! Ich weiß! Der Herr und die Dame sind's.«

»Welcher Herr und welche Dame?« fragte Adele.

»Du weißt schon – ich habe ja meinen Schneeball in ihren Wagen geworfen, und die Dame hat lachend mit dem Finger gedroht ...«

»Und der Herr hat sehr höflich gegrüßt,« meinte Adele.

»Dann esse ich nicht von dem Konfekt,« erklärte Bruno.

»Von einem solchen Manne möchte ich kein Geschenk nehmen.«

»Aber es schmeckt gut,« sagte Ella und steckte einen Bonbon in den Mund.

»Wir können die armen Blumen nicht in den Schnee werfen,« meinte Adele, und Minna erklärte, was sie gehört hätten, wären ja nur Gerüchte; vielleicht wäre Baron Neitung gar kein so böser, sondern nur ein unglücklicher Mann.

»Gerade das sage ich auch,« behauptete Frau Rosine.

»Das ist man eine sehr interessante Geschichte,« sagte der Rendant und hüllte sich ganz in Rauch ein. »Aber ich denke, es ist am besten, wir gehen jetzt schlafen und überlegen uns im Bett noch einmal alle Umstände. Morgen werden wir man klug geworden sein.«

So trennte sich die Gesellschaft sehr befriedigt von dem gemeinsam verlebten schönen Feste.

Herr Uslar küßte seine Tochter auf die Stirn: »Gott segne dich, mein teures Kind,« sagte er, »du hast in unser verödetes Haus wieder Glück und Freude eingeführt.«

Und mit dem Segenskuß des Vaters und einem Dankgebet zu Gott für all das Gute, das er ihr und ihren Lieben an diesem Abend hatte zuteil werden lassen, schlief das liebe Mädchen ein.


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