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6. Der erste Unterricht.

»Wie soll ich mir nur ein Ansehen als Lehrer geben?« dachte Minna. »Ich habe immer gehört, daß die eignen Geschwister noch schwerer zu unterrichten seien als fremde Kinder.« Minna beschloß deshalb, auf den Anstand zu halten. Sie bürstete Bruno und Ella das Haar und band Ella ein weißes Schürzchen vor.

In des Vaters Stube, der zu dieser Zeit auf dem Bureau war, sollte der Unterricht stattfinden. Schreibhefte, Federn, Tintenfaß und Schiefertafeln waren besorgt. Die Kinder nahmen feierlich Platz. Adele war wegen ihrer spöttischen Reden das Zuhören nicht erlaubt.

Minna. Ich werde mit der Geographie von Schlesien anfangen.

Ella klatscht in die Hände; Bruno verzieht den Mund.

Bruno. Ich will lieber von den Griechen lernen.

Minna. Wir können doch nicht mit den Griechen anfangen und dann zu der Provinz Schlesien kommen! – Ich beginne also mit unsrer neuen Heimat. In wie viele Regierungsbezirke wird Schlesien eingeteilt?

Ella. In drei Regierungsbezirke, Breslau, Liegnitz und Oppeln.

Bruno. Kolossal; was das Mädchen gelernt hat!

Minna. Wie heißt die Hauptstadt von Schlesien?

Bruno. Solche Fragen stellt kein Lehrer; das weiß ja das dümmste Kind.

Minna (errötet unwillig, fährt aber fort). Da du nicht antwortest, wird mir Ella antworten.

Ella (zugleich Bruno schreien beide sehr laut, als wollten sie sich überschreien). Breslau.

Minna. Welcher Fluß durchströmt Schlesien?

Ella und Bruno (wie vorher). Die Oder.

Minna (erregt, aber sich zur Ruhe zwingend). Ich frage immer nur eines von euch. Jetzt ist Ella an der Reihe. Kannst du mir die Städte an der Oder nennen?

Bruno. Ach, das weiß sie ja nicht; frage mich doch lieber.

Minna. Ich habe Ella gefragt; wenn sie es nicht weiß, kommst du daran. Nun, Ella?

Ella. Breslau liegt an der Oder und – und ...

Maruschka klopft an und kommt zögernd herein. Ella fühlt sich sehr erleichtert.

Maruschka. Soll ich Feuer machen, gnädiges Fräulein, und das Rindfleisch zusetzen?

Minna fällt ein, daß sie Maruschka noch keine Belehrung gegeben hat, wie man Fleisch kocht; es ist ihr peinlich, die Stunde zu unterbrechen, aber der Vater muß ein ordentliches Mittagbrot finden. Sie setzt Maruschka auseinander, daß sie das Fleisch in wallendes Wasser tun müsse, damit das Eiweiß gerinne.

Maruschka. Ich habe Fleisch immer ohne Eiweiß gekocht.

Bruno. Dienstmädchen, Sie sind schwer von Begriff, das Eiweiß ist ja im Fleisch enthalten.

Minna sieht ein, daß sie selbst nachsehen muß, entschuldigt sich bei den Schülern und verläßt das Zimmer.

Bruno. Jetzt bin ich Schulmeister.

Er setzt sich des Vaters Brille auf und diktiert. Ella setzt sich auf den Tisch und lacht.

Bruno. Das Unterrichten ist eine schwere Arbeit. Manchmal weiß ein Schüler mehr als der Lehrer. Wenn eine Köchin den Unterricht stört, ist das unpassend; wenn aber ein Lehrer kochen muß, so ist das noch unpassender. – Schreibe das nieder, meine Tochter.

Minna tritt ein. Bruno!

Bruno nimmt die Brille ab und ist sehr beschämt.

Kaum aber hat Minna wieder angefangen, guckt Adele herein. »Wie lange soll's denn noch dauern?«

Minna. Ich habe ja erst angefangen.

Adele. Aber ich langweile mich. Darf ich zuhören?

Minna. Du störst die Kinder noch mehr.

Bruno. Hinaus mit dem Pensionsfräulein!

Ella. Ich denke, du bist schon klug genug.

Adele. Ich will auch nicht lernen; ich wollte nur zuhören. Aber wenn ihr so unfreundlich seid, gehe ich fort.

Adele geht; Bruno klatscht in die Hände. Minna seufzt und examiniert weiter. Abermals guckt Adele herein.

Adele. Ich will nicht zuhören; ich will nur fragen, ob wir heute nachmittag spazieren gehen?

Minna. Adele, es ist mir nicht leicht, die Kinder zu. unterrichten. Du solltest es mir nicht noch erschweren.

Ella springt auf und will Adele hinausdrängen. Adele entschlüpft, und sie jagen sich beide umher.

Minna kämpft mit den Tränen, und als Adele das merkt, läuft sie schnell hinaus.

»Guter Gott, wie schwer haben es die armen Lehrer!« denkt Minna und versucht abermals, die Kinder nach dem schönen Schlesien zu führen. Da klopft Maruschka. »Ach, gnädiges Fräulein – nur einen Augenblick; soll ich den Reis mit kaltem Wasser zusetzen?«

Minna merkt, daß sie noch einmal in der Küche nachsehen muß. Kaum hat sie das Zimmer verlassen, läuft Ella ans Fenster. »Da kommen Direktors Jungen mit ihrem Hauslehrer,« ruft sie Bruno zu.

Der Knabe humpelt auf seinen Krücken ans Fenster. Die beiden Jungen, Adalbert und Artur, werfen als Gruß einen Schneeball ans Fenster.

»Warte, den bekommt ihr wieder!« ruft Ella, reißt das Fenster auf, rafft den Schnee, der auf dem Sims liegt, zusammen und wirft. Als Antwort fliegen gleich zwei weiße Kugeln herein, und immer mehr. Den Angreifern draußen fehlt's nicht an Schnee. Ella muß die hereinfallenden Bomben zusammensuchen; Bruno schießt damit und zielt gut. Die Parteien werden dabei hitziger, Ball auf Ball fliegt herein und hinaus. Die Bücher werden naß vom tauenden Schnee; der Fußboden, Herrn Uslars Schreibtisch – alles voll Nässe und Schmutz. Die Kinder schreien, der Hauslehrer amüsiert sich bei dem Kampfe, und Adele, die sich dazu eingefunden hat, nicht minder.

Sprachlos steht Minna, die von allen unbemerkt eingetreten ist, an der Tür. Ein Schneeball fliegt ihr an den Kopf. Da erst wird sie von Ella bemerkt.

»Bruno! Bruno!« ruft das kleine Mädchen, schließt schnell das Fenster und setzt sich mit einer ernsten Miene an den Tisch. Bruno humpelt, so schnell er kann, gleichfalls herbei. Adele, schuldbewußt, schlüpft hinaus. Aber Minna erklärt, sie werde an diesem Tage keinen Unterricht mehr geben. Die Kinder geloben reuig Besserung, aber sie bleibt standhaft und geht wieder in die Küche.

Vor der Tür bleibt sie einen Augenblick stehen und schlägt die Hände seufzend zusammen; sie ist mutlos; sie fühlt, daß sie etwas unternommen hat, dem sie nicht gewachsen ist. Auf einmal aber blickt sie entschlossen auf. »Nur der Anfang ist schwer. Wenn ich besser unterrichte, werden die Kinder auch besser lernen; es liegt ja nur am Lehrer, wenn sie nicht lernen.« –

»Heute wird es gewiß etwas sehr Gutes geben,« sagte Ella, als sich die Familie um den Mittagstisch versammelte, »Minna mußte immer in der Küche helfen.«

Das Essen wurde aufgetragen – Rindfleisch mit Reis. Alle sahen enttäuscht aus.

»Minna traktiert uns jetzt mit Gerichten, die Mama für Waschfrauen kochen ließ,« bemerkte Adele spitz.

»Das schmeckt ja gar nicht gut, Minni,« meinte Ella, nachdem sie gekostet hatte. Bruno schüttelte den Kopf. Herr Uslar schwieg, aber er ließ seinen Teller nicht ein zweites Mal füllen.

.

»Ach, gnädiges Fräulein, soll ich den Reis mit kaltem Wasser zusetzen?«

Minna fühlte sich so bedrückt, daß sie am liebsten hinausgelaufen wäre; aber sie nahm sich zusammen, und als sie wieder sprechen konnte, sagte sie höflich: »Ihr habt recht, das Essen ist nicht gut gekocht.«

Herr Uslar blickte seine Älteste erstaunt an; sie sprach sehr ruhig und entschlossen; das flößte ihm Achtung ein. Sein Blick ermutigte Minna, und sie fuhr fort: »Wenn ich aber mit meinem Wirtschaftsgelde reichen will, kann ich nur ganz einfache Gerichte und nicht alle Tage Hasenbraten bringen; doch was auf den Tisch kommt, soll gut zubereitet sein, ich will mir Mühe geben, kochen zu lernen. Schmeckt es euch trotzdem nicht – ich werde euch zum Essen nicht zwingen, aber wenn ihr dann nicht satt seid, werdet ihr hungern, und so denke ich, tut ihr am klügsten, euch an einfache Kost zu gewöhnen.«

»So spricht eine verständige Hausfrau,« versetzte Herr Uslar lächelnd und reichte seiner Tochter die Hand. »Wir alle haben eine verdiente Strafpredigt erhalten.«

»Aber, Papa! Ich habe dich doch nicht gemeint!«

»Nun, mein liebes Kind, ich habe sie verdient. Jetzt aber bitte ich mir noch ein zweites Mal Reis und Rindfleisch aus; siehst du, so gut hat deine Predigt gewirkt.«

»Ach, Papa, wie gut bist du!« rief Minna bewegt.

»Wenn ich von dem schrecklichen Gericht noch einmal esse, wirst du mir auch wieder gut sein – liebe Minni?‹ fragte Bruno; selbst Ella schob zögernd ihren Teller hin. »Aber nur ein ganz klein wenig,« bat sie. Adele allein schmollte und kaute am trockenen Brote.

Am Nachmittag besuchte Minna Frau Rosine.

»Ach, liebe Frau Rendant,« bat sie, »können Sie mich nicht das Wirtschaften lehren? Aber schnell muß es gehen, denn ich mache eine Dummheit nach der andern, und wenn das so weiter geht, werden alle mit mir unzufrieden sein und mich gar nicht mehr lieb haben.«

Frau Rosine fühlte sich geschmeichelt, doch fand sie, daß eine kleine Predigt passend wäre. »Die jungen Mädchen wachsen jetzt auf wie die Lilien auf dem Felde: sie arbeiten nicht und sorgen nicht, und solange sie den Tisch gedeckt finden – geht's ja auch recht gut; aber wenn sie ihn selber decken sollen – na, nichts für ungut, liebes Fräulein – Ihre Schuld ist es nicht, daß Sie so unerfahren sind, aber wenn Sie sich nur Mühe geben wollen, werden Sie's schon lernen. Die erste auf, die letzte zu Bett, und mit dem Pfennig gespart, damit der Taler zur rechten Zeit ausgegeben werden kann, das wären die ersten Regeln.«

»Ich kann mir schon denken, daß Sie kein rechtes Vertrauen zu mir haben, Frau Rendant, weil ich ein sehr verwöhntes Mädchen bin, aber Sie sollen sehen, an Eifer und Mühe werde ich's nicht fehlen lassen.«

Frau Rendant verstand das sparsame Wirtschaften, und es war ihr ein großes Vergnügen, diesem lieben jungen Wesen, das sie schon ins Herz geschlossen hatte, eine gute Beraterin zu sein. Sie versprach, selbst mit Herrn Uslar zu reden und ihn um einen namhaften Vorschuß anzugehen, damit die Speisekammer mit Vorräten gefüllt werden könnte. Ein Schweinchen aber wollten sie dann gemeinschaftlich schlachten.

Nachdem sich diese angenehmen Aussichten vor der angehenden kleinen Wirtschafterin eröffnet hatten, klagte sie, daß sie alle an kalten Füßen litten; sie besäßen nur feine gewebte Strümpfe und leichtes Schuhwerk.

»Also besorgen wir morgen dicke Wolle, und Sie stricken den Geschwistern Strümpfe,« meinte Frau Rosine.

»Jetzt werden Sie mich gewiß auslachen, Frau Rendant,« entgegnete Minna und errötete; »ich habe aber niemals einen Strumpf gestrickt.«

Frau Rosine schlug die Hände zusammen. »Nie einen Strumpf gestrickt!«

»Nun, das muß doch auch zu lernen sein,« tröstete Minna. Aber Frau Rosine konnte sich nicht so bald beruhigen. Was sollte aus der Menschheit werden, wenn die Frauen aufhörten Strümpfe zu stricken!


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