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7. Adelens Kummer.

Die Generalin von Cronitz beschwerte sich, daß sie von ihren Nichten so schlecht mit Nachrichten aus der neuen Heimat versorgt würde.

»Ja, wenn ich nur den Tag um einige Stunden verlängern könnte!« jammerte Minna.

»Ich will es übernehmen, ihr einen ausführlichen Brief zu schreiben,« erbot sich Adele. Sie hatte Zeit, denn sie hielt es unter ihrer Würde, Minna bei den häuslichen Arbeiten zu helfen; ihr Vornehmtun büßte sie freilich mit Langeweile. Das arme Kind befand sich in einer bedrängten Lage und hatte längst gewünscht, die Tante einmal um Rat zu fragen. Der Brief wurde deshalb ungewöhnlich lang.

»Liebe Tante!« schrieb sie. »Wenn ich Dir erzähle, wie wir hier leben, wirst Du denken, daß ich übertreibe; aber es ist nichts übertrieben. Ich fühle mich dabei grenzenlos unglücklich, doch Minna würdest Du kaum wiedererkennen. Vielleicht erinnerst Du Dich noch, daß sie immer betrübt war, wenn sie es auch nicht zeigen wollte. Sie konnte den Tod der geliebten Mama am schwersten verschmerzen, und wegen Papa machte sie sich viele Sorgen; Du hast ja alles für sie getan, und doch war sie mehr ernst als heiter. Jetzt aber ist sie die Lustigste im ganzen Hause, singt, lacht und macht Witze, über die selbst Papa lachen muß. Kannst Du das begreifen? Nun will ich Dir aber erst einmal ihr Tagewerk schildern, und dann wirst Du vielleicht fragen: ›Ist Minna wirklich ein so gebildetes und feinfühlendes Mädchen, als ich glaubte?‹ Ach, liebe Tante, manchmal denke ich, sie müsse das beste Geschöpf auf Gottes Erdboden sein, und manchmal kommt sie mir ganz verächtlich vor, und ich fürchte, ein niederer Sinn ist ihr schon angeboren und kommt jetzt erst zum Vorschein; denn offenbar findet sie an ganz gewöhnlichen Mägdearbeiten das größte Vergnügen. Aber höre nur, wie sie lebt.

»Wenn es noch finstere Nacht ist, um sechs Uhr, steht sie schon auf; die Stube ist natürlich noch kalt. Früher half sie sogar aufräumen, denn das, was jedes feine Stubenmädchen von selbst versteht, mußte sie unsre Maruschka – polnisches Mädchen für alles – erst lehren. Jetzt benutzt Minna die Zeit, sich für den Unterricht der Kinder vorzubereiten. Während sie aber liest, tut sie noch etwas, was Du unmöglich erraten kannst – sie strickt wollene Strümpfe! Deine elegante, gefeierte Minna sitzt und strickt! Ach, liebe Tante, es schmerzt mich. Und dieses schreckliche Strickzeug kommt den ganzen Tag nicht aus ihrer Hand. Sie frühstückt und strickt, sie unterrichtet und strickt, sie erzählt Märchen und strickt. Mit ihrem Strickstrumpf in der Hand wird sie gewiß eine alte Jungfer werden. Mir hat sie auch schon ein Paar von den gestrickten Strümpfen aufgezwungen, und bei der Kälte hier sind sie nicht zu verachten. – Wie sie ihren Unterricht erteilt, kann ich nicht sagen; mir ist es nicht erlaubt, zuzuhören. Zuerst ging's wohl dabei etwas drunter und drüber; jetzt müssen die Kinder parieren, und was mich am meisten wundert, sie lernen sehr gern und sind eifrig, ihre Aufgaben zu machen. Wenn unsre Minna nicht unterrichtet und strickt, dann kannst Du sie gewiß in der Küche finden. Auf ihr Kochen ist sie ordentlich eitel, und wenn Papa das Essen lobt, wird sie vor Freude ganz rot. Jetzt hat sie sich auch das Wäscheplätten gelehrt. O, liebe Tante, ist es möglich, daß eine vornehm erzogene junge Dame an solchen Arbeiten Vergnügen findet? Am Abend wird genäht; wir nähen für eine arme Familie; der Mann ist verunglückt, und die Witwe hat sechs Kinder zu ernähren. Da ich überzeugt bin, daß es auch für vornehme Damen keine Schande ist, für Arme zu arbeiten, helfe ich sehr gern dabei. Übrigens werde ich wie ein Kind behandelt und mit den andern zeitig zu Bett geschickt. Doch Minna bleibt noch lange auf, und wie ich vermute, macht sie Weihnachtsarbeiten. Ich aber werde an diesem Abend nur weinen und der vergangenen schönen Abende gedenken.

»Sei nicht böse, liebe Tante, über meinen langen, uninteressanten Brief. Minna findet keine Zeit zum Schreiben und hat mich damit beauftragt. Ach, mir ist das Herz so voll, und ich habe niemand, gegen den ich mich aussprechen kann; denn Minna versteht mich nicht oder will mich nicht verstehen. Du aber wirst mich verstehen. Du bist in meinen Augen immer das Ideal einer wahrhaft vornehmen Dame gewesen.

»In tiefster Verehrung und Dankbarkeit

Deine Dir innig ergebene Nichte
Adele.«

 

Der Brief wurde umgehend beantwortet.

»Mein liebes Kind!« schrieb die alte Dame. »Dein Brief war wohl lang, aber durchaus nicht zu lang. Wir – das heißt die gute Meerkatz und ich – haben ihn sogar zweimal gelesen; ich will Dir aber damit keine Schmeichelei sagen. Dein Brief hat mir gut getan, und ich habe mir ganz ehrlich eingestanden, daß ich eine alte Egoistin war, als ich immer nur jammerte, daß sich meine liebe Minna nach dem abgelegenen Tarnowitz verbannen müßte. Ich habe sie mit allen Bällen, Theatern und Konzerten, mit allen Huldigungen, die ihr dargebracht wurden, nicht glücklich machen können; dazu gehörte für diese liebende Seele etwas ganz andres. Tägliches Vergnügen wird ja überhaupt mit der Zeit zu lästiger Arbeit; tägliche Arbeit hingegen verwandelt sich in Vergnügen, macht das Herz fröhlich und die Seele gesund. Gott segne mein liebes Mädchen! Ich war recht eitel auf sie; sie war die größte Zierde meines Salons. Die Meerkatz und ich, wir hören noch alle Tage, daß ihr Verlust unersetzlich sei. Darin aber zeigt sich's, ob ein Mensch tüchtig ist, daß er auf dem Platze, wo ihn unser Herrgott hinstellt, so steht, als ob er extra für diesen Platz geschaffen wäre. Da nimmt der liebe Gott unsre Minna aus eurem vornehmen Hause und setzt sie nach Tarnowitz in eine simple Wohnung und legt ihr auf, zu kochen, zu stricken, zu unterrichten usw., und siehe da, mein teures Kind stutzt erst, fürchtet sich und traut sich eine so große Aufgabe gar nicht zu; dann läßt sie sich belehren und versucht, greift überall selbst zu und überwindet alle Schwierigkeiten, bis sie sich unter diesen beengten Verhältnissen ebenso sicher bewegt wie auf dem Parkett unsrer Salons, und ebenso geliebt, geschätzt und bewundert wird. Ja, meine liebe Adele, Gott war so gütig, Dir in dieser Schwester ein Vorbild zu geben, dem Du nur nachzueifern brauchst. Schändet es denn einen Prinzen, an einem Schilderhause Wache zu stehen, wenn's sein König befiehlt? Aber an einer Stelle, wo ihn sein König hinstellt, nicht seine Pflicht zu tun, das schändet den Prinzen wie den geringsten Knecht.

»Du armes Kind, bildest Dir noch ein, die vornehmen und reichen Leute lebten unter ganz andern Gesetzen, als die geringen und armen, und hätten andre Pflichten und eine andre Ehre. Du bist aus der Pension herausgekommen wie eine vornehme, kleine Chinesin, der man die Füßchen so eingeschnürt hat, daß sie allein nicht zu gehen vermag; die harte Notwendigkeit wird Dich schon eines Bessern belehren, aber ihre Lehren schmecken nicht süß, Du armes, geängstetes Vögelchen! Gucke aber immer nur nach Minna; was die tut, kannst Du getrost nachmachen; wenn Du's nur auch können wirst. Gott befohlen, mein liebes Mädchen; schreibe bald einmal wieder Deiner alten Tante.

» P. S. Die Meerkatz und ich, wir haben uns gleich Wolle besorgt und stricken nun Strümpfe um die Wette. Ihr sollt zu Weihnachten von unserm Fleiße profitieren.«

Adele las den Brief, und las ihn noch einmal mit klopfendem Herzen. Dann stürzten die Tränen aus ihren Augen – selbst die Tante hatte sie nicht verstanden. Sie glaubte für die Ehre der Familie zu kämpfen; sie wollte sich von den ärmlichen Verhältnissen nicht beugen lassen, sie wollte ihre gute Erziehung nicht preisgeben. So wenigstens dachte Adele und hoffte, die Tante würde ihr recht geben und sie ermutigen. Jetzt fühlte sie sich ganz verlassen und trostlos.

»Du hast ja einen Brief von Tante,« sagte Minna und guckte herein. »Was schreibt sie denn?«

»Sie schreibt ...« sagte Adele stockend – eine Unwahrheit schwebte auf ihren Lippen, aber lügen war niedrig – Adele log nicht, und schnell entschlossen setzte sie hinzu: »Der Brief kränkt mich; ich will nicht sagen, was Tante schreibt.« Sie zerknüllte ihn und warf ihn in den Ofen.

»Schäme dich,« sagte Minna und ging hinaus. Sie war empört; auf den Brief der geliebten Tante hatte sie sich gefreut, wie konnte Adele es wagen, ihn zu verbrennen! Sie war mit dieser Schwester sehr unzufrieden, Adele allein wollte sich nicht in die Regeln des kleinen Haushalts fügen. Bruno und Ella, soweit es die schwachen Kräfte der Kinder erlaubten, zeigten sich hilfreich; sie waren gute Schüler und erleichterten ihr nach dem ersten mißlungenen Versuch das Unterrichten. Adele allein half bei keiner häuslichen Arbeit, saß träge und mißmutig in der Stube, spottete die andern aus, oder beklagte sich über das Schicksal. Am Anfang bekam sie von ihren Pensionsfreundinnen viele und zärtliche Briefe, denn sie war unter ihnen gleichfalls sehr beliebt; aber sie konnte sich nicht entschließen, die Briefe zu beantworten und gar, wie verlangt wurde, eine Beschreibung ihres Lebens zu geben. So war ihr auch der einzige Trost benommen, sich gegen ihre Freundinnen auszusprechen. Bruno und Ella schlossen sich immer inniger an Minna an; selbst der Vater schien nur Liebe und Dankbarkeit für diese Tochter zu fühlen, die ihm sein Haus so trefflich führte und ihn so über Erwarten glücklich machte. Wie blaß und traurig die arme kleine Adele aussah, schien er gar nicht zu bemerken; oder wenn er es bemerkte, so hoffte er, daß sie sich mit der Zeit schon wieder zurechtfinden würde.


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