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In jener Nacht fand Angelika keinen Schlaf. Trotz ihrer übergroßen Schwäche hielt eine Schlaflosigkeit ihre glühenden Augenlider offen. Als die Hubert sich zu Bett begeben hatten und es bald Mitternacht schlagen mußte, zog sie es deshalb vor, sich zu erheben, trotzdem das Aufstehen ihr eine ungeheure Anstrengung kostete. Sie ergriff die Furcht vor dem Tode, wenn sie noch länger im Bett blieb. Sie glaubte zu ersticken, hüllte sich in einen Mantel und schleppte sich bis zum Fenster, das sie weit öffnete. Der Winter brachte viel Regen und war von einer feuchten Milde. Dann ließ sie sich in den Lehnstuhl fallen. Sie schraubte den Docht der vor ihr auf einem kleinen Tische stehenden Lampe höher, die jetzt während der ganzen Nacht zu brennen pflegte. Dort neben der Goldenen Legende stand der Strauß aus Malven und Hortensien, den sie nachahmte. Um sich selbst der Wirklichkeit wiederzugeben, fiel es ihr ein, zur Arbeit zu greifen; sie zog den Stickrahmen zu sich heran und tat einige Stiche mit zitternden Händen. Die rote Seide einer Blüte schimmerte wie Blut zwischen ihren weißen Fingern. Es schien das tropfenweise entfließende Blut ihrer Adern zu sein.
Während sie sich in ihren heißen Kissen an zwei Stunden schlaflos umhergewälzt hatte, versank sie in dem Stuhle fast sofort in den Schlaf. Ihr von der Rücklehne gestützter Kopf neigte sich ein wenig auf die rechte Schulter; die Seide war in ihren unbeweglichen Fingern geblieben, man konnte meinen, daß sie noch arbeite. Bleich und bewegungslos schlief sie beim Scheine der Lampe in dem friedlichen Zimmer, dessen weiße Wände denen einer Grabkammer ähnelten. Das Licht umgab das Bett mit seinen verblichenen, rosakattunenen Vorhängen mit einem bleichen Schimmer. Nur die Truhe, der Schrank und die Stühle aus altem Eichenholz bildeten da und dort düstere Flecke an den weißen Mauern. Minuten verflossen; sie schlief sanft und mit bleichem Antlitz.
Endlich rührte sich etwas. Auf dem Balkon tauchte zitternd und abgemagert wie Angelika selbst, Felix auf. Sein Gesicht zeigte große Verstörtheit; er betrat das Zimmer und bemerkte sie in ihrem Lehnstuhle, so erbarmungswürdig und schön im Scheine der Lampe. Ein unendlicher Schmerz schnürte ihm das Herz ein, er trat einige Schritte vor, ließ sich vor ihr auf die Knie nieder und versenkte sich in eine wehmütige Betrachtung der Geliebten. Sie war also wirklich nicht mehr dieselbe, die Krankheit hatte ihr Aussehen völlig zerstört, sie schien so schmal und leicht wie eine Feder geworden zu sein, die der Wind entführen will. In ihrem ruhigen Schlafe spiegelten sich so recht ihr Leiden und ihre Ergebung ab. Er erkannte sie nur noch an ihrer lilienhaften Anmut wieder, an dem Aufstreben ihres zarten Halses und den abfallenden Schultern, an dem länglichen Gesicht einer zum Himmel auffliegenden Heiligen. Ihre Haare waren eitel Licht geworden, und unter der durchsichtigen Seide ihrer Haut schimmerte gleichsam ihre Seele, so makellos wie unberührter Schnee. Ihre Schönheit glich der Schönheit der Heiligen, die ihrer sterblichen Hülle ledig geworden sind. Er war von ihrem Anblick wie geblendet und so ergriffen, daß er mit gefalteten Händen in voller Verzweiflung unbeweglich vor ihr liegen blieb. Sie erwachte nicht, und er starrte sie länger und länger an.
Ein leiser Hauch von den Lippen Felix' mußte wohl das Gesicht Angelikas gestreift haben, denn plötzlich machte sie die Augen weit auf. Sie rührte sich nicht und blickte ihn lächelnd traumbefangen an. Er war es, sie erkannte ihn sofort, obwohl er sich verändert hatte. Sie meinte noch zu schlummern, denn so hatte sie ihn oft im Traume erblickt, und dies vergrößerte beim Erwachen noch ihre Pein.
Er hatte ihr die Hände entgegengestreckt und sprach:
Teures Herz, ich liebe Sie ... Man hat mir erzählt, wie sehr Sie leiden, und deshalb bin ich hergeeilt ... Ich bin hier, ich liebe Sie.
Sie richtete sich lebhaft auf. Ein Zittern überlief sie, und mit einer mechanischen Bewegung legte sie die Finger auf ihre Augenlider.
Zweifeln Sie nicht daran ... Ich bin es, hier zu Ihren Füßen, und ich liebe Sie, liebe Sie noch immer.
Sie stieß einen Schrei aus.
Ah, Sie sind es ... Ich habe Sie nicht mehr erwartet, und Sie sind es ...
Mit ihren unsicher tastenden Händen hatte sie die seinen ergriffen und sich versichert, daß er wirklich keine Truggestalt des Traumes sei.
Sie lieben mich noch immer, und auch ich liebe Sie trotz allem, ja mehr noch, als ich jemals lieben zu können glaubte!
Ein Taumel des Glückes, die erste Minute reinen Jubels kam über sie, wobei sie über der Gewißheit, sich noch zu lieben und es sich sagen zu können, alles vergaßen. Die Leiden von gestern und die Hindernisse von morgen, alles wai verschwunden. Sie wußten nicht, wie sie beide da waren, sie wußten nur, daß sie es waren, ihre Tränen flossen sanft ineinander, und in keuscher Umarmung hielten sie sich umschlungen, er war vor Mitleid fassungslos und sie so abgezehrt vor Kummer, daß er nur einen Hauch in seinen Armen zu halten vermeinte. Das Entzücken der Überraschung bannte sie, so daß sie wie gelähmt, schwankend und überglücklich in ihrem Stuhle sitzen blieb; sie fühlte ihre Gliedmaßen nicht, und als sie sich dennoch halb zu erheben versuchte, fiel sie vom Glücksrausch gepackt, in den Sessel zurück.
Mein einziger Wunsch ist erfüllt, ich habe Sie wiedergesehen, ehe ich sterbe.
Er erhob den Kopf mit angstvoller Gebärde.
Sterben! ... Ich will aber nicht! Ich bin hier und liebe Sie!
Sie lächelte verklärt.
Ich kann jetzt sterben, da Sie mich lieben. Jetzt schreckt mich der Tod nicht mehr, ich werde so an Ihre Brust gelehnt einschlafen ... Sagen Sie mir noch einmal, daß Sie mich lieben.
Ich liebe Sie, wie ich Sie gestern geliebt habe, wie ich Sie morgen lieben werde ... Zweifeln Sie nicht an meiner Liebe, die in alle Ewigkeit dauert.
Ja, in alle Ewigkeit lieben wir uns.
Angelika ließ in Verzückung ihre Augen unstet über das Weiß des Zimmers gleiten. Doch plötzlich schien sie zu erwachen. Die Gedanken kehrten zurück und unterbrachen die Betäubung, in welche sie das übergroße Glück versetzt hatte. Die Tatsachen setzten sie in Erstaunen.
Sie lieben mich, warum sind Sie denn nicht eher gekommen?
Ihre Eltern sagten mir, Sie liebten mich nicht mehr. Ich hätte sterben mögen ... Erst als ich erfuhr, daß Sie krank seien, entschloß ich mich zu kommen; ich war darauf gefaßt, aus diesem Hause gejagt zu werden, dessen Tür sich mir verschloß.
Auch mir sagte meine Mutter, daß Sie mich nicht mehr liebten. Ich glaubte meiner Mutter, denn ich habe Sie mit jenem Fräulein getroffen, ich dachte mir, Sie hätten Hochwürden gehorcht.
Nein, ich wartete ab ... Aber ich bin feige gewesen, habe vor ihm gezittert ...
Beide schwiegen. Angelika hatte sich wieder aufgerichtet. Ihr Gesicht zeigte einen herben Ausdruck, die Zornesader auf ihrer Stirn trat sichtbar hervor.
Dann hat man uns beide getäuscht, uns belogen, um uns zu trennen ... Wir liebten uns, und man hat uns gemartert, wir hätten beide daran zugrunde gehen können ... das ist abscheulich, das löst unsere Schwüre. Wir sind frei.
Die Wut der Verachtung gab ihr vollends ihre Festigkeit zurück. Sie fühlte ihre Krankheit nicht mehr, ihre Kräfte kehrten wieder, denn ihre Leidenschaft und ihr Ehrgeiz waren wieder wach geworden. Sie hatte ihren Traum für tot gehalten und sah jetzt ihn plötzlich strahlend wieder aufleben. Sie durfte es sich sagen, daß sie ihre Liebe wohl verdient hatten, und daß die anderen die Schuldigen waren! Dieses Wachsen ihrer Person, dieser endlich sichere Triumph brachte sie außer sich und steigerte ihre Empörung ins Maßlose.
Auf, wir wollen fort! sagte sie.
Mit ihrer früheren, erstaunlichen Willenskraft schritt sie ohne jede Hilfe durch das Zimmer. Sie wählte bereits den Mantel aus, mit dem sie ihre Schultern bedecken wollte; ein Spitzentuch auf dem Kopfe würde genügen.
Felix stieß einen Freudenruf aus, denn sie kam seinem Wunsche zuvor; er hatte an diese Flucht gedacht, aber noch nicht den Mut gefunden, sie ihr vorzuschlagen. Gemeinsam fliehen, verschwinden, kurz und bündig jeden Verdruß, jedes Hindernis hinwegräumen, mehr verlangte er nicht! Das sollte jetzt gleich geschehen; selbst der Kampf der Überlegung sollte erspart bleiben!
Ja, wir wollen fort und sogleich, mein teures Herz! Ich kam, um Sie zu holen, ich weiß, wo wir einen Wagen finden. Ehe der Tag anbricht, sind wir weit, weit von hier, so daß niemand uns einholen kann.
Sie öffnete die Schubläden und schloß sie heftig, ohne in ihrer wachsenden Aufregung etwas herauszunehmen. Seit Wochen hatte sie sich abgequält, ihn aus ihrem Gedächtnis zu streichen, bis sie selbst geglaubt, daß es ihr gelungen sei. Jetzt merkte sie, daß sie nichts zuwege gebracht hatte, daß sie eigentlich diese abscheuliche Arbeit noch einmal beginnen müsse! Nein, nie würde sie die nötige Kraft hierfür besitzen. Da sie sich liebten, gab es nichts Einfacheres: sie heirateten sich, und keine Macht konnte sie mehr voneinanderreißen.
Was soll ich mitnehmen ... Wie töricht war ich mit meinem kindlichen Zögern! Wenn ich daran denke, daß sie selbst die Lüge nicht verschmähten! Ja, ich wäre gestorben, weil sie Sie nicht herbeigerufen hatten ... Muß ich Wäsche, Kleider mitnehmen, sprechen Sie doch? ... Hier ist ein wärmeres Kleid ... Und mir setzten sie einen Schwall von Gedanken, ein ganzes Heer von Beängstigungen in den Kopf. Das ist gut, und das ist schlecht, das darf man tun und das nicht, es sind lauter verwickelte Dinge, die einen nur dumm machen. Sie logen stets, es war alles unwahr. Es gibt nur ein Glück: zu leben, nur seinem Herzen zu gehorchen und den zu lieben, der uns liebt ... Sie sind das Glück, die Schönheit, die Jugend, mein teurer Gebieter, Ihnen gehöre ich, Sie sind meine einzige Freude, machen Sie mit mir, was Sie wollen ...
Sie triumphierte, die Erbfehler, die man in ihr für erstorben gehalten hatte, schlugen in feuriger Garbe empor. Musik berauschte sie; sie sah ihren königlichen Aufbruch, wie dieser Sprößling von Fürsten sie entführte und zur Königin eines fernen Reiches machte; sie folgte ihm, sie hing an seinem Halse und ruhte an seiner Brust, es überlief ein so kalter Schauer unbekannter Leidenschaft ihren Körper, daß sie vor Glückseligkeit fast das Bewußtsein verlor. Nur sie beide waren noch auf der Welt, sie überließen sich dem Galopp der Pferde und flohen und verschwanden in unlösbarer Umarmung.
Ich nehme nichts mit, nicht wahr? ... Wozu auch?
Er stand schon an der Tür, das Fieber verzehrte ihn fast.
Nein, nichts ... Nur schnell.
Ja, fort, fort!
Sie war ihm nachgekommen. Jetzt wandte sie sich zurück, sie wollte noch einen letzten Blick auf ihr Zimmer werfen. Die Lampe brannte noch mit derselben matten Milde, der Strauß Malven und Hortensien blühte noch immer, eine unvollendete und doch schon lebende Rose inmitten des Stickrahmens schien auf sie zu warten. Noch nie war ihr das Zimmer so weiß erschienen, die Wände, das Bett, die Luft – alles erschien ihr von einem weißen Hauche übergossen.
Es wankte etwas in ihr, und sie mußte sich schnell auf die Lehne eines dicht an der Tür stehenden Stuhles stützen.
Was ist Ihnen? fragte Felix beunruhigt.
Sie antwortete nicht und atmete schwer. Wieder überlief sie ein Schauder, die Beine trugen sie nicht mehr, sie mußte sich setzen.
Beunruhigen Sie sich nicht, es ist nichts ... Nur eine Minute der Ruhe, dann brechen wir auf.
Sie schwiegen. Sie blickte im Zimmer umher, als habe sie dort einen kostbaren Gegenstand vergessen, den sie, befragt, schwerlich hätte nennen können. Ein Bangen, erst oberflächlich, dann immer stärker, stieg in ihr auf und bedrückte ihre Brust. Sie erinnerte sich nicht an etwas Gewisses. War es alles dieses Weiß, was sie zurückhielt? Sie hatte stets diese Farbe geliebt, ja sogar die Endchen weißer Seide auf die Seite gebracht, um sich im geheimen an ihrem Anblick zu erfreuen.
Eine Minute, nur eine Minute noch, und wir brechen auf.
Sie machte indessen nicht die geringste Anstrengung, sich zu erheben. Er war wieder angsterfüllt auf die Knie gesunken.
Leiden Sie, kann ich nichts zu Ihrer Erleichterung tun? Wenn Sie frieren, will ich Ihre kleinen Füße in meine Hände nehmen und sie wärmen, bis sie tapfer laufen können.
Sie schüttelte den Kopf.
Nein, nein, ich friere nicht, ich werde gehen können. Warten Sie noch eine Minute, nur eine Minute.
Er sah wohl, daß unsichtbare Ketten sie an die Möbel fesselten und sie so stark bannten, daß es ihm in dieser Minute vielleicht unmöglich sein werde, sie loszureißen. Aber entführte er sie nicht sofort, dann mußte er an den unausbleiblichen Kampf mit dem Vater am nächsten Tage denken, an diesen Bruch, vor dem er seit Wochen zurückgeschreckt war. Daher drang er in sie mit feuriger Bitte.
Kommen Sie, die Straßen sind um diese Stunde dunkel, der Wagen führt uns mitten hinein in die Finsternis. Wir werden wie gewiegt dahin fahren, einer in des andern Arm schlafen und wie unter einer Federdecke geborgen sein, so daß uns die Frische der Nacht nichts anhaben kann. Wenn der Tag anbricht, setzen wir die Fahrt im Scheine der Sonne fort, immer weiter und weiter, bis wir im Lande des Glückes angelangt sind ... Niemand wird uns kennen, wir werden für uns im Grunde irgendeines großen Gartens verborgen leben und keine andere Sorge kennen als die, wie wir uns mit jedem neuen Tage immer heißer lieben können. Dort sind die Blumen wie Bäume so groß und die Früchte süßer als Honig. Inmitten dieses ewigen Frühlings werden wir von nichts anderem als von unseren Küssen leben, geliebtes Herz.
Sie schauerte unter der Glut dieser Liebe zusammen, die ihr Gesicht in Flammen setzte. Ihr ganzes Wesen schwand in dem Aufblühen der verheißenen Freuden dahin.
Im Augenblick, sofort!
Sind wir dann des Reisens müde, so kehren wir hierher zurück. Wir richten die Mauer des Schlosses Hautecoeur wieder auf und leben dort bis ans Ende unserer Tage. Das ist mein Traum ... Unser ganzes Vermögen soll, wenn es nötig ist, mit offenen Händen ausgestreut werden. Von neuem wird der Wartturm die zwei Täler beherrschen. Wir werden die Ehrengemächer zwischen dem Davidsturm und dem Turm Karls des Großen bewohnen. Der ganze Koloß wird wieder aufgerichtet wie in den Tagen seiner Macht, die Wälle, die Gebäude, die Kapelle in dem urwüchsigen Glanz von ehedem ... Ich will, daß wir dort so leben wie in alter Zeit. Sie als Prinzessin, ich als Prinz, umgeben von einem Gefolge von Kriegern und Pagen. Fünfzehn Fuß dicke Mauern sollen uns abschließen, wir wollen uns wie in einer Märchenwelt befinden... Die Sonne versinkt hinter den Hügeln, wir kehren auf großen, weißen Pferden von der Jagd zurück. Vor uns sinken die Dorfleute in Ehrfurcht auf die Knie, das Hörn ertönt, und die Zugbrücke senkt sich hernieder. Des Abends speisen Könige an unserem Tisch. Unser Lager steht auf einer Erhöhung, über uns wölbt sich ein Baldachin wie ein Thron. Sanfte Musik ertönt in der Ferne, während wir Arm in Arm, von Purpur und Gold umgeben, einschlummern.
Erzitternd lächelte sie, von freudigem Stolze erfüllt; doch schon kam das Leiden wieder und löschte das Lächeln von dem schmerzumspielten Mund. Als sie mit unwillkürlicher Bewegung die versucherischen Traumgebilde von sich wies, schlug die Flamme doppelt in ihr empor, er versuchte sie an sich zu reißen, sie mit seinen Armen zu umschlingen und sie sich ganz zu eigen zu machen.
Kommen Sie, seien Sie mein!... Fliehen wir, vergessen wir alles in unserem Glück!
Angelika aber riß sich hastig von ihm los und entschlüpfte ihm in instinktiver Abwehr.
Nein, nein, ich kann nicht, ich kann nicht mehr! rang sich der Schrei von ihren Lippen, als sie auf den Füßen stand.
Noch aufgeregt von dem Kampfe, schwankte und zögerte sie, sich zu entscheiden.
Ich bitte Sie, seien Sie so gut, drängen Sie mich nicht, warten Sie, stotterte sie. Ich möchte Ihnen so gern gehorchen, um Ihnen zu beweisen, wie ich Sie liebe, ich möchte so gern an Ihrem Arm in schöne, ferne Länder ziehen und in königlicher Pracht mit Ihnen das Schloß Ihrer Träume bewohnen. Es schien mir alles so leicht, weil ich schon so oft mir den Plan zu unserer Flucht zurechtgelegt hatte... Doch jetzt, wie soll ich es erklären? – scheint es mir unmöglich. Es ist mir, als wäre mit einemmal die Tür vermauert, so daß ich nicht hinauskann.
Er wollte sie von neuem betören, doch winkte sie ihm Schweigen zu.
Nein, sagen Sie nichts mehr... Ist es nicht sonderbar? Je lieblichere, angenehmere Dinge Sie mir erzählen, um mich zu überzeugen, desto mehr erfaßt mich eine eisige Furcht... Mein Gott, was ist mir nur? Ihre eigenen Worte trennen mich von Ihnen, wenn Sie so fortfahren, darf ich Sie nicht mehr anhören, Sie müßten fort von hier... Warten Sie, warten Sie ein wenig.
Sie schritt langsam, ängstlich durch das Zimmer und versuchte ihre Fassung wiederzufinden, während er bewegungslos dastand und fast verzweifelte.
Ich habe geglaubt, Sie nicht mehr zu lieben, aber es war gewiß nur der Ärger, denn als ich Sie vorhin zu meinen Füßen erblickte, sprang mein Herz vor Freude, und meine erste Regung war, Ihnen als Ihre Sklavin zu folgen... Warum erschrecken Sie mich jetzt, wo ich Sie liebe, und was hindert mich an dem Verlasen dieses Zimmers? Warum ist mir, als wenn unsichtbare Hände meinen Körper, jedes Härchen auf meinem Kopfe festhalten?
Sie war am Bett stehen geblieben, dann näherte sie sich dem Schrank und darauf den übrigen Möbeln in gleicher Weise. In der Tat, geheimnisvolle Fäden spannen sich von diesen Gegenständen zu ihrer Person hinüber. Die weißen Wände, das tiefe Weiß der Mansardendecke umhüllte sie wie mit einem Kleide der Reinheit, dessen sie sich nur mit Tränen entledigt haben würde. Alles das war von jeher ein Teil ihres Wesens gewesen, es war ganz in sie aufgegangen. Das empfand sie in noch höherem Maße, als sie vor dem Stickrahmen stand, der im Lichtkreise der Lampe neben dem Tisch liegen geblieben war. Ihr Herz schmolz beim Anblick der angefangenen Rose; wenn sie in so verbrecherischer Weise auf und davon liefe, würde diese Rose nie vollenden. Die Jahre der Arbeit drängten sich ihr in die Erinnerung, diese verständigen, glücklichen Jahre, dieser lange gewohnheitsmäßige Friede und diese Ehrbarkeit, daß der Gedanke an einen Fehltritt, diese Flucht in den Armen des Geliebten sie empörte. Hatte doch das kühle Häuschen der Sticker, das tätige, reine Leben, das sie dort abseits von der Welt geführt, mit jedem Tage mehr und mehr das Blut in ihren Adern gereinigt.
Er fühlte, daß die Gegenstände des Zimmers sie festhielten, und drängte zum Aufbruch.
Kommen Sie, die Stunde vergeht, wir werden bald die günstigste Zeit versäumt haben.
In ihr war es jetzt völlig klar geworden.
Es ist schon zu spät ... Sie sehen, daß ich Ihnen nicht folgen kann. Einst hauste in mir ein leidenschaftliches und ein hochmütiges Geschöpf, das beide Arme um Ihren Hals geschlungen hatte, damit Sie es entführten. Aber jetzt bin ich ausgewechselt, ich kenne mich nicht mehr wieder. Hören Sie denn nicht, daß alles in diesen Räumen mir zuruft: Bleibe! Ich fühle keine Empörung mehr in mir, meine einzige Freude ist jetzt der Gehorsam.
Ohne mit ihr zu sprechen oder zu streiten, versuchte er, sie zu ergreifen und wie ein widerspenstiges Kind fortzuführen. Angelika aber wich ihm behende aus und flüchtete sich an das Fenster.
Nein, lassen Sie mich. Soeben noch wäre ich Ihnen gefolgt, aber das war die letzte Auflehnung gegen den Willen Gottes. Allmählich hat ohne mein Wissen die Demut und die Entsagung im Innersten meines Wesens zugenommen. Deshalb auch war die Erschütterung nach jedem Rückfall in die Erbsünde weniger gewaltsam, deshalb siegte ich auch mit größerer Leichtigkeit über mich selbst. Der letzte Kampf hat stattgefunden, für die Folge ist auch das vorüber, ich habe über mich selbst gesiegt... Ich liebe Sie so sehr! Unternehmen Sie nichts gegen unser Glück. Wir sollen uns unterwerfen, um glücklich zu werden.
Als er noch einen weiteren Schritt tat, stand sie bereits auf der Schwelle des zum Balkon führenden großen zweiten Fensters.
Sie wollen mich doch nicht zwingen, mich dort hinunterzustürzen ... Hören Sie, begreifen Sie, was um mich her lebt. Schon seit langem sprechen die Dinge zu mir, ich höre Stimmen, und noch nie haben sie so vernehmlich gesprochen... Still! Das ganze Marienfeld ermutigt mich, nicht Ihr und mein Leben durch meine Hingabe gegen den Willen Ihres Vaters zu zerstören. Diese singende Stimme dort, das ist die der Chevrotte, sie klingt so klar und frisch; mir scheint, sie ist mit ihrer kristallenen Reinheit in mein Inneres eingezogen. Dieses sanfte, tiefe Summen entstammt dem gesamten Boden dort unten, die Gräser, die Bäume, das ganze friedfertige Leben in diesem geheiligten Winkel arbeitet mit an dem Frieden meiner eigenen Seele. Von weither klingen die Stimmen herüber, von den Ulmen des bischöflichen Gartens, von dem gesamten Horizont voller Zweige, deren kleinster ein Interesse an meinem Siege hat ...Hören Sie diese mächtige, gebietende Stimme! Sie gehört meiner alten Freundin, der Kathedrale, die mich aufgezogen und allnächtlich über mich gewacht hat. Ein jeder ihrer Steine, die Säulchen ihrer Fenster, die Glockentürmchen über den Gegenpfeilern, die Schwibbogen der Apsis murmeln eine mir verständliche Sprache. Sie erzählen, daß selbst im Tode die Hoffnung nicht erlischt. Hat man sich gedemütigt, so bleibt und siegt die Liebe... Ja, aus den Lüften selbst dringt eine Offenbarung von sprechenden Wesen, dort schweben meine Genossinnen, die heiligen Jungfrauen, unsichtbar um mich her. Hören Sie, hören Sie!
Sie hatte lächelnd die Hand erhoben, als lausche sie mit gespannter Aufmerksamkeit. Ihr ganzes Wesen ging in Entzücken über die hier und da sich erhebenden Lüftchen auf. Die Heiligen der Legende waren gekommen, die sich ihre Einbildungskraft schon von Kindheit an vor die Sinne gezaubert hatte. Geheimnisvoll schwebten sie von dem auf dem Tische legenden alten Buche, von den einfachen Bildern in ihm auf. Da war zunächst die in ihre Haare eingehüllte Agnes, auf dem Finger trug sie den Verlobungsring des Priesters Paulinus. Dann die anderen, Barbara mit ihrem Turm, Genovefa mit ihren Lämmern, Cäcilia mit ihrer Viole, Agathe mit den ausgerissenen Brüsten, die auf den Landstraßen bettelnde Elisabeth und Katharina, die Siegerin über die Gelehrten. Ein Wunder verleiht Lucia so große Kraft, daß tausend Mann und fünf Gespanne Ochsen sie nicht in ein verrufenes Haus ziehen können. Der Anastasia umarmende Statthalter erblindet. Sie alle schweben in der klaren Nacht weiß schimmernd umher, ihre Brüste sind noch von den Folterwerkzeugen zerrissen, und anstatt des Blutes strömt Milch aus ihren Wunden. Die Luft ist sanft, die Dunkelheit erhellt sich wie von einem Geriesel von Sternen. Könnte man wie jene an der Liebe als Jungfrau sterben und beim ersten Kusse des Gatten in schimmernde Helle zerfließen!
Felix hatte sich ihr genähert.
Ich bin da und lebe, Angelika; und Sie stoßen mich Ihrer Träume halber von sich...
Der Träume halber, sagte sie leise. Ja, was Sie umgibt, das sind eingebildete Erscheinungen, die Sie sich selbst geschaffen haben... Kommen Sie mit mir, übertragen Sie nichts mehr von Ihrem eigenen Wesen auf die leblosen Dinge, und sie werden schweigen.
Sie machte eine Bewegung der Entzückung.
Nicht doch! Sie sprechen, sie sprechen immer lauter! Sie sind meine Kraft, sie flößen mir den Mut zum Widerstände ein... Das ist die Gnade, noch nie hat sie mir eine so große Willensstärke verliehen wie heute. Selbst wenn sie nur ein Traum ist, der Traum, den ich auf meine Umgebung übertragen, und der nun zu mir zurückkehrt, was schadet es? Er rettet mich und nimmt mich fleckenlos unter seine Erscheinungen auf... Verzeihen Sie mir, gehorchen Sie so wie ich. Ich kann Ihnen nicht folgen.
Trotz ihrer Schwäche hatte sie sich entschlossen, unbesiegt aufgerichtet.
Aber man hat Sie hintergangen, begann er von neuem, man hat selbst Lügen nicht gescheut, um uns zu trennen!
Das Vergehen anderer entschuldigt nicht das unsere.
Ihr Herz hat sich von mir abgewendet, Sie lieben mich nicht mehr.
Ich liebe Sie, ich kämpfe mit Ihnen um unsere Liebe, unser Glück... Bringen Sie mir die Einwilligung Ihres Vaters, und ich werde Ihnen folgen.
Meines Vaters? Sie kennen ihn nicht. Gott allein ist imstande, ihn zu beugen... Es ist also vorbei mit uns? Wenn mein Vater mir befiehlt, Claire von Voincourt zu heiraten, muß ich ihm also gehorchen?
Angelika schwankte doch unter diesem letzten Stoß.
Das ist zuviel, klagte sie. Ich beschwöre Sie, gehen Sie, seien Sie nicht grausam... Warum sind Sie gekommen? Ich hatte bereits verzichtet, ich war bereits darauf gefaßt, von Ihnen nicht geliebt zu werden. Nun lieben Sie mich doch, und mein Leiden beginnt von neuem!... Kann ich jetzt noch leben?
Felix glaubte einen Augenblick der Schwäche bei ihr gekommen und wiederholte daher:
Wenn mein Vater will, daß ich jene heirate...
Sie kämpfte mutvoll gegen ihr Leiden an, und noch einmal gelang es ihr, trotz der Ohnmacht ihres Herzens sich aufzuraffen. Sie schleppte sich an den Tisch, als wolle sie ihm den Weg freigeben und sagte:
Heiraten Sie das Fräulein, es ist Ihre Pflicht zu gehorchen.
Er stand jetzt am Fenster und war bereit zu gehen, da sie ihn fortschickte.
Aber Sie werden sterben! rief er.
Sie hatte sich beruhigt, mit mattem Lächeln flüsterte sie:
Das ist bereits zur Hälfte geschehen.
Einen Augenblick noch starrte er sie an, wie sie so bleich, so heruntergekommen, federleicht dort stand, als könne der Wind sie davonwehen. Dann folgte eine Bewegung wilden Entschlusses, und er verschwand in der Nacht.
Sie hatte sich auf die Lehne des Stuhles gestützt. Als er fort war, rang sie verzweiflungsvoll die Hände gegen die Finsternis. Schwere Seufzer stiegen aus ihrer Brust herauf und Todesschweiß bedeckte ihr Gesicht. Mein Gott! Alles aus, sie würde ihn nicht mehr wiedersehen! Ihre Krankheit kam wieder zum vollen Ausbruche, ihre Beine brachen unter ihr zusammen. Mit Mühe und Not erreichte sie ihr Bett, auf das sie atemlos, aber siegreich niedersank. Am Morgen des nächstfolgenden Tages begann der Todeskampf. Die Lampe war in der Frühe inmitten der triumphierenden Helle des Gemaches von selbst verloschen.