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Es war nichts Kleines, wenn Hubertine alle drei Monate große Wäsche hatte. Man nahm dann eine Frau an, die Mutter Gabet. Vier Tage lang dachte man nicht ans Sticken. Selbst Angelika mischte sich in das Waschgeschäft und ließ dem Leinenzeug ein tüchtiges Seifen- und Spülbad in den klaren Gewässern der Chevrotte angedeihen. Nach dem Herausnehmen aus der Lauge karrte man das Leinen zu der kleinen Verbindungstür hinaus. Man brachte die Tage auf dem Marienfelde in freier Luft und Sonne zu.
Diesmal wasche ich, Mutter, das macht mir großen Spaß!
Vor Lachen sich schüttelnd, die Ärmel bis über die Ellbogen hinaufgekrempelt und das Waschholz schwingend, klopfte Angelika voller Vergnügen über diese gesunde, rauhe Arbeit, die sie mit Schaum bespritzte, wacker darauf los.
Das stärkt die Muskeln, Mutter, das tut wohl!
Die Chevrotte durchschnitt in schräger Linie das Feld; zuerst schlich sie träge dahin, dann floß sie pfeilschnell weiter und bildete über dem kieselreichen Bette starke Wirbel. Sie kam durch eine Art Schleusenbrett, das in den unteren Teil der Mauer eingelassen war, aus dem bischöflichen Garten; auf der anderen Seite, in dem Winkel, den das Haus Voincourt bildete, verschwand sie unter einem gewölbten Bogen in der Erde, um 200 Meter weiterhin neben der Unteren Straße dahinzufließen, bis sie sich in den Ligneul ergoß. Man mußte daher gut aufpassen, wollte man nicht lange Beine machen: jedes Stück, das man fahren ließ, war so gut wie verloren.
Warte, Mutter, warte! Ich lege diesen großen Stein auf die Handtücher. Wir wollen einmal sehen, ob die Diebin sie uns trotzdem entführt!
Sie legte den Stein auf das Leinen und lief fort, um aus den Trümmern der Mühle einen zweiten herbeizuholen, glücklich darüber, daß sie sich nützlich und müde machen konnte, und als sie sich dabei einen Finger quetschte, schüttelte sie ihn und meinte, das tue nichts. Am Tage machte sich die in den Ruinen hausende Armenfamilie auf den Bettel und zerstreute sich auf den Landstraßen. Das Feld blieb einsam in erquickender, kühler Stille mit seinen Gruppen bleicher Weiden, seinen hohen Pappeln und seinem Grase, seinem üppig wachsenden Grase, in dem man bis zu den Schultern versank. Ein frostiges Schweigen drang aus den benachbarten Gärten herüber, deren große Bäume den Sehkreis einfriedigten. Von drei Uhr an verlängerte sich der Schatten der Kathedrale und verstärkte scheinbar den würzigen Duft verfliegenden Weihrauchs.
Angelika klopfte das Leinen noch stärker mit der ganzen Kraft ihres frischen, weißen Armes.
Wie werde ich heute abend essen, Mutter! ... Du weißt doch, daß du mir Erdbeertorte versprochen hast.
Bei der diesmaligen Wäsche jedoch mußte Angelika das Spülen allein besorgen. Mutter Gabet litt an einem plötzlichen Anfall von Hüftenschmerzen und war nicht gekommen. Hubertine war durch wirtschaftliche Obliegenheiten an das Haus gefesselt. Angelika war in der mit Stroh ausgelegten Kiste niedergekniet und nahm Stück für Stück das Leinen vor; sie schwenkte es so lange hin und her, bis das Wasser kristallhell davon abfloß. Sie beeilte sich nicht im geringsten. Schon seit dem Morgen hatte sich ihrer die Unruhe der Neugier bemächtigt, denn sie war nicht wenig erstaunt gewesen, als sie einen alten Arbeiter in grauem Kittel vor dem Fenster der Kapelle Hautecoeur ein leichtes Gerüst aufstellen sah. Sollte das Glasgemälde ausgebessert werden? Es konnte eine Auffrischung ganz gut gebrauchen: im heiligen Georg fehlten einige Scheiben; andere, die im Laufe der Jahrhunderte geborsten waren, hatte man durch unbemalte Gläser ersetzt. Trotzdem verwirrte sie das Ereignis. Sie hatte sich schon so an die Lücken des Drachentöters und der Königstochter, die den mit ihrem Gürtel gefesselten Drachen hinter sich herzog, gewöhnt, daß ihr die Tränen nahe waren, als ob man schon begonnen habe, diese Persönlichkeiten zu verstümmeln. Es war ein Verbrechen, solch alte Dinge zu ändern. Als sie jedoch vom Frühstück zurückkehrte, verflog plötzlich ihr Zorn: ein zweiter Arbeiter stand jetzt auf dem Gerüst, diesmal ein junger Mensch. Bekleidet war er mit ebensolchem grauen Kittel. Sie hatte ihn sofort wiedererkannt, er war es.
Angelika nahm ohne Verlegenheit vergnügt ihren Platz auf dem Stroh der Kiste wieder ein. Mit ihren entblößten Armen begann sie das Leinen von neuem in dem durchsichtigen Wasser hin und her zu schwenken. Er war es, groß, schlank, blond, mit seinem feinen Bart und den lockigen Haaren eines jungen Gottes; seine Haut glänzte noch genau so weiß wie im Schimmer des Mondlichtes. Da er es war, hatte das Glasgemälde nichts zu befürchten: wenn er es berührte, konnte er es nur verschönern. Sie betrachtete es nur als eine Enttäuschung, ihn in diesem Kittel als Arbeiter, wie sie selbst eine Arbeiterin war, wiederzufinden, wahrscheinlich war er Glasmaler. Im Gegenteil, wenn sie an die unerschütterliche Gewißheit ihres Traumes von einem königlichen Schicksal dachte, brachte sie dieser Umstand zum Lachen. Es war gewiß alles nur Schein. Wer wollte nachforschen? Eines Tages würde er doch der sein, der er sein sollte. Der Goldregen würde von der Höhe der Kathedrale herniederströmen und ein Triumphmarsch erschallen, untermischt mit dem fernen Getöne der Orgel. Sie fragte sich nicht einmal, wie er bei Tag und bei Nacht dorthin gelangte. Wenn er nicht eines der benachbarten Häuser bewohnte, konnte er nur durch das Guerdaches-Gäßchen kommen, das an der Mauer des Bischofspalastes entlang bis zur Magloire-Straße führt.
Es verging eine entzückende Stunde. Sie beugte sich beim Spülen der Wäsche, daß ihr Gesicht fast das kühle Wasser berührte. Bei jedem neuen Stück jedoch erhob sie den Kopf und warf hastig einen Blick, in den sich trotz des Aufruhrs in ihrem Herzen etwas Schalkhaftigkeit mischte, zu ihm hinüber. Er dagegen stand auf dem Gerüst und tat sehr beschäftigt, den Zustand des Glasfensters festzustellen; er beobachtete sie von der Seite und fühlte sich sehr verwirrt, daß er ihr den Rücken zukehren mußte, während sie ihn vor sich hatte. Es war überraschend, wie schnell er errötete, wie seine weiße Haut so schnell eine andere Farbe annehmen konnte. Bei dem geringsten Empfinden der Freude oder des Zornes stieg ihm das ganze Blut seiner Adern ins Gesicht. Er hatte streitlustige Augen und war doch so furchtsam, daß er wieder zum Kinde wurde, wenn er sich von ihr beobachtet fühlte; er wußte nicht, wo er seine Hände lassen sollte, und erteilte seinem Gefährten, dem alten Manne, mit stotternder Stimme seine Befehle. Sie stimmte es heiter, daß sie in dem Wasser, dessen heftige Strömung ihren Armen wohltat, hantieren konnte; sie fühlte unwillkürlich, daß er an Unschuld und Unwissenheit ihr gleich war und ebenso wie sie darauf brannte, am Leben anzubeißen. Unnötig, laut zu sagen, was da ist, unsichtbare Boten künden es, stumme Lippen wiederholen es. Sie erhob den Kopf und überraschte ihn, wie er den seinen fortwandte. Die Minuten verflossen bei diesem entzückenden Spiel.
Plötzlich sah sie ihn vom Gerüst springen und sich durch das Gras rückwärts bewegen, als wolle er das Feld erreichen, um besser sehen zu können. Fast hätte sie laut aufgelacht, es war doch ganz klar, daß er sich einzig und allein ihr nähern wollte. Er hatte den energischen, grimmen Entschluß eines Mannes gefaßt, der alles auf eine Karte setzt; spaßhaft rührend war es, daß er einige Schritte von ihr entfernt, den Rücken ihr zugekehrt stehen blieb und sich in der tödlichen Verlegenheit seines allzu raschen Vorgehens nicht umzuwenden wagte. Einen Augenblick glaubte sie, daß er zu dem Fenster wieder zurückkehren werde, wie er gekommen war, das heißt ohne einen Blick rückwärts geworfen zu haben. Unerwartet aber faßte er einen verzweifelten Entschluß, er wandte sich um; da auch sie in demselben Augenblicke mit einem spöttischen Lächeln den Kopf erhob, trafen sich ihre Blicke und blieben ineinander ruhen. Beide fühlten sich vollständig verwirrt: sie verloren die Fassung und hätten sich wahrscheinlich nicht zu helfen gewußt, wenn sich nicht ein Zwischenfall ereignet hätte.
O mein Gott, schrie Angelika verzweifelt.
In ihrer Aufregung war ihr nämlich das Barchenthemd, das sie mechanisch im Wasser auf und nieder getaucht hatte, soeben entschlüpft. Der Bach trug es pfeilschnell davon; noch eine Minute, und es verschwand in dem Strudel an der Mauer der Voincourt unter dem gewölbten Bogen, wo die Chevrotte sich unter der Erde verlor.
Einige Sekunden höchster Angst. Er hatte begriffen, was geschehen war und sich auf die Beine gemacht. Aber der Strom hüpfte pfeilschnell über den Kiesel. Dieses Teufelshemd lief viel geschwinder als er. Er bückte sich, glaubte es zu ergreifen und fing nur eine Hand voll Schaum. Zweimal verfehlte er es. Endlich wurde er hitzig, stieg mit der Tapferkeitsmiene, mit der man sich in Lebensgefahr stürzt, in das Wasser, und rettete das Hemd in dem Augenblick, als es unter der Erde verschwinden wollte.
Angelika, die bis dahin das Werk der Rettung mit ängstlichen Blicken verfolgt hatte, fühlte, wie das Lachen, ein herzliches Lachen sie ankam. Dieses Abenteuer! Wie oft hatte sie es nicht am Ufer eines Sees erträumt, diese schreckliche Gefahr, in die sich ein junger Mann, schöner als der Tag, für sie begeben werde! Der heilige Georg, der Tribun und Ritter, galt nun nicht mehr als dieser Glasmaler, dieser junge Arbeiter im grauen Kittel. Als sie ihn mit durchnäßten Füßen, in der Hand das triefende Hemd linkisch haltend, zurückkommen sah, und sich des Eifers erinnerte, mit dem er es den Fluten entrissen hatte, mußte sie sich auf die Lippen beißen, um den Sturm von Heiterkeit zu unterdrücken, der ihre Kehle kitzelte.
Er war vollständig in ihren Anblick versunken. Als ein liebenswertes Kind erschien sie ihm mit diesem unterdrückten Lachen, mit dieser alles in Schwingung versetzenden Jugend. Vom Wasser bespritzt, die Hände durch das Hantieren im Bache stark gerötet, glich sie wohl der rein und klar sprudelnden Quelle, wie sie aus dem Moos der Waldungen entspringt, der Gesundheit und Fröhlichkeit am lichten Tage. Man ahnte in ihr die treffliche Wirtschafterin und wiederum auch die Königin unter ihrem Arbeitskleide mit der schlanken Hüfte und dem länglichen Gesicht einer Königstochter, wie sie auf dem Hintergrunde der Sagen an uns vorüberziehen. Er wußte noch immer nicht, wie er ihr das Hemd überreichen sollte, so schön fand er sie, von der Schönheit der Kunst, die er liebte. Es versetzte ihn in noch größere Aufregung, daß er so einfältig dreinschaute, denn er fühlte sehr wohl, wie sie sich bemühte, das Lachen zu verbeißen. Er mußte sich endlich entscheiden und überreichte ihr das Hemd.
Angelika fühlte, daß sie losplatzen mußte, sobald sie die Lippen nicht mehr aufeinanderbiß. Der arme Mensch, er rührte sie sehr. Aber sie konnte nicht widerstehen, sie fühlte sich zu glücklich, sie mußte lachen, daß ihr der Atem ausging.
Endlich glaubte sie sprechen zu können, sie wollte nur: Danke, mein Herr! sagen.
Aber da kam auch das Lachen wieder, das Lachen machte sie stottern und schnitt ihr das Wort ab. Laut hinaus klang das Lachen, ein Regen kräftig klingender Töne strömte, von der kristallenen Weise der Chevrotte begleitet, dahin. Er war vollständig außer Fassung gebracht und wußte nicht, ein Wort hervorzubringen. Sein bleiches Gesicht war wie von Purpur übergossen; seine furchtsamen Kinderaugen blitzten wie die des Adlers auf. Er ging und verschwand mitsamt dem alten Arbeiter, während sie, über das Wasser gebeugt, beim Spülen der Wäsche von neuem sich mit Wasser bespritzte und in dem laut aufjubelnden Glücke dieses Tages weiter lachte.
Am nächsten Morgen breitete man schon von sechs Uhr früh an das Leinen zum Trocknen aus, da das Pack Wäsche seit dem Abend vorher abgetropft war. Es hatte sich gerade ein starker Wind erhoben, der dem Trocknen günstig war. Damit die einzelnen Stücke nicht fortgeweht wurden, mußte man sie an allen vier Ecken mit Steinen belasten. Jetzt lag das ganze Leinen in seinem schimmernden Weiß ausgebreitet im grünen Grase und nahm den Wohlgeruch der Kräuter in sich auf. Auf der Wiese schienen plötzlich schneeige Felder von Maßliebchen erblüht zu sein.
Als Angelika nach dem Frühstück herüberkam, um zu sehen, ob alles in Ordnung sei, verzweifelte sie fast: die ganze Wäsche drohte davonzufliegen, denn trotz des blauen, durchsichtig klaren Himmels waren die Windstöße äußerst heftig geworden; sie schienen die Luft gründlich reinigen zu wollen. Ein Leinentuch war bereits davongeflogen und Handtücher waren in die Zweige einer Weide geweht worden. Sie langte sich die Handtücher herunter. Inzwischen machten sich hinter ihrem Rücken einige Taschentücher aus dem Staube. Und niemand da! Sie verlor den Kopf. Als sie das Tuch ausbreiten wollte, mußte sie sich erst mit ihm herumbalgen. Es betäubte sie, denn wie ein Fahnentuch knatterte es um sie herum.
Da tönte in die Windsbraut hinein plötzlich eine Stimme:
Wünschen Sie, daß ich Ihnen helfe, Fräulein?
Er war es, und sofort rief sie ihm zu, ohne in ihrer hausfraulichen Sorge an etwas anderes zu denken:
Gewiß, gewiß, helfen Sie mir doch!... Fassen Sie da unten an, halten Sie fest!
Sie zogen das Tuch, das wie ein Segel schlug, mit ihren nervigen Armen auseinander. Dann betteten, sie es in das Gras und wälzten große Steine auf die vier Ecken. Als es gebändigt am Boden lag, blieben beide sich gegenüber auf den Knien liegen; das große, blendend weiße Stück Leinen trennte sie.
Angelika begann wieder zu lächeln, doch diesmal war es nicht ein Lachen voll Schadenfreude, sondern des Dankes. Er wurde kühn.
Ich heiße Felix.
Und ich Angelika.
Ich bin Glasmaler. Man hat mir die Ausbesserung jenes Kirchenfensters übertragen.
Ich wohne mit meinen Eltern dort und bin Stickerin.
Der heftige Wind trug ihre Worte davon und peitschte sie mit seinem gesunden Atem, während sie sich in den warmen Strahlen der Sonne badeten. Sie sagten sich Dinge, die sie bereits wußten, aus reinem Vergnügen, sie sich selbst wiederholen zu können.
Man will doch nicht etwa das Kirchenfenster durch ein anderes ersetzen?
Nein, nein. Die Ausbesserung wird nicht einmal zu sehen sein ... Ich liebe es ebenso wie Sie.
Ich habe es in der Tat gern. Es zeigt so liebe Farben ... Ich habe nach ihm ebenfalls einen heiligen Georg gestickt, aber er fiel weniger schön aus.
Weniger schön! ... Ich habe ihn gesehen, wenn es der heilige Georg auf dem rotsamtnen Meßgewand ist, das Abt Cornille am Sonntag trug. Ein wahres Wunder ist diese Stickerei!
Sie errötete vor Vergnügen und rief ihm gleichzeitig hastig zu:
Legen Sie schnell einen Stein auf den Rand des Tuches zu ihrer Linken. Der Wind wird es uns fortwehen.
Er beeilte sich, das Stück Leinen zu belasten, das allerdings in heftige Zuckungen verfallen war, dem Flügelschlage eines gefangenen Vogels ähnlich, der davonzufliegen sich abmüht. Als das Stück Leinen sich nicht mehr rührte, setzten sich diesmal die beiden nicht mehr nieder. Sie schritt auf den schmalen Wiesenpfaden zwischen den einzelnen Stücken ihrer Wäsche umher, um auf jedes einen prüfenden Blick zu werfen, während er ihr aufmerksam folgte und schon jetzt eine besorgte Miene um den möglichen Verlust eines Tischtuches oder eines Wischlappens aufsteckte. Das schien alles ganz natürlich. Angelika schwieg auch hierbei nicht; sie erzählte, wie sie ihre Tage zubrachte und enthüllte ihre Geschmacksrichtung.
Ich liebe es, wenn ein jedes Ding seine Ordnung hat. Des Morgens weckt mich der Kuckuck, im Arbeitszimmer stets um sechs Uhr; natürlich kleide ich mich schnell an, auch wenn es noch nicht hell am Tage ist; meine Strümpfe liegen hier, die Seife ist dort, reine Gewohnheit. Ich bin so nicht geboren, ich war früher sehr unordentlich! Mutter hat mir deshalb viele böse Worte sagen müssen!... In der Arbeitsstube würde ich nichts Gutes verrichten, wenn mein Stuhl nicht dem Lichte gegenüber an derselben Stelle stände. Glücklicherweise bin ich weder eine Links- noch eine Rechtshand; ich verstehe mit beiden Händen zu sticken. Das ist eine Gnade, denn nicht alle können es... Die Blumen verehre ich, aber trotzdem kann kein Strauß in meiner Nähe stehen, ohne daß ich furchtbare Kopfschmerzen bekomme. Nur die Veilchen kann ich ausstehen; es ist sogar überraschend, daß mich ihr Duft beruhigt. Beim geringsten Unwohlsein brauche ich nur an Veilchen zu riechen, das hilft mir sofort.
Er hörte entzückt zu und berauschte sich an dem Vollklange ihrer Stimme, die von einem durchdringenden, nachklingenden Reize war. Er schien ganz besonders der Einwirkung dieser menschlichen Musik unterworfen zu sein, denn die einschmeichelnde Biegsamkeit mancher Laute feuchtete seine Augen.
Ah! unterbrach sie sich, hier die Hemden sind bald trocken.
Dann beendete sie ihre vertraulichen Mitteilungen in dem kindlichen, unbewußten Bedürfnis, sich so zu geben, wie sie war.
Das Weiß ist stets schön, nicht wahr? An manchen Tagen sind mir blau und rot und alle übrigen Farben zuwider, weiß dagegen erfreut mich stets, und dabei bleibe ich. Nichts beleidigt an dieser Farbe, man möchte sich am liebsten darin verlieren ... Wir hatten einen weißen Kater mit gelben Flecken – ich übermalte diese gelben Flecke. Er sah gut aus, leider hielt die Farbe nicht ... Meine Mutter weiß nicht, daß ich mir alle Abfälle von weißer Seide aufbewahre – ich habe einen ganzen Kasten voll – rein des Vergnügens halber, sie von Zeit zu Zeit betrachten und berühren zu können ... Und dann habe ich noch ein Geheimnis, das ist aber ein großes! Wenn ich des Morgens aufwache, steht dicht an meinem Bette jemand, ja etwas Weißes, das dann davonfliegt.
Er lächelte nicht einmal und schien ihr vollständig Glauben zu schenken. War es nicht ganz selbstverständlich und in der Ordnung? Eine junge Prinzessin würde ihn inmitten ihres prunkvollen Hofstaates nicht so schnell erobert haben. Inmitten all dieses weißen Leinens auf dem grünen Rasen schaute Angelika unbeschreiblich reizend, fröhlich und vornehm zugleich aus. Ihr Anblick ging ihm zu Herzen und bedrückte immer mehr seine Seele. Es war um ihn geschehen, er hatte nur noch sie, und sein sollte sie sein bis zum Tode. Mit kleinen, hastigen Schritten eilte Angelika weiter, er stets hinterdrein, überwältigt von diesem Glücke, dessen Besitz ihm unerreichbar dünkte.
Ein jäher Windstoß pfiff plötzlich daher, und eine Wolke von Feinwäsche erhob sich vom Boden, Kragen und Handkrausen von Perkai, Batisthalstücher und Schleier flogen in die Weite wie ein Flug weißer, vom Sturm aufgewirbelter Vögel.
Angelika lief, was sie konnte.
O mein Gott! So kommen Sie, helfen Sie mir doch!
Beide stürzten davon. Sie erfaßte noch am Rande der Chevrotte einen Kragen. Er erwischte zwei Schleier inmitten hoher Nesseln. Eine Handkrause nach der andern wurde abgefaßt. Inmitten ihres stürmischen Laufens aber streifte sie ihn dreimal mit den wehenden Falten ihres Kleides, und jedesmal fühlte sie einen Ruck im Herzen, das Aufsteigen des Blutes in ihrem Gesicht. Er seinerseits streifte sie, als er einen Sprung machte, um das letzte ihm wieder entflohene Halstuch einzufangen. Tief aufatmend blieb sie stehen, ohne sich zu rühren. Eine plötzliche Verwirrung bemächtigte sich ihrer und verjagte das Lachen, sie scherzte und spottete nicht mehr des großen, unschuldigen und linkischen Burschen. Was hatte sie nur, daß sie nicht mehr heiter sein konnte und von einer so köstlichen Angst befallen war? Als er ihr das Halstuch überreichte, berührten sich zufällig ihre Hände. Beide erzitterten und blickten sich fassungslos an. Sie trat hastig etwas zurück und blieb dann ratlos stehen, ohne zu wissen, was sie angesichts dieser außergewöhnlichen Stimmung beginnen sollte. Plötzlich eilte sie wie betört davon mit dem Arm voll Feinwäsche, den Rest ließ sie im Stich.
Felix wollte sprechen.
Verzeihung! ... Ich beschwöre Sie ...
Der wachsende Wind benahm ihm den Atem. Er sah sie voller Verzweiflung davonstürmen, als entführe sie der Sturm. Sie entfloh durch das Weiß der ausgebreiteten Tücher im bleichen Golde der schräg fallenden Sonnenstrahlen. Der Schatten der Kathedrale schien sie in sich aufzunehmen. Schon stand sie auf dem Sprunge, in der kleinen Gartentür zu verschwinden, ohne einen Blick hinter sich geworfen zu haben. Aber auf der Schwelle drehte sie sich hastig um: ein plötzliches Gefühl der Güte war in ihr erwacht. Sie wollte nicht, daß er sie für böser hielt, als sie war. Lächelnd und verwirrt zugleich rief sie:
Danke! Danke!
Dankte sie ihm für seinen Beistand bei der Ergreifung des flüchtigen Leinens? Oder für etwas anderes? Sie war verschwunden. Die Tür hatte sich geschlossen.
Er blieb allein auf dem Felde inmitten der starken Windstöße, die den klaren Himmelsraum unermüdlich durchbrausten. In den Ulmen im bischöflichen Garten rauschte es, als schlügen die Wogen im Meere zusammen, und eine mächtige Stimme durchklang die Terrassen und Schwibbbögen der Kathedrale. Er aber hörte nur das leise Klatschen eines Häubchens, das wie ein Strauß an einem Fliederzweige hing; und dieses Häubchen gehörte ihr.
Von diesem Tage an bemerkte Angelika, sobald sie ihr Fenster öffnete, Felix unten auf dem Marienfelde. Das Kirchenfenster bot ihm den erwünschten Vorwand, sich dort aufzuhalten; dabei schritt die Arbeit nicht um einen Zoll weiter. Stundenlang lag er hinter einer Weide im Grase auf der Lauer. Es war so süß, des Morgens und des Abends ein Lächeln austauschen zu können. Sie war glücklich und verlangte nicht mehr. Große Wäsche gab es erst wieder in drei Monaten, bis dahin blieb die Gartentür wahrscheinlich geschlossen. Drei Monate vergingen ja so schnell, wenn man sich täglich sehen konnte, und dann, konnte es ein größeres Glück geben, als so sein Leben hinzubringen, den Tag des Abendgrußes, die Nacht des Morgengrußes halber?
Angelika hatte gleich beim ersten Zusammentreffen ihm von ihrem Leben, ihren Gewohnheiten, ihrer Geschmacksrichtung und den kleinen Herzensgeheimnissen erzählt. Er war schweigsam gewesen und hatte sich Felix genannt; etwas anderes wußte sie nicht. Vielleicht mußte es so sein, daß die Frau sich offenherzig gibt, während der Mann sich in Dunkel hüllt. Sie fühlte auch keine brennende Neugierde, sie lächelte siegesgewiß, wenn sie an die Dinge dachte, die in Erfüllung gehen würden. Was sie nicht wußte, zählte in ihren Augen nicht; nur was sie sah, galt bei ihr. Sie kannte von ihm nichts, und doch konnte sie seine Gedanken aus seinen Blicken lesen. Er war gekommen, sie hatte ihn sogleich wiedererkannt, und sie liebten sich.
Sie erfreuten sich jetzt mit Entzücken ihres gegenseitigen Besitzes aus der Ferne. Unaufhörlich entstanden aus den von ihnen gemachten Entdeckungen neue Ausbrüche der Freude. Sie hatte lange, von dem Führen der Nadel spitz gewordene Finger, wie er sie verehrte. Sie bemerkte an ihm so kleine Füße, daß sie stolz darauf war. Alles an ihm schmeichelte ihr, sie war ihm für seine Schönheit dankbar und empfand eine helle Freude an dem Abend, als sie feststellte, daß sein Bart hellblonder war als sein Haupthaar, was seinem Lachen eine Milde sondergleichen verlieh. Er ging eines Morgens wie berauscht davon; sie hatte sich nämlich über die Brüstung gebeugt, wobei er auf ihrem zarten Halse ein braunes Zeichen bemerkte. Ihre Herzen lagen ebenfalls offen vor ihnen da, und auch dort waren Entdeckungen zu machen. Die freimütige und doch stolze Bewegung, mit der sie das Fenster öffnete, verkündete ihm, daß in ihr trotz ihrer Stellung als Stickerin die Seele einer Königin thronte. Sie aber fühlte, daß er gut war, sah sie ihn elastischen Schrittes über den Rasen schreiten. Schon in der ersten Stunde ihres Beisammenseins stachen ihnen ihre guten Eigenschaften und ihre strahlende Anmut in die Augen. Ein jedes Zusammentreffen brachte neue Reize. Es schien ihnen, als könnten sie nie die Glückseligkeit, sich zu sehen, erschöpfen.
Trotzdem machten sich an Felix sehr bald Zeichen der Ungeduld bemerkbar. Er kauerte nicht mehr stundenlang unbeweglich hinter den Weiden im Gefühle vollständigen Glückes. Sobald Angelika auf dem Balkon erschien und sich dort niederließ, wurde er unruhig und versuchte, sich ihr zu nähern. Das ärgerte sie schließlich, denn sie fürchtete, daß man ihn bemerke. Eines Tages wäre es fast zum Zerwürfnis gekommen: er hatte sich bis an die Mauer vorgewagt, sie mußte deshalb den Balkon verlassen. Dieser Katastrophe gegenüber erschien er wie vor den Kopf geschlagen; doch sein Gesicht sprach so beredt von seiner Unterwürfigkeit und Abbitte, daß sie ihm schon am nächsten Tage verzieh und sich zur gewohnten Stunde auf dem Balkon niederließ. Aber das Warten behagte ihm nicht mehr, er begann dasselbe Spiel von neuem. Jetzt mit einemmal schien er gleichzeitig überall auf dem Marienfelde aufzutauchen, das er mit seinem Fieber erfüllte. Er trat hinter jedem Baumstamme hervor und lugte über jede Brombeerstaude. Wie die Holztauben in den Ulmen mußte er sein Heim ebenfalls in der Nähe zwischen zwei Zweigen haben. Die Chevrotte war ihm ein willkommener Vorwand, dort zu weilen, wenn er sich über ihre Flut beugte, oder er tat so, als ob er dem Fluge der Wolken nachschaue. Eines Tages bemerkte sie ihn inmitten der Trümmer der Mühle; er stand auf dem Gebälk eines zerfallenen Schuppens und schien schon glücklich über seine erhöhte Stellung zu sein, da er ihr leider doch nicht auf die Schulter fliegen konnte. Anderen Tages stieß sie einen leisen Schrei aus, denn sie sah ihn hoch über sich zwischen zwei Fenstern der Kathedrale auf der Terrasse der Chorkapellen. Wie war er auf diese Galerie gelangt, zu der eine Tür führte, deren Schlüssel der Kirchendiener besaß? Wie kam es, daß sie ihn zu anderen. Malen auf dem Dache zwischen den Strebepfeilern des Schiffes und den Zinnen der Gegenpfeiler bemerkte? Von dieser Höhe konnte er seinen Blick in die Tiefe ihres Zimmers tauchen, wie die Schwalben sie sahen, wenn sie um die Glockentürmchen schossen, ohne daß es ihr einfiel, sich vor ihnen zu verbergen. Von da an verbarrikadierte sie sich; eine immer mehr wachsende Verwirrung bemächtigte sich ihrer, sie fühlte sich belagert, stets zu zweien. Sie verspürte keine Ruhelosigkeit, und dennoch, warum schlug nur ihr Herz so heftig wie der Klöppel der Glocke bei großen Festen?
Drei Tage verstrichen, ohne daß Angelika, erschrocken über die wachsende Kühnheit Felix', sich zeigte. Sie verschwor sich, ihn je wiederzusehen, und redete sich selbst in eine Verabscheuung seiner Person hinein. Aber er hatte ihr sein Fieber mitgeteilt; auch sie konnte nicht mehr ruhig auf einem Platze ausharren; jeder Vorwand, das Meßgewand, an dem sie gerade stickte, zu verlassen, schien ihr gut genug. Sobald sie gehört hatte, daß die Mutter Gabet, jedem Mangel preisgegeben, das Bett hüte, besuchte sie sie jeden Morgen. Diese wohnte ebenfalls in der Goldschmiede-Straße drei Häuser weiter. Angelika brachte ihr Suppe und Zucker und holte sogar selbst die Medikamente von dem Apotheker in der Großen Straße. Als sie eines Tages, die Arme mit Flaschen beladen, zu der Alten hinaufstieg, überlief es sie heiß, Felix zu Häupten der alten, kranken Frau zu finden. Er wurde sehr rot und schlich verlegen davon. Am folgenden Morgen traf er abermals ein, gerade als sie fortging; sie machte ihm unwillig Platz. Wollte er sie auch von dem Besuche ihrer Armen abhalten? Sie befand sich gerade in einem ihrer Barmherzigkeitsanfälle, in deren Verlauf sie alles hingab, um die Besitzlosen mit Wohltaten zu überhäufen. Im Hinblick auf die Leiden der Armen floß ihr Wesen von erbarmungsvoller Teilnahme über. Sie lief zum Vater Mascart, einem blinden Gichtbrüchigen in der Unteren Straße; ihm schöpfte sie selbst die mitgebrachte Suppe aus dem Napfe; zu den Chouteau, einem greisen Manne und einer alten Frau, beide an 90 Jahre alt, die in einem Keller der Magloire-Straße hausten; zu diesen hatte sie altes Mobiliar geschleppt, das auf dem Boden der Hubert aufbewahrt worden; zu vielen, vielen anderen lief sie noch, zu allen Armen des Viertels, denen sie heimlich Sachen zukommen ließ, glücklich, sie überraschen, und sie in etwas der Sorgen überheben zu können, die ihnen schlaflose Nächte bereiteten. Von da an aber begegnete sie Felix bei allen! Noch nie hatte sie ihn so häufig erblickt wie jetzt, seitdem sie an das Fenster zu treten vermied aus Furcht, ihn wiederzusehen. Ihre Befangenheit steigerte sich, sie hielt sich selbst für sehr aufgebracht über sein Betragen.
Das Schlimme bei diesem Abenteuer war, daß Angelika bald ihrer Barmherzigkeit überdrüssig wurde. Dieser Mensch stahl ihr die Freude am Wohltun. Früher unterstützte er vielleicht andere Arme, aber nicht die ihren; denn diese hatte er vorher noch nie besucht. Er mußte ihr geradezu aufgelauert haben und nach ihr zu ihnen hinaufgestiegen sein, um sie kennen zu lernen und einen nach dem andern sich zu sichern. Jedesmal wenn sie zu den Chouteau mit einem Korbe voll Lebensmittel kam, lag Silbergeld auf dem Tische. Eines Tages eilte sie zum Vater Mascart, um ihm ihre ganzen Ersparnisse in Gestalt von zehn Sous zu bringen, weil er ohne Unterlaß um Tabak heulte, und fand ihn im Besitze eines funkelnden Zwanzigfrankenstückes. Als sie eines Abends der Mutter Gabet einen Besuch machte, bat diese sie sogar hinunterzugehen, um ein Bankbillett zu wechseln. Welches Herzeleid verursachte ihr da ihre Ohnmacht! Ihr fehlte es an Geld, während er bequem seine Börse leeren konnte. Ihrer Armen wegen freute sie sich herzlich über diese Almosen, aber sie selbst hatte keine Freude mehr am Geben; es tat ihr weh, nur so wenig schenken zu können, während ein anderer soviel gab. Der ungeschickte Mensch sah nicht ein, daß er ihr Wohltun tötete, als er, um sie zu gewinnen, dem rührenden Drange nach Freigebigkeit folgte und seiner Barmherzigkeit weitere Grenzen zog, ganz abgesehen davon, daß sie bei allen Armen Lobsprüche auf seine Person ertragen mußte. »Ein so guter, milder, wohlerzogener junger Mann,« hieß es überall. Sie sprachen nur noch von ihm und breiteten seine Geschenke aus, gerade als mißachteten sie jetzt die ihren. Trotz ihres Schwures, ihn vergessen zu wollen, fragte sie die Armen über ihn aus: Wieviel hatte er zurückgelassen? Was hatte er gesagt? Ist er nicht schön, zartfühlend und furchtsam? Hatte er vielleicht gewagt, von ihr zu sprechen. Aber ganz gewiß, er spreche ja stets von ihr! Dann verwünschte sie ihn mit aller Entschiedenheit, denn schließlich bedrängte das alles ihr Herz gewaltig.
So konnten die Dinge nicht mehr weitergehen. Eines Abends im Mai brach, während die Dämmerung sanft herniedersank, die Katastrophe herein. Es geschah bei den Lemballeuse: einer runzeligen Alten, Toni, der ältesten Tochter, einem großen Wildfang von 20 Jahren, und ihren beiden jüngeren Schwestern Rosa und Johanna, deren Augen unter ihren rotbraunen Haaren kühn hervorblitzten. Alle vier trieben sich bettelnd auf den Landstraßen und in den Gräben umher; sie kehrten des Nachts heim mit vor Müdigkeit fast geknickten Füßen, die in von Bindfaden zusammengehaltenen Schlurren steckten. An jenem Abend gerade war Toni verletzt, mit blutigen Knöcheln heimgekehrt, sie hatte ihre Schuhe auf der Landstraße gelassen. Jetzt saß sie vor der Tür ihrer Behausung in dem hohen Grase des Marienfeldes und zog sich die Dornen aus der Haut, während ihre Mutter und die beiden Kleinen um sie herum wehklagten.
In diesem Augenblick kam Angelika, die unter der Schürze das Brot verbarg, das sie jede Woche brachte. Sie war durch die kleine Gartenpforte geschlüpft, die sie offen gelassen hatte, weil sie sogleich zurückzulaufen beabsichtigte. Doch der Anblick der in Tränen schwimmenden Familie hielt sie auf.
Was gibt es? Was habt ihr?
Ach, liebes Fräulein, seufzte Mutter Lemballeuse, sehen Sie nur, in welchem Zustande sich dieses große Tier befindet. Sie wird morgen nicht fortgehen können, es ist ein verlorener Tag... Sie braucht Schuhe!
Rosa und Johanna mit den brennenden Blicken unter ihren Mähnen verdoppelten ihr Schluchzen und schrien laut:
Sie braucht Schuhe, sie braucht Schuhe.
Toni hatte ihren hageren, schwarzen Kopf halb erhoben. Trotzig, ohne ein Wort zu sprechen, befreite sie sich mit Hilfe einer Nadel von einem grimmen, langen Dorn.
Angelika gab gerührt ihr Brot.
Hier ist jedenfalls das Brot.
O, Brot! rief die Mutter, wir können es gebrauchen. Aber auf Brot kann man nicht laufen. Und in Blingy ist Markt morgen, ein Markt, auf dem sie alle Jahre mehr als 40 Sous verdiente... O du gütiger Gott, was soll daraus werden?
Mitleid und Verlegenheit machten Angelika stumm. Sie hatte rund fünf Sous in der Tasche. Mit fünf Sous konnte man schwerlich Schuhe kaufen, selbst nicht unter der Hand. Jedesmal lähmte sie ihr Geldmangel. Gerade jetzt sah sie, als sie die Augen abwandte, in der zunehmenden Dunkelheit Felix einige Schritte von ihr entfernt auftauchen, was sie ganz und gar außer sich brachte. Er mußte gehört haben, was gesprochen wurde, denn er stand jedenfalls schon einige Zeit dort. Immer und immer wieder war er in ihrer Nähe, ohne daß sie jemals wußte, von wo und wie er gekommen war.
Er wird Schuhe besorgen, dachte sie bei sich.
In der Tat kam er näher. An dem violetten Himmel tauchten die ersten Sterne auf. Ein tiefer, lauer Friede sank hernieder und schläferte das Marienfeld ein, dessen Weiden in Schatten tauchten. Die Kathedrale erschien nur noch als ein schwarzer Querbalken an dem abendlichen Himmel.
Er wird ganz gewiß Schuhe schenken.
Sie war völliger Verzweiflung nahe. Er sollte einmal alles schenken, nicht einmal gelang es ihr, über ihn zu triumphieren. Ihr Herz schlug zum Springen. Wäre sie doch reich, dann hätte sie ihm schon gezeigt, daß auch sie Leute glücklich machen könne.
Die Lemballeuse hatten inzwischen ebenfalls den gütigen Herrn bemerkt. Die Alte stürzte ihm entgegen, die beiden kleinen Schwestern ächzten, streckten die Arme empor und hielten die Hände offen, während die Große ihre blutigen Knöchel fahren ließ und mit schiefen Blicken um sich schaute.
Hören Sie, gute Frau, sagte Felix, gehen Sie nach der Großen Straße, an der Ecke der Unteren Straße ...
Angelika verstand, dort befand sich nämlich der Laden eines Schuhmachers. Sie unterbrach ihn lebhaft und war so außer sich, daß sie die Worte ohne Überlegung herausstieß.
Ein unnützer Weg mehr! ... Wozu soll das? ... Es ist doch viel einfacher ...
Sie fand aber dieses »Einfachere« nicht. Was sollte sie nur tun, um sein Almosen zu übertreffen? Sie hätte nie geglaubt, daß sie ihn so verabscheuen konnte wie jetzt.
Sie sagen, ich schickte Sie, fuhr Felix fort. Sie fordern...
Von neuem unterbrach Angelika ihn mit ängstlicher Miene:
Es ist doch einfacher ... es ist doch einfacher ...
Plötzlich ließ sie sich beruhigt auf einen Stein nieder, löste mit flinker Hand ihre Schuhbänder und riß sich die Schuhe, ja selbst die Strümpfe ab.
Da nehmen Sie! Das ist doch viel einfacher. Warum sich erst Mühe machen?
O, mein liebes Fräulein, Gott vergelte es Ihnen! rief die Mutter Lemballeuse, indem sie die fast neuen Schuhe prüfte. Ich werde sie oben aufschneiden, damit sie passen ... Toni, bedanke dich, du großes Tier!
Toni entriß den Händen Rosas und Johannas die Strümpfe, nach denen es diese gelüstete. Sie brachte die Lippen nicht auseinander.
Jetzt erst fiel es Angelika ein, daß sie bloße Füße hatte und Felix sie sehen konnte. Sie wußte in ihrer Verwirrung nicht, was sie tun sollte. Sie wagte nicht sich zu rühren, denn sie fühlte, daß er noch mehr sehen würde, sobald sie sich erhob. Plötzlich schrak sie zusammen, sie verlor vollends den Kopf und ergriff die Flucht. Ihre kleinen weißen Füße enteilten durch das Gras. Die Dunkelheit nahm noch zu, das Marienfeld war zwischen den Bäumen seiner Nachbarschaft und dem schwarzen Rumpfe der Kathedrale zu einem Schattenmeer geworden. Durch diese Dunkelheit sah man zu ebener Erde nur die kleinen Füßchen von dem atlasartigen Weiß der Tauben entfliehen.
Angelika scheute das Wasser und lief daher erschreckt längs der Chevrotte dahin, um das als Brücke dienende Brett zu erreichen. Felix aber war inzwischen quer durch das Gebüsch gedrungen. So schüchtern er vorher gewesen, soviel roter als sie war er jetzt geworden, als er ihre nackten Füße erblickte. Die Flamme in seinem Innern schlug hoch empor, laut hinaus hätte er seine ihn vollständig beherrschende Leidenschaft schreien mögen, die ihn mit überströmender Jugendkraft vom ersten Tage an beherrschte. Als er sie streifte, konnten seine Lippen nur das Zugeständnis stottern, das ihm auf den Lippen brannte:
Ich liebe Sie.
Fassungslos blieb sie stehen. Einen Augenblick sah sie ihm fest ins Gesicht. Ihr Zorn, ihr Haß, die sie in sich wähnte, verflogen und verwandelten sich in ein Gefühl entzückender Angst. Was hatte er gesagt, daß ihr Innerstes sich so umkehrte? Er liebte sie, sie wußte es, und jetzt, als er dieses Wort leise in ihr Ohr flüsterte, überfiel sie Staunen und Furcht. Er wurde kühner, das Herz war ihm aufgegangen, und dem ihren war er als Genosse bei dem Werke der Barmherzigkeit näher gerückt.
Ich liebe Sie, wiederholte er.
Da ergriff sie die Furcht vor dem Geliebten, und sie entfloh abermals.
Die Chevrotte hemmte ihre Flucht nicht mehr; wie die verfolgten Hindinnen eilte sie hinein in das Wasser und ihre Füße liefen fröstelnd in dem eiskalten Element über die Kiesel hin. Die Gartentür schloß sich, die Füße verschwanden.