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Am nächsten Morgen saß Angelika wie gewöhnlich um sieben Uhr bei der Arbeit; die Tage folgten einander, und allmorgentlich nahm sie ganz gefaßt das am Abend vorher beiseite gelegte Meßgewand wieder vor. Nichts schien sich geändert zu haben; sie hielt ehrlich ihr Wort und schloß sich klösterlich ein, ohne den Versuch zu einem Wiedersehen Felix' zu machen. Dieser Umstand schien sie nicht einmal zu betrüben, denn sooft die überwachende Hubertine Angelikas Augen auf sich gerichtet sah, konnte sie in ein jugendfrohes, heiteres Gesicht blicken. Trotzdem dachte Angelika während dieses vorsätzlichen Schweigens den ganzen Tag an ihn. Ihre Hoffnung blieb unerschütterlich, sie war sich dessen gewiß, daß die Dinge sich trotz allem zum besten wenden würden. Gerade diese Gewißheit gab ihr die mutige, stolze und ehrliche Miene ein.
Hubert zankte öfter mit ihr.
Du arbeitest zuviel, ich finde, du siehst ein wenig bleich aus ... Schläfst du gut?
Wie ein Klotz, Vater! Ich habe mich noch nie wohler gefühlt.
Aber auch Hubertine beunruhigte sich und sprach öfter von Zerstreuungen.
Wenn du willst, schließen wir das Haus zu und machen alle drei eine Reise nach Paris.
Das wäre! Und die Bestellungen, Mutter? ... Ich fühle mich am gesundesten, wenn ich viel zu arbeiten habe, mehr kann ich dir nicht sagen!
Angelika erwartete, offen gesagt, ein Wunder, irgendeine Offenbarung des Unsichtbaren, die sie Felix in die Arme führen sollte. Sie hatte außerdem versprochen, keinen Versuch zu wagen; daher war es das Beste, selbständig nichts zu unternehmen, um so mehr, als man dort im Jenseits für sie schon tätig sein werde. Während ihrer freiwilligen Untätigkeit aber und während sie Gleichgültigkeit heuchelte, hielt sie doch immer die Ohren gespitzt; sie hörte die Stimmen, die um sie her wisperten, und achtete auf die leisen, ihr vertrauten Geräusche der Welt, in deren Mitte sie lebte und die ihr zu Hilfe kommen sollten. Irgend etwas mußte sich notwendigerweise offenbaren. Am offenen Fenster sitzend und über den Stickrahmen gebeugt, entging ihr kein Säuseln der Bäume, kein Murmeln der Chevrotte. Die leisesten, durch die Erwartung zehnfach vergrößerten Seufzer der Kathedrale schlugen an ihr Ohr: sie hörte selbst das Schlurfen der Pantoffel des die Kerzen auslöschenden Küsters. Sie fühlte von neuem ihr zur Seite das Streifen der geheimnisvollen Flügel, sie wußte das Unbekannte als ihren Beistand. Oft wandte sie sich plötzlich um, denn sie glaubte, ein Schatten flüstere ihr das erhoffte Mittel zum Siege zu. Aber die Tage verstrichen, noch immer traf nichts ein.
Angelika vermied es zunächst, um ihrem Schwur nicht untreu zu werden, sich des Nachts auf dem Balkon zu zeigen; sie fürchtete, Felix wieder aufzusuchen, sobald sie ihn unten bemerkte. Sie wartete in ihrem Zimmer. Als nicht einmal die eingeschlafenen Blätter sich rührten, wagte sie schon mehr, sie begann von neuem die Finsternis zu befragen. Von wo sollte das Wunder auftauchen? Zweifellos aus dem bischöflichen Garten; vielleicht werde ihr eine flammende Hand von dort ein Zeichen geben. Vielleicht auch von der Kathedrale herüber; dort könne zum Beispiel das Gebrause der Orgel sie zum Hochaltar rufen. Sie hätte eben nichts überrascht, weder wenn die Tauben der Heiligengeschichte ihr Worte des Segens überbracht hätten, noch wenn die Heiligen durch die Wände geschritten wären, um ihr zu verkünden, daß Hochwürden sie zu sehen wünsche. Nur eines machte sie staunen, die Langsamkeit, mit der das Wunder sich vollzog. Wie die Tage, so verstrichen auch die Nächte nacheinander, und noch immer zeigte sich nichts, nichts.
Nach Verlauf der zweiten Woche wunderte es Angelika noch mehr, daß sie Felix nicht wiedergesehen hatte. Sie hatte allerdings die Verpflichtung übernommen, für ihre Person keinen Versuch zu einer Annäherung an ihn zu wagen, aber von ihm hatte sie als selbstverständlich erwartet, daß er alles aufbieten werde, um sich ihr zu nähern. Aber das Marienfeld blieb leer, er schritt nicht einmal mehr durch das wuchernde Gras. Nicht ein einziges Mal innerhalb vierzehn Tagen hatte sie zu nächtlicher Zeit seinen Schatten bemerkt. Aber auch dieser auffällige Umstand erschütterte ihren Glauben nicht: wenn er nicht kam, so geschah es, weil er sich um ihr Glück bemühte. Aber ihre Überraschung wuchs und paarte sich bereits mit beginnender Ungeduld.
Nach einem besonders trübseligen Mittagessen schützte Hubert eines Abends eine eilige Besorgung vor, um auszugehen, und Hubertine blieb allein mit Angelika in der Küche zurück. Lange blickte sie mit feuchten Augen die Tochter an, deren schöner Mut sie rührte. Seit vierzehn Tagen hatten sie kein Wort von den Dingen gesprochen, von denen ihre Herzen überfluteten. Hubertine war weich gestimmt, eine solche Kraft und Ehrlichkeit, den Schwur zu halten, hatte sie nicht erwartet. Ein plötzliches Zärtlichkeitsgefühl ließ sie die beiden Arme öffnen, das junge Mädchen warf sich an ihre Brust, und beide hielten sich lautlos umschlungen.
Mein armes Kind, sagte Hubertine sodann, ich wartete schon darauf, mit dir allein sein zu können ... Du mußt erfahren, daß alles zu Ende, völlig zu Ende ist.
Felix ist tot! rief Angelika fassungslos und richtete sich auf.
Nein, nein.
Wenn er nicht kommt, ist er gestorben!
Hubertine mußte ihr nun erklären, daß sie am Tage nach der Prozession Felix gesprochen und ihm ebenfalls den Schwur abverlangt habe, nicht eher wiederzukommen, bis Hochwürden es gestattet habe. Das war mit andern Worten ein endgültiger Abschied, denn sie wußte sehr wohl, daß aus der Heirat nichts werden könne. Sie hatte ihn durch Vorhalten seiner schlechten Handlungsweise, ein armes, vertrauensseliges, unwissendes Mädchen, das er doch nie heiraten werde, bloßzustellen, ganz zerknirscht gemacht. Er hatte ebenfalls versichert, daß er lieber in Sehnsucht nach ihr vor Kummer sterben wolle, ehe er sich ehrlos zeigen werde. Denselben Abend noch entdeckte er sich seinem Vater.
Sieh, mein Kind, fuhr Hubertine fort, du zeigst so großen Mut, daß ich zu dir unverhüllt reden darf ... Wenn du wüßtest, mein Liebling, wie ich dich beklage und dich bewundere, seit ich dich so stolz und brav sehe, seit du schweigst und heiter bist, während dein Herz bricht ... Aber du wirst noch weit größeren Mutes bedürfen ... Ich traf heute nachmittag Abt Cornille. Nichts ist mehr zu hoffen. Hochwürden will nicht.
Hubertine erwartete einen Tränenstrom, erstaunte aber, als sie Angelika sich sehr bleich zwar, aber mit ruhiger Miene setzen sah. Der alte Eichentisch war abgeräumt, eine Lampe erhellte das altertümliche gemeinsame Zimmer, dessen Friede nur durch das Summen des Wasserkessels unterbrochen wurde.
Es ist noch nichts verloren, Mutter... Erzähle mir, ich habe doch das Recht, alles zu wissen, denn die Sache geht mich an.
Sie hörte aufmerksam zu, was ihr Hubertine, als vom Abt gehört, erzählen konnte, gewisse Einzelheiten überging sie, sie blieb eben dabei, dieser Unschuld zu verheimlichen, wie es im Leben zugeht.
Seit Hochwürden seinen Sohn zu sich genommen hatte, lebte er in beständiger Unruhe. Er hatte am Tage nach dem Tode seiner Frau ihn von seinem Antlitz verbannt und 20 Jahre lang für sich gelebt, ohne ihn kennen lernen zu wollen. Jetzt sah er ihn im Schimmer und in der Gesundheit der Jugend wieder als ein leibhaftiges Ebenbild derjenigen, die er beweinte. Er war in ihrem Alter und hatte die blonde Anmut ihrer Schönheit. Die lange Verbannung, der Groll gegen das Kind, dessen Geburt ihm die Mutter gekostet hatte, war ebenfalls eine Maßregel der Klugheit gewesen: das fühlte er erst jetzt, da er bedauerte, nicht seinen Willen durchgesetzt zu haben. Sein Alter, ein zwanzigjähriges Beten, nichts hatte in ihm den Mann getötet, trotzdem Gott zu ihm herniedergestiegen war. Seinen Sohn wie aus dem Fleische der geliebten Frau geschnitten, mit dem Lächeln seiner blauen Augen vor sich zu sehen, reichte hin, um sein Herz zum Brechen schlagen zu lassen, denn er glaubte die Tote leibhaftig wieder auferstanden. Er schlug sich die Brust mit der Faust, schluchzte unter der unzulänglichen Geißelung und forderte, man solle die Priesterweihe denen nicht erteilen, die vom Weibe gekostet haben und mit Banden des Blutes ihm zugetan sind.
Der gute Abt Cornille hatte mit Hubertine ganz heimlich davon gesprochen. Die Hände hatten ihm dabei gezittert. Es liefen dunkle Gerüchte umher, man flüsterte sich zu, daß Hochwürden sich einzuschließen pflege, wenn die Dämmerung herniedersank. Das waren Nächte voller Kämpfe, Tränen, Klagen, deren Heftigkeit, obgleich durch Vorhänge und Teppiche gedämpft, das Bistum erschreckte. Der Bischof hatte geglaubt, die Leidenschaft vergessen, zähmen zu können. Aber mit Sturmesgewalt erwachte sie wieder in dem schrecklichen Manne, der er einst gewesen, in dem Abenteurer, dem Nachkommen der sagenhaften Krieger. Allabendlich bemühte er sich, auf den Knien liegend und den Körper mit dem Stachelgürtel peinigend, das Bild der beweinten Frau zu verjagen, er beschwor sie aus ihrem Grabe herauf, wo sie längst zu Staube vermodert sein mußte. Sie erhob sich lebendig in der entzückenden Frische der Blume vor seinen Augen, wie er sie als reifer Mann mit einer wahnsinnigen Liebe umfangen hatte. Die Marter begann von neuem noch blutiger als am Tage nach ihrem Tode. Er beweinte und begehrte sie mit derselben Auflehnung gegen Gott, der sie ihm genommen hatte. Er beruhigte sich erst erschöpft, wenn der Morgen anbrach. Dann überkam ihn eine Verachtung seiner selbst und ein Ekel vor der Welt. Wie hätte er die Leidenschaft, diese elende Bestie, zerstampfen mögen, um in den demütigen Frieden der göttlichen Liebe zu versinken!
Wenn Hochwürden sein Zimmer verließ, hatte er seine gestrenge Haltung, sein ruhiges, hochmütiges Aussehen bereits wieder gewonnen, kaum daß sein Gesicht eine etwas blassere Schattierung zeigte. An dem Morgen von Felix' Beichte hatte er, ohne ein Wort zu verlieren, zugehört und sieh so zu bezwingen gewußt, daß nicht eine einzige Fiber seiner Haut zuckte. Er beobachtete ihn, das Herz wandte sich ihm um, als er in ihm sich selbst, so jung, schön und liebestoll wiedersah. Jetzt war es nicht mehr Eigensinn, sondern sein fester Wille, die rauhe Pflicht, den Sohn vor dem Übel zu behüten, an dem er selbst so furchtbar litt. Er wollte die Leidenschaft in seinem Sohne töten, wie er sie in sich selbst töten wollte. Diese romantische Geschichte ängstigte ihn vollends. Wie? Ein armes, namenloses Mädchen, eine kleine, im Scheine des Mondlichts bemerkte und im Traume in eine schmächtige Heilige aus der Legende verwandelte Stickerin? Er hatte nur ein Wort darauf zu erwidern: Niemals! Felix hatte sich ihm zu Füßen geworfen, ihn gebeten und seine und Angelikas Sache, vor Achtung und Furcht zitternd, verteidigt. Stets hatte er sich dem Vater nur unter Zittern und Zagen genähert, er flehte ihn an, sich seinem Glücke nicht zu widersetzen, und wagte nicht einmal, die Augen zu dessen geheiligter Person aufzuschlagen. Mit unterwürfiger Stimme bot er ihm an, zu verschwinden und seine Frau so weit fortzuführen, daß man sie beide niemals wiedersehe; sein großes Vermögen wolle er der Kirche vermachen. Er wolle nichts weiter als unbekannt geliebt werden und lieben. Ein Schauder hatte Hochwürden überlaufen. Sein Wort war den Voincourt verpfändet, es konnte nie zurückgenommen werden. Da fühlte sich Felix am Ende seiner Kräfte und geriet in eine Wut, die ihn zur Freveltat einer offenen Empörung führte, wobei ein Blutstrom seine Wangen purpurn gefärbt hatte. So ging er von dannen.
Du siehst, mein Kind, schloß Hubertine, daß du nicht mehr an diesen jungen Mann denken darfst, denn du willst doch nicht dem Willen Hochwürdens zuwiderhandeln ... Ich sah alles das voraus, doch zog ich vor, die Tatsachen sprechen zu lassen, um dir zu zeigen, daß die Hindernisse nicht von mir herrühren.
Angelika hatte mit ihrer ruhigen Miene, mit über den Knien gefalteten Händen zugehört. Ihre Augenlider hatten kaum von Zeit zu Zeit gezuckt. Ihre Augen schienen sich starr auf die Szene zu heften, wie Felix zu den Füßen Hochwürdens mit überströmender Zärtlichkeit von ihr sprach. Sie antwortete auch nicht sofort, sondern begann in dem tiefen Frieden der Küche nachzudenken, den nur das leise Zischen des Wasserkessels unterbrach. Sie senkte die Lider und betrachtete ihre im Lichte der Lampe wie schönstes Elfenbein schimmernden Hände. Dann sagte sie, während ein Lächeln unbesiegbarer Zuversicht auf ihren Lippen schwebte, gelassen:
Wenn Hochwürden sich weigert, geschieht es, weil er mich erst kennen lernen will.
In dieser Nacht schlief Angelika kaum. Es beschäftigte sie der Gedanke, daß ihr Anblick Hochwürden zur Entscheidung zwingen werde. Die persönliche Eitelkeit des Weibes kam hier gar nicht in Betracht, sie ahnte die Allmacht der Liebe, sie liebte Felix so stark, daß ihr Gefühl ganz gewiß zum Ausdruck kommen und der Vater sich dann nicht darin verbohren werde, sie beide ins Unglück zu stürzen. An zwanzigmal drehte sie sich in ihrem großen Bett herum und wiederholte sich diese Dinge. Hochwürden wandelte in seinem violetten Gewande an ihren geschlossenen Augen vorüber. Vielleicht sollte das erwartete Wunder sich in ihm und durch ihn offenbaren. Die schwüle Nacht draußen schlief, sie neigte das Ohr, um auf ihre Stimmen zu lauschen, und versuchte aufzufangen, was ihr die Bäume, die Chevrotte, die Kathedrale, ihr eigenes, von den befreundeten Schatten bewohntes Zimmer rieten. Aber alles summte durcheinander, etwas Genaues hörte sie nicht heraus. Sie wurde über die zu langsam kommende Gewißheit ungeduldig, und noch beim Einschlafen überraschte sie sich, wie sie sagte:
Morgen werde ich mit Hochwürden reden.
Als sie erwachte, schien ihr der vorzunehmende Schritt ganz einfach und notwendig. Ihre Leidenschaft war eben unbefangen und brav, ihrem Mute lag eine stolze Reinheit zugrunde.
Sie wußte, daß Hochwürden an jedem Sonnabend gegen fünf Uhr nachmittags in der Kapelle Hautecoeur niederzuknien und in einsamem Gebet an seine eigene und seines Geschlechtes Vergangenheit zu denken pflegte; die gesamte Geistlichkeit ehrte diese gesuchte Einsamkeit. Es war gerade Sonnabend. Schnell hatte sie ihren Entschluß gefaßt. Im Hause des Bischofs selbst würde man sie vielleicht nicht empfangen haben, auch waren dort soviele Menschen, daß man sie stets gestört haben würde. Bequem war es dagegen, Hochwürden in der Kapelle zu erwarten und ihm bei seinem Erscheinen entgegenzutreten. Selbst an diesem Tage stickte sie mit ihrer üblichen Sorgfalt und Heiterkeit: sie fühlte wegen ihres Vorhabens kein bißchen Fieber, denn sie war überzeugt, richtig zu handeln. Gegen vier Uhr schützte sie einen Besuch bei Mutter Gabet vor. Wie zu einem ihrer üblichen Gänge in das Stadtviertel angetan und mit einem auf gut Glück mit den Fingern geknüpften Gartenhut auf dem Kopfe verließ sie das Haus. Sie wandte sich nach links und stieß den ausgepolsterten Flügel der Kirchentür der heiligen Agnes auf, der sich hinter ihr leise schloß.
Die Kirche war leer, nur ein Beichtstuhl der Kapelle des heiligen Joseph war von einer Büßerin besetzt, von der man nur das schwarze Gewand überhängen sah. Bis dahin hatte sich Angelika ruhig gefühlt; wie sie aber in diese andächtige, frostige Einsamkeit trat, in der das leiseste Geräusch ihrer Schritte erschreckend widerhallte, merkte sie, wie sie zitterte. Warum zog sich ihr Herz so zusammen? Sie hatte sich so stark gefühlt und den ganzen Tag ruhig verbracht in dem Gedanken, es sei ihr gutes Recht, glücklich sein zu wollen. Jetzt hatte sie alles vergessen und erbleichte wie eine Schuldige. Sie schlich bis zur Kapelle Hautecoeur; hier mußte sie sich an das Gitter lehnen, um nicht umzusinken.
Die Kapelle war eine der vergrabensten, dunkelsten der altertümlichen romanischen Apsis. Sie schien mit den schmucklosen Rippen ihres niedrigen Gewölbes einer in einen Felsen gehauenen, ebenen und nackten Gruft ähnlich. Ihre Beleuchtung empfing sie nur durch das Fenster mit dem heiligen Georg, dessen vorherrschend rote und blaue Scheiben ein bläuliches, dämmerndes Licht erzeugten. Der schmucklose Altar aus schwarzem und weißem Marmor mit seinem Christus und seinem Leuchter-Doppelpaar glich einem Grabmal. Die übrigen Wände waren mit Grabsteinen ausgelegt. Ein ganzes Lager durch das Alter zerbröckelter Steine zog sich von oben nach unten; die tief gemeißelten Inschriften waren noch zu entziffern.
Angelika wartete beklommen, unbeweglich. Ein Kirchendiener ging vorüber, er bemerkte sie nicht, so dicht drückte sie sich an das Gitter. Sie sah noch immer das Kleid der Büßerin aus dem Beichtstuhle hängen. Ihre Augen gewöhnten sich an das Halbdunkel und hefteten sich von selbst an die Inschriften, deren Buchstaben sie nach und nach entzifferte. Einzelne Namen, denen sie begegnete, riefen ihr die Sagen vom Schloß Hautecoeur in Erinnerung, so Johann V., der Große, Raoul III., Herbert VII. Noch zwei andere Namen begegneten ihre Augen, denen der Laurette und Balbine, die sie in ihrer Bedrängnis zu Tränen rührten. Beide Frauen gehörten zu den glücklichen Toten, denn Laurette stürzte von dem Mondstrahl herab, als sie sich mit ihrem Geliebten vereinigen wollte, und Balbine wurde bei der Rückkehr ihres Gatten, den sie im Kriege gefallen wähnte, von der Freude getötet. Beide kehrten des Nachts zurück und hüllten das Schloß mit der weißen Wolke ihrer ungeheuren Gewänder ein. Hatte sie selbst sie nicht bei ihrem Besuche in den Ruinen in der aschfahlen Dämmerung um die Türme schweben gesehen? Wie gern wäre sie wie jene im Alter von 16 Jahren im höchsten Glücke des verwirklichten Traumes gestorben!
Ein mächtiges, von den Gewölben widerhallendes Geräusch ließ sie erzittern. Der Priester verließ den Beichtstuhl der Joseph-Kapelle und schloß die Tür. Es überraschte sie, die Büßerin nicht mehr zu erblicken, die schon verschwunden war. Als der Priester sich durch die Sakristei entfernt hatte, fühlte sie sich völlig allein in der ungeheuren Einsamkeit der Kirche. Bei dem donnerartigen Lärm des alten Beichtstuhles, der in seinen verrosteten Eisenklammern krachte, hatte sie geglaubt, Hochwürden nahe. Sie wartete bald eine halbe Stunde auf ihn, aber sie war sich nicht bewußt, wieviel Zeit bereits verstrichen war, denn in ihrer Aufregung rechnete sie nicht die verflossenen Minuten.
Ein neuer Name beschäftigte sie jetzt, der Felix' III., desselben, der mit der Kerze in der Hand nach Palästina gewallfahrtet war, um das Gelübde Philipps III. zu erfüllen. Ihr Herz schlug, denn sie sah das jugendliche Haupt Felix' VII. sich erheben, des Nachkommens aller dieser, des blonden Gebieters, den sie anbetete, und von dem sie angebetet wurde. Es erfüllte sie mit Stolz und Angst zugleich. War es möglich, daß sie da war, um das Wunder zu vollbringen? Vor sich bemerkte sie eine Tafel aus frischerem Marmor, die aus dem letzten Jahrhundert stammte; geläufig las sie von ihr in schwarzen Buchstaben die Namen: Norbert, Louis Ogier, Marquis von Hautecoeur, Prinz von Mirande und Rouvres, Graf von Ferrières, von Montégu, von Saint-Marr und auch von Villemareuil, Baron von Combeville, Ritter der vier Orden des Königs, Lieutenant seiner Heere, Statthalter der Normandie, bekleidet mit dem Range eines Generalhauptmanns des Jagdwesens und Verwesers des Jagdgerätes für Wildschweinjagden. – Es waren das die Würden des Großvaters von Felix. Sie war so ohne weiteres in ihrem Werktagsgewande, mit ihren von der Nadel abgenutzten Fingern erschienen, um den Enkel dieses Toten zu heiraten!
Ein leises Geräusch entstand, es war kaum ein flüchtiges Streifen der Fliesen zu nennen. Angelika wandte ihren Kopf und sah Hochwürden. Sie blieb wie gebannt vor dieser geräuschlosen Annäherung, denn sie hatte einen Donnerschlag erwartet. Er hatte die Kapelle betreten; sehr groß und vornehm erschien er ihr mit seinem bleichen Antlitze, mit seiner ein wenig starken Nase und den herrlichen, jung gebliebenen Augen. Er bemerkte sie zunächst nicht, da sie mit dem dunklen Gitter eins schien. Als er sich jedoch vor dem Altar niederbeugte, sah er sie vor sich zu seinen Füßen.
Angelikas Beine schlotterten, und halbtot vor Schrecken und Ehrfurcht fiel sie auf die Knie. Er erschien ihr wie Gott der Vater so fürchterlich und als unumschränkter Herr über ihr Schicksal. Aber sie hatte ein mutiges Herz, und so sprach sie ohne zu zaudern:
Ich bin gekommen, Hochwürden ...
Er sah sich um. Flüchtig erinnerte er sich ihrer: es war das junge Mädchen, das er am Prozessionstage am Fenster bemerkt und dann in der Kirche auf einem Stuhle stehend wiedergesehen hatte, die kleine Stickerin, die seinem Sohn den Kopf verdreht hatte. Er wartete hochmütig und starr.
Hochwürden, ich bin gekommen, damit Sie mich sehen sollen ... Sie haben mich abgewiesen, aber Sie kannten mich nicht. Jetzt betrachten Sie mich, ehe Sie mich abermals abweisen. Ich bin die, welche liebt und geliebt wird, und außer dieser Liebe bin ich nichts, ein armes, an der Tür dieser Kirche aufgefundenes Kind. Sie sehen mich zu Ihren Füßen; Sie sehen, wie klein, schwach und unterwürfig ich bin. Es ist Ihnen ein leichtes, mich zu beseitigen, wenn ich Ihnen lästig bin. Sie brauchen nur einen Finger aufzuheben, um mich zu vernichten ... Aber wieviel Tränen! Man muß wissen, was man leidet. Dann erst fühlt man Erbarmen. Ich wollte meine Sache selbst führen, Hochwürden. Ich bin eine Unwissende, ich weiß nur, daß ich liebe und geliebt werde ... Genügt das nicht? Lieben, lieben und es sagen!
In halb abgebrochenen, halb geseufzten Sätzen beichtete sie in einer Aufwallung von Kindlichkeit und wachsender Leidenschaft. Das war die ihr Geständnis stammelnde Liebe. Sie wagte es, weil sie mutig war. Allmählich richtete sie den Kopf auf.
Wir lieben uns, Hochwürden. Er hat Ihnen jedenfalls erklärt, wie die Sache gekommen ist. Ich habe mich oft danach gefragt, ohne daß es mir gelungen wäre, eine Antwort darauf zu finden ... Wir lieben uns; wenn dies ein Verbrechen ist, verzeihen Sie es; denn es ist nicht aus uns, sondern von fernher, von den Bäumen und Steinen unserer Umgebung gekommen. Als ich wußte, daß ich liebe, war es zu spät, nicht mehr zu lieben ... Ist es jetzt noch möglich, das zu wollen? Sie können ihn an sich fesseln, ihn anderswo verheiraten, aber Sie können nicht bewirken, daß er mich nicht mehr liebt. Er wird ohne mich sterben, wie ich ohne ihn sterben werde. Wenn er sich auch nicht mehr an meiner Seite befindet, fühle ich doch, daß er dort ist, daß wir uns nie mehr trennen werden, und daß das eine das Herz des andern mit sich nimmt. Ich brauche nur die Augen zu schließen, um ihn wiederzusehen, denn er lebt in mir. Es fließt kein Tropfen Blutes in uns, das nicht für unser ganzes Leben aus uns beiden gemischt wäre ... Sie werden diese Vereinigung nicht zerreißen? Unsere Liebe ist göttlich, Hochwürden, hindern sie unsere Liebe nicht.
Er betrachtete sie, wie sie so frisch und einfach, wie ein Blumenstrauß duftend in ihrem Arbeitskleide vor ihm lag. Er hörte sie mit ihrer bestrickenden Stimme, die nach und nach erstarkte, das Hohelied ihrer Liebe singen. Der Gartenhut war ihr auf die Schulter geglitten, und ihre lichten Haare umrahmten wie mit feinem Golde ihr Gesicht. Sie erschien ihm mit dieser Schmächtigkeit, Kindlichkeit und diesem Schwünge ihrer Leidenschaftlichkeit wie eine der sagenhaften Jungfrauen aus den alten Meßbüchern.
Seien Sie gütig, Hochwürden ... Sie sind unser Herr, lassen Sie uns glücklich werden.
Sie flehte zu ihm und senkte abermals die Stirn, als sie ihn so kalt, sprach- und bewegungslos vor sich stehen sah. Dieses fassungslose Kind zu seinen Füßen, dieser Jugendduft, der aus dem vor ihm gebeugten Nacken zu ihm emporstieg! Da sah er sie wieder, die blonden Härchen, die er einst wie toll geküßt hatte, sie, an deren blühende Jugend und an deren Hals von dem Stolz und der Anmut einer Lilie er sich noch nach zwanzigjähriger Buße erinnerte. Sie selbst war es, die wieder vor ihm erstand, vor ihm schluchzte und ihn anflehte, der Leidenschaft gegenüber Milde walten zu lassen.
Die Tränen waren Angelika in die Augen getreten, trotzdem fuhr sie fort zu sprechen, denn sie wollte alles sagen.
Hochwürden, ich liebe nicht nur ihn, sondern auch den Adel seines Stammes, den Schimmer seines königlichen Vermögens ... Ja, ich weiß, daß, da ich nichts habe und nichts bin, es so aussieht, als ob ich nach seinem Gelde trachte; und in der Tat, ich will ihn auch seines Geldes halber ..., Ich sage Ihnen das, denn Sie müssen mich kennen lernen ... Ach, ich möchte reich werden durch ihn und mit ihm, in der Annehmlichkeit und dem Glänze des Luxus leben, ihm alle Freuden schulden, um frei in unserer Liebe zu sein und rings um uns alle Tränen versiegen zu lassen, allen Kummer vertreiben zu können! Seit er mich liebt, sehe ich mich in Brokat gekleidet wie in einstigen Zeiten, ich sehe am Halse und an den Handgelenken ein Geriesel von Edelsteinen und Perlen und für mich Pferde, Wagen, große Waldungen, in die ich zu Fuß mit einem Gefolge von Pagen lustwandeln kann, besitzen ... Ich kann nie an ihn denken, ohne diesen Traum stets von neuem zu träumen. Und ich sage mir, das muß so sein, denn er hat meinen Wunsch, Königin zu sein, erfüllt. Ist es schlecht, Hochwürden, jemand umsomehr zu lieben, weil er alle meine Wünsche der Kindheit erfüllen und den wunderbaren Goldregen der Feengeschichten über mich ausschütten will?
Er sah sie stolz aufgerichtet mit der entzückenden Miene einer Prinzessin trotz ihrer Schlichtheit. Sie ähnelte ganz der anderen mit ihrer gleichen blumenhaften Zartheit und denselben sanften, wie ein Lächeln so klaren Tränen. Es entströmte ihr etwas Berauschendes, dessen warmen Hauch er über sein Gesicht streichen fühlte, es war derselbe Schauder der Erinnerung, der ihn des Nachts schluchzend zu seinem Betschemel trieb, wo er mit seinen Klagen die weihevolle Stille des Bischofshauses störte. Bis drei Uhr früh hatte er nachts zuvor mit sich gekämpft, und jetzt riß dieses Liebesabenteuer, die auf diese Weise wiederaufgerüttelte Leidenschaft die unheilbare Wunde wieder auf. Aber seine Teilnahmlosigkeit ließ nichts durchblicken, nichts verriet den inneren Kampf, um die Schläge des Herzens zu zähmen. Wenn er auch sein Blut Tropfen für Tropfen verlor, niemand sah es fließen: nur stummer und bleicher war er geworden.
Das tiefe, hartnäckige Schweigen brachte Angelika zur Verzweiflung. Sie verdoppelte ihr Flehen.
Ich befehle mich in Ihre Hände, Hochwürden. Haben Sie Mitleid, entscheiden Sie über mein Schicksal.
Er sprach noch immer nicht, er setzte sie in Furcht, denn ihr schien, als wachse vor ihr seine schreckliche Majestät. Die öde Kirche mit ihren schon dunklen Seitengängen, in welcher der Tag bereits erstarb, vermehrte die Angst der Erwartung. In der Kapelle unterschied man selbst die Grabsteine nicht mehr, nur er allein mit seiner schwarzen Sutane, seinem länglichen, weißen Gesicht schien das Licht an sich gefesselt zu haben. Sie sah seine Augen leuchten und mit wachsendem Feuer sich auf sie heften. War es der Zorn, der sie so aufflammen ließ?
Wenn ich nicht gekommen wäre, Hochwürden, so hätte ich es mir ewig vorwerfen müssen, aus Mangel an Mut unser Unglück verschuldet zu haben ... Sagen Sie, ich flehe Sie an, daß ich recht gehabt habe, daß Sie Ihre Einwilligung geben.
Wozu mit diesem Kinde streiten? Er hatte seinem Sohne die Gründe seiner Weigerung auseinandergesetzt, das genügte. Wenn er nicht sprach, so geschah es in dem Glauben, nichts zu sagen zu haben. Das schien sie einzusehen, denn sie wollte sich bis zu seinen Händen aufrichten, um sie zu küssen. Aber er legte sie schnell auf den Rücken, und sie wurde bestürzt, als sie einen heftigen Blutstrom sein bleiches Gesicht dunkelrot färben sah.
Hochwürden ... Hochwürden ...
Endlich öffnete er die Lippen, aber nur, um ein einziges Wort zu sprechen, dasselbe, welches er seinem Sohne entgegengeschleudert hatte:
Ohne an diesem Tage sein Gebet zu verrichten, ging er davon, seine schweren Tritte verloren sich hinter den Pfeilern der Apsis.
Angelika war auf die Fliesen gesunken, und lange, lange hallte ihr heftiges Schluchzen durch den tiefen, leeren Frieden der Kirche wieder.