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Die neue Wohnung der Coupeaus befand sich im sechsten Stock, Treppe B. Wenn man bei Fräulein Remanjou vorbeigekommen war, mußte man den Korridor linker Hand hinuntergehen. Dann mußte man sich noch einmal wenden. Die erste Tür war die der Bijards, dieser Tür beinahe gegenüber in einem Loche ohne Luft schlief der Vater Bru unter einer kleinen Treppe, die zum Dach hinaufführt. Zwei Wohnungen weiter, und man war bei Bazouge. Endlich hinter Bazouge kamen die Coupeaus mit einem Zimmer und einem Kabinett, die beide nach dem Hofe heraus lagen. Es waren auf diesem Flur nur noch zwei Familien, ehe man zu den Lorilleux' gelangte, die ganz am Ende wohnten.
Ein Zimmer und ein Kabinett mehr nicht. Da saßen die Coupeaus jetzt darin. Dabei war das Zimmer nicht größer als eine Handfläche. Alles mußte darin getan werden, geschlafen, gegessen und das übrige. In das Kabinett ging Nanas Bett kaum hinein; sie mußte sich bei ihren Eltern ausziehen und dann blieb während der Nacht die Türe offen, damit sie nicht ersticke. Es war so wenig Raum, daß Gervaise viele Sachen an Poissons hatte überlassen müssen, als sie aus dem Laden zog, weil sie hier nicht alles unterstellen konnte. Das Bett, der Tisch und vier Stühle füllten die ganze Wohnung aus. So niedergebrochen wie Gervaise auch war, hatte sie sich doch nicht von ihrer Kommode trennen wollen, sie hatte dieses große Stück Möbel so an die Pfeilerwand stellen müssen, daß es einen Teil des Fensters verstellte. Einer der Fensterflügel konnte nicht geöffnet werden, das nahm dem Zimmer Luft und Freundlichkeit. Da Gervaise jetzt immer dicker wurde, hatte sie, wenn sie aus dem Fenster in den Hof hinabsehen wollte, kaum Platz für ihre Ellenbogen, sie mußte sich ganz schiefbiegen und sich den Hals ausrecken, wenn sie etwas sehen wollte.
In den ersten Tagen saß die Wäscherin immer und weinte. Das kam ihr zu hart an, sich in ihrer Behausung so gar nicht rühren zu können, sie, die gewohnt war, immer weite Räume um sich zu haben. Diese Enge nahm ihr die Luft, stundenlang blieb sie da am Fenster zwischen der Wand und der Kommode eingezwängt, daß sie sich Gliederschmerzen zuziehen konnte. Nur da allein konnte sie atmen. Und doch konnte sie dieser Hof auch nur auf traurige Gedanken bringen. Ihr gegenüber, an der Sonnenseite, sah sie ihren Traum von früher, das Fenster im fünften Stock mit den spanischen Bohnen, jedes Frühjahr rollten sie ihre schlanken Schößlinge um das Netz von Bindfäden. Ihr Zimmer lag an der Schattenseite, die Resedatöpfe gingen da schon nach acht Tagen aus. Oh! Nein! Das Leben hatte sich nicht glücklich für sie gewandt; das war nicht die Zukunft, die sie sich gewünscht hatte. Anstatt daß ihre alten Tage von Blumen umblüht sein sollten, nahm ihr Schicksal eine Wendung, die sie wohl mit weniger wohlriechenden Dingen in enge Berührung bringen werde. Als sie sich eines Tages herniederbeugte, hatte sie eine merkwürdige Erscheinung: sie glaubte sich selbst da unten im Torweg zu erblicken, wie sie bei der Pförtnersloge stand und mit erhobenem Kopfe zum erstenmal das Haus betrachtete. Dieses Zurückversetzen um dreizehn Jahre gab ihr einen Stoß ins Herz. Der Hof hatte sich nicht verändert, die nackten Wände waren kaum schwärzer und rissiger geworden als damals; von den bleiernen Gossen, die der Rost zerfraß, stieg ein Gestank empor; auf den Stricken, die an den Fensterrahmen befestigt waren, trocknete Wäsche, beschmutzte Kinderbetten; das Pflaster unten im Hofe war immer noch schadhaft, die Kohlenschlacken aus der Schlosserwerkstatt und die Hobelspäne des Tischlers waren darauf ausgestreut, selbst in der feuchten Ecke beim Brunnen war eine Pfütze, die von der Färberei ausgeflossen war und deren Blau ebenso zart war wie das Blau von damals. Aber sie kam sich seitdem höllisch verändert und heruntergekommen vor. Sie stand nicht mehr da unten wie damals, das Gesicht dem Himmel zugewendet, zufrieden und mutig, mit keinem anderen Ehrgeiz als dem, ein hübsches Zimmer zu bewohnen. Sie saß unter dem Dach an einem lausigen Ort, in einem schmutzigen Loch, wo nie ein Sonnenstrahl hinfiel. Daher ihre Tränen; sie konnte von ihrem Schicksal nicht entzückt sein.
Als Gervaise sich erst ein wenig in die neuen Verhältnisse hineingewöhnt hatte, ließen sich die Dinge fürs erste gar nicht schlecht an. Der Winter war beinahe vorüber, und das Geld, das Virginie für die Möbel zahlte, half über die erste Einrichtung hinweg. Mit den schönen Frühlingstagen kam ein günstiger Umstand. Coupeau wurde angeworben, um in der Provinz zu arbeiten, in Etampes; dort blieb er drei ganze Monate, ohne sich zu betrinken, weil ihn die frische Luft auf dem Lande für den Augenblick geheilt hatte. Man sollte nicht glauben, wie ein solcher Luftwechsel auf Säufer einwirkt, denn die Luft von Paris ist wahrhaft mit Wein- und Branntweindünsten geschwängert. Als er zurückkam, blühte er wie eine Rose und brachte vierhundert Franken mit, wovon die beiden rückständigen Mietsraten an die Poissons und andere kleine Schulden im Quartier, die gar zu beschämend waren, bezahlt werden konnten. Gervaise stopfte so in zwei oder drei Straßen die Löcher zu, wo sie sonst nicht mehr entlang gehen konnte. Natürlich hatte sie sich wieder als Lohnplätterin bei Madame Fauconnier anstellen lassen, die, vorausgesetzt, daß man ihr schmeichelte, sehr gut und gefällig war und sie deshalb gern wiedergenommen hatte. Sie zahlte ihr sogar drei Franken Lohn wie einer ersten Arbeiterin, mit Rücksicht auf ihre frühere Stellung als Geschäftsinhaberin. So schien denn die Wirtschaft wieder in den Gang kommen zu sollen. Ja, Gervaise sah sogar die Möglichkeit, über kurz oder lang bei einiger Sparsamkeit alles bezahlen zu können und sich ein erträgliches Leben zu schaffen, wenigstens gelobte sie sich das in der Aufregung über die große Summe, die ihr Mann verdient hatte. Als es dann anders kam, nahm sie die Verhältnisse, wie sie waren und sagte, daß gute Dinge keine lange Dauer hätten.
Am meisten Ärger bereitete es den Coupeaus, wenn sie sahen, wie die Poissons sich in ihrem Laden einrichteten. Sie waren eigentlich von Natur nicht besonders mißgünstig, aber man reizte sie fortwährend, die Leute konnten ihnen gegenüber gar nicht entzückt genug sein über die schöne Einrichtung ihrer Nachfolger. Die Boches und besonders die Lorilleux' ersparten ihnen nichts; wenn man die hörte, hatte es überhaupt nie einen schöneren Laden gegeben. Dann sprachen sie von dem schmutzigen Zustand, in dem die Poissons die Räume vorgefunden hatten; sie erzählten, daß das Weißen der Decke und Wände allein gegen dreißig Franken gekostet habe. Virginie hatte sich nach einigem Schwanken für einen Handel mit feinen Kolonialwaren entschieden; sie verkaufte Kaffee, Tee, Zucker und hatte auch noch Bonbons und Schokolade dazugenommen. Lantier hatte ihr sehr zu diesem Handel geraten, denn er meinte, es seien damit ganz enorme Summen zu verdienen, weil man die Naschhaftigkeit der Leute ausbeuten müsse. Der Laden wurde schwarz gemalt und mit gelben Strichen abgesetzt, beides waren vornehme Farben. Drei Tischler arbeiteten acht Tage an der Ladeneinrichtung und dem Schaufenster; sie machten einen Ladentisch mit großer Platte, um dort Pokale aufzusetzen, gerade wie bei den Konfitürenhändlern. Die kleine Erbschaft, die Poisson sich als Rückendeckung immer noch gehalten hatte, mußte ein böses Loch bekommen haben. Aber Virginie strahlte und die Lorilleux' ersparten Gervaise, von den Boches unterstützt, keinen Schrank, keine Scheibe und keinen Pokal, alles rieben sie ihr unter die Nase und freuten sich, wenn sie sahen, wie sich ihr Gesicht veränderte. Wenn ihr auch nicht ein bißchen neidisch seid, so geratet ihr doch in Wut, wenn ein anderer eure Schuhe anzieht und euch damit auf den Bauch herumtrampelt.
Es spielte da auch noch so ein bißchen Liebe im Verborgenen mit. Alle waren überzeugt, daß Lantier Gervaise verlassen habe. Im Quartier billigte man es sehr. Das setzte doch endlich einmal in der Straße wieder die Moral in ihre Rechte ein. Alle Ehren des Bruches wurden auf diesen Schlauberger, den Hutmacher, gehäuft, hinter dem die Weiber immer noch her waren. Man erzählte sich näheres darüber; er habe die Wäscherin prügeln müssen, damit sie sich ruhig verhalte, so heftiges Verlangen habe sie nach ihm getragen. Selbstredend sagte niemand die Wahrheit; die es hätten wissen können, hielten die Sache für zu einfach und lange nicht interessant genug. Wenn man so wollte, hatte Lantier wirklich Gervaise verlassen, weil er sie nicht mehr jeden Augenblick Tag und Nacht zu seiner Verfügung hielt; aber sicher war, daß er nach dem sechsten Stock hinaufstieg, um sie zu besuchen, wenn ihn die Lust dazu anwandelte, denn Fräulein Remanjou traf ihn öfter, wenn er zu sehr unnatürlichen Stunden von den Coupeaus kam. So dauerten die Beziehungen so kleinbei immer weiter fort, ohne daß weder eines noch das andere viel Vergnügen dabei empfunden hätte; es war die Macht der Gewohnheit, gegenseitige Gefälligkeiten, aber nicht mehr. Was die Verhältnisse ein wenig verwickelte, war, daß man im Stadtviertel Lantier und Virginie zusammen in dieselben Bettücher steckte. Auch darin war das Urteil des Viertels voreilig. Zweifellos versuchte der Hutmacher die große Brünette zu erwärmen, das lag ja zu sehr auf der Hand, denn sie ersetzte Gervaise in allem und für alles in der Wohnung. Man erzählte sogar eine lustige Geschichte darüber, wie er in einer Nacht Gervaise auf den Kissen des Nachbars gesucht habe und daß er dafür Virginie gefunden und zu sich genommen habe, ohne sie vor Morgengrauen in der Finsternis zu erkennen. Die Geschichte wurde sehr belacht, aber in Wirklichkeit war es soweit noch nicht, er erlaubte sich kaum, sie hin und wieder in die Hüften zu kneifen. Nichtsdestoweniger sprachen die Lorilleux' doch in Gervaises Gegenwart mit trauriger Rührung von der Liebe Lantiers zu Virginie, weil sie hofften, damit ihre Eifersucht erregen zu können. Auch die Boches gaben zu verstehen, daß sie nie ein schöneres Paar gesehen hätten. Das Merkwürdige bei alledem blieb immer, daß die Goldtropfengasse durchaus nicht aufgebracht über diese neue Ehe zu dreien zu sein schien; nein, die Moral, die für Gervaise so streng gewesen war, zeigte sich für Virginie ganz milde. Vielleicht kam diese lächelnde Duldsamkeit der Straße daher, daß hier der betrogene Ehemann ein Stadtsergeant war.
Glücklicherweise quälte die Eifersucht Gervaise durchaus nicht. Die Untreue Lantiers ließ sie ganz kalt, weil ihr Herz in den Beziehungen zu ihm schon lange nicht mehr mitsprach. Sie hatte, ohne daß sie sich bemüht hätte, so schmutzige Geschichten über die Liebschaften Lantiers mit allerlei Dirnen der niedrigsten Art in Erfahrung gebracht; das hatte keinen besonderen Eindruck auf sie gemacht, sie war eben weiter willfährig geblieben, da sie nicht genug Kraft in sich fühlte, um zu brechen. Nicht ganz dasselbe war es mit dieser neuen Neigung ihres Liebhabers. Bei Virginie, da war es etwas anderes. Ein solches Gerücht war nur aufgebracht worden, um sie beide zu quälen; wenn sie auch über Kleinigkeiten leicht hinwegsah, verstand sie doch in gewissen Dingen keinen Spaß. Wenn daher Madame Lorilleux oder irgendein anderes boshaftes Wesen in ihrer Gegenwart sagte, daß Poisson wegen seiner Hörner nicht mehr unter dem Saint-Denis-Tor hindurchgehen könne, wurde sie ganz blaß, und ein wütender Schmerz brannte ihr auf der Herzgrube. Sie kniff dann die Lippen zusammen und versuchte zu verbergen, daß sie sich ärgerte, weil sie ihren Feinden diese Freude nicht machen wollte. Aber sie mußte mit Lantier Streit deswegen gehabt haben, denn Fräulein Remanjou glaubte eines Nachmittags ein Geräusch wie von einer Ohrfeige gehört zu haben. Übrigens schien eine gewisse Verstimmung zu herrschen, denn Lantier sprach vierzehn Tage nicht mit ihr, dann kam er aber zuerst wieder, und die Sache schien ihren alten Gang zu gehen, als ob nichts vorgefallen wäre. Die Wäscherin zog es vor, sich ruhig zu verhalten, sie schrak vor einer neuen Frauenschlägerei zurück, weil sie ihr Leben nicht noch mehr in den Schmutz ziehen wollte. Sie war nicht mehr zwanzig Jahre alt und liebte die Männer nicht mehr so sehr, um deswegen Schläge auszuteilen oder einzuheimsen und nur für die schönen Augen dieser Herren ihre Lebensstellung noch mehr zu erschüttern. Sie fügte nur diese Erfahrungen all den übrigen hinzu.
Coupeau höhnte am meisten. Er, der selbst ein so bequemer Ehemann war und die Hahnreischaft bei sich durchaus nicht sehen wollte, konnte nicht Witze genug über Poissons Hörner machen. In seiner Ehe, da zählte es nicht, aber bei den anderen schien es ihm gar zu drollig; er gab sich eine unglaubliche Mühe, solche Dinge aufzuspüren und den Frauen in der Nachbarschaft aufzupassen, wenn sie verbotene Wege wandeln wollten. War das ein Trottel, dieser Poisson! Und der trug den Degen an der Seite, der wollte auf der Straße die Leute zurechtstoßen! Coupeau ging so weit, Gervaise zu verspotten. Das war ja schön! Ihr Liebster, der habe sie hübsch sitzen lassen! Sie habe einmal kein Glück: zum erstenmal hatten ihr die Schmiede nicht stichgehalten, und zum zweitenmal gingen ihr die Hutmacher durch. Das kam davon her, daß sie sich an so leichtsinnige Gewerke angeschlossen hatte. Warum nahm sie denn nicht einmal einen Maurer, einen Mann der Haltbarkeit, der seinen Mörtel fest anzulegen gewöhnt ist? Es war ja klar, daß er diese Dinge im Scherz sagte, aber Gervaise wurde doch grün und gelb jedesmal, weil er sie mit seinen kleinen grauen Augen dabei so durchdringend ansah, als ob er mit solchen Worten wie mit einer Sonde auf sie eindringe. Wenn er einmal auf das Thema der Schweinereien kam, so wußte sie niemals, ob er im Scherz oder Ernst sprach. Ein Mann, der sich von einem Ende des Jahres bis zum andern betrinkt, dem gehört sein Kopf nicht mehr; es gibt Ehemänner, die mit zwanzig Jahren sehr eifersüchtig sind und die der Trunk mit dreißig Jahren über das Kapitel der ehelichen Treue sehr nachsichtig denken läßt.
Man mußte Coupeau in der Goldtropfengasse herumbrüllen hören. Er nannte Poisson den Hahnrei. Das stopfte den Schwätzern die Schnäbel! Er war ja nun nicht mehr der Hahnrei. Er wußte, was er wußte. Wenn es einmal eine Zeitlang so ausgesehen hätte, als ob er nichts hörte und sähe, so war es, weil er solches Geschwätze nicht liebte. Jeder kratzt sich da, wo es ihn juckt. Ihn juckte es gar nicht, er brauchte sich doch nicht zu kratzen, nur um den Leuten Vergnügen zu machen. Nun wohl! Der Sergeant, hörte der etwa? Und doch war es diesmal wahr; man hatte doch die Liebenden zusammen gesehen; hier handelte es sich nicht mehr um ein bloßes Gerücht. Er wurde sogar böse, er begriff nicht, wie ein Mann, ein Beamter der Regierung, bei sich einen solchen Skandal dulden konnte. Der Stadtsergeant mußte wahrscheinlich gern haben, das andere vor ihm schon ausgelutscht hätten, das war die einzige Erklärung. Wenn sich Coupeau des Abends in seinem Loch unter dem Dach allein mit seiner Frau langweilte, ging er hinunter und holte Lantier mit Gewalt nach oben. Er fand, daß seine Häuslichkeit traurig sei, seit der Kamerad darin fehle. Er versöhnte ihn mit Gervaise, wenn er sah, daß sie kühl zueinander taten. Heiliges Donnerwetter! mag sich doch die ganze Welt zum Teufel scheren, es kann einem doch niemand verwehren, sich zu amüsieren, wie man eben kann? Er hohnlachte, in seinen Trunkenboldsaugen flackerten Blitze auf, die auf sehr weitgehende Gedanken zurückschließen ließen; er schien das Bedürfnis zu empfinden, alles mit dem Hutmacher zu teilen, um das Leben zu verschönen. Besonders an solchen Abenden wußte Gervaise gar nicht mehr, ob er im Ernst oder im Scherz sprach. Mitten in diesen Geschichten tat Lantier, als ob alles das ihn nichts angehe. Er zeigte sich stets väterlich und würdig. Schon dreimal hatte er Streitigkeiten zwischen den Poissons und den Coupeaus verhindert. Das gute Verhältnis der beiden Familien gehörte mit zu seinem Wohlbefinden. Seinen teils zärtlichen, teils strengen Blicken war es zu danken, daß die eine für die andere immer noch eine große Freundschaft heuchelte. Er herrschte über die Blonde wie über die Brünette mit der Ruhe eines Paschas und mästete sich an diesem Doppelverhältnis. Am Morgen verdaute er noch an den Coupeaus und hatte doch schon angefangen, von den Poissons zu essen. Das machte ihm nicht die geringsten Schwierigkeiten; einen Laden hatte er verschlungen, jetzt fing er mit dem zweiten an. Nur Männer, die aus solchem Holz geschnitzt sind, haben ein so unverschämtes Glück.
In diesem Jahre, im Monat Juni, wurde Nana eingesegnet. Sie ging in ihr dreizehntes Jahr, war wie eine Spargelstange in die Höhe geschossen und hatte ein freches Wesen; im Jahre zuvor war sie ihrer schlechten Aufführung wegen aus dem Katechismusunterricht fortgejagt worden; und wenn der Pfarrer sie diesmal zuließ, so geschah es nur, weil er fürchtete, sie überhaupt nicht wiederzusehen, und so noch eine Heidin mehr auf die Straße zu schleudern. Nana tanzte schon vor Freude, wenn sie an ihr weißes Kleid dachte. Die Lorilleux' hatten als Paten das weiße Kleid versprochen und sprachen im ganzen Hause von diesem Geschenk; Madame Lerat sollte den Schleier und das Häubchen geben, Virginie das Geld für die Einsegnung, Lantier das Gebetbuch, so daß die Coupeaus der Feierlichkeit entgegensahen, ohne sich allzuviel Sorgen zu machen. Die Poissons, die eine Art Eröffnungsfest geben wollten, wählten, vermutlich auf Lantiers Rat, gerade diese Gelegenheit dazu. Sie luden die Coupeaus und die Boches, deren Kleine auch zum erstenmal zur Beichte ging, ein. Man sollte abends eine Hammelkeule und noch einiges dazu essen.
Gerade als am Abend zuvor Nana vor der Kommode stand und die dort ausgebreiteten Geschenke bewunderte, kam Coupeau in einem ganz abscheulichen Zustand nach Hause. Die Pariser Luft hatte ihn wieder zurückerobert. Er fiel über seine Frau und Tochter mit seinen durch die Trunkenheit erzeugten Reden her; er brachte ekelhafte Worte vor, die für den jetzigen Augenblick doppelt unschicklich waren. Übrigens hatte sich Nana auch schon inmitten dieser schmutzigen Unterhaltungen, die sie fortwährend hörte, ein recht böses Maulwerk angewöhnt. An Tagen, wo ihre Eltern sich zankten, kam es ihr gar nicht darauf an, ihre Mutter mit Ausdrücken wie Kamel und Kuh zu beehren.
»Wo ist mein Essen?« brüllte der Zinkarbeiter. »Ich will meine Suppe, ihr Weiberpack! ... Dieses Volk mit seinen Lappen! Ich setze mich auf den Krempel, wenn ich nicht meine Suppe bekomme!«
»Was macht er für Wirtschaft, wenn er betrunken ist!« murmelte Gervaise ungeduldig.
Sie wandte sich ihm zu.
»Sie ist warmgestellt, laß uns doch zufrieden.«
Nana spielte die Bescheidene, weil sie es an diesem Tage so hübsch fand. Sie fuhr ruhig in der Betrachtung ihrer Geschenke auf der Kommode fort, wobei sie so tat, als ob sie die Augen niederschlage und von den häßlichen Worten ihres Vaters nichts verstehe. Aber der Zinkarbeiter konnte unermüdlich nörgeln, wenn er so betrunken wie an diesem Abend war. Er sprach ihr ganz dicht vor den Ohren weiter.
»Ja wohl! ich werde dir weiße Kleider geben! Was? Damit du dir wieder Papierkugeln in Dein Korsett steckst, wie vorigen Sonntag! ... Ja, ja, warte nur noch ein bißchen! Du denkst wohl, ich sehe nicht, wie du mit dem Hintern drehst und schwänzelst. Das kitzelt dich wohl, solche hübsche Sachen. Das steigt dir zu Kopf ... Willst du dich gleich da wegscheren, du verdammte Range! Nimm deine Pfoten weg, stecke mir den Kram in den Schubkasten, oder ich wische mir die Hände dran ab!«
Nana stand mit gesenktem Köpfchen da und antwortete noch immer nichts. Sie hatte das kleine Tüllhäubchen in die Hand genommen und fragte ihre Mutter, wieviel es wohl kostete. Als Coupeau die Hand ausstreckte, um nach dem Häubchen zu greifen, stieß ihn Gervaise zurück und rief:
»Lasse mir doch nur das Kind! Sie ist artig und tut nichts Böses.«
Da packte der Zinkarbeiter alles aus, was er noch auf dem Herzen hatte.
»Diese Dirnen! Die Mutter und die Tochter, ein schönes Paar. Ist es wohl recht, zum Abendmahl zu gehen und sich dabei nach den Männern umzusehen? Wage doch zu sagen, daß es nicht wahr ist, du kleiner Schmutzfink, du! ... Ich werde dir einen Sack anziehen, dann wollen wir einmal sehen, wie es dich auf der Haut kratzen wird. Ja, mit einem Sack, damit du und dein Pfaffe einen Ekel vor dir bekommen. Brauche ich denn zuzugeben, daß du zum Laster groß gezogen wirst? Beim heiligen Gott! Wollt ihr jetzt auf mich hören, ihr beide?«
Plötzlich wandte sich Nana wütend herum, während Gervaise ihre Arme ausbreiten mußte, um die Sachen zu beschützen, die Coupeau zu zerreißen drohte. Das Kind blickte seinen Vater gerade an; die Bescheidenheit, die der Pfarrer ihr anempfohlen, war vergessen:
»Schwein!« sagte sie mit zusammengepreßten Zähnen.
Sowie der Zinkarbeiter seine Suppe gegessen hatte, schnarchte er. Am nächsten Morgen wachte er in sehr gutmütiger Stimmung auf. Er hatte noch einen kleinen Rest vom Abend zuvor, gerade genug, um liebenswürdig zu sein. Er wohnte der Toilette der Kleinen bei, das weiße Kleid rührte ihn; er fand, daß ein nichts diesem kleinen Ungeziefer das Aussehen eines wahren Fräuleins gebe. Dann meinte er, sei es doch nur natürlich, wenn ein Vater an solchem Tage stolz auf seine Tochter sei. Man mußte sehen, wie Nana sich benahm; mit dem verlegenen Lächeln einer Braut ging sie in ihrem zu kurzen Kleidchen umher. Als sie heruntergegangen waren, bemerkte sie auf der Schwelle der Pförtnerloge Pauline, die ebenso angezogen war; sie blieb stehen und warf einen klaren, prüfenden Blick auf das Kind; dann war sie sehr lieb und gut zu ihr, weil sie fand, daß sie schlechter angezogen war als sie und wie ein Paket aussah. Die beiden Familien gingen zusammen zur Kirche. Nana und Pauline schritten vorauf mit ihren Gebetbüchern in den Händen, sie mußten ihre Schleier festhalten, weil sich der Wind hineinsetzte; sie sprachen nicht und konnten sich vor Vergnügen kaum fassen, wenn sie sahen, wie die Leute aus den Läden traten; sie schnitten fromme Gesichter, damit die Leute, an denen sie vorübergingen, sagen sollten, sie seien nett und artig. Madame Boche und Madame Lorilleux verspäteten sich etwas, weil sie einander ihre Betrachtungen über die Humpelliese mitzuteilen hatten; sie sei ein Gierschlung, dessen Tochter nie eingesegnet worden wäre, wenn die Familie nicht alles gegeben hätte, ja, alles, bis auf ein neues Hemd, aus Achtung für den Altar. Madame Lorilleux beschäftigte sich hauptsächlich mit dem Kleide, das von ihr kam; sie schleuderte Nana wütende Blicke zu und schalt sie »Schmutzfink« jedesmal, wenn das Kind etwa Staub abfegte, weil es den Läden zu nahe gekommen war.
In der Kirche weinte Coupeau die ganze Zeit über. Das war dumm, aber er konnte nicht an sich halten. Es ergriff ihn so, wenn der Pfarrer die Arme ausbreitete und die kleinen Mädchen so engelgleich mit gefalteten Händen vorüberzogen; und dann ging ihm auch die Orgelmusik bis in den Magen, und der Geruch des Weihrauchs kam ihm so vor, als ob ihn jemand an einem schönen Bukett riechen ließe. Mit einem Wort, es schwamm alles vor seinen Augen, sein Herz war gerührt. Da war besonders eine Melodie, die hatte so etwas Sanftes; während die kleinen Mädchen das heilige Abendmahl nahmen, war es ihm, als ob die Musik ihm in den Nacken fließe und mit einem leisen Schauder an seinem Rückgrat herniederriesele. Übrigens machten um ihn herum auch andere empfindsame Leute ihre Taschentücher naß. Wahrlich, das war ein schöner Tag, der schönste Tag seines Lebens. Als er auf dem Heimweg von der Kirche mit Lorilleux einen Schoppen trank, foppte ihn dieser, denn seine Augen waren ganz trocken geblieben; da wurde er böse, er beschuldigte die Schwarzen, in ihren Kirchen Teufelskraut zu verbrennen und damit die Menschen weich zu machen. Übrigens schäme er sich dessen nicht, seine Augen seien übergelaufen, das sei doch nur ein Beweis, daß er keine Pflastersteine in der Brust habe. Darauf bestellte er noch einen neuen Schoppen.
Am Abend war das Gastmahl sehr heiter bei den Poissons. Die beste Freundschaft herrschte ohne die geringste Unterbrechung vom Anfang bis zu Ende der Mahlzeit. Obschon der schlechten Tage viele sind, trifft man doch auch manchmal auf gute Abende, auf Stunden, wo sich Leute lieben, die sich sonst verabscheuen. Lantier, der Gervaise zu seiner Linken und Virginie zur Rechten hatte, zeigte sich zu beiden gleich liebenswürdig und überschüttete sie mit Aufmerksamkeiten, wie ein Hahn, der unter seinen Hennen ein gutes Einverständnis aufrechterhalten will. Poisson, der gegenüber saß, bewahrte seine ruhige, träumerische Miene, die ihm durch die Gewohnheit, an nichts zu denken, eigentümlich geworden war, und die er in seinen langen Dienststunden auf der Straße angenommen hatte. Die Königinnen des Festes waren aber die beiden Kleinen, denen man erlaubt hatte, ihre schönen Kleider anzubehalten. Sie saßen ganz steif und aufrecht da, weil sie fürchteten, ihre weißen Kleider zu beflecken, bei jedem Bissen rief man ihnen zu, ja das Kinn recht hoch zu heben und ja recht sauber zu essen. Das wurde Nana bald langweilig, und sie goß sich schließlich ihren Wein auf die Taille. Das war eine Geschichte, sie wurde nun sogleich ausgezogen, und man wusch die Taille in einem Glase aus. Als der Nachtisch aufgetragen war, besprach man ernsthaft die Zukunft der Kinder. Madame Boche hatte sich schon entschieden; Pauline sollte in ein Stickereigeschäft eintreten, wo Gold- und Silberstickereien angefertigt wurden, damit waren bis zu fünf und sechs Franken täglich zu verdienen. Gervaise wußte noch nicht, was tun; Nana zeigte für nichts besondere Neigung. Sie trieb sich umher; das war nach ihrem Geschmack, aber für alles übrige wollte sie ihre Händchen nicht gern gebrauchen. »Ich«, sagte Madame Lerat, »würde an Eurer Stelle sie Blumenmacherin werden lassen, es ist ein hübsches, reinliches Geschäft.« »Die Blumenmacherinnen«, murmelte Lorilleux, »sind auch lauter solche leichte Fliegen.« »Oho! Und ich, wenn ich bitten darf?« meinte die große Witwe mit blauen Lippen. »Ihr seid ja sehr galant, Ihr müßtet doch wissen, daß ich auch keine Hündin bin, die schön tut, wenn der erste beste pfeift!« Die ganze Gesellschaft tat sehr entrüstet. »Madame Lerat! Aber Madame Lerat! Ich bitte Sie!« Dabei zeigte man mit den Augen auf die beiden Eingesegneten, die die Nasen in ihre Gläser steckten, um das Lachen zu verbeißen. Bis dahin hatten selbst die Männer, um den Anstand zu bewahren, sich nur in gewählten Ausdrücken unterhalten. Madame Lerat ließ die Zurechtweisung nicht gelten. Das, was die da eben gesagt hatte, habe sie in den besten Gesellschaften gehört; übrigens schmeichele sie sich, ihre Sprache zu kennen; ja man sagte ihr oft sehr viel Schönes über die geschickte Art, mit der sie über alles, selbst vor Kindern, zu sprechen verstehe, ohne jemals den Anstand zu verletzen. »Es gibt unter den Blumenmacherinnen sehr anständige Frauen!« rief sie, »das laßt Euch nur gesagt sein! Sie sind ebenso gemacht wie alle anderen Weibsbilder, und ihre Haut reicht nicht überall zu, das ist sicher! Nur sie verstehen es, an sich zu halten und wählen sich ihre Leute aus, wenn sie sich denn doch einmal vergessen müssen: Ja, ja, das kommt von dem Umgang mit den Blumen. Das hat auch mich stets gehalten!«
»Mein Gott!« sagte Gervaise, »ich habe nichts gegen die Blumen einzuwenden! Wenn die Sache Nana gefällt, so bin ich es zufrieden. Man muß Kindern nie gegen ihren Willen einen Lebensberuf aufdrängen. Nun, Nana, stelle dich nicht so dumm an, antworte hübsch! Gefallen dir die Blumen?«
Die Kleine, die über ihren Teller gebeugt dasaß, stippte mit ihren nassen Fingern die Kuchenkrümel auf und leckte die Finger ab. Sie beeilte sich nicht mit ihrer Antwort. Sie hatte wieder ihr freches Lachen.
»Oh! ja, Mama, das gefällt mir ganz gut!« erklärte sie schließlich.
Da wurde die Sache auch sogleich in Ordnung gebracht. Coupeau hatte nichts dagegen, daß Madame Lerat Nana schon am nächsten Morgen in ihr Atelier in der Cairostraße mitnehme. Die Gesellschaft sprach jetzt sehr würdevoll über die Pflichten, die das Leben jedermann auferlege. Boche meinte, daß Nana und Pauline jetzt, wo sie zum erstenmal gebeichtet hätten, Frauen geworden seien. Poisson fügte hinzu, daß es nichtsdestoweniger nötig sei, daß sie kochen lernten, Strümpfe stopften und sich übten, einen Haushalt zu führen. Man sprach selbst von ihrer Heirat und den Kindern, die sie dermaleinst bekommen würden. Die Dirnen hörten es mit an und kicherten heimlich, rieben sich eine an der andern vor Vergnügen, daß sie nun auch schon Frauen sein sollten; das machte ihnen das Herz schwellen, sie erröteten und saßen in ihren weißen Kleidern ganz verlegen da. Am meisten Vergnügen machte es ihnen, als sie Lantier fragte, ob sie nicht etwa schon kleine Männer hätten. Man erpreßte Nana mit Gewalt das Geständnis, daß sie Victor Fauconnier, den Sohn der Arbeitgeberin ihrer Mutter, gern habe.
»Nun ja!« sagte Madame Lorilleux zu den Boches, als man fortging, »Nana ist unsere Pate, aber wenn man sie Blumenmacherin werden läßt, wollen wir nichts mehr von ihr wissen. Das wird wieder so ein Fressen für die Boulevards ... Das wird auch keine sechs Monate mehr dauern!«
Als die Coupeaus sich an diesem Abend niederlegten, kamen sie darin überein, daß alles vortrefflich verlaufen sei und daß die Poissons keine schlechten Menschen seien. Gervaise fand selbst, daß der Laden recht hübsch sauber hergerichtet sei. Sie war darauf vorbereitet gewesen, viel auszuhalten, wenn sie so einen Abend in ihrer alten Behausung zubringen werde, wo nun jetzt andere sich an ihrer Stelle breit machten; so war sie über sich selber erstaunt, daß sie auch nicht einen Augenblick in Wut geraten war. Nana fragte beim Ausziehen ihre Mutter, ob das Kleid der Dame aus dem zweiten Stock, die im verflossenen Monat geheiratet hatte, auch so wie das ihre, von Musselin gewesen sei.
Das war der letzte schöne Tag in diesem Familienleben. Es verflossen nun zwei Jahre, in denen sie immer mehr herunterkamen. Der Winter setzte ihnen besonders hart zu. Wenn sie auch, solange wie das Wetter schön war, noch Brot zu essen hatten, so begann doch die knappe Zeit mit dem ersten Frost des Winters. Da gab es denn diese Tänze vor dem leeren Speiseschrank, diese Mittagbrote ohne einen Bissen in der Kälte ihrer kleinen Kammer. Dieser schlimme Bursche, der Dezember, kam zu ihnen durch Tür und Fenster herein und brachte alle Leiden mit sich; in den Werkstätten gab es keine Arbeit, im Müßiggang und Frost erschlafften die Glieder, es war das schwarze Elend der feuchten, kalten Jahreszeit. Den ersten Winter konnten sie noch hin und wieder Feuer anmachen und sich um den Ofen herum kauern, weil sie es vorzogen, im Warmen zu sitzen und dafür nicht zu essen; den zweiten Winter wurde der Ofen nicht einmal angeheizt, er machte das Zimmer noch kälter mit seinem traurigen Aussehen. Was ihnen den Hals brach und sie vollständig ausquetschte, war das Mietebezahlen. Die Januarmiete war eine harte Sache, wenn nicht eine Brotkrume im Hause war und dann der Vater Boche kam und die Quittung vorlegte. Dann blies es noch kälter, es war wie ein Nordoststurm. Herr Marescot kam am folgenden Sonnabend; er hatte einen warmen Paletot an, und seine große Tatzen steckten in gestrickten, wollenen Handschuhen; immer führte er gleich das Wort Exmission im Munde, während draußen der Schnee fiel, als ob er ihnen mit seiner weißen Decke ein Bett auf dem Pflaster bereiten wolle. Um diese Miete zu zahlen, hätten sie gern von ihrem Fleisch verkauft; es war die Mietsrate, die den Speiseschrank und den Ofen leer fegte. Im ganzen Hause hörte man dann nichts als Klagen. In allen Stockwerken hörte man weinen, und die Musik des Unglücks ertönte in den langen Gängen und auf den hohen Treppen. Wenn in jeder Wohnung ein Toter gelegen hätte, würde die Musik auch nicht abscheulicher haben klingen können. Es war wie der Tag des letzten Gerichts, das Ende aller Dinge, ein unmögliches Leben, eine entsetzliche Zuchtrute für diese armen Leute. Die Frau aus dem dritten Stock stellte sich für acht Tage an die Ecke der Wackermannstraße. Ein Arbeiter, ein Maurer, hatte seinen Meister bestohlen.
Ohne Zweifel hatten die Coupeaus nur sich selbst Vorwürfe zu machen. Wenn das Leben auch noch so schwer ist, man kann sich mit Ordnung und Sparsamkeit doch immer über Wasser halten; den Beweis dafür lieferten die Lorilleux', die ihre Mietsraten regelmäßig in kleine Stücke schmutziges Papier gewickelt hinlegten; aber sie führten auch ein Leben wie magere Spinnen, so daß sie einem selbst die Arbeit verekeln konnten. Nana verdiente mit dem Blumenmachen noch gar nichts, ja sie gebrauchte sogar ziemlich viel für ihren Unterhalt. Gervaise wurde jetzt bei Madame Fauconnier schon sehr ungern gesehen. Sie verlor ihre Geschicklichkeit von Tag zu Tag mehr und stoppelte ihre Arbeit so erbärmlich zusammen, daß die Fouconnier sie schon im Lohn bis auf vierzig Sous, den Lohn der Schnodels, herabgesetzt hatte. Bei alledem war sie sehr stolz, sehr empfindlich, aller Welt warf sie ihre Stellung als frühere Ladenbesitzerin an den Kopf. Sie blieb tagelang fort; wenn sie plötzlich etwas krumm nahm, verließ sie ihre Arbeit; so hatte sie es sehr übelgenommen, daß Madame Fauconnier Frau Putois bei sich angestellt hatte, so daß sie nun Schulter an Schulter mit ihrer früheren Arbeiterin plätten mußte; sie war daraufhin vierzehn Tage nicht zur Arbeit gekommen. Nach solchen Vorkommnissen nahm man sie aus Mitleid wieder auf; das machte sie noch verbitterter. Natürlich war jetzt am Ende der Woche der Lohn nicht allzu schwer; wie sie selbst höhnisch sagte, werde es wohl noch an einem Sonnabend dahin kommen, daß sie noch etwas herauszuzahlen habe. Was Coupeau anlangte, so arbeitete er vielleicht, aber soviel war sicher, daß er dann mit seiner Arbeit der Regierung ein Geschenk machte, denn Gervaise hatte seit seiner Rückkehr von Etampes nicht mehr die Farbe seines Geldes gesehen. An den Zahltagen sah sie ihm gar nicht mehr nach den Händen, wenn er nach Hause kam, er kam dann doch immer mit Armgeschlenker und leeren Taschen an; manchmal fehlte ihm sogar das Schnupftuch; mein Gott! ja, er hatte den Rotzlappen verloren, oder irgendein Spitzbube hatte ihn ihm genommen. Die ersten Male legte er sich Geschichten zurecht, er erfand allerlei Unglücksfälle: zehn Franken hatte er für eine Spendenliste gegeben, zwanzig Franken waren durch ein Loch in seiner Tasche, das er zeigte, verlorengegangen, fünfzig Franken hatte er für die Tilgung irgendeiner eingebildeten Schuld weggegeben. Dann aber hatte er sich auch nicht einmal mehr geschämt. Das Geld verflüchtete sich, so war es! Er hatte es nicht mehr in der Tasche, er hatte es im Bauche, das war nur eine andere Form, in der er es seiner Frau mit nach Hause brachte. Hin und wieder ging die Wäscherin auf Anraten von Madame Boche und paßte ihren Mann ab, wenn er aus der Werkstatt fortging. Aber damit erreichte sie auch nichts, die Kameraden warnten Coupeau, und das Geld spazierte in die Schuhe oder selbst in ein noch weniger sauberes Portemonnaie. Madame Boche war in solchen Dingen sehr gewitzt, weil Boche sehr oft Zehnfrankstücke verschwinden ließ, die er dann irgendwo verbarg, um damit liebenswürdigen Damen seiner Bekanntschaft Kaninchenbratenessen zu geben; sie untersuchte die allerkleinsten Ecken in seinen Kleidertaschen und fand dann gewöhnlich das fehlende Geldstück in seiner Mütze zwischen Schirm und Futter eingenäht. Der Zinkarbeiter, der machte es anders. Er versteckte sein Geld sicherer. Der versteckte es sich unter das Fleisch! Da konnte Gervaise doch keine Schere nehmen und ihm die Haut vom Bauche aufschneiden!
Ja, das war der Fehler in dieser Ehe, woran sie von Jahr zu Jahr mehr krankte. Aber diese Dinge sagt man sich nie, besonders wenn man erst im Elend sitzt. Sie klagten ihr Mißgeschick an, sie behaupteten, daß der liebe Gott ihnen zürne. Ihr Heim war jetzt eine wahre Hölle. Den ganzen Tag über stritten sie miteinander. Dabei waren sie noch nicht bei Schlägen angekommen, kaum daß hie oder da einmal ein Hieb aus Versehen bei einem heftigen Streit gefallen war. Das Traurigste war, daß sie für die Freundschaft auch die Türen des Bauers geöffnet hatten, da waren denn die guten Gefühle wie die Spatzen davongeflogen. Die Wärme des Gefühls, das Vater, Mutter und Kinder auf einem Häufchen zusammenhält und belebt, hatte sich bei ihnen verflüchtigt, und so klapperte jedes allein in seiner Ecke. Coupeau, Gervaise und Nana gerieten sich jeden Augenblick in die Haare; das kleinste Wort entzündete Zänkereien, wobei ihre Augen vor Haß funkelten; es schien so, als ob irgend etwas das Familienheiligtum, zertrümmert habe, diese Art von Talisman, der bei glücklichen Leuten die Herzen in den Familien so warm füreinander schlagen läßt. Oh! soviel war sicher, jetzt beunruhigte sich Gervaise nicht mehr wie früher, wenn sie Coupeau an den Rändern der Dächer hängen sah, die zwölf oder fünfzehn Meter über dem Pflaster waren. Sie hätte ihn ja nicht hinabgestoßen, aber wenn er von selber gefallen wäre, meiner Treu! Das hätte die Oberfläche der Erde von einem schönen Taugenichts befreit. An Tagen, wenn er wie eine Fackel flammte, da schrie sie, warum man ihn ihr nicht lieber auf einer Tragbahre bringe? Wozu sei denn ein solcher Säufer noch gut? Nur um sie weinen zu machen, um ihr alles wegzufressen und sie ins Elend zu stoßen. Warum warf man denn Männer, die so zu gar nichts gut waren, nicht so schnell wie möglich in die Grube? man würde ja eine Befreiungspolka auf solchem Grabe tanzen! Wenn die Mutter sagte: »Töte!« so antwortete die Tochter: »Schlage ihn nieder!« Nana las die Unglücksfälle in den Zeitungen mit entarteten Empfindungen, ihr Vater hatte ein solches Glück, daß ihn neulich ein Omnibus umgeworfen hatte, ohne daß er auch nur davon nüchtern geworden war. Wie lange würde es denn noch dauern, bis dieses Biest krepierte?
Mitten in diesem Dasein, in dem das eigene Elend sie schon zur Verzweiflung trieb, litt Gervaise auch noch unter dem Hunger, den sie um sich herum heulen hörte. Diese Ecke des Hauses war der allerverlausteste Winkel, wo sich drei oder vier Familien das Wort gegeben zu haben schienen, nicht alle Tage Brot im Hause zu haben. Wenn die Türen auch noch so oft aufgingen, Küchengerüche ließen sie sehr selten heraus. Längs dieses Flures herrschte das Schweigen des Elends, und die Mauern klangen hohl wie leere Bäuche. Für Augenblicke hörte man wohl Geschrei, Frauentränen, das Klagen hungernder Kinder; es waren Familien, die ihre Magen täuschen wollten; deshalb fingen die Leute miteinander zu zanken an. Man befand sich mitten in einer allgemeinen Maulsperre, mit der sich alle diese offenen Münder einem entgegenstreckten; die Brust zog sich zusammen, wenn man nur diese Luft einatmete, in der selbst Fliegen aus Mangel an Nahrung nicht hätten leben können. Das größte Mitleid erweckte bei Gervaise noch immer der Vater Bru in seinem kleinen Loch unter der Bodentreppe. Er rollte sich da zusammen wie ein Murmeltier, um nicht gar so zu frieren; tagelang blieb er auf seinem Haufen Stroh liegen, ohne sich zu rühren. Selbst der Hunger trieb ihn da nicht mehr fort; denn was nützte es ihm, wenn er sich draußen Appetit machte, es hatte ihn ja doch niemand zum Essen geladen. Wenn er einmal vier oder fünf Tage gar nicht mehr zum Vorschein kam, so stießen die Nachbarn wohl die Tür auf und sahen nach, ob es mit ihm noch nicht zu Ende sei. Nein! er lebte trotz alledem, nicht gerade sehr, aber ein bißchen, so nur mit einem Auge, bis der Tod kam, der ihn vergessen haben mußte! Sowie Gervaise selbst Brot hatte, warf sie ihm die Rinden hin. Wenn sie auch schlecht geworden war und Coupeaus wegen die Männer verachtete, so hatte sie doch immer ein weiches Herz für die Tiere; und der Vater Bru, dieser arme Alte, den man verrecken ließ, weil er kein Werkzeug mehr halten konnte, war für sie wie ein Hund, ein ausgemustertes Tier, von dem die Schinder selbst nicht einmal die Haut und das Fett; kaufen wollten. Es lag ihr wie eine Last auf der Seele, daß sie ihn beständig auf der andern Seite des Flures wußte, verlassen von Gott und den Menschen, wie er sich selbst aufzehrte und wieder zum Kinde wurde an Gestalt, zusammengeschrumpft und vertrocknet wie eine Orange, die auf einem Kamin gedörrt wird.
Beinahe ebenso litt Gervaise unter der Nachbarschaft des Leichenbesorgers Bazouge. Eine sehr dünne Bretterwand trennte ihr Zimmer von dem seinen; man konnte sich nicht den Finger in den Mund stecken, ohne daß man es nebenan hörte. Sowie er abends nach Hause kam, verfolgte sie unwillkürlich seine häuslichen Verrichtungen; der schwarze lederne Hut tönte dumpf auf der Kommode, als ob man eine Schaufel voll Erde hinwirft; wenn er den schwarzen Mantel anhängte, so machte es ein Geräusch, als ob ein Nachtvogel mit dem Flügel eine Mauer streift, seinen Frack warf er in die Mitte des Zimmers und entledigte sich, so seiner Trauerabzeichen. Sie hörte ihn umhergehen und beunruhigte sich bei seiner geringsten Bewegung, sprang in die Höhe, wenn er an ein Möbel stieß oder mit seinem Geschirr umherrückte. Dieser verdammte Säufer beschäftigte sie stets; sie empfand eine dumpfe Furcht vor ihm, in die sich nur unbezwingliche Neugierde mischte. Er war immer lustig, alle Tage hatte er die Hucke voll, er hustete, spie und sang die »Mutter Godichon«; immer sprach er mit sich selbst in schmutzigen Ausdrücken, und ehe er sein Bett fand, schlug er sich mit den vier Wänden seines Zimmers. Sie hörte ihm ganz blaß zu und fragte sich, was er wohl treibe; sie gab sich fürchterlichen Einbildungen hin; hatte sie es sich doch nun einmal in den Kopf gesetzt, daß er einen Leichnam mitgebracht haben müsse, den er unter das Bett stecke. Mein Gott! in den Zeitungen standen oft genug solche Dinge; ein Bediensteter der Beerdigungsgesellschaft sollte die Särge der kleinen Kinder bei sich aufgestellt haben, um sich die Mühe zu ersparen, so oft nach dem Kirchhof zu gehen. Soviel stand fest, wenn Bazouge ankam, so roch es durch das Schlüsselloch nach Leichen. Man konnte glauben, daß man dicht beim Friedhof mitten im Reich der Maulwürfe wohne. Er hatte etwas Schreckliches an sich, dieser Kerl, der immer so allein für sich lachte, als ob sein Beruf ihn so aufheitere. Selbst wenn er seinen Hexentanz beendet hatte und auf dem Rücken lag, schnarchte er so ungewöhnlich, daß der Wäscherin dabei der Atem ausging. Stundenlang horchte sie, weil sie glaubte, daß fortwährend Leichenzüge bei dem Nachbar vorüberrollten.
Das Schlimmste bei diesem Schrecken war, daß sich Gervaise davon so angezogen fühlte, daß sie ihr Ohr an die Wand legte, um genauer zu hören, was nebenan vorging. Bazouge machte auf sie den Eindruck wie schöne Männer auf anständige Frauen: sie möchten sie gern anfassen, aber sie getrauen sich nicht; die gute Erziehung hält sie zurück. Nun denn! wenn die Furcht sie nicht zurückgehalten hätte, so hätte Gervaise gern einmal den Tod befühlt, um zu sehen, wie er eigentlich beschaffen sei. Sie war jetzt manchmal so seltsam; mit verhaltenem Atem wartete sie aufmerksam auf ein Wort, auf eine Bewegung von Bazouge, die ihr das Geheimnis lösen sollte, so daß Coupeau sie einmal höhnisch fragte, ob sie etwa eine Neigung für den Leichenbesorger nebenan habe. Sie ekelte sich vor ihm; aber unwillkürlich verfiel sie, sowie der Alte mit seinem Kirchhofsgeruch nach Hause kam, wieder in ihre Betrachtungen, und ihre Mienen nahmen den erregten und furchtsamen Ausdruck einer jungen Gattin an, die im Begriff ist, dem Ehevertrag die ersten Messerstöße beizubringen. Hatte er ihr nicht schon zweimal angeboten, sie einzupacken und irgendwohin mitzunehmen zu einem Schlaf, dessen Seligkeit so groß ist, daß man alles Elend darüber vergesse? Wer weiß, ob es nicht wirklich recht gut war? Nach und nach wurde die Versuchung, es einmal zu kosten, immer größer. Oh! einen Monat lang schlafen, besonders im Winter, den Mietsmonat, wenn sie unter der Last des Lebens zusammenbrach! Aber es war ja unmöglich, man mußte ja immer weiter schlafen, wenn man einmal eine Stunde zu schlafen angefangen hatte; dieser Gedanke ließ sie erstarren, und ihre Liebe zum Tode verging vor der ewigen und ernsten Freundschaft, welche die Erde verlangte.
Indes schlug sie eines Abends im Januar mit beiden Fäusten an die dünne Wand. Sie hatte eine entsetzliche Woche durchgemacht, jedermann hatte sie umhergestoßen; ohne einen Sou mehr zu besitzen, war sie mit ihrem Mut zu Ende. Es war ihr diesen Abend nicht gut, sie klapperte vor Fieber, und vor ihren Augen tanzten Flammen. Da hatte sie, statt sich aus dem Fenster zu stürzen, wie sie zuerst beabsichtigte, angefangen zu klopfen und zu rufen:
»Vater Bazouge! Vater Bazouge!«
Der Leichenbesorger zog gerade seine Schuhe aus und sang dabei: »Es waren drei schöne Mädchen«. Er mußte den Tag über viel zu tun gehabt haben, denn er schien noch unruhiger als gewöhnlich zu sein.
»Vater Bazouge! Vater Bazouge!« schrie Gervaise mit erhobener Stimme.
Hörte er sie denn nicht? Sie wollte gleich mitgehen, er konnte sie beim Nacken fassen und dahin bringen, wo er die anderen Frauen hinbrachte, die Armen und die Reichen, die er tröstete. Sein Lied tat ihr wehe, denn es lag darin die Nichtachtung des Mannes, der zu viele Liebchen hat.
»Was gibt's denn? Was gibt's denn?« stotterte Bazouge, »wem ist denn unwohl? Ich komme schon, Mütterchen!«
Aber bei dieser rauhen Stimme erwachte Gervaise wie aus einem Traum. Was hatte sie denn getan? Sie hatte an die Wand geschlagen, sicher, es war für sie wie ein Stockschlag über die Schenkel; der Rock klemmte ihr ordentlich die Beine zusammen, sie wich zurück, weil sie schon die großen Hände des Leichenbesorgers durch die Wand kommen zu sehen meinte, um sie beim Schopfe zu fassen. Nein, nein, sie wollte nicht, sie war noch nicht so weit. Wenn sie geklopft hatte, so mußte es mit dem Ellenbogen gewesen sein beim Umdrehen, ohne daß sie sich etwas dabei dachte. Es erfaßte sie ein Schauder, der ihr von den Knien bis zu den Schultern lief, wenn sie daran dachte, von den Armen des Alten umfaßt zu werden, wenn sie ganz steif daliege und ihr Gesicht so weiß wie eine Porzellanschüssel sei.
»Nun! ist denn da niemand mehr?« fing Bazouge nach kurzem Schweigen wieder an. »Gegen Damen ist man immer zuvorkommend.«
»Nichts, es ist nichts!« sagte endlich die Wäscherin mit erstickter Stimme. »Ich brauche nichts! Danke!«
Während der Leichenbesorger einschlief und dabei immer noch brummte, blieb sie ängstlich wach und horchte; sie wagte sich nicht zu rühren, weil sie fürchtete, daß er sich einbilden könne, sie habe noch einmal geklopft. Sie schwor sich zu, von jetzt an auf sich zu achten. Wenn sie schon im Todesröcheln liege, werde sie doch nie wieder den Nachbar um Hilfe anflehen. Sie sagte es, um sich selbst Mut zu machen, denn zu gewissen Stunden bewahrte sie trotz ihrer Angst noch immer diese fürchterliche Neigung.
In ihrer elenden Ecke mitten unter ihren Sorgen und den Sorgen anderer, fand Gervaise doch ein schönes Vorbild des Mutes bei den Bijards. Die kleine Lalie, dieses Kind von acht Jahren, führte den Haushalt mit der Sauberkeit einer erwachsenen Person; es war eine schwere Arbeit, denn sie hatte für zwei kleine Kinder zu sorgen, ihren Bruder Julius und ihre Schwester Henriette, das waren Göhren von drei und fünf Jahren, die der fortwährenden Aufsicht bedurften, selbst wenn sie fegte oder das Geschirr wusch. Seit der Vater Bijard seine Frau mit dem Fußtritt in den Bauch getötet hatte, war Lalie für die ganze kleine Familie die neue Mutter geworden. Ohne ein Wort zu sagen, hatte sie den Platz der Toten eingenommen, und zwar so gründlich, daß dieses stumpfe Tier von Vater, um die Ähnlichkeit vollkommen zu machen, jetzt die Tochter schlug, wie er früher die Mutter geschlagen hatte. Wenn er betrunken nach Hause kam, mußte er Frauen haben, die er zu Boden schlagen konnte. Er merkte es gar nicht einmal, daß Lalie noch so sehr klein war, er würde auf eine alte Haut ganz ebenso eingehauen haben. Mit einem Schlage bedeckte er ihr ganzes Gesicht, dessen Fleisch so zart war, daß die fünf Finger noch zwei Tage lang darauf zu sehen waren. Es waren unwürdige Züchtigungen, Schläge für ein »Ja« und für ein »Nein« wie ein wütender Wolf über eine arme, kleine, furchtsame Katze herfällt, die so mager ist, daß man darüber weinen könnte; so mißhandelte dieser Unhold seine Tochter, die mit ihren schönen Augen voller Ergebung stillhielt, ohne zu klagen. Nein, nie widersetzte sich Lalie. Sie duckte sich wohl ein wenig, um ihr Gesicht zu schützen; aber sie verbiß das Schreien, um nicht das Haus in Aufruhr zu bringen. Wenn es dann ihr Vater müde war, sie mit Fußtritten in alle vier Ecken des Zimmers umherzustoßen, so wartete sie, bis sie wieder so viel Kraft fand, sich aufzuraffen; dann ging sie an ihre Arbeit, wusch die Kinder, bereitete das Essen und ließ auch nicht ein Stäubchen auf den Möbeln; das gehörte mit zu ihren täglichen Pflichten, sich schlagen zu lassen.
Gervaise hatte zu dieser kleinen Nachbarin eine innige Freundschaft gefaßt. Sie behandelte sie wie eine Gleiche, wie eine Frau, die das Leben kennt. Nun muß man sagen, daß Lalie eine bleiche, ernste Miene hatte wie eine alte Jungfer. Man hätte sie für dreißig Jahre alt gehalten, wenn man sie sprechen hörte. Sie verstand ausgezeichnet einzukaufen, auszubessern und ihr Heim in Ordnung zu halten; von den Kindern sprach sie, als ob sie wenigstens schon zwei oder drei selbst gehabt habe. Zuerst lachten wohl die Leute, wenn sie ein achtjähriges Kind so reden hörten, aber dann gingen sie weg, weil es ihnen die Kehlen zuschnürte und sie nicht in ihrer Gegenwart weinen wollten. Gervaise zog sie nach Möglichkeit an sich heran, sie gab ihr alles, was sie nur konnte, Essen und alte Kleider. Als sie ihr eines Tages eine alte Taille von Nana anpaßte, war sie ganz außer sich, als sie das Rückgrat des Kindes ganz blau angelaufen sah; der Ellenbogen war aufgerissen und blutig und das ganze unschuldige Fleisch ihres kleinen Körperchens gepeinigt und hing nur so an den Knochen. Nun, da konnte der Vater Bazouge nur immer den Kasten bereithalten, lange konnte es auf die Art nicht mehr dauern. Aber die Kleine bat die Wäscherin, doch ja nichts zu sagen, sie wollte nicht, daß ihrem Vater ihretwegen Ungelegenheiten gemacht würden. Sie verteidigte ihn noch und versicherte, daß er es nicht böse gemeint, nur daß er getrunken habe. Dann sei er unsinnig, verrückt und wisse nicht, was er tue. Oh! Sie verzeihe es ihm, denn den Verrückten müsse man alles verzeihen!
Von da an paßte Gervaise auf und suchte so etwas zu hindern, sowie sie den Vater Bijard die Treppen heraufkommen hörte. Meistenteils bekam sie dann auch ein paar Rippenstöße ab. Wenn sie am Tage einmal eintrat, um nachzusehen, fand sie sehr oft Lalie am Fußgestell des eisernen Bettes festgebunden. Das war so eine fixe Idee des Schlossers, daß er, bevor er fortging, dem Kinde die Beine und den Bauch mit einem Stricke festband, ohne daß man herausbekam, weshalb er es tat. Es war nicht zu verwundern, daß so ein Gedanke in seinem durch den Trunk zerstörten Gehirn sich gebildet hatte; wahrscheinlich wollte er die Kleine auch seine Macht noch fühlen lassen, wenn er nicht mehr da war. Lalie blieb da oft tagelang steif wie ein Pfahl mit blutunterlaufenen Beinen, selbst eine Nacht hatte sie einmal so ausgehalten, als Bijard vergessen hatte, nach Hause zu kommen. Wenn Gervaise entrüstet davon sprach, sie loszubinden, so bat sie, daß man den Strick doch ja nicht in Unordnung bringen solle, weil ihr Vater wütend werde, wenn er nicht dieselben Knoten wiederfinde, die er gemacht habe. Sie sei wirklich gar nicht so schlecht daran, sie ruhe sich dabei aus. Das sagte sie lächelnd, und dabei waren ihre kleinen Engelsbeinchen geschwollen und abgestorben. Ihr einziger Kummer war, daß so die Arbeit nicht recht vorwärts kam, wenn sie an das Bett gefesselt war und vor sich all die Unordnung mit ansehen mußte. Dabei überwachte sie trotzdem die Kinder, brachte sie zum Gehorsam, rief Henriette und Julius zu sich heran, um ihnen die Nasen zu schnauben; da ihre Hände frei waren und sie doch nicht ganz ihre Zeit verlieren wollte, so strickte sie. Am meisten litt sie, wenn Bijard sie losband, wohl eine Viertelstunde schleppte sie sich auf der Erde hin, weil sie sich nicht aufrecht zu halten vermochte, da das Blut nicht mehr umlief. Der Schlosser hatte sich noch ein anderes kleines Spiel ausgedacht. Er legte Sousstücke in den Ofen, bis sie rotglühend waren. Dann brachte er sie auf die Ecke des Kamins. Er rief Lalie und sagte ihr, daß sie zwei Pfund Brot holen solle. Die Kleine nahm ohne Mißtrauen das Geld, stieß einen Schrei aus und warf es zur Erde, wobei sie ihre verbrannte kleine Hand schüttelte. Da wurde er wütend. Wer hatte ihm denn solches Schindluder ins Haus gebracht? Sie verlor jetzt sogar Geld! Er drohte ihr die Röcke lose zu machen, wenn sie nicht gleich das Geld aufhebe. Als die Kleine zögerte, bekam sie einen solchen Schlag als erste Aufmunterung, daß sie sechsunddreißig Lichter flammen sah. Stumm und mit zwei großen Tränen an den Wimpern raffte sie die Sousstücke auf und ging davon, wobei sie sie fortwährend in der hohlen Hand hin und her warf, um sie abzukühlen.
Niemals kann man es ausdenken, was für Grausamkeiten in so einem Säufergehirn ausgeheckt werden können. An einem Nachmittag, als Lalie alles in Ordnung gebracht hatte, spielte sie mit ihren Kindern; das Fenster war weit offen, es zog, und der Wind, der sich im Flur verfangen hatte, stieß mehrmals leicht an die Tür.
»Das ist Herr Lustig!« sagte die Kleine. »Treten Sie doch näher, Herr Lustig. Nehmen Sie doch gefälligst Platz.«
Sie machte nach der Tür hin mehrere Verbeugungen, sie grüßte den Wind. Henriette und Julius, die hinter ihr waren, grüßten mit und waren so entzückt von diesem Spiel, daß sie sich vor Lachen ausschütten wollten, als ob sie gekitzelt würden. Lalie war ganz rot vor Vergnügen darüber, daß sie sich über sie so gut amüsierten, was höchstens mal am sechsunddreißigsten des Monats vorkam.
»Guten Tag, Herr Lustig. Wie befinden Sie sich denn, Herr Lustig?«
Da stieß eine rohe Hand die Tür auf, und Vater Bijard trat ein. Nun veränderte sich die Szene, Henriette und Julius fielen auf den Hintern gegen die Mauer, während Lalie mitten in einer Verbeugung wie versteinert stehen blieb. Der Schlosser hielt in seiner Hand eine ganz neue, lange Fuhrmannspeitsche mit langem Stiel, die lederne Schnur endete in einer ganz feinen Knappe. Er setzte die Peitsche in die Ecke neben dem Bett; heute gab er der Kleinen nicht den gewöhnlichen Fußtritt, den sie schon dadurch parierte, daß sie ihre Hinterseite darbot. Hohnlachend zeigte er all seine schwarzen Zähne, er war sehr lustig und sehr betrunken, sein versoffenes Kupfergesicht leuchtete ordentlich vor Vergnügen über den neuen Scherz, den er erdacht hatte.
»Nun?« sagte er, »du bist ja sehr lustig hier, du Schmutzliese. Ich habe dich schon unten tanzen hören ... Nun komm nur her! Noch näher und sieh mich gerade an; ich habe nicht nötig, nach deiner Fratze zu suchen. Was tue ich dir denn, daß du so zitterst wie Espenlaub? ... Ziehe mir meine Schuhe aus.«
Lalie war entsetzt, daß sie nicht ihre gewöhnliche Tracht Schläge bekam, sie war wieder ganz blaß geworden und zog ihm seine Schuhe aus. Er hatte sich auf den Rand des Bettes gesetzt, legte sich mit allen Kleidern nieder, blieb mit offenen Augen liegen und folgte den Bewegungen der Kleinen im Zimmer. Sie drehte sich unter seinen Blicken verdutzt herum, es hatte sich ihrer eine solche Furcht bemächtigt, daß ihre Glieder wie erstarrt waren und sie schließlich eine Tasse zerbrach. Nun nahm er, ohne sich aufzurichten, die Peitsche und zeigte sie ihr.
»Du, sieh mal her, du Kalb, sieh dir das einmal an, das ist ein Geschenk für dich. Ja, ja, da habe ich schon wieder fünfzig Sous für dich ausgegeben ... Mit diesem Spielzeug erspare ich mir das Laufen, wenn du dich auch jetzt in die Ecken verkriechst. Willst du es mal versuchen? ... Oh! Du brichst Tassen entzwei! ... Nun vorwärts! Holla! Nun tanze doch! Mache doch deine Verbeugungen an Herrn Lustig!«
Er richtete sich nicht einmal auf; auf dem Rücken ausgestreckt, mit dem Kopf in die Kissen gedrückt, ließ er die große Peitsche durch das Zimmer knallen und machte dabei einen Lärm wie ein Postillon, der seine Pferde antreibt. Dann ließ er den Arm sinken, umfaßte Lalie in der Mitte des Körpers, rollte sie ein und ließ sie wieder los wie einen Kreisel; sie fiel und wollte sich auf allen Vieren flüchten, aber er umschlang sie noch einmal und setzte sie wieder auf die Füße.
»Hopp! Hopp!« heulte er, »das ist der Viehtreibertanz! ... Nicht wahr? ... Das ist hübsch, an so einem Wintermorgen; ich liege ruhig im Bett, ich hole mir keinen Schnupfen, ich treffe meine Kälberchen von weitem, ohne mir die Beine auszurecken. In die Ecke willst du? Klapp! Da hab' ich dich! Jetzt in die andere Ecke, klapp! Da hab' ich dich auch! Ah! Wenn du dich auch unter das Bett verkröchest, ich würde dich schon da hervorpeitschen! Hopp! Hopp! La la! Hopplala!«
Es zeigte sich jetzt weißer Schaum vor seinem Munde, und seine gelben Augen traten aus ihren Höhlen. Lalie, die schon ganz außer Atem war, sprang heulend in allen Ecken des Zimmers umher, stürzte zu Boden, preßte sich an die Wände; aber die feine Knappe der großen Peitsche erreichte sie überall und knallte vor ihren Ohren wie ein abgeschossenes Geschütz und schnitt ihr lange, blutige Striemen in das Fleisch. Es war ein wahrer Hexentanz, als ob man ein wildes Tier abrichten wolle. Man mußte sehen, wie diese arme kleine Katze sprang und dabei vor Schmerz schrie; kaum atmete sie noch, da sie wie ein Gummiball auf- und niederspringen mußte; sie ließ sich schlagen, da sie wie blind geworden war und sie sich nicht abmühen mochte, eine schützende Stelle zu suchen. Ihre Bestie von Vater triumphierte, er schimpfte sie niedrige Dirne und fragte sie, ob sie nun genug davon habe, ob sie jetzt eingesehen habe, daß sie alle Hoffnung aufgeben müsse, ihm zu entwischen.
Jetzt trat Gervaise plötzlich ein, das Geheul der Kleinen hatte sie herbeigeholt. Vor dem Bilde, das sich da vor ihr entrollte, wurde sie von einer wütenden Entrüstung ergriffen.
»Ah! Dieser infame Kerl!« schrie sie. »Wollt Ihr sie wohl in Frieden lassen? Ich werde Euch der Polizei anzeigen, ja, das werde ich tun!«
Bijard brummte wie ein wildes Tier, das man stört; er stammelte:
»Was wollt Ihr denn, Ihr Humpelliese? Kümmert Euch doch um Eure Geschäfte! Ich werde wohl noch Handschuhe anziehen müssen, wenn ich sie züchtige? ... Das dient nur dazu, um sie munter zu machen; Ihr seht ja, ich will ihr nur zeigen, wie weit mein Arm reicht!«
Nun holte er noch einmal aus und traf Lalie ins Gesicht. Die Oberlippe wurde ihr gespalten, so daß das Blut floß. Gervaise hatte einen Stuhl ergriffen und wollte sich damit auf den Schlosser stürzen. Aber die Kleine streckte bittend ihre kleinen Arme zu ihr empor und versicherte, daß ihr gar nichts sei und daß nun ja alles gut sei. Sie wischte mit dem Zipfel ihrer Schürze das Blut ab und beruhigte die Kinder, die heftig schluchzten, als ob sie den Hagel von Peitschenhieben bekommen hätten.
Wenn Gervaise an Lalie dachte, so wagte sie nicht mehr zu klagen. Sie hätte wohl den Mut dieses achtjährigen Kindes haben mögen, das allein soviel zu erdulden hatte wie alle Frauen auf den verschiedenen Treppen. Sie hatte gesehen, wie sie während dreier Monate nur trockenes Brot zu essen hatte, aber selbst davon aß sie sich nicht einmal an den Krusten satt; sie war so mager und so schwach, daß sie sich an den Wänden stützen mußte, wenn sie ging; brachte sie ihr heimlich die Überreste einer Fleischmahlzeit, so brach ihr das Herz, wenn sie sie stumm, mit nassen Augen das Essen in kleinen Stücken herunterwürgen sah, weil ihr Schlund sich schon so verengt hatte, daß er die Nahrung kaum noch durchließ. Trotzdem war sie immer zärtlich und ergeben; mit einer Vernunft, die über ihre Jahre ging, erfüllte sie die Pflichten einer Familienmutter so weit, daß sie bei dieser Aufgabe ihr Leben opferte. So nahm sich denn Gervaise an diesem lieben Geschöpf ein Beispiel, wie man leiden und verzeihen müsse; von ihr lernte sie, wie sie ihre Leiden zu tragen habe. Lalie behielt noch immer in ihren großen, schwarzen Augen den stummen, ergebenen Blick, auf dessen Grunde man ahnte, daß ihr Leben eine immerwährende Nacht und ein ewiger Todeskampf sei. Nie kam eine Klage über ihre Lippen, nur in ihren weitgeöffneten schwarzen Augen las man die Geschichte ihres Elends.
Jetzt fing in der Coupeauschen Familie das Gift des »Totschlägers« auch schon an, seine verderblichen Wirkungen zu zeigen. Die Wäscherin sah die Stunde herannahen, wo auch ihr Mann zur Peitsche greifen werde wie Bijard, um sie tanzen zu lassen. Das Unglück, das sie selbst bedrohte, machte sie natürlich teilnehmender für das Schicksal der Kleinen. Ja, Coupeau fing an einzugehen; die Zeit war vorbei, wo ihm der Trunk ein gesundes Aussehen gab. Er konnte sich jetzt nicht mehr auf den Bauch schlagen und lustig sagen, daß ihn der verdammte Suff fett mache, denn das ungesunde gelbe Fett der ersten Jahre war geschwunden, und er wurde mager, sein Fleisch nahm die grünen Töne eines Aases an, das in einer Wasserpfütze verfault. Er hatte allen Appetit verloren; nach und nach verging ihm der Geschmack am Brote, er war schon so weit gekommen, daß er die Speisen anspie. Man hätte ihm das Essen noch so sorgfältig bereiten können, sein Magen versagte den Dienst, seine Zähne wollten nicht mehr kauen. Um sich auf den Beinen zu erhalten, mußte er täglich seinen Schoppen Branntwein haben; das war seine Portion, sein Essen und sein Trinken, die einzige Nahrung, die er noch verdaute. Wenn er des Morgens aus dem Bette stieg, bog ihn wohl eine volle Viertelstunde ein starker Husten zusammen, und er klapperte mit den Knochen; er hielt sich den Kopf und spie Schleim und etwas Bitteres aus, was so ähnlich wie Koloquintensaft war und ihn in der Kehle kratzte; das blieb nie aus; man konnte jede Wette darauf eingehen. Erst wenn er sein erstes Tröstungsglas heruntergestürzt hatte, fühlte er sich auf seinen Beinen wieder sicher; es war für ihn wahre Medizin, deren Feuer ihm die Gedärme erwärmte. Im Laufe des Tages bekam er dann seine Kräfte wieder. Zuerst hatte er ein gewisses Jucken gespürt, Hautprickeln an Händen und Füßen; er lachte dazu und erzählte, daß man überallhin Krümel streue und daß seine Frau zwischen die Laken wahrscheinlich Haare lege, die ihn kitzelten. Dann aber wurden ihm seine Beine schwer; das Jucken hatte sich schließlich in abscheuliche Krampfanfälle verwandelt, die ihm die Glieder kniffen, als ob sie in einem Schraubstock steckten. Das kam ihm schon weniger spaßhaft vor. Jetzt lachte er nicht mehr, wenn er plötzlich mitten auf der Straße stehenbleiben mußte, weil er wie betäubt war, ihm die Ohren sausten und ihm vor den Augen Funken aufsprangen. Da sah er alles gelb, die Häuser tanzten, er schwankte für ein paar Sekunden und fürchtete niederzufallen. Ein andermal lief ihm am hellen lichten Tage ein Schauder das Rückgrat entlang von den Schultern bis nach unten, als ob ihm jemand Eiswasser in den Nacken gegossen habe. Am meisten ärgerte ihn, daß seine beiden Hände leicht zitterten; besonders die Rechte mußte irgend etwas Schlimmes gemacht haben, denn sie tanzte am lebhaftesten. In Himmels Namen! War er denn kein Mann mehr? Wurde er denn ein altes Weib? Wütend spannte er seine Muskel straff, er griff nach dem Glase und wettete, daß er es so unbeweglich halten werde, als ob seine Hand von Marmor sei; aber trotz all seiner Anstrengungen tanzte das Glas in seiner Rechten eine wahre Polka, es war ein ganz regelmäßiges, schnelles Zittern. Dann goß er es hinter die Binde und heulte wütend, daß er erst ein Dutzend trinken müsse; dann wolle er eine Tonne tragen, ohne daß sich ein Finger bewege. Gervaise sagte ihm, er solle im Gegenteil das Trinken aufgeben, wenn er nicht mehr zittern wolle. Er aber gab nichts darauf und trank den Branntwein literweise, um wieder in Übung zu kommen; er wütete und meinte, es seien die Omnibusse, die vorüberfuhren und ihn ins Schwanken brächten.
Im Monat März kam Coupeau eines Abends bis auf die Knochen durchnäßt nach Hause. Er war mit Mes-Bottes von Montrouge gekommen, wo sie sich eine Aalsuppe geleistet hatten. Von der Fischerzollstation waren sie im Sturzregen gelaufen; es war ein hübsches Stück Weges. In der Nacht bekam er einen verdammten Husten; er war sehr rot, und ein heftiges Fieber brach bei ihm aus, so daß seine Seiten förmlich flogen. Als ihn am Morgen Boches Arzt gesehen und ihm den Rücken behorcht hatte, schüttelte er den Kopf und nahm Gervaise beiseite, um ihr zu raten, daß sie ihren Mann nur gleich in ein Krankenhaus bringen lassen möge, denn er habe eine Lungenentzündung.
Gervaise war darüber gar nicht so böse. Früher hätte sie sich lieber in Stücke schneiden lassen als ihren Mann den Lazarettgehilfen anvertraut. Bei dem Unglück in der Volkstraße hatte sie ihre ganzen Ersparnisse aufgezehrt, um ihn zu pflegen. Aber diese schönen Empfindungen sind nicht mehr am Platze, wenn die Männer in den Schmutz heruntersinken. Nein, nein, jetzt fiel es ihr gar nicht ein, sich solches Ohrensausen zu machen; man konnte ihn ihr wegnehmen und nie wiederbringen, sie hätte noch »Danke schön!« dazu gesagt. Als nun aber doch der Krankenkorb kam und man Coupeau wie ein Möbel auflud, wurde sie ganz blaß und kniff die Lippen zusammen; und wenn sie sich es auch noch so oft vorstellte, daß es so am besten sei, ihr Herz war nicht dabei, und sie hätte gern zehn Franken in der Kommode gehabt, um ihn nicht fortzulassen. Sie ging mit ins Krankenhaus Lariboisière und sah zu, wie die Krankenwärter ihn zu Bette brachten; sie legten ihn an das Ende eines großen Saales, wo die Kranken in langer Reihe mit totengleichen Gesichtern lagen; sie richteten sich auf und folgten dem Kameraden, den man da brachte, mit den Augen. Es war eine hübsche Leichenhalle, ein Fieberdunst lag über dem Raum, daß man erstickte, und eine Schwindsuchtsmusik ließ den Besucher fast die Lungen ausspeien; bei alledem hatte der Saal Ähnlichkeit mit einem kleinen Friedhofe, die Reihe der weißen Betten war wie eine Reihe von Gräbern. Als sie sah, daß er ruhig auf dem Kissen liegenblieb, ging sie fort, ohne daß sie ein Abschiedswort gefunden hätte und ohne daß sie ihm etwas hätte dalassen können, was ihm zur Erleichterung gedient hätte. Als sie draußen vor dem Krankenhause war, wendete sie sich um und warf einen Blick auf das Gebäude. Sie gedachte dabei der vergangenen Zeiten, als Coupeau über den Rand des Daches gebeugt da oben seine Zinkplatten legte und dabei im Sonnenscheine sang. Damals trank er noch nicht; damals hatte er eine Farbe wie ein junges Mädchen, und sie von ihrem Fenster im Hotel »Zum guten Herzen« aus suchte ihn mit den Augen, ganz vom Himmel umgeben fand sie ihn; dann wehten sie beide mit ihren Taschentüchern und telegraphierten sich lächelnd Küsse zu. Ja, Coupeau hatte da oben gearbeitet, er hatte kaum daran gedacht, daß er auch für sich gearbeitet habe. Jetzt war er nicht auf den Dächern gleich munteren, zwitschernden Sperlingen; er hatte sein Nest im Hospital gebaut und würde wohl dort an seiner letzten Speckschwarte kratzen. Mein Gott! Wie doch die Zeit ihrer Liebe heute weit von ihnen zu liegen schien!
Als Gervaise nach zwei Tagen wiederkam, um sich nach seinem Ergehen zu erkundigen, fand sie sein Bett leer. Eine der Schwestern erklärte ihr, daß man ihren Mann in das Annenasyl habe überführen müssen, weil er am Abend zuvor plötzlich entsetzlich zu toben angefangen habe. Oh! Er sei vollständig aus sich herausgegangen; er habe die beste Lust, sich den Kopf an der Wand zu zerspalten und heule, daß keiner von den anderen Kranken habe schlafen können. Das komme vom Trunk, wie es scheine. Die Trunksucht, die ihm heimlich im Körper stecke, nehme die Gelegenheit wahr und greife seine Nerven in dem Augenblick an, wo die Lungenentzündung ihn kraftlos zu Boden geworfen habe. Die Wäscherin ging ganz zerschmettert nach Hause. Ihr Mann war also jetzt verrückt! Das Leben wurde doch gar zu seltsam, wenn man es so gehen ließ, wie es wollte. Nana schrie, man müsse ihn im Krankenhause lassen, sonst werde er sie noch beide umbringen!
Erst am Sonntag konnte sich Gervaise ins Annenasyl begeben; es war eine wahre Reise. Glücklicherweise ging der Omnibus, der vom Boulevard Rochechouart nach dem Eiskeller führte, am Asyl vorbei. Sie stieg in der Gesundheitsstraße ab und kaufte zwei Apfelsinen, um nicht mit leeren Händen zu kommen. Das Asyl war wieder so ein Gebäude mit grauen Höfen und unendlichen Gängen; ein Geruch wie von alten, verdorbenen Arzneien brachte keine besonders heitere Stimmung hervor. Als man sie schließlich in eine Zelle eintreten ließ, war sie überrascht, Coupeau beinahe wieder ganz munter zu sehen. Er saß gerade auf dem Thron, einem sehr sauberen Holzkasten, von dem nicht der geringste Geruch ausging. Sie lachten darüber, daß sie sich so wiedersahen, wo gerade das Loch in seinem Ballon sich in frischer Luft und voller Tätigkeit befand. Nicht wahr? Benahm er sich nicht als Kranker ausgezeichnet? Er hatte sich da festgesetzt wie ein Papst, und sein Redestrom von früher floß wieder munterer als je. Oh! Es ging ihm besser, seit er damit wieder in Ordnung kam.
»Und die Entzündung!« fragte die Wäscherin.
»Rein weg!« antwortete er. »Sie haben es mir im Handumdrehen weggebracht! Ich huste noch ein bißchen, aber es ist nur so das letzte vom Ausfegen.«
Als er seinen Thron verließ und sich wieder in sein Bett legte, spaßte er weiter:
»Du hast eine tüchtige Nase und hast keine Furcht, eine Prise mitzunehmen!«
Das belustigte sie noch mehr. Im Grunde freuten sie sich; es war so ihre Art, sich ihre gegenseitige Zufriedenheit zu bezeigen, daß sie, ohne davon zu sprechen, auf so feine Weise scherzten. Man muß einmal Kranke gepflegt haben, um zu wissen, was für eine Freude es ist, wenn man sie wieder so nach allen Seiten hin tätig sieht.
Als er wieder im Bett war, gab sie ihm die beiden Apfelsinen, was ihn sehr rührte. Er wurde wieder liebenswürdig und anhänglich, seit er Tee trank und sein Herz nicht auf den Schanktischen der Schnapsbuden zurückließ. Sie getraute sich endlich, ihm von seiner Geistesverwirrung zu sprechen, und war überrascht, ihn ganz so wie in alten Zeiten vernünftig reden zu hören.
»Ja, ja!« sagte er, wobei er sich über sich selbst lustig machte, »ich habe schönen Unsinn geredet! ... Denke dir, daß ich Ratten sah; ich lief ihnen auf allen vieren nach, um ihnen Salz unter den Schwanz zu streuen, und du, du riefst nach mir, du warst von Männern bedroht, kurz, alle möglichen Dummheiten, ich sah Geister am hellen Tage ... Oh! Ich habe alles sehr gut behalten, der alte Gedankenkasten ist noch ziemlich solide ... Jetzt ist es vorbei, ich träume wohl, wenn ich einschlafe, ich habe Alpdrücken, aber das haben ja fast alle Leute!«
Gervaise blieb bis zum Abend bei ihm. Als der Unterarzt um sechs Uhr zur Visite kam, ließ er ihn die Hände ausstrecken; sie zitterten fast gar nicht mehr, nur noch an den Fingerspitzen ein klein wenig. Als aber die Nacht hereinbrach, wurde Coupeau nach und nach unruhiger. Er stand zweimal von seinem Lager auf und blickte auf die Erde und in die dunklen Ecken des Raumes.
»Was hast du?« fragte Gervaise erschreckt.
»Da sind schon wieder Ratten!« murmelte er.
Nach einigem Schweigen schien er einzuschlafen, aber er warf sich herum und sprach abgerissene Worte.
»Heiliger Himmel! Sie fressen mir die Haut durch! ... Oh! Die ekelhaften Tiere! ... Halt fest! Nimm deine Röcke zusammen! Passe doch auf, die Bande ist ja hinter dir! ... Donnerwetter! Da haben sie sie umgeschmissen und die Ekel lachen noch! ... Ekelhafte Bande! Haufen Ungeziefer! Räuberbande!«
Er führte Schläge ins Leere, zog seine Decke an sich und rollte sie auf seiner Brust zusammen, als ob er damit seine Frau gegen einen Haufen bärtiger Männer beschützen wolle, die ihr Gewalt antaten. Als ein Wärter herbeikam, zog sich Gervaise, ganz erstarrt von dieser Szene, zurück. Als sie nach einigen Tagen wiederkam, fand sie Coupeau vollständig wiederhergestellt. Selbst die Träume und das Alpdrücken waren vergangen, er schlief wie ein Kind seine sechs Stunden, ohne ein Glied zu rühren. Man gestattete seiner Frau, ihn mit nach Hause zu nehmen. Nur daß der Unterarzt ihr beim Hinausgehen noch gute Lehren mit auf den Weg gab und ihr riet, darüber nachzudenken. Wenn er wieder zu trinken anfange, verfalle er wieder in die Krankheit und müsse unrettbar daran sterben. Das habe er ganz allein in der Hand. Er habe jetzt gesehen, wie frisch und munter man werden könne, wenn man sich nicht betrank. Er solle also zu Hause das mäßige Leben im Annenasyl fortführen und sich einbilden, daß er noch immer hinter Schloß und Riegel sei, und daß es gar keine Wein- und Schnapshändler gebe.
»Der Herr hat recht!« sagte Gervaise im Omnibus, der sie nach der Goldtropfengasse zurückbrachte.
»Gewiß hat er recht!« antwortete Coupeau.
Als er dann einen Augenblick nachgedacht hatte, meinte er:
»Oh! Ein kleines Glas hie und da, kann ja keinen Menschen töten, es hilft verdauen!«
Noch an demselben Abend trank er ein kleines Glas Kümmel zur Verdauung. Acht Tage lang zeigte er sich noch leidlich vernünftig. Eigentlich war er sehr furchtsam und der Gedanke, im Arbeitshause zu enden, hatte für ihn wenig Erfreuliches. Aber schließlich gewann seine Leidenschaft die Oberhand, dem ersten Glas Schnaps folgte ein zweites, drittes und viertes; sowie der Zahltag herankam, war er schon wieder bei seiner gewöhnlichen Ration, einem Schoppen Rachenputzer täglich, angekommen. Gervaise war so außer sich, daß sie ihm am liebsten den Schädel eingerannt hätte. Wie konnte sie nur so dumm sein und noch einmal von einem ehrbaren, anständigen Leben träumen, als sie ihn im Asyl bei vollem Verstande gesehen hatte! Da war wieder einmal eine frohe Stunde vorübergehuscht, sicherlich die letzte! Jetzt, wo sie sah, daß nichts ihn heilen konnte, nicht einmal die Furcht vor einem elenden Elende; jetzt schwor sie sich zu, auch keine Rücksichten mehr zu nehmen; jetzt mochte die Wirtschaft gehen wie sie wollte, sie kümmerte sich nicht mehr darum, sie gab sich das Wort, auch das Vergnügen zu suchen, wo es auch sei. Das Leben, das jetzt begann, war die Hölle; tiefer und tiefer versank die Familie im Schmutz, ohne einen Schimmer von Hoffnung, daß es je besser werden würde. Wenn Nana von ihrem Vater geschlagen worden war, fragte sie wütend, warum denn dieses Vieh nicht im Krankenhause geblieben sei? Sie sagte, sie warte nur darauf, Geld zu verdienen und es ihm zu geben, damit er sich dafür Branntwein kaufen könne und desto schneller zugrunde gehe. Als Coupeau eines Tages bedauerte, Gervaise geheiratet zu haben, wurde auch sie aufgebracht. Was? Sie habe ihm zugebracht, was andere nicht mehr wollten! Sie habe sich von der Straße auflesen lassen, sie habe ihn mit ihrer scheinheiligen Miene verlockt! In Teufels Namen! An Unverschämtheit fehle es ihm nicht! Soviel Worte, soviel Lügen! Sie wolle nichts von ihm wissen, das sei die Wahrheit! Auf seinen Knien sei er vor ihr umhergerutscht, um sie zur Entscheidung zu drängen, während sie ihm riet, sich die Sache recht ordentlich zu überlegen! Wenn es noch einmal zu machen sei, wie werde sie nein sagen! Lieber lasse sie sich einen Arm abhacken! Es sei wahr, sie habe den Mond schon gesehen, ehe sie ihn kannte, aber eine Frau, die nicht als Jungfer in die Ehe komme und arbeite, sei immer noch mehr wert als eine Puppe von Mann, der seine Ehre und die seiner Familie an allen Schanktischen beschmutze. An diesem Tage gab es bei den Coupeaus die erste regelrechte Prügelei, es wurde so fest zugeschlagen, daß dabei ein alter Regenschirm und ein Besen zerbrachen.
Gervaise hielt Wort. Sie vernachlässigte sich mehr und mehr und sank immer tiefer; immer öfter blieb sie von der Arbeit fort und vertrödelte ganze Tage. Bei der Arbeit wurde sie so weich wie Wachs; wenn ihr etwas aus der Hand fiel, so konnte es ruhig auf der Erde liegenbleiben, sie bückte sich nicht danach, um es aufzuheben. Sie setzte an den Rippen immer mehr Fett an, diesen Speck wollte sie sich nicht abarbeiten. Sie versank so in Faulheit, daß sie keinen Besen ansetzte, wenn nicht der Schmutz so hoch lag, daß sie darüber fallen mußte. Wenn die Lorilleux' an ihrem Zimmer vorübergingen, so taten sie so, als ob sie sich die Nase zuhielten, es sei das reine Gift, sagten sie. Sie lebten heimlich da hinten am Ende des Flures und verschlossen die Ohren vor all dem Elend, das hier in dieser Ecke des Hauses nistete, sie öffneten nie ihre Tür, wenn sie ahnten, daß sie mit einem Zwanzigsousstück aushelfen sollten. Es waren gutherzige Menschen; hilfreiche Nachbarn! Ja, die waren zärtlich!! Man brauchte nur anzuklopfen; wenn man Feuer haben wollte, eine Prise Salz oder eine Karaffe Wasser verlangte, war man sicher, daß einem die Tür vor der Nase zugeworfen wurde. Dabei hatten sie wahre Natternzungen; sie schrien, daß sie sich nie um die anderen bekümmerten; ja, wenn es sich darum handelte, den Nachbarn zu helfen, dann gewiß nicht, aber vom Morgen bis zum Abend waren sie geschäftig, über ihre Nächsten herzufallen. Wenn die Tür verschlossen war, vor dem Fenster eine dicke Decke hing und zum Überfluß auch das Schlüsselloch noch verstopft war, dann weideten sie sich an den Klatschgeschichten, ohne ihre Goldfäden auch nur einen Augenblick zu verlassen. Das Zugrundegehen der Humpelliese gab ihnen Stoff, den ganzen Tag lang sich zu erfreuen; es tat ihnen so wohl, als ob man einen Kater streichelt. Kinder! Was war das für eine ewige Klemme! Wie kamen die Leute herunter! Sie paßten ihr auf, wenn sie Lebensmittel kaufte und lachten über die ganz kleinen Stücke Brot, die sie unter ihrer Schürze heimbrachte. Ja, sie berechneten die Tage, wo sie vor dem leeren Speiseschrank standen; sie wußten ganz genau, wie dick der Staub dort lag und wie viele Teller vergeblich auf das Abwaschen warteten; jede dieser Vernachlässigungen, die das Elend und die Faulheit mit sich bringt, wurde von ihnen an die große Glocke gehängt. Und wie ging sie angezogen! So ekelhafte Lappen würde ja keine Lumpensammlerin aufgehoben haben! Heiliger Himmel! Der regnete es gut in die Bude, dieser schönen Blondine, diesem Tugendspiegel, die früher ihren Hintern gar nicht stolz genug drehen und wenden konnte, als sie noch den schönen blauen Laden hatte. Da konnte man sehen, wo es schließlich hinführt, wenn man so naschhaft ist, gern Liköre trinkt und Fressereien veranstaltet. Gervaise, die wohl wußte, wie sie sie zurichteten, zog ihre Schuhe aus und schlich sich auf Strümpfen an die Tür, aber sie konnte der Decken wegen nichts hören; nur einmal überraschte sie sie dabei, wie sie sie »dicke Säugeamme« nannten, vermutlich weil die Brust trotz der schlechten Nahrung, die ihre Haut zusammenschrumpfen ließ, auffallend stark blieb. Übrigens ließ sie es ziemlich kalt, sie hörte nicht auf, mit ihnen zu sprechen, um keinen Anlaß zu Gerede zu geben; aber sie wußte wohl, daß sie von so schmutzigem Volk nichts als Beleidigungen und Beschimpfungen zu erwarten hatte; sie war zu schlaff, um ihnen auch nur zu antworten oder sie wie einen Haufen von Torheit und Bosheit sich selbst zu überlassen. Und wozu auch? Sie trachtete nach ihrer Behaglichkeit, still auf einem Fleck zu sitzen und die Daumen umeinander zu drehen, wenn es einmal ein bißchen gut ging, mehr verlangte sie nicht.
Eines Sonnabends hatte Coupeau versprochen, sie in den Zirkus zu führen. Das war doch einmal eine Sache, wegen der es sich lohnte, daß man sich rührte! Damen auf Pferden galoppieren und durch papierbeklebte Reifen springen zu sehen! Coupeau hatte gerade seinen vierzehntägigen Lohn ausgezahlt bekommen, er könnte also die vierzig Sous dranwenden; ja sie hatten sich sogar vorgenommen, außer dem Hause zu essen. Nana hatte an diesem Abend eines eiligen Auftrages wegen sehr lange zu arbeiten. Als es sieben Uhr geworden war, sah man noch nichts von Coupeau, um acht Uhr war noch immer niemand da. Gervaise war wütend. Sicherlich verpraßte ihr Saufbold den ganzen Lohn mit seinen Kameraden bei den Weinwirten im Stadtviertel. Sie hatte sich eine Haube gewaschen und quälte sich schon den ganzen Tag mit den Löchern eines alten Kleides, weil sie anständig erscheinen wollte. Um neun Uhr endlich entschloß sie sich, mit leerem Magen und rot vor Zorn in der Umgegend nach Coupeau auf die Suche zu gehen.
»Ihr sucht Euern Mann?« rief ihr Madame Boche zu, als sie sie so ärgerlich vorbeigehen sah. »Er ist bei dem Vater Colombe. Boche hat eben mit ihm Kirschschnaps getrunken!«
Sie sagte: »Danke schön!« Dann ging sie gerade die Straße hinab, um Coupeau mitten im besten zu überfallen. Es regnete ganz fein, was ihren Spaziergang noch unangenehmer machte. Als sie vor dem »Totschläger« angekommen war, machte sie die Furcht, daß es eine Szene geben könne, wenn sie ihren Mann dort überfalle, plötzlich ruhig und vorsichtig. Der Laden strahlte, alles Gas brannte mit sonnenhellen Flammen, die Flaschen und Pokale blitzten an den Wänden mit ihren farbigen Gläsern. Sie blieb dort einen Augenblick vorgebeugt stehen und blickte durch die Scheibe zwischen zwei Flaschen auf dem Schaufensterbrett hindurch. Sie entdeckte Coupeau ganz hinten, er saß mit Kameraden um einen der kleinen Eisentische; alle schwammen gleichsam in dem blauen Tabaksdampf. Da man nicht hören konnte, wie sie schrien, so machte es einen drolligen Eindruck, wenn man sie so lebhaft mit vorgestreckten Köpfen und herausgequollenen Augen die Hände bewegen sah. Wie war es in aller Welt nur möglich, daß diese Männer ihre Frauen und ihr Heim verlassen konnten, um sich in ein solches Loch hineinzupferchen, wo sie erstickten? Der Regen lief ihr in den Nacken; so richtete sie sich wieder auf und ging auf den äußeren Boulevard, um zu überlegen, was sie zu tun habe, da sie doch nicht einzutreten wagte. Nein, wahrlich, das schien denn doch kein Ort für eine ehrbare Frau zu sein! Coupeau würde ihr einen schönen Empfang bereitet haben, er wollte nicht, daß man ihn da störe. Als sie so unter den ganz naß geregneten Bäumen zögernd dahinging, überlief sie ein leichter Schauder, und sie meinte, sie werde sich ordentlich etwas holen. Noch zweimal ging sie zurück und blickte unverwandt durch die Scheibe, wo sie zu ihrem Ärger die verdammten Säufer noch immer heulen und trinken sah. Der Lichtstrom aus dem »Totschläger« spiegelte sich in den Wasserpfützen auf der Straße, auf deren Oberfläche die Regentropfen eine fortwährende prickelnde Bewegung hervorbrachten. Wieder ging sie fort und patschte da herum, wenn die Tür sich öffnete und zufiel, wobei ihre kupfernen Beschläge klappten. Schließlich meinte sie, sie sei doch zu dumm, stieß die Tür auf und ging gerade auf den Tisch los, an dem Coupeau saß. Wenn man alles recht bedachte, war er doch immer ihr Mann, nicht wahr? Nach ihm durfte sie doch fragen, und besonders heute hatte sie ein Recht dazu, weil er versprochen hatte, sie in den Zirkus zu führen. Um so schlimmer! Sie hatte keine Lust, wie ein Stück Seife auf dem Trottoir zu zerschmelzen.
»Ah, sieh da! Du bist es, Alte!« schrie der Zinkarbeiter, wobei er fast vor Lachen erstickte. »Ist die komisch! Ei der tausend! ... Nicht wahr, sie ist zu komisch?«
Alle lachten, Mes-Bottes, Bibi-la-Grillade, Sauf-aus-ohne-Durst. Ja, es kam ihnen allen komisch vor, obgleich sie nicht sagten, weshalb. Gervaise stand ein wenig betäubt bei dem Tische. Coupeau schien ihr bei sehr guter Stimmung zu sein, und so wagte sie zu sagen:
»Du weißt doch, wir wollten dahin gehen! Wir müssen uns ein bißchen eilen, dann kommen wir noch früh genug, um die Geschichte zu sehen!«
»Ich kann nicht aufstehen, ich bin festgeklebt! Oh ohne Spaß!« fing Coupeau, immer aufs neue lachend, wieder an. »Versuche mal selbst, damit du dich überzeugst, zieh an meinem Arm, so stark du kannst! Donnerwetter! Viel stärker! Holla! Heb' an! ... Du siehst, dieser Schuft, der Vater Colombe, hat mich an seine Bank geschmiedet!«
Gervaise hatte sich zu diesem Spiel herbeigelassen; als sie endlich seinen Arm losließ, fanden sie den Spaß so ausgezeichnet, daß sich kreischend einer auf den andern warf und sich Schulter an Schulter rieb wie Esel, wenn sie gestriegelt werden. Dem Zinkarbeiter stand vor allem Lachen der Mund so weit offen, daß man ihm bis in den Schlund hineinsah.
»Dummes Tier!« sagte er endlich, »du kannst dich ganz gut für eine Minute hierher setzen! Es ist hier besser, als da draußen herumzupatschen ... Nu ja, ich bin nicht nach Hause gekommen, ich habe zu tun gehabt. Wenn du auch dein Gesicht aufsetzest, es ändert nichts an der Sache ... Macht mal Platz, ihr anderen!«
»Wenn Madame auf meinem Schoß Platz nehmen möchte, da ist es weicher!« sagte der galante Mes-Bottes.
Gervaise, die kein Aufsehen machen wollte, nahm einen Stuhl und setzte sich in einiger Entfernung vor dem Tische nieder. Sie sah sich an, was die Männer tranken: Rachenputzer, es glänzte wie Gold in den Gläsern. Auf dem Tisch war etwas Schnaps übergelaufen, dahinein tauchte Salzschnabel beim Sprechen seinen Finger und schrieb einen Frauennamen: Eulalie, mit großen Buchstaben. Sie fand, daß Bibi-la-Grillade höllisch heruntergekommen aussah, er war magerer als eine Hopfenstange. Mes-Bottes' Nase blühte wie eine blaue Georgine. Sie waren alle vier sehr schmutzig, ihre struppigen ungekämmten Bärte sahen wie Strauchbesen aus, ihre Blusen hingen in Fetzen um sie herum, und wenn sie ihre schwarzen Pfoten vorstreckten, so hatten alle Nägel die tiefste Trauer angelegt. Wahrlich, in der Gesellschaft konnte man sich noch zeigen! Obgleich sie da schon von sechs Uhr an zechten, blieben sie doch noch ganz anständig, sie waren erst gerade soweit, daß sie ihrer liebenswürdigen Laune die Zügel schießen ließen. Gervaise sah auch zwei andere, die am Schanktisch standen und im Begriff waren, sich den letzten Rest zu geben; sie waren so blau, daß sie sich die Gläser mit Schnaps unter dem Kinn aufs Hemd gossen und glaubten doch, sie spülten sich die Kehle aus. Der dicke Vater Colombe streckte seine ungeheuren Arme aus, die den Respekt im Lokale aufrecht erhielten, und goß ruhig einen Satz nach dem andern ein. Es war sehr heiß, der Rauch aus den Pfeifen stieg in der blendenden Helligkeit der Gasflammen auf und wogte unter der Decke wie ein Nebel; unten hüllte er die Trinker in immer dickere Wolken ein, aus denen der betäubende Lärm der Stimmen das Anstoßen der Gläser, Flüche und Faustschläge auf die Tische, die wie Schüsse dröhnten, heraustönten. Gervaise machte zu all diesen Dingen ein merkwürdiges Gesicht; denn solcher Anblick ist nicht gerade sehr aufmunternd für eine Frau, die an so etwas nicht gewöhnt ist; sie erstickte fast, die Augen schmerzten sie und von all den Alkoholdünsten, die den ganzen Saal erfüllten, war ihr der Kopf schon schwer geworden. Plötzlich empfand sie ein noch größeres Gefühl von Unbehagen, es beunruhigte sie etwas hinter ihrem Rücken. Als sie sich umwandte, sah sie den Destillierapparat. Diese Sufferzeugungsmaschine arbeitete auf dem mit Glas überdeckten engen Hofe mit dem dumpfen Zittern ihrer höllischen Eingeweide. Am Abend waren die kupfernen Kessel noch düsterer anzuschauen, weil sich nur oben auf ihren Rundungen ein breites, leuchtendes Licht zeigte; der Schatten, den der Apparat an die Mauer des Hofes warf, hatte die seltsamsten Formen; es sah aus wie geschwänzte Ungeheuer, die ihre Rachen weit aufsperrten, um eine Welt zu verschlingen.
»Höre mal, du süßmäulige Marie, tue hier nur nicht etwa beleidigt!« schrie Coupeau. »Du weißt doch, die Spaßverderber mögen zum Teufel gehen! ... Was willst du trinken?«
»Oh! gar nichts!« antwortete die Wäscherin. »Ich habe noch nichts zu Mittag gegessen!«
»Das ist ein Grund mehr; so ein Schluck hält dich aufrecht.«
Als sie sich immer noch nicht entschließen konnte, zeigte sich Mes-Bottes wiederum galant.
»Madame liebt doch gewiß Süßigkeiten?« meinte er.
»Ich liebe Männer, die sich nicht betrinken!« antwortete sie ganz böse. »Ja, ich liebe es, wenn man seinen Lohn nach Hause bringt und sein Wort hält, wenn man etwas versprochen hat!«
»Also das macht dich so kratzbürstig?« sagte der Zinkarbeiter, ohne mit dem Lachen aufzuhören. »Du willst deinen Anteil? Nun denn, du dumme Gans, warum nimmst du denn nichts an? ... Trinke nur, es ist alles rein gefunden!«
Sie sah ihm mit ernster Miene gerade in die Augen, dabei legte sich auf ihre Stirn eine Falte wie ein schwarzer Strich. Dann antwortete sie sehr langsam:
»Sieh einmal an! Du hast recht, es ist ein guter Gedanke! Auf die Art vertrinken wir das Geld zusammen!«
Bibi-la-Grillade stand auf, um ihr ein Glas Anislikör zu holen. Sie rückte ihren Stuhl heran und nahm am Tische Platz. Während sie so ihren Anislikör ausschlürfte, kam ihr plötzlich eine Erinnerung: sie dachte an die Pflaume, die sie mit Coupeau bei der Tür gegessen hatte, als er noch um sie warb. Damals rührte sie die Soße der eingelegten Früchte nicht an, und jetzt saß sie und suchte im Likör ihr Heil. Oh! sie kannte sich gut, sie hatte nicht für zwei Sous Energie im Leibe. Man brauchte ihr nur noch einen kleinen Stoß zu geben, und sie würde gewiß in den Abgrund des Trunks hinabstürzen. Das schien sogar recht gut zu sein; der Anislikör war vielleicht ein wenig zu süß, zu weichlich. So schlürfte sie an ihrem Glase und hörte zu, wie Sauf-aus-ohne-Durst von seiner Liebschaft mit der großen Eulalie erzählte: sie war Fischverkäuferin und ein ganz verdammt geriebenes Frauenzimmer, eine Person, die es förmlich roch, bei welchem Weinwirt er gerade saß, wenn sie ihren kleinen Wagen vor sich her über das Pflaster schob; da konnten die Kameraden ihn noch so zeitig warnen und verstecken, sie faßte ihn doch ab, ja sie hatte ihm sogar am Abend zuvor eine ordentliche Knallschote verabfolgt, um ihn dafür zu strafen, daß er die Werkstatt geschwänzt hatte. Das war eine schnurrige Geschichte! Bibi-la-Grillade und Mes-Bottes hielten sich vor Lachen die Seiten und schlugen Gervaise freundschaftlich auf die Schultern, die auch schon gegen ihren Willen mitlachen mußte, als ob sie gekitzelt werde; sie gaben ihr den Rat, dem Beispiel der großen Eulalie zu folgen, ihre Eisen mitzubringen und Coupeau die Ohren auf den Schanktischen festzubügeln.
»Nun sieh doch mal einer an!« schrie Coupeau, der das Glas umkehrte, das seine Frau getrunken hatte. »Das hast du ja recht hübsch ausgelutscht! Seht doch mal her, da kann man die Nagelprobe machen!«
»Nimmt Madame noch einen?« fragte Salzschnabel, genannt Sauf-aus-ohne-Durst.
Nein, sie hatte genug davon! Sie zögerte, als sie es sagte. Der Anislikör war so weichlich und machte ihr übel. Sie hätte lieber etwas Strammes genommen, das ihr den Magen auswärmte. Sie warf verstohlene Blicke auf die große Maschine hinter sich. Dieser verdammte Kochtopf war rund und dick wie der Bauch eines Teekessels und seine Nase verlängerte und wand sich, daß ihr ein Schauder über den Rücken lief und sie eine sonderbare Furcht erfaßte, in die sich doch eine gewisse Begierde mischte. Man sollte meinen, daß da die metallenen Gedärme einer großen Hexe arbeiteten, die Tropfen für Tropfen das feurige Gift aus ihren Eingeweiden herauslaufen ließ. Es war eine hübsche Quelle, die Tod und Verderben spie; diese Maschine hätte man im tiefsten Keller verbergen sollen, so frech und abscheulich war sie! Aber dessenungeachtet wollte sie doch ihre Nase da hineinstecken, den Duft einziehen, von der Abscheulichkeit kosten, wenn sie auch ihre Zunge so daran verbrennen würde, daß sich die Haut davon schälte wie von einer Orange.
»Was trinkt ihr denn da?« fragte sie heimlich die Männer, wobei ihre Augen ordentlich leuchteten bei dem Anblick der schönen Goldfarbe in den Gläsern.
»Das, Alte,« antwortete Coupeau, »ist Papa Colombes Kampfer ... Du wirst doch nicht dumm sein, nicht wahr? Wir wollen dich davon kosten lassen!«
Als man ihr ein Glas von dem Vitriol gebracht hatte und sich ihr nach dem ersten Schluck die Kinnbacken zusammenzogen, rief der Zinkarbeiter, indem er sich auf die Seiten schlug:
»Nun! so einen zu pfeifen, das kuriert! ... Auf einen Zug mußt du es hinuntergießen! Jeder Satz von dem Zeug zieht dem Arzt einen Sechsfrankentaler aus der Tasche!«
Beim zweiten Glase fühlte Gervaise den Hunger nicht mehr, der sie bis dahin gepeinigt hatte. Jetzt war sie mit Coupeau ausgesöhnt, jetzt verzieh sie ihm, daß er ihr nicht Wort gehalten hatte, sie konnten ja ein andermal in den Zirkus gehen; es war ja auch gar nicht so interessant, die Faxenmacher anzusehen, die auf den Pferden umhersprangen. Bei Vater Colombe regnete es nicht, und wenn auch der Lohn wegschmolz wie Schnee an der Sonne, so wärmte man sich wenigstens den Leib damit, man trank ihn feucht und glänzend wie flüssiges Gold. Oh! sie pfiff auf die Meinung der Leute! Das Leben bot ihr nicht so viel Vergnügen; übrigens schien es ihr ein wahrer Trost zu sein, daß sie jetzt an dem Geldvergeuden zur Hälfte beteiligt war, sie fühlte sich wohl da, warum sollte sie nicht bleiben? Ihretwegen konnte man jetzt Kanonen abschießen, sie rührte sich nicht gern, wenn sie einmal irgendwo saß; sie schmorte förmlich in der Hitze, ihre Taille klebte ihr fest am Körper und eine Wohligkeit war über sie gekommen, die ihre Glieder halb und halb einschläferte. Sie lachte ganz ohne Grund mit auf den Tisch gestemmten Ellenbogen und schwimmenden Augen. Zwei der Gäste amüsierten sie sehr, ein großer Dicker und ein Knirps, die an einem Nebentisch sich fortwährend umarmten und gerade ins Gesicht küßten, so betrunken waren sie. Ja, sie lachte im »Totschläger« über das Vollmondsgesicht des Vater Colombe, das wie eine gefüllte Schweinsblase aussah, über die Gäste, die ihre kurzen Tonpfeifen rauchten, schrien und spuckten, über die großen Gasflammen, die von den Spiegeln und Likörflaschen widerstrahlten. Der Geruch war ihr nicht mehr lästig; im Gegenteil, ihre Nase wurde gekitzelt, sie fand, daß es gut rieche; ihre Wimpern schlossen sich zur Hälfte, sie atmete sehr kurz, aber ohne Beschwerde, und genoß die Glückseligkeit eines wonnigen Halbschlafes, der sie überkam. Als sie ihr drittes Glas getrunken hatte, ließ sie ihr Kinn auf die Hände fallen. Sie sah jetzt nur noch Coupeau und seine Kameraden; sie blieb da Kopf an Kopf mit ihnen, ganz dicht, der heiße Atem machte ihre Backen glühend, und ihre schmutzigen Bärte betrachtete sie so genau, als ob sie alle Haare habe zählen wollen. Um diese Stunde waren sie alle schon sehr betrunken. Mes-Bottes sabberte mit der Pfeife im Munde und sah dabei so ernst und würdig aus wie ein eingeschlafener Ochse. Bibi-la-Grillade erzählte eine Geschichte, wie er ein Liter auf einen Zug austrinken könne, indem er der Flasche so einen herzhaften Kuß gebe, daß er ihr durch den Hintern gucke. Mittlerweile war Sauf-aus-ohne-Durst an den Schanktisch gegangen, um dort das Drehlotto zu holen und mit Coupeau die Zeche auszuspielen.
»Zweihundert! ... Du bist ein Spitzbube, du holst immer die großen Nummern vor!«
Die Feder des Drehlottos knackte, das Bild der Glücksgöttin, einer großen, roten Frau, die hinter Glas an der Trommel angebracht war, drehte sich so schnell, daß sie nur wie ein einziger roter Fleck aussah, der von ausgegossenem Wein herrührte.
»Dreihundert! ... Wo hast du denn hineingetreten, verdammter Kommisknüppel? Ach was! ich spiele nicht mehr!«
Gervaise interessierte sich für das Drehlotto. Sie trank jetzt in großen Zügen und nannte Mes-Bottes »mein lieber Sohn«. Hinter ihr arbeitete die Schnapsmaschine mit dem Murmeln eines unterirdischen Baches immer weiter; sie verzweifelte daran, sie anzuhalten und auszuschöpfen, ein dumpfer Zorn erfüllte sie gegen diese Maschine, sie hatte die schönste Lust, wie auf ein wildes Tier auf sie loszuspringen und ihr mit Fußtritten den Bauch zu sprengen. Alles fuhr bei ihr wirr durcheinander, sie sah, wie die Maschine sich bewegte, und fühlte, wie ihre eisernen Arme sie ergriffen, während der Bach jetzt mitten durch ihren Körper zu fließen schien.
Der Saal tanzte mit seinen Gasflammen, die wie Kometen umherschweiften. Gervaise war ganz fertig. Sie hörte noch einen wütenden Streit zwischen Sauf-aus-ohne-Durst und diesem verdammten Vater Colombe. Es war ein Spitzbube von Wirt, der aufschrieb, was er wollte! Man war doch hier nicht, um sich prellen zu lassen! Aber plötzlich entstand ein Stoßen, man hörte heulen und schreien, und mehrere Tische wurden umgeworfen. Das kam daher, daß der Vater Colombe die Gesellschaft an die Luft setzte; er tat es ohne den geringsten Verzug, nur so im Handumdrehen. Vor der Tür schimpften sie weiter auf ihn und nannten ihn einen Betrüger. Es regnete immer noch, und ein feiner, eisiger Wind wehte. Gervaise verlor Coupeau, fand ihn wieder und verlor ihn noch einmal. Sie wollte nach Hause gehen und befühlte die Läden, um daran ihren Weg zu erkennen. Sie war sehr erstaunt darüber, daß es plötzlich so ganz Nacht geworden war. An der Ecke der Fischerstraße setzte sie sich in einen Rinnstein, weil sie glaubte, daß sie im Waschhause sei. Alles fließende Wasser machte sie schwindelig, und ihr wurde sehr übel. Endlich kam sie an ihr Haus, sie ging gerade an dem Pförtnerzimmer vorbei, wo sie sehr gut die Lorilleux und die Poisson erkannte, die da am Tisch saßen und vor Ekel ihre Gesichter verzogen, als sie sie in solchem Zustand ankommen sahen.
Nie ist es ihr klar geworden, wie sie die sechs Treppen hinaufgekommen ist. Als sie oben war und in ihren Flur einbog, lief die kleine Lalie auf sie zu, die ihren Schritt auf der Treppe gehört hatte, breitete ihre Ärmchen zärtlich aus und rief lachend:
»Frau Gervaise, Papa ist nicht nach Hause gekommen! Tretet doch näher und seht, wie süß die Kinder schlafen ... Oh! Die sind so hübsch anzusehen!«
Als sie aber dem stumpfen Gesicht der Wäscherin gegenüberstand, wich sie zitternd zurück. Sie kannte diesen alkoholgeschwängerten Atem, diese erloschenen Augen und diesen zuckenden Mund. Als Gervaise, ohne ein Wort zu sprechen, vorüberstolperte, blieb die Kleine auf der Schwelle ihrer Tür stehen und folgte ihr mit dem stummen, ernsten Blick ihrer schwarzen Augen.