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Gervaise wollte keine Hochzeit; wozu sollte man Geld ausgeben? Eigentlich schämte sie sich ein wenig: es schien ihr unnütz, die Augen des ganzen Quartiers auf ihre Heirat zu lenken. Coupeau dagegen war anderer Ansicht: man könne sich doch nicht so mir nichts dir nichts verheiraten, ohne auch nur ein Stückchen Fleisch zusammen gegessen zu haben. Er mache sich den Teufel was aus dem Quartier! Natürlich nur ganz einfach: ein kleiner Spaziergang am Nachmittag, ehe man in irgendeiner Garküche ein gebratenes Kaninchen verzehrte. Auch keine Musik zum Nachtisch, keine Klarinette, bei deren Klängen die Damen den Hintern schütteln würden. Man werde nur ein wenig miteinander anstoßen, ehe jeder sich zu Hause aufs Ohr legte.
Der Zinkarbeiter scherzte und neckte so lange, bis er die junge Frau überredete; er versicherte, daß man keine Hetze machen wolle. Er wolle auch ein Auge auf die Gläser haben, um Streitigkeiten nicht aufkommen zu lassen. So brachte er denn ein Essen zu fünf Franken für den Kopf zustande bei August in der » Goldenen Windmühle« auf dem Kapellen-Boulevard. Dieser war ein kleiner Weinhändler, der mäßige Preise und einen Tanzboden hinter seinem Laden hatte, der von drei Akazienbäumen beschattet wurde, die seinen kleinen Hof zierten. Im ersten Stock werde man vortrefflich aufgehoben sein.
Während zehn ganzer Tage brachte er aus dem Hause seiner Schwester in der Goldtropfengasse die Gäste zusammen. Es waren Herr Madinier, Fräulein Remanjou, Madame Gaudron und ihr Mann. Er brachte es sogar zuwege, daß Gervaise zwei seiner Kameraden, Bibi-la-Grillade und Mes-Bottes, annahm. Ohne Zweifel war Mes-Bottes kein sehr artiger Kerl, aber man lud ihn wegen seines drolligen Appetits zu allen Essen ein, um das verblüffte Gesicht des Kneipwirtes zu sehen, wenn der Gierschlung seine zwölf Pfund Brot verschwinden ließ. Die junge Frau ihrerseits versprach, Madame Fauconnier, ihre Arbeitgeberin, und die Boches mitzubringen, die sehr ordentliche Leute seien. Als man die Rechnung machte, fand sich, daß fünfzehn Gäste zu Tisch sein würden. Das war genug; wenn zuviel Leute da sind, endet es immer mit Streitigkeiten.
Bei alledem hatte Coupeau keinen Sou Geld. Er wollte nicht großtun, aber doch als anständiger Mensch sich zeigen. Er borgte sich von seinem Meister fünfzig Franken. Dafür kaufte er zuerst die Ringe. Es waren das Goldringe zu zwölf Franken, die ihm Lorilleux aus der Fabrik für neun Franken verschaffte. Dann bestellte er sich einen Überrock, eine Hose und eine Weste bei einem Schneider in der Myrrha-Straße, dem er darauf eine bare Zahlung von zwanzig Franken machte. Seine Lackschuhe und seine Mütze konnten zur Not noch gehen. Wenn er die zehn Franken für das Essen, seinen und Gervaises Anteil (die Kinder wurden nicht gerechnet), beiseite legte, blieben ihm noch gerade die sechs Franken für eine Messe am Altar der Armen. Sicherlich liebte er die Schwarzen nicht, es drehte ihm das Herz um, diesen Tagedieben seine sechs Franken hinzutragen, die sie wahrlich nicht nötig hätten, da sie sich auch ohnedies den Leib vollschlügen. Aber eine Heirat ohne Messe, man mochte darüber denken, wie man wolle, eine richtige Heirat war das nicht. Er ging selbst zur Kirche, um womöglich dort etwas abzuhandeln. Während einer ganzen Stunde schacherte er mit einem kleinen, alten Priester in schmutziger Sutane herum, der ein schlimmerer Spitzbube als ein Hökerweib war. Er hatte nicht übel Lust, den alten Filz zu ohrfeigen. Endlich fragte er ihn zum Spaß, ob er denn unter seinen Vorräten nicht irgendeine alte, abgelegte Messe habe, so eine, die noch nicht ganz und gar verdorben sei, mit der könnten sich ein paar genügsame Menschen immerhin noch behelfen. Der alte, kleine Priester murmelte so etwas, als ob Gott an seiner Ehe auch nicht allzuviel Wohlgefallen haben werde, und ließ ihm schließlich die Messe zu fünf Franken. Das waren immerhin zwanzig Sous Ersparnis. Nun blieben ihm noch zwanzig Sous übrig.
Auch Gervaise hielt darauf, sauber zu erscheinen. Von dem Augenblick, wo die Heirat beschlossene Sache war, trachtete sie danach, ihre Verhältnisse zu regeln. Sie machte des Abends Überstunden, und es gelang ihr, dreißig Franken zu ersparen. Ein seidenes Mäntelchen, das in der Vorstadt-Fischerstraße mit dreizehn Franken ausgezeichnet war, stach ihr in die Augen; sie erwarb es und kaufte dazu für zehn Franken von dem Manne einer Wäscherin, die jüngst im Hause der Madame Fauconnier gestorben war, ein Kleid von blauer Wolle, das sie für ihre Figur zurechtmachte. Für die sieben Franken, die ihr noch blieben, erstand sie ein Paar baumwollene Handschuhe, eine Rose für ihre Haube und ein Paar Schuhe für Claude, ihren Ältesten. Glücklicherweise waren die Kittelchen der Kleinen noch nicht allzu schlecht. Vier Nächte brachte sie damit zu, alles zu säubern und auszubessern; nicht das kleinste Loch in ihren Strümpfen oder ihren Hemden wollte sie ungeflickt lassen.
Endlich war es Freitag abend geworden, der Vorabend des großen Tages. Gervaise und Coupeau hatten, als sie von der Arbeit heimkehrten, noch bis gegen elf Uhr umherzulaufen, um das letzte zu besorgen. Ehe jedes sein Lager aufsuchte, brachten sie noch eine Stunde gemeinsam im Zimmer der jungen Frau zu, sehr zufrieden, alle ihre Geschäfte besorgt zu haben. Ungeachtet ihres Entschlusses, sich um die Meinung des Quartiers nicht zu bekümmern, hatten sie sich schließlich die Dinge zu Herzen genommen und sich eine Menge Sorgen gemacht. Als sie sich gute Nacht sagten, schliefen sie schon im Stehen. Trotzdem fühlten sie sich erleichtert, jetzt war alles in Ordnung. Coupeau hatte Herrn Madinier und Bibi-la-Grillade zu Trauzeugen; Gervaise rechnete auf Lorilleux und Boche.
Man konnte nun ruhig zum Standesamt und in die Kirche gehen, man war zu sechs Personen und hatte kein großes Gefolge von Menschen hinter sich. Selbst die beiden Schwestern des Bräutigams hatten erklärt, daß sie zu Hause bleiben würden, da ja ihre Anwesenheit nicht vonnöten sei. Nur Mama Coupeau erklärte unter Tränen, daß sie vorher hingehen und von einem Winkel aus der Feier zusehen wolle; hierauf versprach man sie mitzunehmen. Der Treffpunkt für die ganze Gesellschaft war auf ein Uhr in der »Goldenen Windmühle« festgesetzt. Von dort aus wollte man, um sich Appetit zu machen, in die Ebene von Saint Denis gehen; hin wollte man mit der Eisenbahn fahren und zurück auf der Chaussee zu Fuß gehen. Das Fest versprach sehr hübsch zu werden, kein großartiges Gelage, aber eine lustige Partie, bei der es anständig und vernünftig zuging.
Als sich Coupeau Sonnabend früh beim Anziehen seinem einsamen Zwanzigsousstück gegenübersah, erfaßte ihn eine gewisse Unruhe. Er dachte daran, daß die Höflichkeit von ihm erfordere, den Zeugen eine Schnitte Schinken und ein Glas Wein anzubieten; dann könne er noch irgendwelche unvorhergesehene Ausgaben haben. Sicherlich kam er mit seinen zwanzig Sous in Verlegenheit. Nachdem er es auf sich genommen, Claude und Etienne zu Madame Boche zu führen, die sie abends zum Essen mitbringen sollte, lief er in die Goldtropfengasse und stieg entschlossen zu den Lorilleuxs hinauf, um von ihnen zehn Franken zu borgen. Es schnürte ihm die Kehle zusammen, denn er wußte wohl, was für ein Gesicht ihm sein Schwager schneiden würde. Dieser brummte und hohnlachte mit der Miene einer wilden Bestie, aber endlich gab er die beiden Hundertsousstücke her. Doch Coupeau hörte, wie seine Schwester zwischen den Zähnen murmelte, daß es ja recht hübsch anfange.
Die Eheschließung auf dem Standesamt war auf halb elf Uhr festgesetzt. Es war sehr schönes Wetter; eine glühende Sonne brannte auf das Straßenpflaster nieder. Um nicht beobachtet zu werden, hatte sich die Gesellschaft getrennt. Vorn ging Gervaise am Arm von Lorilleux, während Herr Madinier Mama Coupeau führte; zwanzig Schritte dahinter auf der anderen Seite ging Coupeau, Boche und Bibi-la-Grillade. Diese drei hatten schwarze Röcke an, ihre Rücken waren gekrümmt, und sie schlenkerten mit den Armen. Boche hatte ein gelbes Beinkleid; Bibi-la-Grillade war bis an das Kinn zugeknöpft; er hatte keine Weste an und ließ nur den Zipfel einer Kravatte sehen, die wie ein Strick um seinen Hals geschlungen war. Nur Herr Madinier trug einen Frack, einen großen Frack mit viereckigen Schößen. Die Vorübergehenden standen still, um diesen Herrn anzusehen, der die dicke Mama Coupeau in grünem Schal und schwarzer Haube mit roten Bändern spazieren führte. Gervaise, die sehr sanft und heiter dreinschaute in ihrem blauen Wollenkleide und ihrem knappen Mäntelchen, das ihr die Schultern beengte, hörte freundlich auf die Schnurren von Lorilleux, der ungeachtet der Hitze tief in einen großen Sackpaletot versunken war. Von Zeit zu Zeit wandte sie sich an den Straßenecken um und lächelte zu Coupeau hinüber, der sich in seinen neuen Kleidern, die in der Sonne glänzten, recht unbehaglich fühlte.
Obgleich sie sehr langsam gegangen waren, langten sie doch auf dem Standesamt eine gute halbe Stunde zu früh an. Da der Beamte sich etwas verspätete, kamen sie erst gegen elf Uhr an die Reihe. Sie hatten sich in einer Ecke des Saales auf Stühle gesetzt und warteten. Sie betrachteten die hohe Decke und die kahlen Wände und sprachen leise miteinander. Jedesmal, wenn ein Bureaudiener vorüberkam, rückten sie aus Höflichkeit mit ihren Stühlen. Nichtsdestoweniger behandelten sie mit leiser Stimme den Standesbeamten als Taugenichts, der sicherlich bei seiner Blondine sei, um sich die Gicht zu reiben; vielleicht habe er seine Schärpe verschluckt. Als aber der Beamte erschien, erhoben sie sich mit großer Achtung.
Man ließ sie wieder niedersitzen. Sie wohnten drei Trauungen bei, mit Bräuten in Weiß, frisierten kleinen Mädchen und jungen Fräulein mit rosa Gürteln und mit einem unendlichen Gefolge von Herren und Damen, die alle sehr fein aussahen. Als man sie endlich aufrief, wären sie beinahe gar nicht verheiratet worden, weil Bibi-la-Grillade verschwunden war. Boche fand ihn schließlich, wie er unten auf dem Platze eine Pfeife rauchte. Er meinte, das seien schnurrige Kerle in dem Kasten da, die sich um die Leute nicht kümmerten, die ihnen keine buttergelben Handschuhe unter die Nase halten könnten. Die Förmlichkeiten, die Vorlesung aus dem Gesetz, die Fragen, die man ihnen stellte, und die Unterschrift der Aktenstücke, das alles wurde so schnell und prompt besorgt, daß sie glaubten, man habe ihnen die Hälfte der Handlung unterschlagen. Gervaise, die ganz betäubt und geängstigt war, preßte ihr Taschentuch an die Lippen, Mama Coupeau weinte heiße Tränen. Alle hatten sich auf das Register gebeugt und ihre Namen mit dicken hinkenden Buchstaben eingezeichnet; nur der junge Ehemann, der nicht schreiben konnte, hatte ein Kreuz gemacht. Sie gaben jeder vier Sous für die Armen. Als der Diener an Coupeau den Trauschein aushändigte, entschied sich dieser, von Gervaise mit dem Ellenbogen aufgemuntert, noch ein Zehnsousstück herzugeben.
Es war ein langer Marsch vom Standesamt zur Kirche. Unterwegs tranken die Männer Bier, Mama Coupeau und Gervaise Johannisbeersaft mit Wasser. Sie hatten eine lange Straße hinabzugehen, in die die Sonne voll hineinschien, ohne auch nur ein bißchen Schatten zu lassen. Der Küster erwartete sie mitten in der leeren Kirche. Er führte sie in eine kleine Kapelle und fragte sie, ob sie sich über die Religion lustig machen wollten, da sie so spät kämen. Ein Priester kam mit großen Schritten heran, seine Miene war mürrisch, und vor Hunger sah er blaß aus. Er wurde durch einen Gehilfen in schmutziger Sutane unterstützt, der sich um ihn her zu schaffen machte. Er beschleunigte die Messe, indem er die Hälfte der lateinischen Worte hinunterschluckte, drehte sich, beugte sich und breitete seine Arme aus, alles in Eile und mit schiefen Seitenblicken auf das Brautpaar und die Zeugen. Die Eheleute waren vor dem Altar sehr verlegen, sie wußten nicht, was sie tun sollten, wann sie niederknien, sich erheben oder setzen mußten, und warteten immer auf einen Wink des Gehilfen. Die Zeugen blieben, um recht anständig zu sein, während der ganzen Zeit aufrecht stehen, während Mama Coupeau ihren Tränen wieder freien Lauf ließ, die sich in einem Gebetbuch ansammelten, das sie von einer Nachbarin geliehen hatte. Währenddessen hatte es zwölf geschlagen, die letzte Messe war gelesen, und die Kirche widerhallte von dem Lärm der Fußtritte des Küsters und seiner Gehilfen, welche die Stühle beiseite setzten. Der große Altar wurde für irgendein Fest hergerichtet, denn man hörte die Hammerschläge der Tapezierer, die Teppiche und Vorhänge annagelten.
Am Ende der Kapelle, wo sich die Staubwolken zusammenballten, die der Besen des Küsters aufwirbelte, breitete der Priester mit mürrischer Miene segnend seine Hände über die Häupter des vor ihm knienden Paares; er schien sie während eines Umzuges zusammenzugeben zwischen zwei ordentlichen Messen zu einer Stunde, wo der liebe Gott nicht gegenwärtig war. Als das Brautpaar und die Zeugen sich noch einmal im Register der Sakristei eingetragen hatten und sich im hellen Sonnenschein vor der Kirchentür wieder zusammenfanden, blieben sie dort verdutzt und atemschöpfend stehen und waren sehr erstaunt darüber, daß man die Eheschließung so mit Dampf betrieben hatte.
»Da haben wir's«, sagte Coupeau mit einem verlegenen Lachen.
Er wiegte sich nachdenklich hin und her und fand doch kein komisches Wort, endlich fügte er hinzu:
»Ja ja! Das rutscht nur so. Die bringen einem das in vier Griffen bei ... Es ist wie beim Zahnarzt, man hat nicht einmal Zeit, Au! zu schreien, sie verheiraten schmerzlos.«
»Ja, ja, ein hübsches Stück Arbeit«, murmelte Lorilleux. »Es wird in fünf Minuten zusammengebracht und hält doch fürs ganze Leben ... Oh! mein armer Cadet-Cassis!«
Die vier Zeugen klopften dem Zinkarbeiter auf die Schultern, was er mit guter Laune über sich ergehen ließ. Indessen umarmte Gervaise Mama Coupeau, wobei sie unter Tränen lächelte. Sie antwortete auf die abgebrochenen Worte der alten Frau:
»Seid ohne Furcht, ich werde schon mein möglichstes tun. Wenn es nicht gut ausschlägt, soll es gewiß nicht meine Schuld sein. Nein, nein, sicherlich nicht, ich will ja zu gerne glücklich sein ... Jetzt ist es. einmal geschehen, nicht wahr? Und es ist an ihm und mir, uns zu verständigen und unser Bestes zu tun.«
Hierauf ging man geradesweges zur »Goldenen Windmühle«. Coupeau hatte jetzt den Arm seiner Frau genommen. Sie gingen schnell dahin, lachend und in gehobener Stimmung. Sie waren den anderen zweihundert Schritte vorausgeeilt, ohne um sich zu blicken, sie sahen weder die Häuser noch die Fußgänger und die Wagen. Das betäubende Geräusch der Vorstadt schlug wie entferntes Glockenläuten an ihre Ohren. Als sie in der Weinschenke ankamen, bestellte Coupeau sofort zwei Liter, etwas Brot und Schinken, was man in dem kleinen Kabinett zu ebener Erde, ohne erst Teller und Servietten zu beschmutzen, schnell verzehren wollte, nur um sich ein wenig zu entnüchtern. Als Coupeau sah, daß Boche und Bibi–la–Grillade einen ernsthaften Appetit entwickelten, ließ er noch einen Liter Wein und ein Stück Käse kommen. Gervaise starb fast vor Durst und trank mehrere große Gläser Wasser, die mit ein wenig Wein gerötet waren.
»Das ist meine Sache«, sagte Coupeau, indem er plötzlich an den Schanktisch ging; dort zahlte er vier Franken und fünf Sous.
Mittlerweile war es ein Uhr geworden, und die Gäste stellten sich ein. Madame Fauconnier, eine dicke, aber noch schöne Frau, erschien zuerst; sie trug ein Kleid von ungebleichtem Stoff mit darauf gedruckten Blumen. Nach ihr erschienen zusammen Fräulein Remanjou, ebenso verschossen und kränklich aussehend wie ihr ewig schwarzes Kleidchen, von dem man glauben konnte, daß sie es auch anbehalte, wenn sie zu Bette gehe, und das Ehepaar Gaudron; der Mann, schwerfällig wie ein Stier, ließ bei jeder Bewegung seine braune Atlasweste krachen, und die Frau gefiel sich darin, ihren schwangeren Leib behaglich vorzustrecken, dessen erhebliche Rundung durch einen Rock von schreiendem Violett noch bedeutend gehoben wurde. Coupeau verkündete, daß man auf den Kameraden Mes-Bottes nicht zu warten brauchte, da dieser die Hochzeitsgesellschaft auf dem Wege nach Saint-Denis erwarten wolle.
»Das kann hübsch werden!« rief Madame Lerat, die eben eintrat, »wir werden gut eingeweicht! Seht nur, wie es aussieht!«
Sie rief die Gesellschaft an die Tür der Weinschenke, damit sie sich die Gewitterwolken ansähe, die schwarz wie Tinte schnell von Süden her über Paris aufzogen. Madame Lerat, die Älteste der Coupeaus, war eine große, trockene Frau mit männlichem Wesen, die durch die Nase sprach und in ihrem zu langen, flohfarbenen Kleid mit nachschleppenden Enden wie eine Pudelhündin aussah, die eben aus dem Wasser kommt. Sie fuchtelte mit ihrem Sonnenschirm wie mit einem Stock umher. Nachdem sie Gervaise umarmt hatte, fuhr sie fort:
»Ihr habt keine Vorstellung, wie heiß der Wind auf der Straße weht ... Man meint, es werde einem Feuer ins Gesicht geworfen.«
Da erklärten alle, sie hätten das Gewitter schon lange gespürt. Herr Madinier hatte schon beim Heraustreten aus der Kirche gesehen, daß das so kommen werde. Lorilleux erzählte, daß seine Hühneraugen ihn schon von drei Uhr morgens an nicht mehr hätten schlafen lassen. Übrigens konnte es gar kein anderes Ende nehmen; seit drei Tagen sei die Hitze unerträglich.
»Das wird etwas geben«, meinte Coupeau, der in der Tür stand und den Himmel mit unruhigen Blicken musterte. »Wir warten nur noch auf meine Schwester, man könnte doch vielleicht losgehen, wenn sie käme.«
Madame Lorilleux verspätete sich wirklich. Madame Lerat war zu ihr gegangen, um sie zu holen; sie fand sie noch mit dem Anlegen ihres Korsetts beschäftigt und machte ihr wegen ihrer Langsamkeit Vorwürfe. Die große Witwe sagte ihrem Bruder ins Ohr:
»Ich habe sie sitzen lassen. Die ist in einer Laune! ... Du wirst ja sehen!«
Die Gesellschaft mußte sich noch eine volle Viertelstunde gedulden; sie ging in der Weinschenke umher, gestoßen und angerempelt von den Männern, die an den Schanktisch traten und dort ihren Schoppen tranken.
Hin und wieder wagten sich Boche, Madame Fauconnier oder Bibi-la-Grillade bis auf den Rand des Bürgersteigs und hielten Umschau. Es regnete nicht, aber es wurde dunkel, heftige Windstöße fegten über den Boden hin und trieben Wolken weißen Staubes vor sich her. Beim ersten Donner schlug Fräulein Remanjou das Kreuz. Aller Augen sahen ängstlich auf die große Zimmeruhr: es fehlten nur noch zwanzig Minuten an zwei Uhr.
»Da haben wir's!« rief Coupeau. »Seht nur, die Engel fangen an zu weinen!«
Ein Regenschauer fegte über die Straße hin, auf der die Frauen nach allen Seiten flohen und ihre Röcke mit beiden Händen hochhielten. Während dieses ersten Gusses kam endlich Madame Lorilleux; atemlos und wütend kämpfte sie mit ihrem Regenschirm, der durchaus nicht zugehen wollte.
»Hat man je so was gesehen?« stotterte sie. »Gerade an der Tür hat es mich gefaßt. Ich hatte schon die schönste Lust, wieder hinaufzugehen und mich auszuziehen. Es wäre das beste gewesen ... Das ist ja 'ne hübsche Hochzeit! Habe ich es denn nicht gesagt? Ich wollte alles auf nächsten Sonnabend verschieben. Jetzt regnet's, weil ihr nicht auf mich gehört habt: Nun, desto besser! desto besser! meinetwegen mag der Himmel platzen!«
Coupeau versuchte, sie zu beruhigen. Sie aber fertigte ihn schön ab: er bezahle ihr wohl ihr Kleid nicht, wenn es verdorben sei. Dieses Kleid war von schwarzer Seide und so eng, daß sie darin zu ersticken schien; die Taille zog sich an den Knopflöchern und schnitt in die Schultern ein; der Rock war wie eine Scheide gemacht und beengte ihre Beine so, daß sie nur mit ganz kleinen Schritten gehen konnte. Nichtsdestoweniger betrachteten die Damen der Gesellschaft diese Toilette mit neidischen Mienen und gekniffenen Lippen. Gervaise, die neben Mama Coupeau saß, schien sie überhaupt gar nicht zu sehen. Sie rief Lorilleux und verlangte von ihm sein Taschentuch, womit sie in einer Ecke der Schenke sorgfältig jedes Regentröpfchen abtrocknete, das auf den Stoff gefallen war.
Mittlerweile hatte es plötzlich zu regnen aufgehört. Es wurde immer dunkler, so daß es fast Nacht war, eine feuchte Nacht, die starke Blitze durchzuckten.
Bibi-la-Grillade versicherte lachend, daß es gleich Pfaffen regnen werde. Hierauf brach das Gewitter von neuem mit größerer Heftigkeit los. Während einer halben Stunde stürzte das Wasser in Strömen hernieder, und der Donner grollte ohne Unterlaß. Die Männer, die in der Tür standen, betrachteten den grauen Schleier, in den der Regenguß alles hüllte, die angeschwollenen Rinnsteine und den Wasserstaub, den die fallenden Tropfen aus den Pfützen aufsteigen ließen. Die erschrockenen Frauen saßen alle zusammen und hielten sich die Augen zu. Alle Unterhaltung war verstummt, weil ihnen die Kehlen wie zugeschnürt waren. Als Boche versuchte, einen Scherz über den Donner zu machen, indem er sagte, daß Petrus da oben recht ordentlich zu niesen schiene, wurde er von niemandem belacht. Als das Gewitter abzog und der Donner ferner und ferner ertönte, fing die Gesellschaft wieder an, ungeduldig zu werden, alle schimpften auf das Wetter, fluchten und erhoben die Fäuste drohend gegen die Wolken. Der Himmel war jetzt aschfarbig, und ein feiner Regen rieselte ohne Aufhören hernieder.
»Jetzt ist es schon zwei Uhr durch!« schrie Madame Lorilleux. »Wir können doch hier nicht zu Bett gehen!«
Als Fräulein Remanjou vorschlug, man möge trotz alledem aufs Land hinausgehen, selbst wenn man bei den Festungsgräben anhalten müsse, weigerte sich die ganze Hochzeitsgesellschaft: die Wege müßten in einem schönen Zustande sein; man könne sich ja nicht einmal ins Gras setzen; übrigens sei es noch nicht zu Ende, es könne immer noch ein neuer Guß kommen. Coupeau, der mit den Augen einem ganz durchnäßten Arbeiter folgte, der ruhig im Regen dahinging, murmelte:
»Wenn der Schafskopf Mes-Bottes uns auf der Straße nach Saint-Denis erwartet, bekommt er auch keinen Sonnenstich.«
Man lachte bei dem Gedanken an Mes-Bottes, aber im ganzen nahm die schlechte Laune überhand. Das war schließlich zum Auswachsen. Man mußte irgend etwas beschließen, man konnte sich doch nicht so bis zum Essen gegenseitig in den Hals gucken. Während einer Viertelstunde zerbrach man sich angesichts des hartnäckigen Regens den Kopf. Bibi-la-Grillade schlug vor, man solle Karten spielen, während Boche, der naseweis und etwas verliebter Natur war, sagte, daß er ein sehr unterhaltendes, kleines, komisches Spiel wisse, das Spiel heiße »Beichtvater«; Madame Gaudron sprach davon, nach der Chaussee Clignancourt zu gehen und Zwiebelkuchen zu essen, während es Madame Lerat am liebsten gesehen hätte, daß man Geschichten erzähle; Gaudron langweilte sich nicht, er fühlte sich ganz behaglich und schlug nur vor, man solle sich gleich zu Tisch setzen. Jeder Vorschlag wurde besprochen, und bei jedem zankte man sich: Das sei zu dumm, zum Einschlafen, man werde sie für unreife Jungen halten, wenn sie immer so dasäßen. Lorilleux, der doch auch seinen Senf dazugeben wollte, meinte, es sei doch ganz einfach, man gehe ein wenig auf den äußeren Boulevards spazieren bis zum Père-Lachaise, wo man hineingehen und die Gräber von Héloise und Abèlard ansehen könnte, wenn noch Zeit sei. Nun konnte Madame Lorilleux nicht mehr an sich halten und brach los: Nach Hause gehe sie, das tue sie! Es sei ja gerade, als ob man sie zum besten habe! Sich anziehen und einweichen, um nachher einen ganzen Tag in einer Weinschenke zu sitzen! Nein, das passe ihr nicht, sie habe genug von der Hochzeit, dafür sitze sie lieber zu Hause. Coupeau und Lorilleux mußten die Tür versperren, damit sie nicht abging. Noch einmal sagte sie:
»Macht Platz, ich sage euch, ich gehe!«
Endlich gelang es ihrem Mann, sie zu beruhigen. Coupeau ging zu Gervaise, die immer ruhig in ihrer Ecke mit Mama Coupeau und Madame Fauconnier plauderte.
»Nun, und Ihr? Schlagt Ihr denn gar nichts vor?« sagte er, ohne daß er schon gewagt hätte, sie zu duzen.
»Oh, ich bin zu allem bereit,« antwortete sie lachend, »ich bin nicht wählerisch. Ich bin sehr glücklich und verlange nichts weiter.«
In der Tat leuchtete ihr ganzes Gesicht vor stiller Freude. Seit die Gäste da waren, hatte sie mit jedem gesprochen, mit ein wenig leiser, bewegter Stimme freilich, in ihre Streitigkeiten mischte sie sich nicht. Während des Gewitters hatte sie mit starren Augen dagesessen und in die Blitze geguckt, als ob dieses ernste Schauspiel und dieses grelle Leuchten ihr die dunkle Zukunft enthüllen könne. Nur Herr Madinier hatte noch keinen Vorschlag gemacht. Er stand gegen den Schanktisch gelehnt, nahm die Schöße seines Fracks sorgfältig zusammen und bewahrte seine Würde als selbständiger Kaufmann und Arbeitgeber. Hin und wieder spuckte er mit großer Wichtigkeit und rollte seine hervorstehenden Augen.
»Mein Gott,« sagte er endlich, »man könnte nach dem Museum gehen ...«
Er streichelte sein Kinn und zwinkerte fragend mit den Augen.
»Da sind Altertümer, Gemälde, Bilder, eine Menge Dinge; es ist sehr lehrreich ... Vielleicht kennen Sie es noch nicht. So etwas muß man doch einmal gesehen haben.«
Die Gäste sahen einander fragend an. Nein, Gervaise kannte das alles nicht, Madame Fauconnier auch nicht, ebensowenig Boche und die anderen. Coupeau glaubte, daß er einmal an einem Sonntage oben gewesen sei, aber er entsann sich nur dunkel. Noch zauderte: man, als Madame Lorilleux, auf welche die Würde des Herrn Madinier einen großen Eindruck machte, den Vorschlag sehr gut fand, sehr passend und sehr anständig. Da man doch einmal den Tag geopfert und sich angezogen habe, sei es ebensogut, etwas für seine Belehrung zu tun, als etwas anderes. Alle waren einverstanden. Da es noch immer regnete, borgte man von dem Weinhändler alte Regenschirme, blaue, grüne und kastanienbraune, die alle von Gästen dort vergessen waren, und ging ins Museum.
Die Hochzeitsgesellschaft wendete sich nach rechts und stieg nach Paris hinunter durch die Vorstadt-Saint-Denis-Straße. Coupeau und Gervaise hatten sich wieder an die Spitze gesetzt und waren den anderen weit voraus. Herr Madinier gab jetzt Madame Lorilleux den Arm, Mama Coupeau blieb wegen ihrer schwachen Füße bei dem Weinwirt. Dann folgten Lorilleux mit Madame Lerat, Boche mit Madame Fauconnier und Bibi-la-Grillade mit Fräulein Remanjou, zuletzt das Ehepaar Gaudron. Es waren sechs Paare, die auf der Straße einen hübschen Aufzug machten.
»Uns geht die ganze Sache gar nichts an, versichere ich Ihnen!« sagte Madame Lorilleux zu Herrn Madinier. »Wir wissen nicht, wo er sie hergenommen hat, oder vielmehr, wir wissen es nur zu gut; aber wir sprechen darüber nicht, nicht wahr? ... Mein Mann hat die Ringe kaufen müssen. Heute früh, als wir kaum aus dem Bette waren, haben wir ihnen noch zehn Franken geborgt, ohne die nichts zustandegekommen wäre ... Eine Braut, die auch nicht einen Verwandten mit zur Hochzeit bringt; sie hat erzählt, daß sie in Paris eine Schwester hat, die einen Wurstladen hält; warum hat sie sie denn nicht eingeladen?«
Sie unterbrach sich, um ihm zu zeigen, wie stark Gervaise bei dem abschüssigen Pflaster hinkte.
»Seht doch! ist das erlaubt! ... Die Humpelliese!«
Dieses Wort: Humpelliese! machte den Weg durch die ganze Gesellschaft. Lorilleux lachte schadenfroh und meinte, daß man sie immer so nennen müsse. Aber Madame Fauconnier verteidigte Gervaise: man tue unrecht, sich über sie lustig zu machen, sie sei sauber, wie aus dem Ei gepellt und verstehe, bei der Arbeit tüchtig zuzugreifen, wenn es nottue. Madame Lerat, die immer den Kopf voller unanständiger Anzüglichkeiten hatte, nannte das Bein der Kleinen einen »Liebeskegel« und fügte hinzu, daß viele Männer es gerne hätten, des Näheren wollte sie sich über die Sache aber nicht auslassen.
Der Hochzeitszug, der aus der Saint-Denis-Straße herauskam, überschritt den Boulevard. Man wartete einen Augenblick vor den angestauten Fuhrwerken, ehe man sich auf den Damm wagen konnte, den der Gewitterregen in eine Pfütze flüssigen Schlammes verwandelt hatte. Es begann jetzt wieder zu gießen, und die Hochzeitsgäste hatten ihre Regenschirme aufgespannt; unter dem Schutze dieser jammervollen Musspritzen, die in den Händen der Männer schwankten, schürzten die Frauen ihre Röcke auf; der Zug schritt im Schlamm immer vorwärts und reichte von einem Fußwege bis zum andern. Zwei Bummler verhöhnten sie mit lautem Geschrei, die Fußgänger liefen herzu, und die Ladenbesitzer richteten sich mit vergnügten Gesichtern hinter ihren Scheiben auf. In dem Gewimmel der Menge, inmitten der grauen Regentöne der Boulevards, stachen die Paare des Zuges wie bunte Flecke ab: das schreiend blaue Kleid von Gervaise, die Blumenrobe der Madame Fauconnier, das kanariengelbe Beinkleid Boches, die Unbeholfenheit der Leute in ihrem Sonntagsstaat, alles ließ selbst den glänzenden Rock Coupeaus und den Frack des Herrn Madinier mit den geraden Schößen wie eine Maskerade erscheinen, während die schöne Toilette der Madame Lorilleux, die Schleppe der Madame Lerat und das vertragene Röckchen des Fräulein Remanjou, dieses sonderbare Gemisch von Moden in einer Reihe, ein lebendiges Bild des Luxus der Armen darstellte. Hauptsächlich waren es die Hüte der Herren, welche die meiste Heiterkeit erregten, diese alten, lange aufbewahrten Hüte, die in der Dunkelheit der Schränke blind geworden waren, hatten die lächerlichsten Formen: sie waren hoch, an den Rändern abgegriffen und fettig, mit ungewöhnlichen Krempen, aufgestülpt und platt, zu weit oder zu eng. Ihren Gipfel erreichte die Heiterkeit, als ganz zuletzt, die Krone des Schauspiels, Madame Gaudron, die Wollkämmerin, in ihrem grellen violetten Kleide und mit ihrem schwangeren Bauch, dessen mächtige Rundung sie weit vor sich hertrug, anrückte. Trotz alledem beschleunigten die Hochzeitsgäste ihre Schritte nicht; gutmütig, wie sie waren, freuten sie sich der Spaße, die man über sie machte, glücklich in dem Gedanken, beachtet zu werden.
»Seht doch, da ist die Braut!« rief einer der Bummler, indem er auf Madame Gaudron zeigte. »Donnerwetter! die hat keine kleine Pille runtergeschluckt!«
Die ganze Gesellschaft schüttelte sich vor Lachen. Bibi–la–Grillade wandte sich zurück und sagte, der Balg werde sich schon durchbeißen.
Die Wollkämmerin selbst lachte am meisten, sie brüstete sich, es sei keine Schande, im Gegenteil, viele der vorübergehenden Damen schielten von der Seite nach ihr und hätten etwas darum gegeben, ebenso zu sein wie sie.
Man war die Cléry-Straße hinaufgegangen. Dann ging man in die Mail–Straße. Auf dem Siegesplatz gab es einen kleinen Aufenthalt. Der Hochzeiterin war das Band ihres linken Schuhs aufgegangen; als sie es am Postament der Statue Ludwigs XIV. wieder zuknüpfte, drängten sich die Paare wartend um sie herum und scherzten über das Stückchen Wade, das sie sehen ließ. Als man endlich die Kleine Kreuzwegstraße hinuntergegangen war, kam man beim Louvre an.
Herr Madinier fragte höflich, ob er den Zug führen dürfe. Es sei drinnen sehr geräumig, und man könnte sich verlieren; übrigens kenne er die schönen Stellen, weil er oft mit einem Künstler, einem sehr aufgeweckten Burschen, von dem eine große Kartonfabrik die Bilder kaufe, die sie auf ihre Schachteln klebe, dorthin gekommen sei. Als die Hochzeitsgesellschaft in das Museum eingetreten war und sich in dem assyrischen Saal umschaute, überlief sie ein gelinder Schauder. Potztausend! Da war es nicht warm, der Saal hätte einen schönen Keller abgegeben. Langsam schritten die Paare vorwärts, mit vorgestrecktem Kinn und blinzelnden Augen betrachteten sie die Steinkolosse, die Götterbilder aus schwarzem Marmor, die stumm in ihrer priesterlichen Härte dastanden, diese Fabeltiere, halb Katzen, halb Weiber, mit Totengesichtern, mit dünnen Nasen und dicken Lippen. Sie fanden alles sehr häßlich. Heutzutage bearbeitete man den Stein bedeutend besser. Eine Inschrift in phönizischen Schriftzeichen verblüffte sie; es sei doch nicht möglich, daß irgend jemand ein solches Gekritzel entziffere. Indes war Herr Madinier mit Madame Lorilleux schon auf dem ersten Treppenabsatz und rief ihnen durch das Gewölbe zu:
»Kommen Sie doch! Das ist ja nichts, die alten Dinger da ... Oben im ersten Stock gibt's was zu sehen!«
Die strenge Einfachheit der Treppe stimmte sie ernst. Ein würdevoller Galeriediener in roter Weste und goldgestickter Livree, der sie auf dem Treppenflur zu erwarten schien, erhöhte noch ihre Erregung. Mit großer Achtung und so leise wie möglich auftretend traten sie in die französische Galerie ein.
Sie durchschritten, ohne auch nur einen Augenblick innezuhalten, die Augen geblendet von der Menge der Goldrahmen, die lange Reihe der kleinen Salons; die Bilder zogen so an ihnen vorüber, viel zu zahlreich, um überhaupt gesehen zu werden. Da hätte man eine Stunde vor jedem bleiben können, bis man es verstanden hätte. Himmel! was für Bilder! Das nahm ja gar kein Ende. Da mußte ein schönes Stück Geld drin stecken. Schließlich ließ Madinier die Gesellschaft vor dem »Floß der Medusa« plötzlich anhalten und erklärte das Bild. Alle standen unbeweglich und schwiegen in tiefer Ergriffenheit. Als man sich wieder in Bewegung setzte, faßte Boche die Empfindungen aller in die Worte zusammen: es sei kolossal!
In der Apollogalerie setzte besonders der Fußboden die Gesellschaft in Erstaunen, das Parkett war so glatt und glänzend, daß die Füße der Sitzbänke sich darin widerspiegelten. Fräulein Remanjou schloß die Augen, weil sie auf dem Wasser zu gehen glaubte. Man rief Madame Gaudron zu, sie solle ihre Füße nur ja recht platt und fest auf den Boden setzen, da ihr Zustand doch Vorsicht erheische. Herr Madinier wollte ihnen die Vergoldungen und Malereien an der Decke zeigen, aber das Genick tat ihnen weh, und sie unterschieden doch nichts ordentlich. Ehe man in den sogenannten viereckigen Salon eintrat, zeigte er mit einer Handbewegung auf ein Fenster:
»Das ist der Balkon, von dem aus Karl IX. auf das Volk geschossen hat.«
Mit Feldherrnmiene überwachte er das Ende seines Zuges. Inmitten des viereckigen Salons befahl er durch eine Handbewegung, haltzumachen. »Hier sind nur Meisterwerke vertreten,« flüsterte er mit leiser Stimme, als ob er in einer Kirche sei. Man machte einen Rundgang im Salon. Gervaise wollte die Hochzeit zu Kana erklärt haben; sie fand es dumm, daß unten an den Rahmen nichts angeschrieben sei. Coupeau blieb bei der Jucunde stehen, von der er fand, daß sie einer seiner Tanten ähnlich sehe. Boche und Bibila-Grillade lächelten verschmitzt und machten sich durch Augenblinzeln auf die nackten Frauen aufmerksam; die Schenkel der Antiope erfreuten sich ihrer ganz besonderen Wertschätzung. Schließlich war das Ehepaar Gaudron in dummen Schauen vor der Jungfrau des Murillo stehen geblieben, der Mann mit offenem Munde, und die Frau, die Hände auf ihrem Bauch gefaltet.
Als der Umgang im Salon beendet war, wollte Herr Madinier, daß man noch einmal von vorn anfange, denn es verlohne die Mühe. Er bemühte sich ganz außerordentlich um Madame Lorilleux, wegen ihres seidenen Kleides; jedesmal, wenn sie eine Frage an ihn richtete, antwortete er mit großer Würde und erstaunlicher Sicherheit. Als sie sich für die Geliebte Titians interessierte, von der sie fand, daß ihr blondes Haar dem ihrigen gleiche, sagte er ihr, es sei die schöne Ferronniere, eine Maitresse Heinrichs IV., von der ein Drama handele, das man jüngst im Lustspieltheater gespielt habe.
Hierauf begab sich der Hochzeitszug in die lange Galerie, in der sich die Gemälde der italienischen und niederländischen Schulen befinden. Immer noch Bilder und wieder Bilder von Heiligen, von Männern und Frauen, mit Gesichtern, die man nicht verstand, ganz schwarze Landschaften, und Tiere, die gelb geworden waren, ein Durcheinander von Menschen und Dingen, deren lebhafte Farben anfingen, den Leuten ordentlich Kopfschmerzen zu machen. Herr Madinier sprach jetzt nicht mehr, er führte die Gesellschaft langsam, alle folgten in guter Ordnung, sie reckten sich die Hälse aus, und ihre Augen schweiften in der Höhe umher. Die Kunst von Jahrhunderten zog so an ihrer verdutzten Unwissenheit vorüber, die feine Sprödigkeit der Vorraphaeliten, der leuchtende Glanz der Venetianer wie die satte Üppigkeit des Lebens in den Werken der Niederländer. Am meisten interessierten sie die Kopisten, die mit ihren Staffeleien sich dort aufgepflanzt hatten und ganz ungeniert malten; eine alte Dame, die auf einer hohen Leiter stand und einen zarten Himmel mit einem Maurerpinsel auf eine ungeheure Leinwand strich, setzte sie in großes Erstaunen.
Mittlerweile hatte sich das Gerücht verbreitet, daß eine Arbeiterhochzeit das Louvre besuchte. Die Maler liefen lachend von allen Seiten zusammen, Neugierige setzten sich schon im voraus auf die Bänke, um dem Vorbeimarsch bequemer zusehen zu können, während die Wärter, eingedenk ihrer Würde, nur mühsam die Witzworte zurückhielten, die ihnen auf die Lippen kamen. Die Hochzeitsgesellschaft war schon müde, sie verloren das stumpfe Gefühl von Achtung und schleppten ihre nägelbeschlagenen Schuhe mit den klappenden Hacken über die tönenden Fußböden wie eine stampfende Herde, die man inmitten dieser vornehmen, von Sauberkeit strahlenden Säle losgelassen hatte.
Herr Madinier hielt noch immer an sich, um der Gesellschaft eine große Überraschung zu bereiten. Er ging gerade auf die Kirmes von Rubens los. Ohne ein Wort zu sprechen, begnügte er sich damit, mit schelmischem Seitenblick auf die Leinwand zu deuten. Als die Damen das Bild ganz in, der Nähe betrachteten, schrien sie auf und wandten sich sehr rot geworden davon ab. Die Männer hielten sie scherzend zurück und suchten nach lüsternen Stellen.
»Seht doch!« rief Boche, »das ist das Eintrittsgeld wert. Da ist ja einer, der kotzt! Und der da, der begießt die Blumen! Und da ist noch einer! Aber der! ... Potztausend, die treiben's gut!«
»Jetzt können wir weitergehen«, sagte Herr Madinier, den sein Erfolg berauschte. »Auf dieser Seite gibt's nichts mehr zu sehen.«
Die Gesellschaft machte den Weg zurück, den sie gekommen war; sie durchzog noch einmal den viereckigen Salon und die Apollogalerie. Madame Lerat und Fräulein Remanjou beklagten sich; sie behaupteten, daß ihnen die Füße vor Müdigkeit abfielen. Aber der Kartonfabrikant wollte noch Lorilleux die alten Schmuckgegenstände zeigen. Es war gleich hier nebenan, an der Hinterwand eines kleinen Kabinetts; er könne sie mit verbundenen Augen hinführen. Trotz dieser Versicherung verirrte er sich und führte die Gesellschaft durch sieben oder acht Säle, an deren kahlen Wänden Glasschränke standen, in denen unendliche Reihen alter zerbrochener Töpfe und sehr häßlicher Männerchen aufgestellt waren. Die Hochzeitsgesellschaft überlief ein Schauder, man langweilte sich tödlich. Als man einen Ausgang suchte, geriet man zu den Handzeichnungen. Das war wieder ein unendlicher Weg: die Zeichnungen wollten kein Ende nehmen, Saal folgte auf Saal, ohne daß man etwas anderes zu sehen bekam, als bekritzelte Papiere hinter den Scheiben der Schränke an den Wänden. Herr Madinier, der den Kopf verloren hatte, wollte durchaus nicht zugeben, daß er nicht mehr Bescheid wisse. Er fand eine Treppe und ließ die Gesellschaft hinaufsteigen. Nun waren sie in das Marinemuseum geraten, mitten unter die Kanonenmodelle und Darstellungen von Schiffen, die wie Kinderspielzeug aussahen. Nach einem Marsch von beinahe einer Viertelstunde stießen sie auf eine andere Treppe. Als man diese hinabgestiegen war, befand man sich wieder bei den Handzeichnungen. Jetzt erfaßte sie die Verzweiflung; dem Zufall sich überlassend, streiften sie durch die Säle, die Paare immer eines hinter dem andern. Sie folgten immer noch Herrn Madinier, der sich den Schweiß von der Stirne wischte; er war außer sich und schimpfte auf die Museumsverwaltung, die er anklagte, die Türen verändert zu haben. Mit Erstaunen sahen die Galeriediener und die Besucher diesen Hochzeitszug an sich vorüberziehen. In weniger denn zwanzig Minuten sah man sie im viereckigen Salon, in der französischen Galerie und längs der Schränke, in denen die kleinen orientalischen Götzenbilder schlummerten. Sie schienen den Ausgang nie mehr zu finden. So schleppte sich der Zug mit müden Beinen von Saal zu Saal und ließ auf diesem verzweifelten Marsch den Bauch der Madame Gaudron weit hinter sich. »Es wird geschlossen! Es wird geschlossen!« riefen mit gewaltigen Stimmen die Galeriediener. Beinahe hätte man sie eingeschlossen. Ein Galeriediener mußte die Führung übernehmen und sie zum Ausgange bringen. Nachdem alle an der Garderobe ihre Regenschirme wieder in Empfang genommen hatten, schöpften sie auf dem Hofe des Louvre wieder Atem. Herr Madinier hatte seine Würde wiedergefunden; er hätte sich links wenden sollen, meinte er; links seien die Geschmeide zu sehen. Übrigens heuchelte die ganze Gesellschaft die größte Zufriedenheit, und alle versicherten, sie seien sehr froh, es gesehen zu haben.
Es schlug vier Uhr. Man hatte bis zum Essen noch zwei Stunden totzuschlagen. Man beschloß, einen Spaziergang zu machen. Die Damen, die sehr müde waren, hätten sich gerne niedergesetzt; da sich aber niemand erbot, eine Erquickung geben zu lassen, machte man sich auf den Weg und ging die Uferstraße hinab. Hier überraschte sie ein so heftiger Sturzregen, daß jetzt die Kleider der Damen ernstlich zu leiden anfingen. Madame Lorilleux, der jeder Tropfen das Herz brach, der auf ihr seidenes Kleid fiel, machte den Vorschlag, sich unter die Königsbrücke zu flüchten; sie drohte damit, ganz allein hinunterzugehen, wenn man ihr nicht folge. So ging denn die ganze Gesellschaft unter die Brücke. Man war da sehr gut aufgehoben und konnte wohl sagen, daß es eine gelungene Idee war, dorthin zu gehen! Die Damen breiteten ihre Taschentücher auf dem Pflaster aus und setzten sich nieder, ihre Knie ausspreizend und mit den Händen die Büschel Gras ausreißend, die zwischen den Steinen emporwuchsen. Vor sich sah man das schwarze Wasser fließen, so daß man sich einbilden konnte, auf dem Lande zu sein. Die Männer unterhielten sich damit, sehr stark zu schreien, um das Echo des gegenüberliegenden Bogens hervorzurufen. Boche und Bibi–la–Grillade schimpften ins Leere und sandten abwechselnd einer nach dem andern ihr »Schafskopf!« in die Lüfte, wobei sie übermäßig lachten, wenn das Echo ihnen ihr Wort zurückrief. Als sie heiser waren, nahmen sie flache Kiesel und warfen Butterstullen. Der Regenguß war vorüber, aber die Gesellschaft fühlte sich so wohl da, wo sie war, daß sie gar nicht daran dachte fortzugehen. Auf der Seine trieben fettige Abgänge, alte Korke und Überreste von Gemüsen. All diesen Unrat hielt ein Strudel einen Augenblick in dem unruhigem Wasser fest, das im Schatten des Brückenbogens ganz düster dahinfloß; während oben das Rollen der Omnibuswagen und Droschken und all der ungeheure Lärm der Stadt Paris vorüberbrauste, von der man da unten nur zur Rechten und Linken einige Dächer sah wie aus dem Grunde eines Brunnenloches. Fräulein Remanjou seufzte; wenn da Bäume gewesen wären, hätte es sie, sagte sie, an eine Stelle an den Ufern der Marne erinnert, wo sie im Jahre 1817 mit einem jungen Manne spazierengegangen sei, den sie noch heute beweine.
Da gab Herr Madinier das Zeichen zum Aufbruch. Man ging quer durch den Tuileriengarten mitten durch eine ganze Schar von kleinen Kindern, deren Reifen und Ballons die schöne Ordnung des Zuges störte. Als die Gesellschaft auf dem Vendômeplatz angekommen war und die Säule betrachtete, kam es Herrn Madinier in den Sinn, den Lernen eine Artigkeit zu erweisen. Er bot ihnen an, die Säule zu besteigen, um Paris zu sehen. Dieser Vorschlag erschien sehr seltsam. Ja, ja, man müsse hinaufsteigen, so wurde unter vielem Lachen beschlossen. Übrigens war die Sache nicht ohne Interesse für Leute, die noch nie ihr bißchen Heimat verlassen hatten.
»Glaubt Ihr denn wirklich, daß die Humpelliese sich mit ihrem Stumpf da hinauf wagen wird?« murmelte Madame Lorilleux.
»Ich würde sehr gern hinaufsteigen,« sagte Madame Lerat, »aber ich mag nicht, daß hinter mir ein Mann ist.«
Die Gesellschaft stieg hinauf. In der engen Rundung der Wendeltreppe klommen hintereinander die zwölf empor. Sie stießen sich an den abgenutzten Treppenstufen und hielten sich an den Wänden fest. Als es vollkommen finster war, gab es des Lachens kein Ende. Die Damen kreischten dann und wann. Die Herren kitzelten sie und kniffen sie in die Beine, aber sie hüteten sich wohl, etwas zu sagen, man gab sich den Anschein, als ob man glaubte, daß es Mäuse seien. Übrigens blieb die Sache ohne Folgen, weil man es verstand, sich in den Grenzen des Anstandes zu halten. Boche erfand jetzt einen Scherz, den die ganze Gesellschaft nachmachte. Man rief nach Madame Gaudron, als ob sie nicht mehr mitkönne, und fragte, ob ihr Bauch auch noch durchgehe. Denkt doch! wenn sie da stecken bliebe, ohne vor- noch rückwärts zu können, sie hätte das Loch verstopft, und man hätte nie wieder hinaus gekonnt. Man lachte so sehr über den Bauch dieser schwangeren Frau mit so übermütiger Lustigkeit, daß die Säule davon zu wanken schien. Boche, der jetzt sehr ausgelassen war, erklärte, daß man in diesem Schornstein alt und grau werde, ob denn die Sache gar kein Ende nehme? Das gehe ja bis in den Himmel. Dann suchte er die Damen zu erschrecken, indem er behauptete, daß das Ding wackele. Coupeau verhielt sich ganz ruhig. Er ging hinter Gervaise, deren Taille er umfaßt hatte, da ihre Kräfte zu schwinden schienen. Als man plötzlich ans Tageslicht kam, wollte er ihr gerade einen Kuß auf den Nacken geben.
»Na, das ist ja hübsch, geniert euch nur ja nicht, ihr beiden!« sagte Madame Lorilleux mit sittlicher Entrüstung.
Bibi-la-Grillade schien wütend; er murmelte zwischen den Zähnen:
»Ihr habt so viel Lärm gemacht, daß ich nicht einmal die Stufen habe zählen können.«
Herr Madinier war schon auf der Plattform oben und mitten in der Erklärung der Baudenkmäler. Madame Fauconnier und Fräulein Remanjou erklärten, daß sie nie aus der Treppe ins Freie kommen würden, schon allein der Gedanke an das Pflaster unten mache sie schwindlig. Sie begnügten sich damit, hin und wieder einen ängstlichen Blick durch die kleine Tür zu tun. Madame Lerat, die kühner war, machte einen Rundgang um die schmale Terrasse, wobei sie sich an der Bronze der Kuppel festhielt und anlehnte. Es war doch ein wenig aufregend, wenn man bedachte, daß es genüge, nur ein Bein hinauszustecken. Welch ein Sturz, heiliger Himmel! Die Männer, die etwas bleich aussahen, betrachteten den Ort. Man konnte glauben, man sei ganz in der Luft, abgetrennt von allem. Donnerwetter, da konnte einen eine Gänsehaut überlaufen. Herr Madinier empfahl, geradeaus zu sehen und die Augen auf Dinge in weiter Ferne zu richten, das verhindere am besten den Schwindel. Er fuhr fort, die Aussicht zu erklären; er zeigte mit dem Finger auf den Invalidendom, das Pantheon, die Liebfrauenkirche, den Turm von St.-Jakob und den Montmartre. Madame Lorilleux hatte den Gedanken, zu sehen, ob man auf dem Kapellen-Boulevard das Haus des Weinwirtes sehen könne, bei dem man essen solle. Während voller zehn Minuten suchte man und zankte sich sogar, jeder verlegte den Weinwirt wo anders hin. Um sie herum breitete Paris die Unendlichkeit seiner grauen Massen bis zu den bläulichen Fernen aus, in seinen tiefen Tälern wogte ein Meer von Dächern; die ganze rechte Seite des Flusses lag im Schatten einer großen, beinahe kupferfarbigen Wolke. Die Ränder dieser Wolke leuchteten goldig, und unter ihr strömten breite Lichtmassen hervor, welche die Tausende und aber Tausende von Fensterscheiben auf der linken Seite des Flusses wie Sterne erglänzen ließen, so daß sich dieser Teil der Stadt wie in Licht gebadet von dem klaren Himmel abhob, den der Sturm reingefegt hatte.
»Wir sind doch hier nicht heraufgestiegen, um uns zu zanken«, sagte Boche, indem er übellaunig der Treppe zuschritt.
Die Hochzeitsgesellschaft stieg stumm und verstimmt hinab, so daß man nur das Klappern ihrer Schuhe auf den Treppenstufen hörte. Unten wollte Herr Madinier bezahlen, aber Coupeau duldete es nicht, er beeilte sich, dem Wächter vierundzwanzig Sous, also zwei Sous für die Person, in die Hand zu drücken. Es war nahezu halb sechs geworden, und man hatte nur noch so viel Zeit, um geradeswegs zum Essen zu gehen. So ging man denn die Boulevards und die Vorstadt Fischerstraße entlang. Coupeau war der Ansicht, daß der Spaziergang nicht ein so nüchternes Ende nehmen könne und drängte die Gäste in eine Weinschenke, wo sie etwas Wermutschnaps mit Wasser zu sich nehmen mußten.
Das Essen war zu sechs Uhr bestellt. Bereits seit zwanzig Minuten wartete man im Wirtshause auf die Hochzeitsgäste. Madame Boche, die ihre Pförtnerloge einer Frau aus ihrem Hause anvertraut hatte, plauderte mit Madame Coupeau in dem Saal des ersten Stockes angesichts des gedeckten Tisches, um den herum die beiden Schlingel Etienne und Claude zwischen einem Gewirre von Stühlen Zeck spielten. Als Gervaise beim Eintreten die Kleinen bemerkte, deren Anblick sie während des ganzen Tages hatte entbehren müssen, nahm sie sie auf ihren Schoß und bedeckte sie mit Küssen.
»Sind sie denn auch artig gewesen?« fragte sie Madame Boche. »Haben sie Euch denn nicht ganz toll gemacht?«
Als diese ihr erzählte, was das kleine Kroppzeug im Laufe des Nachmittags gesagt hatte und das zum Todlachen war, hob sie sie noch einmal empor und küßte sie mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit.
»Für Coupeau ist es immerhin ein bißchen merkwürdig«, sagte Madame Lorilleux zu den Damen am andern Ende des Saales.
Gervaise hatte ihre ruhige, lächelnde Miene vom Morgen noch immer bewahrt. Nur während des Spazierganges wurde sie von Zeit zu Zeit besorgt, wenn sie ihren Mann und die Lorilleux mit nachdenklicher Miene beobachtete. Sie fand Coupeau seiner Schwester gegenüber feige. Noch am vergangenen Abend hatte er sich hoch und teuer verschworen, er wolle diesen Lästermäulern schon die Wege weisen, wenn sie es seiner Frau gegenüber sollten an der gebührenden Achtung fehlen lassen. Aber wenn er ihnen gegenüber war, sah sie, wie er sich duckte, er legte, was sie sagten, den besten Sinn unter, und war geschmeidig wie ein Aal, wenn er glaubte, daß sie ihm böse sei. Das allein beunruhigte die junge Frau für die Zukunft.
Jetzt wartete man nur noch auf Mes-Bottes, der noch nicht wieder zum Vorschein gekommen war.
»Ach was!« rief Coupeau, »laßt uns doch zu Tisch gehen. Er wird sich schon einfinden; er hat eine gute Nase und riecht eine Gasterei auf eine Meile weit ... Hört mal, wenn er immer noch auf dem Wege nach St. Denis Schnittlauch für den Salat sucht, dann muß er sich gut unterhalten!«
Diese Vorstellung brachte Heiterkeit in die Gesellschaft und alle setzten sich mit großem Stuhlgerücke zu Tisch. Gervaise saß zwischen Lorilleux und Herrn Madinier, und Coupeau zwischen Madame Fauconnier und Madame Lorilleux. Die anderen setzten sich, wo sie wollten, denn es gab fast immer Eifersüchteleien und Streitigkeiten, wenn die Plätze vorher belegt wurden. Boche schlängelte sich neben Madame Lerat. Bibi-la-Grillade bekam Fräulein Remanjou und Madame Gaudron zu Nachbarinnen. Madame Boche und Mama Coupeau übernahmen es, an dem einen Ende des Tisches für die Kinder zu sorgen, ihnen das Fleisch zu schneiden und zum Trinken einzugießen, damit sie nicht zu viel Wein bekämen.
»Spricht niemand das Tischgebet?« fragte Boche, während die Damen ihre Röcke aus Furcht vor Flecken unter dem Tischtuch zurechtdrückten.
Da Madame Lorilleux erklärte, daß sie solche Dummheiten nicht liebe, so wurde die schon fast ganz kalte Nudelsuppe sehr schnell und mit einem schmatzenden Geräusch verzehrt.
Zwei Kellner in kurzen, fleckigen Jacken und Schürzen von zweifelhafter Weiße besorgten die Bedienung. Anmerk. des Übersetzers: Der französische, besonders der Pariser Kellner trägt nicht, wie der deutsche, einen Frack, sondern eine kurze Jacke und eine vom Gürtel bis beinahe zum Boden reichende weiße Schürze. Durch die vier geöffneten Fenster, die auf den Hof mit den Akazienbäumen gingen, drang die Abendluft des Sommertages herein, die nach dem Gewitter nicht viel von ihrer früheren Wärme verloren hatte. Der Widerschein der Bäume in diesem feuchten Winkel ließ den dunstigen Saal grün erscheinen, und die Schatten des Laubes huschten über das feuchte Tischtuch, von dem ein unbestimmter stockiger Geruch ausging. Zwei Spiegel zierten den Saal, die voller Fliegenschmutz waren; da sie einander gegenüber an den beiden Querwänden hingen, so schienen sie die Tafel bis ins Unendliche zu verlängern. Diese Tafel war mit dickem, gelblichem Steingutgeschirr bedeckt, in dessen Rissen und Messerkratzen sich der schwarze, fettige Schmutz des Spülwassers festgesetzt hatte. Wenn sich beim Eintreten der Kellner die nach der Küche führende Hintertür öffnete, machte sich ein starker Geruch von Speiseresten bemerkbar.
»Aber wir dürften nicht alle auf einmal reden«, sagte Boche, als alle schweigend die Nasen in ihre Teller steckten.
Als man soeben das erste Glas Wein trank und mit den Augen zwei Fleischpasteten verschlang, die von den Kellnern aufgetragen wurden, trat Mes-Bottes ein.
»Ihr seid ja eine nette Bande!« schrie er. »Volle drei Stunden habe ich meine Beine auf der Landstraße abgenutzt, daß mich sogar ein Gendarm nach meinen Papieren gefragt hat ... Ist das recht, einen Freund so hereinfallen zu lassen? Wenn ihr mir wenigstens noch durch einen Dienstmann einen Zettel geschickt hättet! Nein, wißt ihr, Scherz beiseite, ich finde es etwas stark. Und dabei regnete es so toll, daß ich alle Taschen voll Wasser hatte ... Ich glaube, man kann jetzt noch nach Plötzen darin fischen!«
Die Gesellschaft lachte aus vollem Halse. Das Vieh, der Mes-Bottes hatte einen Schwips, zwei Liter hatte er wenigstens schon hinter die Binde gegossen, nur um der Froschsuppe das Gegengewicht zu halten, die der Gewitterregen auf seine Kleider schüttete.
»Nun laß es gut sein, du Graf Gierschlung,« sagte Coupeau, »mach und setze dich da neben Madame Gaudron. Du siehst, daß du erwartet wurdest.«
Das sei das Wenigste, er werde schon nachkommen; dabei verlangte er von der Suppe dreimal und schnitt noch ungeheure Mengen Brot in die tiefen Teller mit den Nudeln. Als man die Fleischpasteten in Angriff nahm, erregte er die ungeheuchelte Bewunderung der ganzen Tischgesellschaft. Wie schlang er! Die erschrockenen Kellner waren beide beschäftigt, ihm Brot zuzureichen, wovon er die klein bemessenen Schnitten auf einen Bissen verschwinden ließ. Schließlich wurde er böse, er wollte, daß man ein ganzes Brot neben ihn lege. Der ernsthaft beunruhigte Wirt der Weinschenke zeigte sich einen Augenblick auf dem Vorflur. Die Gesellschaft, die es erwartet hatte, schüttete sich vor Lachen aus. Der zeige dem Kneipwirt einmal, was Essen heiße! Er war doch ein verteufelter Kerl, dieser Mes-Bottes! Hatte er nicht eines Tages zwölf harte Eier gegessen und dazu zwölf Gläser Wein getrunken, während die zwölf Schläge der Uhr ertönten? Man konnte lange suchen, ehe man wieder so einen fand. Fräulein Remanjou sah mit wehmütiger Rührung auf die Kinnbackenarbeit des Mes-Bottes, und Herr Madinier suchte nach Worten, um sein beinahe ehrfurchtsvolles Erstaunen auszudrücken, schließlich erklärte er eine solche Fähigkeit für ganz außerordentlich.
Eine feierliche Stille entstand, als ein Kellner in einer sehr großen Schüssel, die so tief wie ein Salatnapf war, ein Kaninchenfrikassee auftrug. Coupeau, der immer Spaße machte, hatte diesmal einen guten Einfall.
»Sagt mal, Kellner, das war wohl ein Dachhase? Der schreit ja noch Miau!«
In Wirklichkeit schien ein vortrefflich nachgeahmtes Miau! Miau! von der Schüssel her zu kommen. Es war Coupeau, der es mit der Kehle machte, ohne die Lippen zu bewegen. Dieses kleine gesellschaftliche Talent war stets von so sicherem Erfolg begleitet, daß er niemals auswärts aß, ohne ein Frikassee von Kaninchen zu bestellen. Die Damen wischten sich mit ihren Servietten über die Gesichter, weil sie zuviel hatten lachen müssen.
Madame Fauconnier bat sich den Kopf aus, den sie ganz besonders gern esse. Fräulein Remanjou schwärmte für die Speckstückchen. Als Boche erklärte, daß er die kleinen Zwiebeln vorziehe, wenn sie gut durchgebraten seien, kniff Madame Lerat die Lippen zusammen und murmelte zwischen den Zähnen:
»Das kann ich begreifen.«
Obgleich sie dürr wie eine Hopfenstange war und das zurückgezogene Leben einer ordentlichen, fleißigen Arbeiterin führte, die seit ihrer Witwenschaft auch nicht die Nase eines Mannes bei sich gesehen hatte, liebte sie doch, fortwährend Anspielungen auf unzüchtige Dinge zu machen; sie hatte eine besondere Vorliebe für doppelsinnige Worte, deren Bedeutung allerdings gewöhnlich so tief lag, daß nur sie allein sie verstand. Als Boche sich vorbeugte und eine Erklärung verlangte, sagte sie ihm ganz leise ins Ohr:
»Nun natürlich, die kleinen Zwiebel ... Ich denke, das genügt.«
Jetzt wurde die ganze Unterhaltung ernsthaft. Jeder fing an, von seinem Handwerk zu sprechen. Herr Madinier sang ein Loblied auf die Kartons, es gäbe in unserem Vaterlande wahre Künstler; er erzählte von Kartons für Neujahrsgeschenke, deren Modelle er kannte und die wahre Wunderwerke von Reichtum und Schönheit seien. Lorilleux lächelte verächtlich, er war sehr stolz darauf, Gold zu verarbeiten und glaubte, daß sich ein Abglanz davon über seine Hände und seine ganze Person verbreite. Er erzählte, daß die Juweliere in früheren Zeiten den Degen getragen hätten, und führte aufs Geratewohl Bernhard Palissy als Beispiel an. Coupeau sprach von einer Wetterfahne, dem Meisterstück eines seiner Kameraden; sie bestehe aus einer Säule, einer Garbe, einem Fruchtkorb und einer Fahne; alles sei sehr schön dargestellt und nur aus kleinen Stückchen Zink zusammengesetzt, die aneinander gelötet seien. Madame Lerat zeigte Bibi-la-Grillade, wie man einen Rosenstengel mache, indem sie den Griff ihres Messers zwischen ihren knochigen Fingern hin und her rollte. So wurde die Unterhaltung immer lebhafter, alle sprachen durcheinander und in dem Lärm hörte man, wie Madame Fauconnier sich mit erhobener Stimme über eine ihrer Arbeiterinnen beklagte, eine kleine Dirne, die noch lerne und ihr noch tags zuvor ein paar Bettücher verbrannt habe.
»Ihr mögt alle sagen, was ihr wollt,« schrie Lorilleux, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug, »Gold bleibt immer Gold!«
Inmitten des Schweigens, das durch den Ausspruch dieser unumstößlichen Wahrheit hervorgebracht wurde, hörte man nur die Flötenstimme des Fräulein Remanjou, die fortfuhr:
»Also, ich hebe ihnen den Unterrock auf und nähe ihn inwendig fest ... Dann stecke ich ihnen eine Stecknadel in den Kopf, um die Haube festzuhalten ... Damit ist sie fertig und man verkauft sie zu dreizehn Sous.
Sie setzte Mes-Bottes auseinander, wie sie ihre Puppen machte, während die Kiefern dieses Ehrenmannes langsam wie ein Paar Mühlsteine arbeiteten. Er hörte ihr gar nicht zu und nickte nur hin und wieder mit dem Kopfe, sondern paßte scharf auf die Kellner, damit sie nicht eine Schüssel hinaustrügen, ehe er sie ganz ausgeleert hatte. Man hatte noch ein Kalbsgehacktes mit Sauce und grüne Bohnen gegessen. Jetzt trug man den Braten auf, es waren zwei magere Hühner, die auf einer Unterlage von Brunnenkresse schlummerten, sie waren im Ofen gekocht und sahen blaß und kränklich aus. Draußen lagen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf den Zweigen der Akazien. Im Saale nahm der grüne Widerschein des Laubes zu; vom Tisch, der mit Wein und Soße befleckt war und den die in Unordnung gebrachten Kuverts bedeckten, stiegen Dünste auf. Längs der Wände hatten die Kellner die schmutzigen Teller und die leergetrunkenen Flaschen niedergesetzt, die sich dort wie der zusammengefegte Abhub einer Mahlzeit ausnahmen. Es war sehr heiß geworden, die Männer hatten ihre Röcke ausgezogen und aßen in Hemdärmeln weiter.
»Madame Boche, ich bitte, stopft sie nicht so voll«, sagte Gervaise, die nur wenig sprach und Claude und Etienne von weitem überwachte.
Sie stand auf und plauderte einen Augenblick hinter den Stühlen ihrer Kleinen. Solche Kinder haben keinen Verstand, die würden den ganzen Tag lang essen, ohne auch nur ein Stück zurückzuweisen; sie selbst legte ihnen von dem Huhn ein Stückchen weißes Fleisch vor. Mama Coupeau meinte, einmal könnten sie sich schon immer den Magen verderben. Madame Boche beklagte sich mit leiser Stimme über ihren Mann, er kneife Madame Lerat die Knie. Er sei ein Taugenichts, der nur Dummheiten mache. Sie habe wohl gesehen, wo seine Hand geblieben sei. Wenn er solche Sachen anfange, bei Gott, sie sei die Frau danach, ihm eine Wasserflasche an den Kopf zu werfen.
Jetzt, wo in den Gesprächen eine Pause eintrat, hörte man Herrn Madinier von Politik sprechen.
Ihr Gesetz vom einunddreißigsten Mai sei eine Schandtat. Jetzt müsse man zwei Jahre an derselben Stelle gewohnt haben. Drei Millionen Bürger seien aus den Listen gestrichen ... Man sage, daß Bonaparte eigentlich auf das Gesetz sehr böse sei, denn er liebe das Volk, davon habe er Beweise gegeben. Er sei Republikaner, aber er bewundere den Prinzen seines Onkels wegen; das sei ein Mann gewesen, wie wohl so bald keiner wiederkomme. Bibi-la-Grillade wurde ärgerlich; er habe im Elysee gearbeitet und Bonaparte gesehen, wie er jetzt Mes-Bottes sehe, der ihm da gegenüber sitze; dieser Tölpel von Präsident sehe wie ein Klopphengst aus, ja, ja! Man sage ja, daß er jetzt einen Ausflug in die Gegend von Lyon machen wolle, da könne man ihn billig los werden, wenn er sich in irgendeinem Graben den Hals breche. Da die Unterhaltung einen häßlichen Ton annahm, glaubte Coupeau sich ins Mittel legen zu müssen.
»Seid ihr noch so grün, euch in die Politik zu verrennen? ... Das ist eine schöne Komödie! Da kann man hinsetzen was man will, einen König, einen Kaiser, oder gar nichts, alles kann mich nicht hindern, meine fünf Franken zu verdienen, zu essen und zu schlafen, nicht wahr? ... Nein, das ist zu dumm!«
Lorilleux schüttelte den Kopf. Er war am selben Tage wie der Graf von Chambord geboren, den neunundzwanzigsten September achtzehnhundertundzwanzig. Dieses Zusammentreffen beschäftigte ihn sehr, er erging sich in unbestimmten Träumereien, in denen er eine Beziehung zwischen der Rückkehr des Königs nach Frankreich und seinem eigenen Schicksal sah. Er sagte nicht geradezu, was er hoffte, aber er ließ durchblicken, daß ihm dann etwas ganz außerordentlich Angenehmes widerfahren werde. So verschob er denn die Erfüllung aller Wünsche, die zu groß waren, um jetzt befriedigt zu werden, auf die Rückkehr des Königs nach Frankreich.
»Übrigens«, erzählte er, »habe ich einmal des Abends den Grafen von Chambord gesehen ...«
Alle wendeten ihm ihre Gesichter zu.
»Jawohl, ganz genau. Ein starker Mann, der wie ein Biedermann aussieht, in einem Überrock ... Ich war gerade bei Péquignot, einem meiner Freunde, der in der Großen Kapellenstraße Möbel feilhält. Der Graf von Chambord hatte abends zuvor dort einen Regenschirm gelassen. Er kam also hinein und sagte ganz einfach: ›Wollen Sie so gut sein und mir meinen Schirm geben?‹ Mein Gott! Ja, er war es, Péquignot hat mir sein Ehrenwort darauf gegeben.«
Keiner der Gäste zweifelte im geringsten daran. Man war jetzt beim Nachtisch. Die Kellner räumten mit großem Tellergeklapper den Tisch ab. Madame Lorilleux, die sich bis dahin sehr schicklich, ganz wie eine Dame, benommen hatte, entfuhr plötzlich ein: Verdammter Schlingel! weil einer der Kellner beim Abräumen ihr etwas Feuchtes hatte in den Nacken fließen lassen. Sicher mußte ihr Seidenkleid einen Fleck haben. Herr Madinier mußte ihren Rücken untersuchen, aber er fand nichts, wie er heilig beteuerte.
In der Mitte der Tafel prangte jetzt eine große Schüssel mit Eiern in geschlagener Sahne, an deren Seite eine Schüssel mit verschiedenen Arten Käse und eine Schüssel mit Früchten aufgestellt war. Die Eier, deren Weißes zu hart gekocht war und die in der gelblichen Schlagsahne schwammen, erregten ehrfurchtsvolles Staunen, man hatte auf so etwas nicht gerechnet und fand das Gericht sehr vornehm. Meß-Bottes aß noch immer. Er hatte sich schon wieder Brot bestellt, mit dessen Hilfe er den Überresten auf der Käseschüssel ein Ende machte; da noch etwas Schlagsahne übrig blieb, so ließ er sich die Schüssel reichen und schnitt große Brocken Brot hinein, wie er es mit der Suppe gemacht hatte.
»Der Herr leistet wirklich Bedeutendes«, sagte Herr Madinier, den diese Taten zu neuer Bewunderung hinrissen.
Die Männer standen jetzt auf, um ihre Pfeifen hervorzuholen. Einen Augenblick blieben sie hinter Mes-Bottes stehen, klopften ihm auf die Schultern und erkundigten sich, ob es denn nun schon ein bißchen besser gehe. Bibi-la-Grillade hob ihn mit seinem Stuhl in die Höhe, aber heiliger Himmel! Das Vieh hatte sein Gewicht verdoppelt. Coupeau erzählte zum Spaß, daß sein Kamerad jetzt erst anfange, in Zug zu kommen, jetzt werde er noch die ganze Nacht hindurch Brot essen. Die zu Tode erschrockenen Kellner verschwanden bei dieser Schreckenskunde. Boche, der einen Augenblick nach unten gegangen war, kam zurück und erzählte, was der Weinwirt für ein verstörtes Gesicht unten mache, er sitze ganz blaß in seinem Rechnungszimmer. Die verblüffte Wirtin habe soeben geschickt, um sich zu erkundigen, ob die Bäckerläden noch auf seien, sogar die Hauskatze sehe so aus, als ob sie ihren Konkurs anmelden müsse. Es war aber auch wirklich zu spaßhaft; der fraß mehr Brot, als das ganze Essen kostete, ohne diesen Vielfraß war gar kein Essen zu denken. Die rauchenden Männer blickten mit einem gewissen Neid zu ihm hinüber, denn um soviel essen zu können, mußte man eine verdammt feste Konstitution haben.
»Euch möchte ich nicht zu ernähren haben,« sagte Madame Gaudron, »nicht um alle Welt.«
»Hört mal, Mütterchen,« erwiderte er mit einem Seitenblick auf den Bauch der Madame Gaudron, »Ihr müßt keinen Unsinn reden, Ihr scheint Euch noch ein bißchen mehr in den Leib geschlagen zu haben als ich.«
Man klatschte ihm Beifall und rief: »Bravo!« Der hatte er's gut gegeben.
Es war eine dunkle Nacht, die drei Gasflammen, die in dem Saale brannten, beleuchteten mit unsicher flackerndem Licht die dichten Rauchwolken, die aus den Pfeifen der Männer schnell emporwirbelten. Als die Kellner den Kaffee und den Kognak aufgetragen hatten, trugen sie die letzten Stöße schmutziger Teller hinunter. Unten bei den drei Akazien hatte der Tanz angefangen, ein Waldhorn und zwei Violinen ließen ihre harten Weisen ertönen, die zeitweise von dem Lachen der Weiber begleitet wurden; alle Laute klangen rauh in die heiße, weiche Nachtluft hinaus.
»Laßt uns einen Punsch machen!« schrie Mes-Bottes, zwei Liter Fusel, viel Zitrone und wenig Zucker!«
Coupeau, der in Gervaises besorgtes Gesicht sah, erhob sich und erklärte, daß weiter nichts getrunken werde. Es seien fünfundzwanzig Liter getrunken, die Person ein und ein halbes Liter, wenn man die Kinder für voll rechne; das, sei mehr als genug. Man sei hier zusammengekommen und habe ein Stück Fleisch gegessen in guter Freundschaft ohne großen Klumpatsch, weil man einander achte und ein Familienfest zusammen feiern wolle. Alles sei sehr gut verlaufen, man sei vergnügt gewesen und damit genug. Wer sich jetzt hier mit Gewalt einen Zacken antrinken wolle, werde die Achtung vor den Frauen außer Augen setzen. Mit einem Wort zu guter Letzt, man sei zusammengekommen, um den jungen Eheleuten eine Gesundheit zuzutrinken, aber nicht, um sich ohne Sinn und Verstand zu bezechen. Diese kleine Rede, die der Zinkarbeiter mit dem Brustton der Überzeugung vortrug, indem er zu Ende jedes Satzes die Hand auf das Herz legte, erntete den ungeteilten Beifall von Lorilleux und Madinier; aber die anderen, Boche, Gaudron, Bibi-la-Grillade, und besonders Mes-Bottes, die alle schon etwas angeheitert waren, versicherten mit lallenden Zungen, daß sie einen ganz verdammten Durst hätten, den sie notwendig begießen müßten.
»Wer Durst hat, hat Durst, und wer keinen hat, der hat keinen«, bemerkte Mes-Bottes. »Deshalb muß man einen Punsch bestellen ... Man will ja keinen zwingen. Die Vornehmen können sich ja Zuckerwasser raufkommen lassen.«
Als der Zinkarbeiter mit seiner Predigt noch einmal von vorne anfangen wollte, stand der andere auf und schrie, indem er sich auf die Hüfte schlug:
»Bist du bald fertig? Halt's Maul, Cadet! ... Kellner, zwei Liter Scharfen!«
»Nun,« sagte Coupeau, »das wäre ja recht gut, aber dann solle man wenigstens die Rechnung für das Essen gleich in Ordnung bringen; es werde alle Zänkereien vermeiden. Leute von guter Lebensart brauchten doch nicht für Saufbolde zu bezahlen. Gerade Mes-Bottes brachte nach langem Suchen nur drei Franken und sieben Sous zum Vorschein. Warum habe man ihn auch solange auf der Landstraße von St. Denis umhervagabondieren lassen, da habe er das Fünffrankstück angegriffen, er könne sich doch nicht ganz ausspülen lassen. Das sei doch nicht seine Schuld, nicht wahr? Endlich gab er die drei Franken und behielt die sieben Sous auf Tabak für den nächsten Morgen zurück. Coupeau war so wütend, daß er auf ihn losgeschlagen hätte, wenn ihn nicht Gervaise, die sehr erschrocken war, mit bittender Miene am Rock festgehalten hätte. Er entschloß sich, zwei Franken von Lorilleux zu borgen, der sie ihm heimlich gab, nachdem er sie ihm erst verweigert hatte, denn seine Frau werde es sicherlich nie zugegeben haben. Mittlerweile hatte Herr Madinier einen Teller zum Sammeln genommen. Das Fräulein und die alleinstehenden Damen, Madame Lerat, Madame Fauconnier, Fräulein Remanjou, legten ihr Fünffrankenstück bescheiden darauf. Dann zogen sich die Herren nach dem anderen Ende des Saales zurück und machten die Rechnung. Es waren fünfzehn Personen, machte also fünfundsiebzig Franken. Als diese Summe im Teller war, legte noch jeder der Männer fünf Sous für die Kellner hinzu. Sie gebrauchten eine volle Viertelstunde, um mit angestrengtestem Rechnen die Sache zur Zufriedenheit aller zu erledigen.
Als Herr Madinier, der die Angelegenheit mit dem Wirt selbst ordnen wollte, diesen heraufbitten ließ, war die ganze Gesellschaft sehr betroffen von dessen Erklärung, daß er damit noch durchaus nicht befriedigt sei. Es seien einige mehr gelieferte Dinge zu berechnen. Als dieser Ausspruch mit einem Wutgeheul aufgenommen wurde, machte er die besondere Berechnung: Fünfundzwanzig Liter statt zwanzig, wie man vorher abgemacht habe; die Eier in der Schlagsahne, die er hinzugefügt habe, als er gesehen habe, daß der Nachtisch ein wenig dürftig ausfalle, endlich eine Flasche Rum, die man mit dem Kaffee herumgereicht habe für den Fall, daß jemand Rum liebe. Diese Erklärung entfachte einen heftigen Streit. Coupeau, den man beiseite genommen hatte, sträubte sich: er habe nicht ein Wort von zwanzig Litern gesprochen. Was die Eier in der Schlagsahne betreffe, so gehörten sie zum Nachtisch. Das sei des Wirtes Sache, denn er habe sie aus freien Stücken zugegeben. So bleibe nur noch die Flasche Rum; das sei ein Gaunerkniff, um die Rechnung größer zu machen, daß man Liköre auf den Tisch stelle, von denen niemand wisse, daß sie besonders bezahlt werden müssen.
»Er ist mit dem Kaffee serviert, also gehört er zum Kaffee ... Laßt uns in Ruhe! Nehmt Euer Geld, und ein heiliges Donnerwetter soll einschlagen, wenn wir je wieder einen Fuß in Eure Baracke setzen!«
»Es macht sechs Franken mehr«, sagte der Wirt. »Gebt mir meine sechs Franken ... dann will ich auch die drei Brote nicht rechnen, die der Herr extra gegessen hat!«
Die ganze Gesellschaft hatte sich um ihn herumgedrängt und redete mit wütenden Gebärden und zornerstickten Stimmen auf ihn ein. Besonders die Frauen hatten ihre Zurückhaltung aufgegeben und weigerten sich, auch nur eine Centime hinzuzufügen. Nun ja! Das war ja eine recht hübsche Hochzeit! Fräulein Remanjou werde sich wohl hüten, noch einmal solches Essen mitzumachen! Madame Fauconnier hatte sehr schlecht gegessen; zu Hause habe sie sich für vierzig Sous ein Gericht gemacht, um sich die Finger danach zu lecken. Madame Gaudron beklagte sich bitter, daß man ihr unten am Tisch einen schlechten Platz neben Mes-Bottes gegeben hätte, der auch nicht die geringste Rücksicht für sie gezeigt habe. Solche Gesellschaften nähmen immer ein schlechtes Ende. Wenn man seine Hochzeit feiern wollte, müsse man sich die Leute einladen! Gervaise, die sich zu Mama Coupeau an eines der Fenster geflüchtet hatte, sagte nichts, beschämt fühlte sie sehr wohl heraus, daß alle diese Bemerkungen auf sie gemünzt waren.
Endlich ging Herr Madinier mit dem Wirt hinunter, wo man sie laut unterhandeln hörte. Nach einer halben Stunde kam der Kartonfabrikant wieder nach oben; er hatte die Sache in Ordnung gebracht, indem er noch drei Franken gegeben. Trotzdem blieb die Gesellschaft verstimmt und erregt, man kam immer wieder auf die Frage wegen der Nachrechnung zurück. Der Lärm nahm noch zu, als Madame Boche eine Gewalttat beging. Sie paßte fortwährend auf ihren Mann auf. Als sie ihn in einer Ecke Madame Lerat um die Taille fassen sah, ergriff sie eine Wasserflasche und warf sie nach ihm, so daß das Gefäß an der Wand zerschellte.
»Man sieht wohl, daß Ihr Mann Schneider ist, Madame«, sagte die große Witwe mit einem geheimnisvollen Lächeln. »Er ist ein Unterrockschneider Nummer eins ... Ich habe ihm dafür auch unter dem Tisch ein paar Fußtritte gegeben, die waren nicht schlecht.«
Damit war der Abend ganz und gar verdorben; man wurde immer übellauniger. Herr Madinier schlug vor, daß man singen solle, aber als man nach Bibi-la-Grillade suchte, der eine schöne Stimme hatte, war er verschwunden. Fräulein Remanjou, die an einem der Fenster saß, bemerkte ihn, wie er unter den Akazien mit einem dicken Mädchen mit aufgelösten Haaren tanzte. Das Waldhorn und die beiden Violinen spielten »den Mostrichmann«, eine Quadrille, bei deren einzelnen Touren man in die Hände klatschte.
Da gab es einen allgemeinen Aufbruch: Mes-Bottes und das Ehepaar Gaudron gingen hinunter, selbst Boche verschwand spurlos. Von den Fenstern aus sah man die Paare unter dem Laubdach sich drehen, dessen Grün dem Licht der an den Zweigen aufgehängten Laternen ein grelles, unnatürliches Aussehen gab. Die Nacht schlummerte ohne einen Atemzug, als ob die große Hitze sie betäubt habe. Oben im Saal hatte sich eine ernste Unterhaltung zwischen Lorilleux und Herrn Madinier entwickelt, während die Damen, die nicht mehr wußten, woran sie ihre üble Laune auslassen sollten, ihre Kleider untersuchten und nachsahen, ob sie keine Flecke bekommen hätten.
Die Schleppe der Madame Lerat war in den auf den Boden gegossenen Kaffee gestippt. Die ungebleichte Robe der Madame Fauconnier war voller Sauce. Der grüne Schal der Mama Coupeau war vom Stuhle gefallen und wurde in einer Ecke wiedergefunden, nachdem er ganz zerknautscht und zertreten war. Alles war nichts gegen Madame Lorilleux, die es am besten verstand, eine Nahrung für ihren Grimm zu finden. Sie hatte einen Fleck auf dem Rücken, und wenn man ihr auch noch so oft versicherte, daß es nicht der Fall sei, sie fühlte es. So lange drehte sie sich vor dem Spiegel den Hals um, bis sie ihren Fleck gefunden hatte.
»Na, was habe ich denn gesagt?« schrie sie. »Es ist Soße von den gebratenen Hühnern. Der Kellner muß mein Kleid bezahlen. Dem werde ich einen Prozeß an den Hals hängen ... Na, weiter hat ja dem Tage nichts mehr gefehlt! Wie klug wäre ich gewesen, wenn ich zu Hause geblieben wäre ... Jetzt gehe ich. Ich habe genug von ihrer verdammten Hochzeit!«
Sie ging wütend weg und ließ die Treppe unter der Wucht ihrer Tritte erzittern. Lorilleux lief ihr nach. Aber alles, was er von ihr erlangen konnte, war, daß sie versprach, fünf Minuten auf der Straße zu warten, wenn man mit ihr zusammen gehen wolle. Sie hätte schon nach dem Gewitter weggehen sollen, wie sie es auch eigentlich gewollt habe. Den Tag werde sie Coupeau sobald nicht vergessen. Als dieser hörte, daß sie so wütend sei, schien er sehr betreten; um ihm Unannehmlichkeiten zu ersparen, willigte Gervaise ein, auch gleich nach Hause zu gehen. So nahm man eiligen Abschied voneinander. Herr Madinier übernahm es, Mama Coupeau nach Hause zu bringen. Madame Boche sollte für die erste Nacht Claude und Etienne bei sich schlafen lassen, da könne ihre Mutter ruhig sein, sie würden auf Stühlen ganz gut schlafen, obwohl sie sich mit den Schlagsahneeiern beide den Magen überladen hatten. Endlich konnte das junge Paar mit Lorilleux sich fortstehlen und den Rest der Gesellschaft bei dem Weinwirt lassen, wo gerade jetzt ein heftiger Streit auf dem Tanzboden ausbrach, und zwar zwischen ihrer Gesellschaft und einer andern; Boche und Mes-Bottes hatten eine Dame geküßt und wollten sie auf keinen Fall den beiden Soldaten wieder zustellen, zu denen sie gehörte; sie drohten, die ganze Bude auszuräumen, all das bei den Klängen des Waldhorns und der beiden Violinen, die die Perlenpolka spielten.
Es war eben elf Uhr. Auf dem Kapellen-Boulevard und in dem ganzen Goldtropfen-Stadtviertel de la Goutte-d'Or herrschte ein wüster Lärm. Es war diesen Sonnabend der Fünfzehnte und Zahltag, daher die Menge der Betrunkenen, die man antraf. Madame Lorilleux wartete unter einer Gaslaterne zwanzig Schritte vom Wirtshause zur »Goldenen Windmühle«. Sie nahm Lorilleux' Arm und ging, ohne sich umzusehen, mit so starken Schritten davon, daß Coupeau und Gervaise daran verzweifelten, ihnen zu folgen. Hin und wieder schritten sie vom Fußsteige, um einen Trunkenbold zu umgehen, der dort, alle Viere von sich gestreckt, auf dem Pflaster lag. Lorilleux wandte sich einigemal zurück und suchte alles wieder ins gleiche zu bringen.
»Wir werden euch bis zu eurer Tür bringen.«
Da aber erhob Madame Lorilleux ihre Stimme und erklärte, daß sie nicht begreifen könne, wie man eine Hochzeitsnacht in einem solchen Schmutzloch, wie das Hotel »Zum Guten Herzen«, zubringe. Hätten sie nicht mit der Hochzeit noch warten, sich etliche Groschen ersparen, Möbel kaufen und dann den ersten Abend in ihrem eigenen Heim zubringen können? Sie würden sich sehr wohl befinden unter dem Dach, alle beide eingepfercht in ein Kämmerchen zu zehn Franken, wo sie nicht einmal Luft zum Atmen hätten.
»Ich habe schon gekündigt, wir bleiben da oben nicht«, bemerkte Coupeau schüchtern. »Wir behalten das Zimmer von Gervaise, das ist größer.«
Jetzt vergaß Madame Lorilleux alle Rücksicht; mit einem kurzen Ruck wendete sie sich um.
»Aber das ist denn doch zu stark!« schrie sie. »Du willst dich in dem Zimmer der Humpelliese schlafen legen?«
Gervaise erbleichte. Dieser Spitzname, der ihr da zum erstenmal ins Gesicht geschleudert wurde, berührte sie wie eine Ohrfeige. Sie verstand sehr wohl die Bemerkung ihrer Schwägerin: das Zimmer der Humpelliese, das war das Zimmer, in dem sie noch einen Monat mit Lantier zusammengelebt hatte, dem noch die Spuren dieses früheren Lebens anhafteten. Coupeau verstand es nicht, ihn verletzte nur der Spitzname.
»Du hast auch nicht gerade nötig, andere Leute zu taufen, du weißt wohl nicht, daß man dich im ganzen Quartier Kuhschwanz nennt wegen deiner schönen Haare. Das gefällt dir auch nicht, nicht wahr? ... Warum sollten wir denn das Zimmer im ersten Stock nicht behalten? Heute abend, wo die Kinder nicht da sind, werden wir da sehr gut aufgehoben sein.«
Madame Lorilleux antwortete darauf nichts, sie hüllte sich in ihre Würde, innerlich empört darüber, daß sie Kuhschwanz hieß. Coupeau versuchte es, Gervaise zu trösten, und drückte ihr sanft den Arm; schließlich gelang es ihm, ihr sogar ein Lächeln zu entlocken, als er ihr mitteilte, daß er noch mit der runden Summe von sieben Sous, drei dicken Sous und einem kleinen, nach Hause komme, wobei er die Geldstücke in seiner Hosentasche aneinander klingen ließ. Am Hotel »Zum Guten Herzen« angekommen, verabschiedete man sich mit verstimmten Gesichtern. Als eben Coupeau die beiden Frauen aneinander drängte und sagte, daß sie dumm seien, kam ein Trunkenbold des Weges, der nach rechts zu gehen schien, doch plötzlich eine heftige Wendung nach links ausführte und so zwischen die beiden fiel.
»Sieh da! Das ist ja der Vater Bazouge!« sagte Lorilleux. »Der hat seine Ladung heute.«
Gervaise lehnte sich erschreckt gegen die Haustür. Der Vater Bazouge war Leichenbesorger und ungefähr fünfzig Jahre alt. Er hatte sein schwarzes Beinkleid mit Straßenschmutz bespritzt und seinen schwarzen Mantel schief auf der Schulter zugehakt; sein Hut von schwarzem Leder hatte durch irgendeinen Sturz eine bedenklich platte Form erhalten.
»Ihr braucht Euch nicht zu fürchten, er ist nicht bösartig«, sagte Lorilleux. »Er ist ein Nachbar von uns und hat das dritte Zimmer vor dem unseren auf demselben Gange ... Das wäre hübsch, wenn seine Vorgesetzten ihn so sehen könnten!«
Der Vater Bazouge nahm den Schrecken der jungen Frau sehr übel.
»Na, na,« stotterte er, »hierzulande frißt dich niemand auf ... Ich bin ebensogut wie ein anderer, meine Kleine ... Ich habe allerdings einen Schluck getrunken! Wenn man arbeiten soll, muß man die Räder schmieren. Ihr oder Eure Gesellschaft hättet heute den sechshundert Pfund schweren Rentier nicht so wie ich und mein Kamerad vom vierten Stock auf die Straße befördert und noch dazu ohne ihn kaputt zu machen... Ich liebe lustige Leute.«
Trotz dieser beruhigenden Versicherungen trat Gervaise noch mehr in die Türvertiefung zurück und hatte nicht übel Lust zu weinen, ihre ganze Freude an dem Tage war ihr verdorben. Sie dachte nicht mehr daran, ihre Schwägerin zu küssen, sondern bat Coupeau, den Betrunkenen aus dem Wege zu schaffen. Für diesen Wunsch hatte Bazouge nur eine Handbewegung voll philosophischer Verachtung.
»Das tut alles nichts, meine Kleine ... Ihr seid vielleicht 'mal ganz zufrieden, wenn man Euch abholt ... Ja, ja, ich kenne Frauen, die noch ›Danke schön‹ dazu sagen würden, wenn man sie nur wegholte.«
Als Lorilleux sich endlich entschloß, ihn mitzunehmen, murmelte er zwischen zwei Schluchzern noch die letzten Worte:
»Wenn man tot ist ... hört Ihr wohl ... wenn man tot ist, das dauert lange, sehr lange.«