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Es folgten vier Jahre harter Arbeit. Das Stadtviertel sah in Gervaise und Coupeau ein Musterehepaar; sie lebten still für sich ohne Zank und machten allsonntäglich ihren Spaziergang ins Freie nach St.-Quen zu. Die Frau arbeitete zwölf Stunden bei Madame Fauconnier und machte es doch möglich, ihre Wirtschaft tadellos sauber zu halten und ihrer Familie morgens und abends die Mahlzeiten zu bereiten. Der Mann betrank sich nicht, er brachte alle vierzehn Tage seinen Lohn nach Hause, abends rauchte er vor dem Schlafengehen am Fenster seine Pfeife, um frische Luft zu schöpfen. Wegen ihrer Ordnung und Sparsamkeit waren sie von allen gekannt, und da man wußte, daß sie nahezu neun Franken täglich verdienten, so berechnete man, daß sie schon hübsches Geld beiseite gelegt haben mußten.
Besonders in der ersten Zeit mußten sie sich sehr quälen, um sich mit Ehren durchzubringen. Ihre Heirat hatte ihnen nicht weniger als zweihundert Franken Schulden auf den Hals geladen. Auch gefiel es ihnen gar nicht im Hotel »Zum Guten Herzen«, sie fanden die Menge schmutzigen Verkehrs ekelhaft; ihr Traum war, unter ihren eigenen Möbeln zu wohnen und ihre Sachen zu schonen. Wohl zwanzigmal machten sie den Kostenanschlag; es belief sich in runder Summe auf dreihundertfünfzig Franken, wenn sie sich nicht allzusehr beschränken und auch einmal eine Schüssel und einen Kochofen bei der Hand haben sollten, wenn sie sie gebrauchten. Schon verzweifelten sie daran, eine so bedeutende Summe zu ersparen, als ihnen ein glücklicher Zufall zustatten kam: ein alter Herr aus Plassans bat, daß man ihm Claude, den älteren der beiden Kleinen, überlassen solle, er wolle ihn dort auf die Schule schicken. Es war dieses die großmütige Anwandlung eines Sonderlings von Bilderliebhaber, den die Kritzeleien, die der Kleine früher gemacht hatte, aufs lebhafteste interessierten. Claude kostete ihnen schon fast unerschwingliche Summen. Als sie nur noch für den Jüngsten zu sorgen hatten, erübrigten sie die dreihundertundfünfzig Franken in sieben und einem halben Monat. An dem Tage, an dem sie die Möbel bei einem Trödler in der Wackermannsstraße kauften, machten sie, ehe sie heimkehrten, noch einen Spaziergang auf den äußeren Boulevards, um der großen Freude Luft zu machen, die sie erfüllte. Sie hatten jetzt ein Bett, einen Nachttisch, eine Kommode mit Marmorplatte darauf, einen Schrank, einen runden Tisch mit Wachstuchdecke und sechs Stühle. Alles von altem Mahagoniholz; dabei waren das Bettzeug und die noch fast ganz neuen Küchensachen noch nicht gerechnet. Es war für sie ein ernster und endgültiger Eintritt in ein geordnetes Leben, das Leben der Besitzenden, das ihnen unter den Leuten des Stadtviertels ein gewisses Ansehen gab. Seit zwei Monaten suchten sie nach einer Wohnung. Zuerst wollten sie in dem großen Hause in der Goldtropfengasse mieten. Aber dort war auch nicht ein Zimmer frei, und sie mußten von der Verwirklichung dieses alten Traums abstehen. Im Grunde genommen war Gervaise nicht allzu böse darüber; die unmittelbare Nachbarschaft der Lorilleux' erschreckte sie. So suchten sie denn anderweitig. Coupeau hielt vernünftigerweise darauf, sich nicht allzuweit von dem Geschäft der Madame Fauconnier zu entfernen, damit Gervaise mit wenig Schritten zu allen Tageszeiten einmal nach Hause kommen konnte. Endlich machten sie einen Fund: ein großes Zimmer mit Kammer und Küche in der Neuen Goldtropfengasse, beinahe dem Wäschegeschäft gegenüber. Es war dieses ein kleines, einstöckiges Haus mit einer sehr steilen Treppe, die nur zu zwei Wohnungen führte, eine zur Rechten und eine zur Linken; unten wohnte ein Fuhrherr, dessen Wagen in Schuppen auf dem sehr großen Hof standen, die längs der Straße hinliefen. Die junge Frau war entzückt, sie glaubte sich in die Provinz zurückversetzt; keine Nachbarn, deren Klatschereien zu fürchten waren, ein stiller Winkel, der sie an eine Gasse in Plassans erinnerte, die dort hinter den Wällen lag; um ihrem Glück die Krone aufzusetzen, fand es sich, daß sie von ihrem Arbeitstische aus die Fenster ihrer Wohnung sehen konnte, wenn sie nur den Kopf aufhob, ohne ihre Plätteisen auch nur einen Augenblick zu verlassen.
Der Umzug fand zum Apriltermin statt. Damals war Gervaise im achten Monat schwanger. Sie hielt sich sehr tapfer und versicherte lächelnd, daß ihr das Kind bei der Arbeit helfe; sie fühle, wie es seine kleinen Patschhändchen anstemme und ihr Kraft gebe. Coupeau komme schön bei ihr an, wenn er ihr zureden wolle, sich hinzulegen, um sich zu pflegen! Sie werde sich schon legen, wenn die richtigen Schmerzen kämen; dann sei es immer noch früh genug, denn jetzt, wo noch ein Mäulchen mehr zu stopfen sei, würden sie sich wohl beide ganz gehörig daranhalten müssen. Sie selbst machte die ganze Wohnung rein, ehe sie ihrem Manne half, die Möbel stellen. Für diese Möbel hatte sie eine innige Verehrung, mit mütterlicher Zärtlichkeit wischte sie daran herum und bekam Herzweh über Schrammen, die sie entdeckte; erschrocken hielt sie inne, wenn sie beim Fegen aus Versehen mit dem Besen daran stieß. Die Kommode war ihr besonders wert, sie fand sie schön, dauerhaft und von würdigem Aussehen. Einer ihrer Träume, den sie nie auszusprechen wagte, war es, eine Stutzuhr zu besitzen, um sie mitten darauf zu setzen, wo sie eine prachtvolle Wirkung machen mußte. Wenn das Kind nicht gekommen wäre, hätte sie vielleicht gewagt, die Stutzuhr zu kaufen. So aber vertagte sie solche Gedanken mit einem Seufzer auf später.
Das Ehepaar lebte in einem vollen Strom von Entzücken über die neue Wohnung. Das Bett Etiennes stand in der Kammer, wo auch noch Platz für eine andere Kinderschlafstelle war. Die Küche war nicht viel größer als ein Handteller und ganz dunkel, wenn man aber die Tür offen ließ, sah man genug; übrigens hatte ja Gervaise auch nicht für dreißig Personen zu kochen, wenn sie nur Platz für ihr Suppenfleisch fand, so war es genug. Das große Zimmer war ihr Stolz. Sowie es Tag war, schlossen sich die Vorhänge des Alkovens; diese Vorhänge waren von weißer Baumwolle, und das Zimmer verwandelte sich in ein Eßzimmer mit dem Tisch in der Mitte, der Schrank und die Kommode standen einander gegenüber. Da der Kamin bei der Heizung für wenigstens fünfzehn Sous Steinkohlen täglich verbrauchte, so hatten sie einen kleinen gußeisernen Ofen davor auf die Marmorplatte gesetzt, der selbst bei großer Kälte das Zimmer für sieben Sous gut erwärmte. Die Wände hatte Coupeau nach Möglichkeit geschmückt, indem er sich noch weitere Verschönerungen vorbehielt: ein hoher Kupferstich stellte einen Marschall von Frankreich vor, der mit seinem Stabe zwischen einer Kanone und einem Haufen Kugeln herumfuchtelte, er vertrat die Stelle des Spiegels; über der Kommode waren die Photographien der Familie in zwei Reihen rechts und links von einem alten Weihkessel aus vergoldetem Porzellan geordnet, in dem man die Zündhölzer aufbewahrte; auf dem Karnies des Schrankes standen die Büsten von Pascal und Beranger als Gegenstücke, der eine ernst, der andere lächelnd, neben der Kuckucksuhr, deren Ticktack er zu lauschen schien. Es war wirklich ein schönes Zimmer.
»Ratet einmal, was wir hier zahlen?« fragte Gervaise jeden Besuch.
Wenn man dann ihre Miete zu hoch schätzte, triumphierte sie und war entzückt, für so wenig Geld so gut zu wohnen.
»Hundertundfünfzig Franken, nicht einen Sou mehr! ... Nicht wahr, das ist rein geschenkt?«
Auch die Neue Goldtropfengasse trug viel zu ihrer Zufriedenheit bei. Gervaise lebte da, indem sie fortwährend zwischen ihrer und Madame Fauconniers Wohnung hin und her ging. Coupeau ging jetzt des Abends hinunter und rauchte seine Pfeife an der Haustür. Die Straße war ohne Fußwege, und das schlechte Pflaster stieg bergan. Dort oben nach der Goldtropfengasse zu waren dunkle Verkaufsläden mit schmutzigen Fensterscheiben, Schuhmacher, Böttcher, ein Winkelkrämer und ein Weinhändler im Konkurs, dessen seit Wochen geschlossene Fensterläden mit Anschlagzetteln bedeckt waren. Am anderen Ende gegen Paris zu ragten Häuser von vier Stockwerken gen Himmel, deren Erdgeschosse durch eine Menge von Wäscherinnen, eine neben der andern, dicht besetzt waren, nur die Vorderseite eines kleinstädtischen Friseurladens, der ganz grün angestrichen war und dessen Schaufenster eine Menge von Fläschchen in zarten Farben aufwies, belebte diesen düstern Winkel mit dem hellen Leuchten seiner kupfernen Rasierbecken, die sehr sauber gehalten waren. Das lustigste Aussehen hatte die Straße in der Mitte, hier waren die Gebäude weitläufiger und niedriger und ließen Licht und Luft zu. Die langen Schuppen des Fuhrherrn und eine benachbarte Selterwasserfabrik, sowie die Waschanstalt gegenüber erweiterten den freien Raum, der so still war, daß die unterdrückten Stimmen der Wäscherinnen und das regelmäßige Ächzen der Dampfmaschine die Ruhe noch zu vergrößern schienen. Tiefe Grundstücke, zu denen enge Wege zwischen dunklen Mauern hinführten, gaben dem Ort ein dorfartiges Aussehen. Coupeau belustigte sich über die seltenen Passanten, welche die ewigen Ströme von Seifenwasser überspringen mußten; er sagte, daß ihn das an eine Gegend erinnere, in die ihn einer seiner Onkel geführt habe, als er fünf Jahre alt war. Die Hauptfreude von Gervaise war ein Baum, der links von ihrem Fenster in einem Hof gepflanzt war, es war eine Akazie mit einem einzigen langen Ast, dessen dürftiges Grün hinreichte, um die ganze Straße in Entzücken zu versetzen.
Am letzten Tage des Monat April kam die junge Frau nieder. Die Wehen stellten sich am Nachmittag gegen vier Uhr ein, als sie gerade ein paar Gardinen bei Madame Fauconnier plättete. Sie wollte noch nicht gleich weggehen, blieb und wand sich auf einem Stuhl; wenn die Schmerzen sich ein wenig beruhigten, plättete sie weiter. Die Gardinen waren eilig, und sie setzte ihren Kopf darauf, sie fertig zu machen. Vielleicht war es auch nur eine Kolik, und man dürfe doch nicht auf jedes bißchen Leibschmerzen so achten. Als sie aber davon sprach, Männerhemden anzufangen, wurde sie plötzlich ganz blaß. Sie mußte die Arbeit liegen lassen und ganz zusammengekrümmt über die Straße gehen, wobei sie sich an den Mauern hielt. Eine Arbeiterin erbot sich, sie zu begleiten; doch lehnte sie es ab und bat sie, nur schnell nebenan zur Hebamme in die Kohlenstraße zu gehen. Sicher war zu Hause kein Feuer. Die Nacht über werde sie wohl mit der Sache zu tun haben. Nichts hindere sie, beim Nachhausekommen Coupeaus Essen zurecht zu machen, nachher werde sie sehen, daß sie sich einen Augenblick auf das Bett lege, wenn sie sich auch nicht ausziehe. Auf der Treppe erfaßte sie eine so starke Wehe, daß sie sich auf den Stufen niedersetzen mußte. Sie preßte beide Hände gegen den Mund, um nicht zu schreien, weil sie sich schämte, dort vielleicht von Männern gefunden zu werden, die die Treppe heraufkämen. Der Schmerz ging vorüber, sie konnte ihre Tür öffnen und fühlte sich leichter in dem Gedanken, daß sie sich sicher getäuscht habe. Sie machte diesen Abend ein Hammelragout mit Koteletten. Alles ging noch gut, während sie die Kartoffeln schälte; als sie die Koteletten über das Feuer setzte, brach ihr wieder der Schweiß aus, und die schneidenden Schmerzen erfaßten sie aufs neue. Sie arbeitete an ihrer Pfanne, indem sie vor dem Ofen hin und her trippelte; dicke Tränen verschleierten ihre Augen. Wenn sie auch niederkam, so war es doch kein Grund, Coupeau ohne Essen zu lassen. Endlich prasselte das Ragout auf gelindem, mit Asche überdecktem Feuer. Sie ging in das Zimmer und glaubte noch soviel Zeit zu haben, um an einem Ende des Tisches aufzudecken. Sie mußte jedoch das Liter Wein, das sie in der Hand hatte, schnell wegsetzen. Sie hatte nicht mehr soviel Kraft, bis zum Bette zu kommen, fiel zu Boden und gebar auf einer Matratze, die da lag. Als die Hebamme eine Viertelstunde später kam, fand sie sie dort mit dem Kleinen.
Noch immer arbeitete der Zinkarbeiter am Krankenhause. Gervaise wollte nicht dulden, daß man hingehe und ihn bei der Arbeit störe. Als er um sieben Uhr nach Hause kam, fand er sie im Bette, bis zum Kinn zugedeckt, und ihr Gesicht lag bleich auf dem Kopfkissen. Das Kindchen war zu Füßen seiner Mutter in einen Schal gewickelt und schrie.
»Oh, mein armes Frauchen!« sagte Coupeau, indem er Gervaise küßte. »Und ich scherzte noch vor einer Stunde, als du schon in den Wehen lagst! ... Sage mir, dir ist doch gut? Du hast das abgemacht in der Zeit, die ein anderer braucht, um zu niesen.«
Ein schwaches Lächeln erhellte ihr Antlitz, und dann murmelte sie:
»Es ist ein Mädchen.«
»Das ist mir gerade recht!« sagte der Zinkarbeiter scherzend, um sie zu erheitern, »hatte ich denn nicht eine Tochter bestellt? Wie? Nun habe ich eine! Machst du denn nicht alles so, wie ich es will?«
Dann nahm er das Kind auf und fuhr fort:
»Laß dich doch mal ein bißchen ansehen, Fräulein Schmutzfink! ... Du hast ja ein ganz schwarzes Gesichtchen. Na, das wird schon weiß werden, nur nicht ängstlich. Sei mir hübsch artig und werde keine liederliche Dirne, sondern groß und vernünftig wie Papa und Mama.«
Gervaise war sehr ernst geworden, mit weit geöffneten Augen betrachtete sie ihre Tochter und konnte sich trüber Ahnungen nicht erwehren. Sie schüttelte leise ihren Kopf, sie hätte lieber einen Knaben gehabt, weil sie sich immer leichter durchschlagen und in Paris nicht so viel Gefahren laufen. Die Hebamme mußte Coupeau den Säugling aus den Händen nehmen. Sie verbot auch Gervaise das Sprechen, es sei schon schlimm genug, daß man so viel Lärm um sie herum mache. Der Zinkarbeiter meinte, daß man Mama Coupeau und die Lorilleux' benachrichtigen müsse; aber jetzt komme er vor Hunger um und wolle erst essen. Für die Wöchnerin war es peinlich, daß sie nun zusehen mußte, wie er sich selbst bediente, wie er in die Küche lief, um das Ragout zu holen, das er auf einem Suppenteller aß, und wie er das Brot nicht finden konnte. Trotz des Gebots, stille zu sein, jammerte sie darüber und krümmte sich unter der Bettdecke. Es war aber auch zu dumm, daß sie den Tisch nicht mehr hatte decken können, die Wehe hatte sie umgeworfen, als ob sie jemand zu Boden geschlagen habe. Ihr guter Mann solle ihr nur nicht böse sein, da sie faulenze, während er so schlecht essen müsse. Sind denn auch die Kartoffeln ordentlich gar? Sie konnte sich nicht mehr darauf besinnen, ob sie sie gesalzen habe.
»Seid doch stille!« rief die Hebamme.
»Ihr werdet sie auch nicht hindern, sich abzuzappeln«, sagte Coupeau mit vollem Munde. »Wenn Ihr nicht da wäret, wollte ich wetten, sie würde aufstehen und mir mein Brot schneiden ... Bleibe doch auf dem Rücken liegen, dicke Pute! Du mußt dich doch nicht kaput machen, sonst dauert es vierzehn Tage, ehe du wieder auf die Beine kommst ... Dein Ragout ist sehr gut. Madame wird ein bißchen mitessen. Nicht wahr, Madame?«
Die Hebamme dankte bestens, aber ein Glas Wein wolle sie gern annehmen, weil es sie so erschüttert habe, die arme Frau mit dem Kleinen auf der Matratze liegen zu sehen.
Dann endlich ging Coupeau, um die Neuigkeit der Familie mitzuteilen. Eine halbe Stunde darauf kam er schon mit der ganzen Gesellschaft an, mit Mama Coupeau, den Lorilleux' und Madame Lerat, die er gerade dort getroffen hatte. Bei dem guten Fortkommen des Paares waren die Lorilleux' sehr liebenswürdig geworden und lobten Gervaise über alle Maßen, wenn sie auch durch zweifelhafte Gesten, bedenkliches Kopfschütteln und gelegentliches Augenzwinkern dieses laute Lob sehr beeinträchtigten. Sie wußten einmal, was sie wußten, aber sie wollten der allgemeinen Meinung des Stadtviertels nicht entgegen sein.
»Da bringe ich dir den ganzen Bau!« rief Coupeau. »Es ist nun mal so, sie haben dich alle sehen wollen ... Daß du nicht den Schnabel auftust, das ist dir verboten. Sie können dich ansehen, ohne Umstände, nicht wahr? ... Ich werde ihnen Kaffee machen und ihnen allen Gesellschaft leisten.«
Damit verschwand er in der Küche. Mama Coupeau, die Gervaise umarmt hatte, konnte des Staunens kein Ende finden über das dicke Kind. Auch die beiden anderen Frauen hatten jede der Wöchnerin den üblichen Kuß auf die Backe gegeben. So standen alle drei Frauen vor dem Bette und sprachen über Entbindungen; sie führten seltene Fälle an und waren schließlich der Ansicht, daß die ganze Geschichte nicht schlimmer sei als das Zahnausziehen. Madame Lerat untersuchte die Kleine überall und gewann die Überzeugung, daß sie eine tüchtige Frau abgeben werde; nur den Kopf fand sie zu spitz und drückte ihn leicht, um ihn runder zu machen. Darüber war Madame Lorilleux so böse, daß sie ihr das Kind wegnahm; wenn man ein Kind so drücke, so genüge es, eine solche Kreatur für alle Laster empfänglich zu machen, besonders so lange der Kopf noch offen sei. Dann suchten sie nach Ähnlichkeiten. Beinahe hätte man sich gezankt. Lorilleux, der hinter den Frauen einen langen Hals machte, meinte, daß die Kleine nichts von Coupeau habe, vielleicht die Nase ein bißchen. Das war die ganze Mutter, besonders in den Augen, sicherlich kämen diese Augen nicht von ihrer Familie.
Noch immer kam Coupeau nicht wieder. Man hörte, wie er sich in der Küche am Herd mit der Kaffeemaschine zu schaffen machte.
In Gervaise drehte sich alles um, das Kaffeemachen war keine Beschäftigung für einen Mann, und sie rief ihm zu, wie er sich dabei benehmen solle, ohne daß sie weiter auf das »Pst! Pst!« der Hebamme geachtet hätte.
»Macht mir den Tisch frei!« sagte Coupeau, als er mit der Kaffeemaschine hereinkam. »Nun, war sie langweilig genug? Sie muß sich jetzt unausstehlich machen .. Wir wollen den Kaffee aus Gläsern trinken, wenn's euch recht ist, weil die Tassen noch beim Kaufmann sind.«
Alle setzten sich um den Tisch herum, und Coupeau ließ es sich nicht nehmen, den Kaffee selbst einzugießen; er roch sehr stark, das war kein Blümchenkaffee!
Als die Hebamme ihr Glas ausgeschlürft hatte, ging sie fort. Alles ging nach Wunsch, und man bedurfte ihrer nicht mehr: wenn die Nacht nicht gut sein solle, so könne man sie ja immer gegen Morgen holen. Sie war noch nicht die Treppe herunter, als Madame Lorilleux sie auch schon eine Schmarotzerin und Lotterliese nannte. »Das nimmt sich vier Stücke Zucker zu seinem Kaffee und läßt sich fünfzehn Franken bezahlen, wenn man auch ganz allein niedergekommen ist. Coupeau verteidigte die Frau; er wolle gern die fünfzehn Franken bezahlen, und dann müsse man auch bedenken, daß solche Frauen ihre Jugend damit zubrächten, die Sache zu studieren, deshalb hätten sie recht, wenn sie sich teuer bezahlen ließen. Hierauf entstand ein Streit zwischen Lorilleux und Madame Lerat; er behauptete, wenn man einen Jungen haben wollte, müsse man das Kopfende des Bettes nach Norden drehen. Sie zuckte hierüber mit den Achseln und erklärte es für eine Kinderei, empfahl dagegen ein anderes Rezept, das darin bestand, unter der Matratze, ohne der Frau etwas davon zu sagen, ein Bündel Brennesseln zu verstecken, die man in der Sonne gepflückt habe. Man hatte den Tisch nahe an das Bett gerückt. Bis gegen zehn Uhr hielt Gervaise, die nach und nach eine große Mattigkeit überkam, ihr Gesicht, verloren lächelnd, auf ihrem Kopfkissen den Besuchern zugewendet; sie sah und hörte, aber sie fand weder die Kraft, eine Bewegung zu machen, noch ein Wort zu sprechen; sie schien eines sanften Todes gestorben zu sein, durch dessen Schleier sie voller Seligkeit die Lebenden erkennen konnte. Hin und wieder machte sich der Schrei des Säuglings in dem Getöse der Stimmen bemerklich, die sich in unendlichen Betrachtungen über einen Mord ergingen, der abends zuvor am andern Ende von la Chapelle begangen war.
Als die Gesellschaft endlich ans Fortgehen dachte, sprach man von der Taufe. Die Lorilleux' hatten sogleich eingewilligt, Taufpaten zu sein; hinterher machten sie saure Gesichter; wenn man sie aber nicht aufgefordert hätte, würden sie es sehr übelgenommen haben. Coupeau war durchaus nicht von der Notwendigkeit durchdrungen, die Kleine taufen zu lassen; davon bekomme sie gewiß keine zehntausend Franken Rente, sondern laufe im besten Falle noch Gefahr, sich zu erkälten. Je weniger man mit den Pfaffen zu tun habe, um so besser sei es. Die Lorilleux', die zwar auch nicht immer in der Kirche hockten, wollten doch gern für kirchliche Leute angesehen werden.
»Also auf den nächsten Sonntag, wenn es euch recht ist«, sagte der Kettenmacher.
Als Gervaise ihr Einverständnis durch ein Kopfnicken bekundet hatte, wurde sie von allen geküßt und ihr anempfohlen, es sich gut gehen zu lassen. Auch vom Säugling wurde Abschied genommen. Jeder beugte sich mit Lächeln und zärtlichen Worten über das kleine, zitternde Wesen, als ob es schon alles verstehen könne. Man nannte es Nana, es war das der Schmeichelname von Anna, den ihre Pate trug.
»Gute Nacht, Nana! ... Leb wohl, Nana! werde ein hübsches Mädchen!« ...
Als sie endlich fort waren, rückte Coupeau seinen Stuhl dicht neben das Bett und rauchte seine Pfeife zu Ende, wobei er Gervaises Hand in der seinen hielt. Er rauchte bedächtig und sprach zwischen den Rauchwolken, die er ausstieß, sehr bewegt.
»Nun, Alte, dir wird gewiß der Kopf dröhnen. Du weißt ja; ich konnte nicht hindern, daß sie herkamen. Übrigens beweist es auch ihre Freundschaft ... Aber nicht wahr, man ist doch besser allein? Ich wollte so gern, so gern ein wenig mit dir ganz allein sein. War der Abend für mich lang! ... Mein armes Weibchen! Du hast genug Weh-Weh gehabt! Wenn solch kleine Knirpse zur Welt kommen, wissen sie nichts davon, wie weh es tut. Wahrhaftig, es muß ja sein, als ob einem Herz und Nieren geöffnet würden ... Wo tut es dir weh, ich will es küssen.«
Er hatte eine seiner großen Hände vorsichtig unter ihren Rücken geschoben und küßte sie durch die Leinentücher auf den Bauch mit der Zärtlichkeit des rauhen Mannes für diese noch schmerzhaft zuckende Mutterschaft. Er fragte, ob er ihr auch nicht weh tue, und hätte am liebsten darauf gepustet, um sie gesund zu machen. So fühlte sich Gervaise ganz glücklich. Sie versicherte ihrem Mann, daß sie gar keine Schmerzen mehr habe und nur daran denke, so bald als möglich aufzustehen, denn jetzt dürfe man nicht die Hände in den Schoß legen. Er beschwichtigte sie. Sei er denn nicht da, um für die Kleine zu sorgen? Er sei ein Elender, wenn er ihr jemals die Sorge für dieses Wesen überlassen werde. Es scheine ihm kein großes Kunststück, ein Kind zu machen, nicht wahr? aber eins zu ernähren, das sei schwerer.
Coupeau schlief während dieser Nacht fast gar nicht. Er hatte das Feuer im Ofen weiter schwelen lassen und stand jede Stunde auf, um dem Kinde einen Löffel lauwarmen Zuckerwassers zu geben. Das hinderte ihn nicht, morgens zur gewöhnlichen Stunde zur Arbeit zu gehen. Er benützte sogar seine Frühstückspause, um auf dem Standesamte die Anmeldung zu besorgen. Mittlerweile war Madame Boche gekommen, die man benachrichtigt hatte, und verweilte den Tag über bei Gervaise. Diese hatte zehn Stunden lang in tiefem Schlafe gelegen und sagte, daß sie das Liegen im Bette schon ganz steif gemacht habe. Man solle sehen, sie werde noch krank, wenn man sie nicht aufstehen lasse. Als abends Coupeau nach Hause kam, erzählte sie ihm all ihre Qualen: sie habe ja volles Vertrauen zu Madame Boche, aber sie könne es nicht ertragen, eine andere in ihrem Zimmer sich einnisten zu sehen, die all ihre Schubkasten aufziehe und all ihre Sachen anfasse. Als am andern Morgen, die Pförtnersfrau von einem Gang zurückkam, fand sie sie außer Bett und angezogen, wie sie die Stube ausfegte und das Mittagessen für ihren Mann besorgte. Unter keiner Bedingung wollte sie sich wieder niederlegen. Man wolle sich wohl über sie lustig machen? Das möge für die Damen gut sein, so zu tun, als ob man gleich halbtot sei. Wenn man nicht reich sei, habe man dazu keine Zeit. Drei Tage nach ihrer Niederkunft plättete sie bei Madame Fauconnier schon wieder Unterröcke, sie drückte mit ihrem Eisen fest auf, wenn ihr auch bei der großen Hitze des Ofens die Schweißtropfen von der Stirn rannen.
Schon am Sonnabend brachte Madame Lorilleux ihre Patengeschenke: ein Häubchen für fünfunddreißig Sous und ein Taufkleidchen mit Falten und einer kleinen Spitze, das sie für sechs Franken erstanden hatte, weil es nicht mehr ganz frisch war. Am nächsten Tage gab Lorilleux als Pate der Wöchnerin sechs Pfund Zucker. Sie benahmen sich sehr gut. Selbst am Abend kamen sie zu der Mahlzeit, die bei den Coupeaus stattfand, nicht mit leeren Händen. Der Mann brachte unter jedem Arm einen Liter guten Wein mit und die Frau einen großen Kuchen, den sie von einem sehr beliebten Pastetenbäcker auf der Clignancourt-Chaussee gekauft hatte. Nur daß die Lorilleux' ihre Freigebigkeit im ganzen Quartier herumerzählten, sie hätten nahezu zwanzig Franken verausgabt. Als Gervaise dieses Geklatsch zu Ohren kam, wollte sie vor Ärger ersticken und schlug jetzt alle ihre Liebenswürdigkeiten erheblich geringer an.
Bei diesem Essen zu Ehren der Taufe schlossen sich die Coupeaus auch inniger an ihre Flurnachbarschaft an. Die andere Wohnung in dem kleinen Hause hatten zwei Personen inne, eine Mutter mit ihrem Sohne, die Goujets, wie man sie nannte. Bis dahin hatte man sich wohl auf der Treppe oder auf der Straße gegrüßt, aber weiter nichts, weil die Nachbarn wenig umgänglich zu sein schienen. Als die Mutter am Tage von Gervaises Niederkunft einen Eimer Wasser heraufgetragen hatte, hielt sie es für schicklich, die Leute einzuladen, um so mehr, als sie sie sehr anständig fand. Damit hatte man natürlich Bekanntschaft gemacht.
Die Goujets waren aus dem Departement du Nord. Die Mutter war Spitzenausbesserin; der Sohn, seines Handwerks ein Schmied, arbeitete in einer Bolzen- und Riegelfabrik. Schon seit fünf Jahren bewohnten die Leute die andere Wohnung am Flur. Hinter ihrem stillen, friedlichen Leben verbarg sich ein alter Kummer: Goujet, der Vater, hatte in Lille eines Tages in sinnloser Trunkenheit mit einer Eisenstange einen Kameraden zu Boden geschlagen und sich dann im Gefängnis mit seinem Schnupftuch erhängt. Die Witwe und das Kind, die nach diesem Unglück nach Paris gekommen waren, fühlten immer das Schreckliche dieser Katastrophe auf sich lasten und bestrebten sich, durch strenge Ehrenhaftigkeit, durch stete Milde und Hingebung das beleidigte Schicksal zu versöhnen. Schließlich gewann ihre Haltung etwas Stolzes, denn sie kamen sich besser als die anderen vor. Madame Goujet kleidete sich stets schwarz und trug Kopfbedeckungen, die nach Art der Nonnenhauben ihre Stirn einschlossen; sie hatte ein weißes, ruhiges Matronenantlitz, dem die Blässe der Spitzen und die mühselige Arbeit ihrer Hände einen Abglanz heitern Seelenfriedens zu geben schien. Goujet war ein Riese von dreiundzwanzig Jahren, mannhaft, mit blühendem Gesicht, blauen Augen und herkulischen Körperkräften. In der Werkstatt nannten ihn die Kameraden Löwenmaul wegen seines schönen blonden Bartes.
Gervaise fühlte sich gleich sehr zu den Leuten hingezogen. Als sie zum erstenmal in ihre Behausung kam, konnte sie nicht genug über die Sauberkeit staunen. Es war nichts zu sagen, da konnte man pusten, wo man wollte, auch nicht das kleinste Stäubchen flog auf. Madame Goujet ließ sie auch das Zimmer ihres Sohnes sehen. Das war so hübsch und sauber wie das Zimmer eines jungen Mädchens: da war ein eisernes Bett mit Musselinevorhängen, eine Waschtoilette, ein kleines, an der Wand hängendes Bücherbrett und alles voller Bilder, es waren Männer, die aus buntfarbigen Kupferstichen geschnitten waren, oder Porträts aus illustrierten Zeitungen. Madame Goujet erzählte lächelnd, daß ihr Sohn ein großes Kind sei, den das Lesen am Abend ermüde und der dann lieber seine Bilder ansehe. Gervaise verbrachte nahezu eine Stunde bei ihrer Nachbarin, die schon wieder an ihrem Stickrahmen nahe beim Fenster saß. Sie interessierte sich für die Hunderte von Stecknadeln, mit denen die Spitzen aufgesteckt wurden, und war glücklich, dort zu verweilen und die reine Luft einer Behausung zu atmen, der die mühsame, zarte Arbeit einen ruhigen Frieden zu geben schien.
Die Goujets gewannen noch bei näherer Bekanntschaft. Sie arbeiteten mit Überstunden und brachten mehr als das Viertel ihres vierzehntägigen Lohnes zur Sparkasse. Im Quartier waren sie sehr angesehen und ihre Ersparnisse ein beliebter Unterhaltungsgegenstand. Goujet hatte nie etwas Zerrissenes an sich, er ging stets mit sauberen Blusen, nie war ein Fleck an ihm zu sehen. Er war sehr artig, je selbst ein wenig schüchtern, trotz seiner mächtigen Schultern. Die Wäscherinnen vom andern Ende der Straße kicherten, wenn sie sahen, wie er an ihnen mit gesenktem Kopfe vorüberging. Er liebte ihre Großmäuligkeit nicht und fand es ekelhaft, wenn Frauen unaufhörlich schmutzige Redensarten im Munde führten. Eines Tages war er etwas angetrunken nach Hause gekommen. Statt aller Vorwürfe hatte ihn seine Mutter zu dem Bilde seines Vaters geführt, das sie voll frommer Scheu stets in der Tiefe eines Kommodenkastens verborgen hielt. Seit dieser Lehre trank Goujet nur noch Wein mit Wasser, ohne daß er den Wein verachtet hätte, denn der Wein ist dem Arbeiter notwendig. Sonntags führte er seine Mutter aus, wobei er ihr den Arm reichte, gewöhnlich besuchte er mit ihr die Gegend von Vincennes, hin und wieder auch ein Theater. Seine Mutter war seine einzige Leidenschaft, er sprach zu ihr immer so, als ob er noch ganz Hein sei. Mit seinem mächtigen Kopf, seinen durch die harte Arbeit mit dem Hammer gestählten herkulischen Gliedern war er wie die großen Tiere: schwer von Begriff, aber sehr gutmütig.
In den ersten Tagen war ihm der Anblick von Gervaise störend, aber nach einigen Wochen gewöhnte er sich an sie. Er paßte auf, wenn sie kam, um ihr ihre Pakete hinaufzutragen, und behandelte sie wie eine Schwester mit einer Art rauher Freundlichkeit, die so weit ging, daß er nur noch Bilder nach ihrem Geschmack ausschnitt. Als er sie eines Morgens, wo er, ohne anzuklopfen, ihre Tür geöffnet hatte, halb nackt überraschte, wie sie sich Hals und Arme wusch, konnte er ihr acht Tage lang nicht in die Augen sehen, so daß selbst sie schließlich bei seiner Begegnung errötete.
Cadet-Cassis fand in seiner Pariser Ausdrucksweise, daß das Löwenmaul ein Fatzke sei. Es ist ja ganz gut, wenn man nicht trinkt und auf den Straßen nicht den Mädchen nachläuft, aber ein Mann muß doch immer ein Mann sein, sonst kann er sich ja lieber gleich Unterröcke anziehen. Er zog ihn in Gegenwart von Gervaise auf, indem er behauptete, daß er auf alle Frauen im Quartier ein Auge habe; und dieser Tambourmajor von Goujet verteidigte sich allen Ernstes gegen solche Anschuldigungen. Trotz alledem waren die beiden Arbeiter gute Kameraden. Sie warteten des Morgens einer auf den andern und gingen zusammen zur Arbeit, oft tranken sie auch vor dem Nachhausekommen ein Glas Bier zusammen. Seit dem Taufessen duzten sie sich, denn das ewige »Sie« sagen macht die Sätze so lang. So standen sie miteinander, als eines Tages Löwenmaul dem Cadet-Cassis einen von den Diensten leistete, die man zeitlebens nicht vergißt. Es war am zweiten Dezember. Der Zinkarbeiter hatte aus purem Übermut den Plan gefaßt, sich den Volksauflauf anzusehen, er machte sich den Teufel was aus der Republik, aus Bonaparte oder wie die Sache sonst auch immer heißen mochte, aber er roch gern Pulver, Flintenschüsse kamen ihm spaßhaft vor. So hatte man ihn denn zur Verteidigung einer Barrikade gepreßt, als der Schmied noch eben zur rechten Zeit dazu kam, um ihm entkommen zu helfen und mit seinem mächtigen Körper seinen Rückzug zu decken. Als Goujet die Vorstadt Fischerstraße wieder hinaufstieg, ging er schnell und mit ernstem Gesicht. Er beschäftigte sich mit Politik, er war Republikaner, gemäßigt, im Namen der Gerechtigkeit and des Glückes aller. Er hatte noch nie zur Flinte gegriffen, dafür hatte er seine Gründe: das Volk hatte genug davon, für die Bürger die Kastanien aus dem Feuer zu holen und sich die Pfoten zu verbrennen; Februar und Juni seien gute Lehren gewesen, künftig würden es die Vorstädte der Stadt überlassen, auszukommen wie sie könne. Als er auf der Höhe der Fischerstraße angekommen war, wandte er sich um und sah nach Paris zurück; trotz allem schien man da unten diesmal die Sache ordentlich anzufassen, und vielleicht werde es einst der Arbeiter noch einmal bereuen, mit gekreuzten Armen zugesehen zu haben. Coupeau lachte ihn aus und meinte, das müßten dumme Esel sein, die ihre Haut zu Markte trügen, um schließlich nur ja den Nichtstuern in den Kammern ihre fünfundzwanzig Franken per Tag zu erhalten. Am Abend luden die Coupeaus die Goujets zum Essen ein. Beim Nachtisch gaben sich Cadet-Cassis und Löwenmaul ein paar Küsse auf die Backen. Damit waren sie auf Leben und Tod verbunden.
Während dreier Jahre ging so das Leben der beiden Familien zu beiden Seiten des Flures ohne ein bemerkenswertes Ereignis hin. Gervaise hatte es möglich gemacht, die Kleine großzuziehen, ohne mehr als höchstens zwei Arbeitstage in der Woche zu verlieren. Sie war schließlich eine so gute Arbeiterin geworden, daß sie drei Franken für den Tag verdiente. Da hatte sie sich entschlossen, Etienne, der in sein achtes Jahr ging, in eine kleine Pension in der Chartres-Straße zu geben, wofür sie fünf Franken wöchentlich bezahlte. Trotz der Ausgaben für die beiden Kinder, brachten die Eheleute doch jeden Monat zwischen zwanzig und dreißig Franken auf die Sparkasse. Als ihre Ersparnisse die Höhe von sechshundert Franken erreicht hatten, faßte die junge Frau einen ehrgeizigen Plan, der sie nicht mehr schlafen ließ: sie wollte sich selbständig machen, einen kleinen Laden mieten und Arbeiterinnen nehmen. Sie hatte alles berechnet. In zwanzig Jahren konnte sie eine Rente haben, wenn die Arbeit nur irgend ging; dann konnten sie irgendwo auf dem Lande von ihren Zinsen leben. Trotz ihrer schönen Rechnung wagte sie sich mit der Sache doch nicht recht heraus. Sie sagte, daß sie nach einem Laden suche, um Zeit zu gewinnen und alles reiflich zu überlegen. Das Geld wurde ja auf der Sparkasse nicht weniger, im Gegenteil, es kam ja immer noch etwas dazu. In den ganzen drei Jahren hatte sie sich nur die Befriedigung eines einzigen Wunsches gegönnt: eine Stutzuhr war gekauft worden, sie war von Mahagoniholz, mit gewundenen Säulen, und hatte einen vergoldeten Kupferpendel; sie mußte während eines ganzen Jahres mit Barzahlungen von zwanzig Sous alle Montage abgezahlt werden. Sie wurde böse, wenn Coupeau davon sprach, sie aufzuziehen, nur sie allein durfte das Glas abheben, dann wischte sie mit so andächtiger Sorgfalt die Säulen ab, als ob die Marmorplatte ihrer Kommode sich in eine Kapelle verwandelt habe. Unter dem Glase hinter der Uhr verbarg sie das Sparkassenbuch. Oft stand sie vor dem Zifferblatt und beobachtete die Bewegung der Zeiger, wenn sie von ihrem zukünftigen Laden träumte, als ob sie eine besonders feierliche Minute abwarten wolle, um ihren letzten Entschluß zu fassen.
Die Coupeaus gingen jetzt fast jeden Sonntag mit den Goujets aus. Es waren hübsche Landpartien, bei denen man ein Stückchen Braten oder ein Kaninchen in den Lauben eines Restaurateurs zu St. Quen oder Vincennes ohne Umstände verzehrte. Die Männer tranken nach ihrem Durst und kamen gesund und nüchtern nach Hause, indem sie ihre Dame am Arm führten. Abends vor dem Schlafengehen berechnete man die Ausgaben und teilte sie zur Hälfte; nie kam es vor, daß eines Sous mehr oder weniger Erwähnung getan wurde. Die Lorilleux' waren auf die Goujets eifersüchtig. Es war ihnen nicht recht, daß sie Cadet-Cassis und die Humpelliese immer mit Fremden sehen mußten, da sie doch ihre Familie hatten. Oh, jawohl! Um die kümmerten sie sich gerade soviel wie um eine taube Nuß! Jetzt, wo sie ein paar Sous auf die hohe Kante gelegt hatten, taten sie, was ihnen gut dünke. Madame Lorilleux war sehr wütend darüber, ihren Bruder so ihrem Einfluß ganz entzögen zu sehen, und fing wieder an, Gervaise hinter ihrem Rücken zu verleumden. Dagegen nahm Madame Lerat Partei für Gervaise und verteidigte die junge Frau; sie erzählte von außerordentlichen Versuchungen, denen sie des Abends auf dem Boulevard ausgesetzt gewesen sei, und denen sie immer wie eine Heldin widerstanden habe, ja daß sie sogar oft ihre feigen Angreifer mit ein paar Ohrfeigen heimgeschickt habe. Mama Coupeau suchte alle Gegensätze auszugleichen und sich bei allen ihren Kindern gern gesehen zu machen; ihre Augen wurden immer schwächer, sie hatte jetzt nur noch eine Aufwartestelle und war sehr zufrieden, von dem einen oder dem andern hin und wieder fünf Franken zu bekommen.
An dem Tage, wo Nana drei Jahre alt wurde, fand Coupeau Gervaise ganz zerstreut. Sie weigerte sich zu sprechen und sagte, ihr sei gar nichts. Als sie aber den Tisch ganz verkehrt deckte und plötzlich in tiefes Nachdenken versank, wollte ihr Mann durchaus wissen, was sie habe.
»Nun wohl!« gestand sie endlich, »der Laden des kleinen Krämers in der Goldtropfengasse ist zu vermieten ... Ich habe das vor einer Stunde gesehen, als ich ging, mir Zwirn zu kaufen. Das hat mir zu denken gegeben.«
Der Laden war sehr sauber und gerade in dem Hause, in dem sie zu wohnen früher immer so sehnlichst gewünscht hatten. Das Lokal bestand aus dem Laden nach vorn, einem großen Raum nach hinten mit zwei rechts und links gelegenen Zimmern; das gerade brauchten sie; obgleich die Räume nur klein waren, lagen sie doch gut. Das einzige Bedenken erregte der Preis, sie fand ihn zu teuer: der Wirt sprach von fünfhundert Franken.
»Du warst also bei ihm und hast nach dem Preise gefragt?« sagte Coupeau.
»Du weißt wohl, nur aus Neugierde!« sagte sie und versuchte eine gleichgültige Miene anzunehmen. Wenn man etwas sucht, liest man alle Zettel; das verpflichtet einen ja zu gar nichts ... Aber der Laden ist entschieden zu teuer. Und dann wäre es vielleicht eine Dummheit, mich selbständig zu machen.«
Schon nach dem Essen fing sie wieder an, von dem Laden des Krämers zu sprechen. Sie zeichnete die Räume auf den Rand einer Zeitung, maß die Ecken aus und gab den einzelnen Zimmern ihre Bestimmung, als ob sie schon am nächsten Morgen ihre Möbel habe hineinsetzen sollen. Da redete ihr Coupeau zu, sie möge mieten, da er sah, wie sehr ihr daran lag; sicherlich fand sie nichts Geeigneteres für fünfhundert Franken, und vielleicht könne man noch eine Ermäßigung erlangen. Das einzig Unangenehme war, daß man in einem Hause mit den Lorilleux wohnen müsse, die sie so gar nicht leiden konnte. Aber auch darüber werde sie hinweggekommen; sie ging sogar in ihrem Eifer soweit, die Lorilleux zu verteidigen; sie seien ja im Grunde nicht schlecht und man würde sich schon vertragen. Als sie zu Bette gegangen waren und Coupeau schon lange schlief, überdachte sie noch die innere Einrichtung und war doch noch gar nicht so ganz fest entschlossen zu mieten.
Sowie sie am nächsten Morgen allein war, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, das Glas der Stutzuhr hochzuheben und das Sparkassenbuch nachzusehen. Es war kaum zu fassen, daß ihr neuer Laden da drin sein solle in diesen Blättern, die mit so häßlichen Buchstaben bedeckt waren. Ehe sie zur Arbeit ging, fragte sie noch Madame Goujet um Rat. Diese billigte ihren Plan, sich selbständig zu machen, von ganzem Herzen; mit einem Manne, wie sie ihn habe, einem guten Kerl, der nicht trinke, sei sie sicher, ihr Geschäft zu machen und nicht zugrunde zu gehen. Während der Frühstückszeit ging sie selbst zu den Lorilleux hinauf, um ihre Ansicht zu hören; sie hielt darauf, vor der Familie keine Heimlichkeiten zu haben. Madame Lorilleux war peinlich überrascht. Wie? Die Humpelliese sollte jetzt gar einen Laden haben? Sie platzte innerlich vor Wut und stammelte etwas Unverständliches; sie mußte sich ja so stellen, als ob sie sehr zufrieden sei, Gervaise habe ganz recht, den Laden zu mieten; er liege ohne Frage sehr bequem. Erst als sie den ersten Schreck überwunden hatte, fing sie und auch ihr Mann an, von dem feuchten Hof zu sprechen, auch sei es dunkel im Erdgeschoß. Es war eine gute Ecke für den Rheumatismus. Wenn sie jedoch entschlossen sei, zu mieten, würde sie sich durch ihre Vorstellungen sicher nicht davon abhalten lassen.
Am Abend gestand Gervaise ganz offen mit lachendem Munde, daß sie krank geworden wäre, wenn man sie gehindert hätte, den Laden zu mieten. Jedenfalls wollte sie, ehe man sagt: Das ist gemacht! Coupeau dorthin führen, damit er sich die Räume ansehe und versuche, eine Herabminderung der Miete zu bewirken.
»Nun also morgen, wenn es dir recht ist«, sagte ihr Mann. »Du kannst mich ja gegen sechs Uhr vor dem Hause in der Nationstraße, wo ich jetzt arbeite, abholen, und wir gehen dann bei der Heimkehr in der Goldtropfengasse mit heran.«
Coupeau vollendete damals gerade das Dach eines dreistöckigen neuen Hauses. Gerade an diesem Tage mußte er die letzten Zinkplatten legen. Da das Dach fast ganz flach war, hatte er seinen breiten Werktisch auf zwei Böcken dort aufgestellt. Die untergehende Sonne eines schönen Maitages vergoldete die Schornsteine. Der Arbeiter schnitt dort oben in freier Luft, über seinen Tisch gebeugt, seine Zinkplatten mit der Schere zu, wie der Schneider ein Paar Hosen in seiner Werkstatt. An der Mauer des Nachbarhauses unterhielt sein Gehilfe, ein schmächtiger Bursche von siebzehn Jahren, vermittelst eines großen Blasebalges das Feuer einer Kohlenpfanne, von dem bei jedem Handdruck ein Regen kleiner Funken emporsprühte.
»Heda! Isidor! Lege das Eisen ins Feuer!« schrie Coupeau.
Der Gehilfe steckte die Löteisen mitten in die Glut, die bei dem noch hellen Tageslicht einen zarten rosa Schein gab, dann setzte er wieder den Blasebalg In Bewegung. Coupeau arbeitete an der letzten Zinkplatte, diese sollte an den Rand des Daches nahe bei der Gosse gelegt werden, wo es eine sehr stark abschüssige Stelle gab, hinter der sich der gähnende Abgrund der Straße auftat. Der Zinkarbeiter, der wie bei sich zu Hause in Morgenschuhen einherging, näherte sich dem Ort mit lässigen Schritten, indem er die Melodie des Liedes: »Die Lämmchen« vor sich hinpfiff. Als er bei dem Loch angekommen war, ließ er sich nieder, stützte sich mit einem Knie gegen das Mauerwerk eines Schornsteins und blieb so zwischen Himmel und Erde hängen. Eines seiner Beine hing über die Gosse herab. Als er sich zurückbog, um diesen Schlingel von Isidor zu rufen, hielt er sich der Sicherheit wegen an einer Mauerecke fest.
»Infamer Bengel! Wirst du machen? Gib die Eisen her! Wenn du auch noch soviel in die Luft guckst, du Maulaffe, die gebratenen Tauben werden dir doch nicht in den Mund fliegen!«
Aber Isidor hatte keine Eile. Er interessierte sich für einen starken Rauch, der sich über den Dächern von Paris nach der Seite von Grenelle zu erhob; es schien ein bedeutendes Feuer zu sein. Endlich legte er sich platt auf den Bauch mit dem Kopf über den Dachrand hinweg und reichte Coupeau die Eisen. Jetzt fing dieser an, die Zinkplatte festzulöten. Er bog sich zusammen, streckte sich wieder und blieb immer im Gleichgewicht, so saß er auf einem Schenkel, stützte sich auf eine Fußspitze oder hielt sich mit einem Finger. Er hätte eine verdammte Sicherheit, eine Kühnheit, die nur die Gewohnheit gibt, der Gefahr ins Auge zu sehen. Er kannte es. Die Straße mußte sich vor ihm fürchten. Da er seine Pfeife nicht aus dem Munde genommen hatte, wandte er sich von Zeit zu Zeit um und spie ruhig auf die Straße.
»Sieh doch! Madame Boche!« rief er plötzlich. »Heda! Madame Boche!«
Er sah, wie die Pförtnersfrau über den Damm kam. Sie hob den Kopf auf und erkannte ihn. Da entspann sich eine Unterhaltung zwischen Dach und Straße. Sie hielt ihre Hände unter ihrer Schürze und guckte nach oben. Er hatte sich aufgerichtet, umfaßte mit seinem linken Arm eine Schornsteinröhre und bog sich vor.
»Habt Ihr meine Frau nicht gesehen?« fragte er.
»Nein, ganz und gar nicht!« antwortete die Pförtnersfrau. »Ist sie denn hier in der Nähe?«
»Sie soll mich abholen ... Ist bei Euch denn alles wohl?«
»Ja gewiß! Danke schön! Ich bin die Kränkste, wie Ihr seht ... Ich gehe nach der Clignancourtchaussee, um eine kleine Hammelkeule zu holen. Der Schlächter neben der Roten Mühle verkauft sie nicht unter sechzehn Sous.«
Sie sprachen etwas lauter, weil in der sonst stillen und einsamen Nationstraße ein Wagen vorbeifuhr; die laut hinausgerufenen Worte ihrer Unterhaltung hatten nur eine kleine, alte Frau an ihr Fenster gelockt; dieses alte Weib blieb dort auf das Fensterbrett gelehnt und durchkostete mit einer Art Wohlbehagen die große Erregung, in die sie die gefährliche Stellung des Mannes auf dem Dache versetzte, als ob sie hoffe, ihn von Minute zu Minute fallen zu sehen.
»Na, denn guten Abend!« rief noch Madame Boche. »Ich will Euch nicht länger stören.«
Coupeau wandte sich wieder zurück und ergriff das Eisen, das Isidor ihm zureichte. In dem Augenblick, wo die Pförtnersfrau sich entfernte, bemerkte sie auf der andern Seite der Straße Gervaise, die Nana an der Hand führte. Sie hob schon den Kopf auf, um Coupeau zu benachrichtigen, als die junge Frau ihr mit schneller Entschlossenheit die Hand auf den Mund legte. Sie sagte ihr mit leiser Stimme, um oben nicht gehört zu werden, daß sie fürchte, wenn ihr Mann da oben sie so plötzlich höre oder sehe, ihm das einen Stoß geben könne und er hinunterstürze. Während der vier Jahre habe sie ihn nur ein einziges Mal von der Arbeit abgeholt, heute sei es zum zweiten Male. Sie könne es nicht mit ansehen, das Blut wirbele ihr vor den Augen, wenn sie ihren Mann so zwischen Himmel und Erde sehe, an Orten, wo selbst die Spatzen sich nicht hinzusetzen wagten.
»Ohne Zweifel ist es nicht angenehm«, murmelte Madame Boche. »Meiner ist Schneider, da habe ich solche Aufregung nicht.«
»Wenn Ihr wüßtet! In der ersten Zeit«, sagte noch Gervaise, »hatte ich schreckhafte Ahnungen vom Morgen bis zum Abend. Ich sah ihn immer mit zerschmettertem Kopf auf einer Tragbahre ... Jetzt denke ich nicht mehr soviel daran, man gewöhnt sich ja schließlich an alles. Man muß doch sein Brot verdienen ... Es ist ein verdammt teures Brot, bei dem man täglich seine Haut und Knochen zu Markte trägt.«
Sie schwieg jetzt stille und verbarg Nana hinter ihrem Rock, weil sie fürchtete, daß die Kleine schreien könne. Trotz ihrer Furcht konnte sie doch ihr Gesicht nicht wegwenden. Coupeau lötete den äußersten Rand der Platte nahe bei der Gosse; er glitt so weit wie möglich nach vorn, ohne das Ende erreichen zu können. Nun wagte er sich mit diesen langsamen Bewegungen, mit großer Ruhe und beinahe schwerfällig noch weiter vor. Einen Augenblick war er mit halbem Leibe über dem Pflaster, er hielt sich gar nicht und besorgte doch ruhig seine Arbeit; von unten sah man von dem Eisen, das er mit sorgsamer Hand auf dem Rande entlang führte, die kleine, weiße Lötflamme schimmern. Gervaise stand stumm, mit vor Angst zugeschnürter Kehle und gerungenen Händen da; als er sich noch mehr vorbog, hob sie sie bittend in die Höhe. Sie atmete erst wieder auf, als sie Coupeau auf das Dach zurückkehren sah; er tat es langsam, ohne sich zu eilen, und nahm sich Zeit, noch einmal auf die Straße zu spucken.
»Man spioniert mich wohl aus?« rief er lustig, als er sie bemerkte. »Sie hat Dummheiten gemacht, nicht wahr, Madame Boche? Sie hat nicht rufen wollen ... Warte auf mich, ich habe noch zehn Minuten zu tun!«
Er hatte nur noch eine Kappe auf einen Schornstein zu setzen, das war nur eine Kleinigkeit. Die Wäscherin und die Pförtnersfrau blieben auf dem Bürgersteig stehen, besprachen den Klatsch des Quartiers und überwachten Nana, damit sie nicht im Rinnstein herumpatsche, wo sie immer nach kleinen Fischen suchte; beide Frauen blickten oft nach dem Dach, um mit Lächeln und Kopfnicken anzudeuten, daß ihnen die Zeit noch nicht lang werde. Gegenüber hatte die Alte das Fenster immer noch nicht verlassen, sie beobachtete den Mann und wartete.
»Was hat denn die da immer hinzuglotzen, die alte Nachteule?« sagte Madame Boche, »die hat ein verdammtes Gesicht.«
Oben hörte man den Zinkarbeiter mit starker Stimme singen:
Wie schön ist's, zu spazieren im schönen, grünen Wald
Jetzt schnitt er, über seinen Werktisch gebeugt, sein Zink mit Meisterhand. Mit einem Zirkelschlag hatte er einen Kreis in seine Zinkplatte gerissen und schnitt nun mit Hilfe einer krummen Schere ein fächerartiges Stück aus und bog mit leisen Hammerschlägen diesen Fächer zur Form eines Champignons mit scharfer Spitze. Die Sonne ging hinter dem Hause in rosiger Klarheit unter, der Himmel verblaßte allmählich und nahm eine zarte lila Färbung an. Um diese ruhige Stunde des Tages zeichneten sich die Gestalten der beiden Arbeiter von dem leuchtenden Himmel ab, sie erschienen unverhältnismäßig groß, und neben ihnen sah man die schwarze Masse des Werktisches und die sonderbare Form des Blasebalges.
Als die Kappe geformt war, stieß Coupeau seinen Ruf aus:
»Isidor! Die Eisen!«
Aber Isidor war nicht da. Der Zinkarbeiter blickte fluchend umher, suchte ihn mit den Augen und rief durch die offene Dachluke auf den Boden.
Endlich sah er ihn auf einem andern Dach, das zwei Häuser weiter war. Der Schlingel ging da spazieren und machte sich mit der Umgegend bekannt; seine dünnen, blonden Haare flogen im Winde; geblendet von der ungeheuren Größe von Paris, blinzelte er mit den Augen.
»Sage 'mal, du Rumtreiber, glaubst du, daß du eine Landpartie machst?« rief Coupeau wütend. »Du bist wohl wie Herr Béranger? Du scheinst mir Verse zu machen? ... Willst du mir wohl die Eisen geben? Hat man das jemals gesehen! Fängt der hier auf den Dächern an zu schwärmen! Warum bringst du dir nicht lieber gleich dein Verhältnis mit rauf, um ihr Liebeslieder vorzusingen? ... Willst du mir die Eisen geben, du Pfund Wurst?«
Als er lötete, rief er Gervaise zu:
»Na, das ist fertig ... Ich komme runter!«
Das Schornsteinrohr, auf das er die Kappe setzen mußte, befand sich in der Mitte des Daches. Gervaise war jetzt ganz ruhig und folgte lächelnd seinen Bewegungen. Nana schien jetzt der Anblick ihres Vaters viel Vergnügen zu machen, denn sie klatschte in ihre kleinen Händchen. Sie hatte sich auf dem Fußweg niedergesetzt, um besser nach oben sehen zu können.
»Papa! Papa!« schrie sie aus Leibeskräften. »Papa, sieh doch!«
Der Zinkarbeiter wollte sich hinabneigen, aber sein Fuß glitt aus. Jetzt rollte er schnell wie eine Katze, deren Pfoten sich verfangen haben, die nur wenig abschüssige Dachseite hinab, ohne daß er sich hätte halten können.
»Um Gottes willen!« rief er mit erstickter Stimme.
Er fiel. Sein Körper beschrieb einen kleinen Bogen, überschlug sich zweimal und stürzte mitten auf dem Straßenpflaster nieder wie ein Paket Wäsche, das man von hoch oben herunterwirft.
Der entsetzten Gervaise entfuhr ein furchtbarer Schrei, dann blieb sie mit hoch erhobenen Armen stehen. Die Vorübergehenden liefen herbei, und es entstand ein Auflauf. Madame Boche, die vor Bestürzung auf den Füßen schwankte, nahm Nana in ihre Arme, um ihr das Gesicht zu verhüllen und sie daran zu hindern, etwas zu sehen. Jetzt machte die kleine Alte von gegenüber ihr Fenster ruhig zu, als ob sie befriedigt sei.
Endlich trugen vier Männer Coupeau zu einem Apotheker, an der Ecke der Fischerstraße; dort blieb er über eine Stunde mitten im Laden auf einer Decke liegen, indes man nach dem Krankenhause Lariboisière schickte, um eine Tragbahre zu holen. Er atmete noch, aber der Apotheker schüttelte leise seinen Kopf. Gervaise lag auf ihren Knien und schluchzte unaufhörlich, die Tränen überströmten ihr Gesicht, blendeten ihre Augen, sie schien gegen alles stumpf zu sein. Mechanisch streckte sie die Hände vor und befühlte die Glieder ihres Mannes, indem sie ganz leise darüber hinfuhr. Dann zog sie die Hände zurück und sah den Apotheker an, der ihr verboten hatte, ihn zu berühren; aber nach wenigen Sekunden fing sie wieder an; sie konnte nicht aufhören, sich zu versichern, daß er noch warm sei, und glaubte ihm damit Gutes zu tun. Als endlich die Tragbahre ankam und man davon sprach, nach dem Krankenhause zu gehen, stand sie auf und sagte heftig:
»Nein, nein! Nicht ins Krankenhaus! ... Wir wohnen in der Neuen Goldtropfenstraße!«
Wie sehr man ihr auch auseinandersetzte, daß die Krankheit sehr viel Geld kosten werde, wenn sie ihren Mann nach Hause nehme, – sie wiederholte eigensinnig:
»Neue Goldtropfenstraße! Ich werde die Tür zeigen ... Was geht denn euch das an? Ich habe ja Geld ... Es ist mein Mann, nicht wahr? Er gehört mir, ich will es!«
So mußte man denn Coupeau nach Hause schaffen. Als die Tragbahre die Apotheke verließ, vor der sich die Menge drängte, sprachen die Frauen des Quartiers mit Anerkennung von Gervaise; wenn sie auch hinke, so sei sie doch eine entschlossene Person, die ihren Willen durchsetze. Die wird ihren Mann schon retten, eher als im Hospital, wo die Ärzte sich nicht allzuviel um die Kranken bekümmerten; die nichts zuzubrocken hätten, ließen sie lieber draufgehen, dann hätten sie keine Not mit der Behandlung. Madame Boche, die Nana zu sich geführt hatte, kam zurück und erzählte den Unglücksfall mit einer wahren Flut von Einzelheiten; sie war noch ganz aufgelöst von der Gemütserschütterung.
»Ich holte gerade meinen Hammelbraten, ich war dabei, ich habe ihn fallen sehen«, sagte sie immer wieder. »Alles kam wegen der Kleinen, die hat er ansehen wollen, und da plumps! Um Gottes Barmherzigkeit! Ich will nicht noch einen fallen sehen ... Aber ich muß jetzt gehen und meine Hammelkeule holen.«
In den ersten acht Tagen ging es mit Coupeau sehr schlecht. Die Familie sowie jedermann glaubten von Stunde zu Stunde, daß er das Zeitliche segnen werde; der Arzt, der sehr teuer war, denn er bekam fünf Franken für jeden Besuch, befürchtete innere Verletzungen. Dieses Wort erregte viel Angst, man sprach im Quartier davon, daß dem Zinkarbeiter das Herz gesprungen sei von dem furchtbaren Stoß. Nur Gervaise, die die Nachtwachen blaß gemacht hatten, blieb ernst und entschlossen, sie zuckte ungläubig die Achseln Ihr Mann hatte das rechte Bein gebrochen; das wußte ja alle Welt, das werde man ihm heilen und damit gut. Sonst aber, was das geplatzte Herz anlangte, damit war es nichts. Sie wußte schon, wie Herzen wieder heil würden: durch Pflege, Sauberkeit und unverbrüchlich treue Freundschaft. Sie trat so sicher auf und war davon überzeugt, daß sie ihn gesund machen werde, wenn sie nur immer um ihn sei, wenn nur ihre Hände ihn berührten, wenn er im Fieber lag. Sie zweifelte auch keinen Augenblick daran. Während einer ganzen Woche sah man sie auf den Füßen, sie sprach wenig und schien gefaßt; in der festen Überzeugung, ihn zu retten, vergaß sie alles andere, ihre Kinder, die Straße und die Stadt. Als am Abend des neunten Tages der Arzt endlich für das Aufkommen des Kranken sich verbürgte, sank sie erschöpft auf einen Stuhl mit ermatteten Beinen und ganz gebrochen, ein Tränenstrom machte ihrem bedrängten Herzen Luft. In dieser Nacht verstand sie sich dazu, zwei Stunden zu schlafen, indem sie den Kopf auf das Fußende des Bettes legte.
Coupeaus Unglücksfall hatte die ganze Familie aus ihrem Geleise geworfen. Mama Coupeau verbrachte ihre Nächte bei Gervaise, aber schon von neun Uhr an schlief sie auf einem Stuhl ein. Madame Lerat machte jeden Abend, wenn sie von der Arbeit kam, einen großen Umweg, um zu hören, wie es ging. Die Lorilleux waren zuerst zwei- bis dreimal jeden Tag gekommen, sie boten sich zum Wachen an und brachten selbst für Gervaise einen Lehnstuhl. Bald aber entstanden Streitigkeiten über die Art, wie man Kranke behandeln müsse. Madame Lorilleux behauptete, daß sie schon genug Leuten das Leben gerettet habe und daß sie ganz genau wisse, wie man sich dabei zu benehmen habe. Sie beschuldigte auch die junge Frau, daß sie sie stoße, um sie nur von dem Bette ihres Bruders fernzuhalten. Nun, die Humpelliese habe auch alle Ursache, Coupeau wieder gesund zu machen, denn wenn sie ihn nicht in der Nationstraße aufgesucht hätte, wäre er nie gefallen. Nur auf die Art, wie sie ihn behandelte, würde sie ihn sicher hinbringen.
Als sie Coupeau außer Gefahr sah, hörte Gervaise auf, sein Bett so eifersüchtig zu bewachen. Jetzt konnte man ihn ihr ja nicht mehr töten, und daher ließ sie die Leute ohne Mißtrauen näher treten. Jetzt machte sich die Familie im Zimmer breit. Die Genesung konnte sehr lange dauern, der Arzt hatte von vier Monaten gesprochen. Wenn Coupeau oft stundenlang schlief, warfen die Lorilleux Gervaise ihre Dummheit vor. Was sie davon gehabt habe, ihren Mann bei sich zu behalten, im Hospital wäre er zweimal so schnell wieder auf die Beine gekommen. Lorilleux hätte einmal krank sein sollen oder irgend etwas wegkriegen, da hätte er ihr mal zeigen wollen, ob er auch nur einen Augenblick Anstand genommen hätte, ins Hospital zu gehen. Madame Lorilleux kannte eine Dame, die eben aus dem Spital kam; die hätte morgens und abends Hühner gegessen. Wohl zum zwanzigsten Male machten beide die Berechnung, was die vier Monate Erholung kosten würden: erstens die verlorenen Arbeitstage, dann der Arzt, die Medizin und später der gute Wein und das Filetfleisch. Wenn die Coupeaus mit ihren Ersparnissen ausreichten, könnten sie noch von Glück sagen. Aber sie würden Schulden machen, das war klar. Nun, das sei ihre Sache; nur daß sie dabei nicht auf die Familie zu rechnen hätten, denn die wäre nicht reich genug, um einen Kranken bei sich zu pflegen. Desto schlimmer für die Humpelliese, nicht wahr? Sie könnte es ja so machen wie alle anderen und ihren Mann ins Krankenhaus bringen lassen. Das gab ihr vollends den Rest, daß sie so stolz war. Eines Abends war Madame Lorilleux boshaft genug, sie plötzlich zu fragen:
»Nun, wie ist es denn mit eurem Laden, wann werdet ihr denn mieten?«
»Ja, ja!« höhnte Lorilleux, »der Hausmeister wartet noch immer auf euch.«
Gervaise glaubte ersticken zu müssen. Den Laden hatte sie ganz und gar vergessen. Sie sah den Leuten die Schadenfreude an, daß jetzt aus dem Laden nun und nimmer etwas werden könne. Seit diesem Abend lauerten sie auf jede Gelegenheit, um sie mit ihrem gescheiterten Zukunftstraum aufzuziehen. Wenn von einem unerfüllbaren Wunsch die Rede war, so verschoben sie die Sache auf den Tag, wo sie die Herrin in dem neuen Laden nach der Straße hinaus sein werde. Auch hinter ihrem Rücken wetzten sie ihre verleumderischen Mäuler. Gervaise wollte keinen häßlichen Vermutungen Raum geben, aber in Wirklichkeit schien es so, als ob die Lorilleux sehr zufrieden seien, daß Coupeau der Unfall betroffen habe, weil damit ihr Plan, sich als Wäscherin in der Goldtropfenstraße niederzulassen, zu Wasser geworden war. Sie wollte selber darüber lachen, um ihnen zu zeigen, wie gern sie das Geld für die Wiederherstellung ihres Mannes hergab. Jedesmal wenn sie in ihrer Gegenwart das Sparkassenbuch unter dem Glase der Stutzuhr hervornahm, sagte sie heiter:
»Ich gehe jetzt aus, um meinen Laden zu mieten.« Sie hatte das Geld nicht auf einmal zurückziehen wollen, sie nahm immer nur hundert Franken, damit sie nicht eine so große Summe in ihrer Kommode aufbewahren mußte, dann hoffte sie auch auf einen unvorhergesehenen Glücksfall; irgendein Wunder, das ihr erlauben werde, noch etwas Geld auf der Sparkasse zu lassen. Jedesmal, wenn sie von dort zurückkam, rechnete sie auf einem Stückchen Papier die Summen zusammen, die sie noch dort hatte. Das tat sie einzig und allein der Ordnung wegen. Wie groß auch immer das Loch wurde, sie behielt ihre gefaßte Miene bei und stellte mit ruhigem Lächeln die Rechnung über dieses Verschwinden ihrer Ersparnisse auf. War es denn nicht schon ein Trost, dieses Geld so gut anzuwenden, es bei der Hand gehabt zu haben, als das Unglück hereinbrach? So legte sie denn ohne Bedauern sorgfältig jedesmal das Einlagebuch wieder unter das Glas der Stutzuhr.
Die Goujets zeigten sich während Coupeaus Krankheit gegen Gervaise sehr liebenswürdig. Madame Goujet war immer zu ihrer Verfügung, nicht einmal ging sie aus, ohne vorher zu fragen, ob sie nicht Zucker, Butter oder Salz nötig habe; sie brachte ihr immer die erste Suppe, wenn sie abends ihren Topf mit Suppenfleisch aufs Feuer gesetzt hatte; wenn sie sie sehr beschäftigt sah, besorgte sie selbst ihre Küche und ging ihr beim Abwaschen zur Hand. Goujet nahm jeden Morgen die Eimer der jungen Frau und füllte sie an dem Brunnen in der Fischerstraße. Das war ein Ersparnis von zwei Sous. Nach dem Essen, wenn die Familie das Zimmer nicht mehr in Beschlag hatte, kamen die Goujets, um Coupeaus Gesellschaft zu leisten. Während zweier Stunden bis gegen zehn Uhr rauchte dort der Schmied seine Pfeife und sah Gervaise zu, wie sie sich um den Kranken bemühte. Er sprach an solchem Abend nicht zehn Worte. Mit seinem großen, blonden Kopf, der zwischen den mächtigen Schultern stak, saß er da und empfand eine innige Rührung, wenn er zusah, wie Gervaise den Tee in eine Tasse goß, den Zucker hineintat und mit dem Löffel geräuschlos umrührte. Wenn sie an das Bett ging und Coupeau mit sanfter Stimme Mut einsprach, war er ganz bewegt. Niemals hatte er eine so gute Frau angetroffen. Selbst daß sie hinkte, stand ihr nicht schlecht, denn das erhöhte noch ihr Verdienst, wenn sie sich so den lieben langen Tag für ihren Mann abplagte. Kaum daß sie sich die Zeit zum Essen nahm und sich dann eine Viertelstunde hinsetzte. Immer war sie auf den Beinen, sie lief zum Apotheker, besorgte die schmutzigsten Arbeiten und quälte sich ab, dieses Zimmer rein zu halten, in dem man jetzt alles machte; dabei hörte man von ihr keine Klage, immer war sie liebenswürdig, selbst am Abend, wo sie fast im Stehen mit offenen Augen schlief, so müde war sie. Dieser Schmied, der mit seiner ergebenen Miene inmitten all der Medikamente, die auf den Möbeln umherstanden, so ruhig dasaß, faßte eine große Zuneigung zu Gervaise, wenn er sah, wie sie Coupeau von ganzem Herzen liebte und ihn pflegte.
»Na, Alter, da bist du ja wieder zusammengeflickt!« sagte er eines Tages zum Gesundenden. »Ich habe mich um dich nicht gesorgt, deine Frau ist ja ein wahrer Engel!«
Er sollte sich verheiraten, wenigstens hatte seine Mutter ein sehr passendes, junges Mädchen gefunden, eine Spitzenarbeiterin wie sie, von der sie lebhaft wünschte, daß sie seine Frau werde. Um seine Mutter nicht zu betrüben, sagte er ja und die Hochzeit wurde auf einen der ersten Tage des Monats September festgesetzt. Das Geld zur Gründung eines Hausstandes lag seit lange schon auf der Sparkasse. Aber er schüttelte den Kopf, wenn Gervaise ihm von dieser Heirat sprach und murmelte in seiner langsamen Sprechweise:
»Nicht alle Frauen sind so wie Ihr, Madame Coupeau. Wenn alle Frauen so wie Ihr wären, würde man ihrer zehn heiraten.«
Nach zweimonatlichem Krankenlager konnte Coupeau anfangen aufzustehen. Er ging noch nicht weit, nur vom Bett ans Fenster, und selbst dabei unterstützte ihn noch Gervaise. Dort setzte er sich in den Lehnstuhl der Lorilleux' und streckte sein Bein gerade aus auf eine Fußbank. Dieser Spötter, der immer an Tagen, wo es Glatteis gab, über gebrochene Beine gelacht hatte, war sehr ungehalten über seinen Unfall. Es fehlte ihm die Fähigkeit ruhiger Überlegung. Er hatte die zwei Monate im Bette damit zugebracht, zu fluchen und alle Welt zu ärgern. War das ein Leben, so auf dem Rücken zu liegen mit einem angeschnallten Bein, steif wie eine Schlackwurst? Die Decke kenne er auswendig, da sei eine Ritze bei dem Alkoven, die könne er mit geschlossenen Augen zeichnen. Als er sich im Lehnstuhl heimisch gemacht hatte, fing eine andere Geschichte an. Wie lange werde es denn noch dauern, daß er da angenagelt sitzen müsse wie eine Mumie? Die Straße sei auch nicht allzu unterhaltend, Menschen gingen nicht vorüber, und es stinke den ganzen Tag nach Fleckwasser. Nein wahrhaftig, das sei kein Dasein; zehn Jahre seines Lebens hätte er darum gegeben, nur zu wissen, wie es jetzt bei den Festungswällen aussehe. Immer wieder klagte er in heftigen Worten das Schicksal an. Darin war keine Gerechtigkeit: ein solcher Unfall dürfe einem so guten Arbeiter wie ihm nicht zustoßen, er sei kein Müßiggänger und kein Säufer. Wenn das einem andern geschehe, das hätte er begriffen.
»Der Papa Coupeau«, sagte er, »hat sich das Genick gebrochen an einem Tage, wo er einen Schluck über den Durst getrunken hatte. Ich will nicht sagen, daß er es verdient hatte, aber es war doch erklärlich ... Ich aber war nüchtern, ruhig wie der heilige Johannes, ohne einen Schluck irgendeiner Flüssigkeit im Körper, und da muß ich herunterpurzeln, als ich mich nur umdrehe, um Nana zuzunicken ... Das findet Ihr nicht stark? Wenn es einen Gott da oben gibt, dann richtet er die Dinge schnurrig ein. Niemals werde ich darüber hinwegkommen.«
Schon lange konnte er seine Beine wieder gebrauchen und behielt dennoch eine dumpfe Scheu vor der Arbeit. Es war ein unglückliches Handwerk, bei dem man seine Tage wie eine Katze auf den Dächern längs der Gossen zubringen mußte. Die sind ja nicht dumm, die Spießer! die schicken einen in den Tod, dehn sie selbst sind zu feige, auch nur auf eine Leiter zu klettern; die setzen sich ruhig in ihre sichere Ecke am Kamin und kümmern sich den Teufel um arme Leute. Er kam schließlich dahin, daß er sagte, es solle sich doch jeder sein Zinkdach selber decken. Darin liege doch noch Gerechtigkeit, dahin müsse man es bringen: wenn du nicht naß werden willst, mach' dir dein Dach alleine. Er bedauerte es, daß er kein anderes Handwerk erlernt habe, eines, das angenehmer sei und weniger gefährlich, wie zum Beispiel Kunsttischler. Das sei wieder Papa Coupeaus Fehler gewesen; die Väter haben die dumme Angewohnheit, ihre Kinder immer in denselben Beruf hineinzupressen.
Zwei Monate hindurch mußte Coupeau noch an Krücken gehen. Er hatte zuerst die Treppe hinabsteigen können, um vor der Türe eine Pfeife zu rauchen. Dann ging er bis zum äußeren Boulevard, blieb dort stundenlang auf einer Bank sitzen und ließ sich die Sonne in den Hals scheinen. Nach und nach stellte sich auch seine Lustigkeit wieder ein, und seine Großmäuligkeit nahm noch zu durch das viele Umhertreiben. Zu der neuen Lebenslust, die in ihm erwacht war, gesellte sich eine große Freude am Nichtstun; er liebte es, mit schlaffen Gliedern und untätigen Muskeln vor sich hin zu dämmern; langsam bemächtigte sich seiner die Faulheit, der durch seine Genesung Tür und Tor geöffnet war, und die, während sie seinen Leib kitzelte, seinen Geist in Schlummer lullte. Seine Gesundheit ließ jetzt nichts mehr zu wünschen übrig, er war stets bei spaßhafter Laune und sah nicht ein, warum es nicht immer so fortgehen solle. Als er erst die Krücken entbehren konnte, dehnte er seine Spaziergänge weiter aus und besuchte die Bauplätze, um seine Kameraden wiederzusehen. Mit gekreuzten Armen blieb er lächelnd und kopfschüttelnd vor den Neubauten stehen und verhöhnte die Arbeiter, die sich da plagten; er zeigte ihnen sein Bein, um sie sehen zu lassen, wohin es führe, wenn man sich das Leben abarbeite. Wenn er so die anderen vom Schaffen abgraulen konnte, gewährte es ihm eine Befriedigung für seinen Haß gegen die Arbeit. Natürlich müsse er auch einmal wieder anfangen, es müsse ja sein; aber so spät wie möglich. Nach dem, was ihm zugestoßen sei, könne man keine Begeisterung von ihm verlangen. Dann schien es ihm auch gar zu gut, ein wenig blau zu machen.
Wenn sich Coupeau des Nachmittags langweilte, ging er zu den Lorilleux' hinauf. Hier wurde er sehr bedauert, und man suchte ihn durch allerlei Liebenswürdigkeiten zu fesseln. In den ersten Jahren seiner Ehe hatte er sich unter Gervaises Einfluß ihnen entziehen können. Jetzt nahmen sie ihn wieder in Besitz und neckten ihn damit, daß ihm seine Frau soviel Respekt einflößte. War er denn gar kein Mann mehr? Dabei benahmen sich die Lorilleux' immer noch mit großer Vorsicht und hoben Gervaises Verdienste bis in den Himmel. Coupeau, der sich mit seiner Frau noch gut stand, versicherte ihr, daß seine Schwester sie sehr hochschätze und nichts sehnlicher wünsche, als daß sie besser zu ihr sei. Der erste Streit in der Ehe entstand eines Tages wegen Etienne. Der Zinkarbeiter hatte den Nachmittag bei den Lorilleux' zugebracht. Als er nach Hause kam, war das Essen noch nicht fertig, und die Kinder schrien nach der Suppe. Da drehte er sich plötzlich nach Etienne um und gab ihm ein paar Ohrfeigen. Noch eine ganze Stunde nachher hatte er gemault, und gebrummt: dieser Schlingel war nicht sein Kind, er wußte eigentlich nicht, warum er ihn in seinem Hause dulde; schließlich warf er ihn zur Tür hinaus. Bis dahin hatte er den Jungen ohne alle Redensarten um sich gelitten. Am nächsten Morgen sprach er von seiner Würde. Drei Tage darauf traktierte er das Kind vom Morgen bis zum Abend mit Fußtritten, so daß der Kleine, wenn er ihn die Treppe hinaufkommen hörte, sich schnell zu den Goujets rettete, wo ihm die alte Spitzenwäscherin immer einen Platz an ihrem Tische freiließ, wo er seine Arbeiten machen konnte.
Gervaise hatte schon lange wieder zu arbeiten angefangen. Sie war jetzt der Mühe überhoben, das Glas von der Stutzuhr abzunehmen; die Ersparnisse waren alle aufgezehrt, da mußte sie hart arbeiten, arbeiten für vier, denn es waren bei Tisch vier Münder satt zu machen. Sie allein mußte alle ernähren. Wenn sie hörte, wie die Leute sie beklagten, beeilte sie sich, Coupeau zu entschuldigen. Bedenkt doch! wieviel er gelitten hat, da ist es kein Wunder, wenn er bitter wird! Das wird schon vorübergehen, wenn er erst wieder ganz gesund ist. Wenn man ihr anzuhören gab, daß Coupeau jetzt wieder ganz hergestellt sei und zum Bauplatz zurückkehren könne, so entsetzte sie sich davor. Nein, nein, noch nicht! Sie wolle ihn nicht wieder bettlägerig haben. Sie wüßte wohl, was der Arzt ihr gesagt habe. Sie hinderte ihn daran, schon zur Arbeit zu gehen, sie steckte ihm sogar Zwanzigsousstücke in seine Westentasche. Coupeau nahm es an, als ob es ganz natürlich sei: er klagte über allerlei Schmerzen, um sich pflegen zu lassen; obgleich schon sechs Monate verflossen waren, dauerte seine Gesundung noch immer fort. Wenn er jetzt nach den Bauplätzen ging, um die anderen arbeiten zu sehen, so trank er gern mit den Kameraden ein Glas Bier. Man war in so einer Kneipe gar nicht schlecht aufgehoben, man scherzte und hielt sich da ein bißchen auf; das machte niemandem Schande. Es sei pure Ziererei, vor der Tür zu bleiben und vor Durst umzukommen. Man habe früher ganz recht gehabt, sich über ihn lustig zu machen, ein Glas Wein habe nie einen Mann getötet. Er schlug sich auf die Brust und machte sich ein besonderes Verdienst daraus, nur Wein zu trinken, immer Wein, niemals Schnaps; der Wein verlängere das Leben, und man bleibe gesund und nüchtern dabei. Doch war es schon öfter vorgekommen, daß er, nachdem er den ganzen Tag von einem Bauplatz zum andern und von einer Kneipe zur andern gegangen war, etwas angeheitert nach Hause kam. An solchen Tagen schloß Gervaise ihre Tür ab unter dem Vorwande, daß sie große Kopfschmerzen habe, nur um zu verhindern, daß die Goujets etwas von Coupeaus Dummheiten hörten.
Nach und nach wurde die junge Frau immer trauriger. Morgens und abends ging sie in die Goldtropfengasse, um den Laden anzusehen, der immer noch zu vermieten war; sie verheimlichte diese Gänge wie eine Kinderei, die eine erwachsene Person begeht. Dieser Laden fing wieder an, ihr den Kopf zu verdrehen; wenn nachts das Licht ausgelöscht war, so überraschte sie sich dabei, daß sie nur daran dachte; sie lag mit offenen Augen und genoß den Reiz einer verbotenen Frucht. Aufs neue fing sie an zu rechnen: zweihundertfünfzig Franken kostete die Miete, hundertfünfzig Franken die Werkzeuge und die Einrichtung, und hundert Franken Vorschuß, um zwei Wochen leben zu können, zusammen fünfhundert Franken, wenn man alles aufs niedrigste annahm. Wenn sie nicht laut davon sprach, geschah es nur, weil sie nicht wollte, daß man glauben solle, sie bedaure, ihre Ersparnisse für Coupeaus Krankheit ausgegeben zu haben. Sie wurde leichenblaß, wenn ihr wider ihren Willen etwas davon entfahren war, und sie versuchte, dem ausgesprochenen Satz einen andern Sinn zu geben, als ob sie einen häßlichen Gedanken geäußert habe. Jetzt mußte man wenigstens fünf bis sechs Jahre arbeiten, ehe man eine so große Summe ersparen konnte. Sie war unglücklich darüber, daß sie sich nicht gleich jetzt selbständig machen konnte, dann hätte sie die Wirtschaft leicht erhalten können, ohne auf Coupeau zu rechnen, dem man dann ja noch Monate Zeit lassen konnte, damit er wieder Geschmack an der Arbeit finde; sie wäre dann ruhiger gewesen und die Zukunft hätte ihr gesicherter erschienen; jetzt konnte sie sich oft geheimer Befürchtungen nicht erwehren, wenn Coupeau sehr vergnügt und singend nach Hause kam und dann irgendeinen gelungenen Witz von diesem Vieh, dem Mes-Bottes, erzählte, dem er einen Liter spendiert habe.
Als Gervaise eines Abends allein zu Hause war, kam Goujet und lief nicht wieder fort, wie er sonst tat, wenn er nur sie fand. Er setzte sich nieder, rauchte seine Pfeife und betrachtete sie. Er mußte irgend etwas auf dem Herzen haben, was er vergeblich in Worte zu fassen suchte. Nach einem längeren Stillschweigen nahm er seine Pfeife aus dem Munde und sagte alles auf einmal:
»Madame Gervaise, würdet Ihr mir wohl erlauben, Euch Geld zu leihen?«
Sie hatte sich gerade über einen Kommodenkasten gebeugt und suchte Wischlappen. Sie richtete sich auf und wurde sehr rot. Hatte er sie also doch gesehen, wie sie des Morgens beinahe zehn Minuten in Verzückung vor dem Laden stehengeblieben war? Er lächelte sie mit verlegener Miene an, als ob er ihr einen verletzenden Vorschlag gemacht habe. Sie lehnte mit großer Lebhaftigkeit ab; nie werde sie Geld annehmen, ohne daß sie wisse, wann sie es wiedergeben könne. Und dann handle es sich doch auch wirklich um eine hohe Summe. Als er etwas bestürzt von ihrer Weigerung dennoch darauf bestand, rief sie endlich:
»Aber was wird dann aus Eurer Heirat? Ich kann das Geld nicht annehmen, das Ihr dafür bestimmt habt. Nein, ganz gewiß nicht!«
»Oh, deswegen braucht Ihr Euch nicht zu sorgen. Ich heirate nicht mehr. Ihr wißt ja, das war nur so ein Gedanke ... Nein, wirklich, ich borge Euch lieber das Geld.«
Da senkten beide die Köpfe. Es gab da zwischen ihnen etwas, wovon sie nicht sprachen, eine tiefinnere Zuneigung, die ihnen sehr wohl tat. Gervaise nahm das Geld an. Goujet hatte seine Mutter schon vorbereitet. Sie gingen über den Treppenflur sogleich zu ihr hinüber. Die Spitzenwäscherin war ernst und ein wenig traurig, wie sie so mit ihrem weißen Gesicht über ihren Rahmen gebückt saß. Sie wollte ihrem Sohn nicht hinderlich sein, aber sie billigte jetzt den Plan von Gervaise durchaus nicht mehr und sagte auch ganz rund heraus, warum nicht: Coupeau lege sich auf die leichte Seite, er werde ihr den ganzen Laden verprassen. Was sie dem Zinkarbeiter besonders nicht vergessen konnte, das war seine Weigerung, während der Genesung lesen zu lernen; der Schmied hatte sich erboten, ihm das zu zeigen, aber er hatte ihn schön abgeführt, er behauptete, daß die Wissenschaft die Leute mager mache. Das hatte die beiden Arbeiter beinahe auseinandergebracht, und jeder ging jetzt seine eigenen Wege. Als nun aber Madame Goujet die bittenden Blicke ihres großen Kindes sah, da zeigte sie sich zu Gervaise sehr gut, und man beschloß, den Nachbarn fünfhundert Franken zu borgen; sie sollten es zurückbezahlen, indem sie jeden Monat zwanzig Franken gaben; das dauere so lange wie es dauerte.
»Du, sage mal, der Schmied hat wohl ein Auge auf dich geworfen?« sagte Coupeau lachend, als er von der Geschichte hörte. Na, da bin ich ganz ruhig, der ist ja zu komisch ... Wir wollen ihm sein Geld schon wiedergeben. Wenn er mit Lumpenpack zu tun hätte, wäre er schön reingefallen.«
Schon am nächsten Tage mieteten die Coupeaus den Laden. Gervaise lief den ganzen Tag zwischen der Neuen Straße und der Goldtropfengasse hin und her. Als man sie in dem Quartier so leicht und schnell vorbeikommen sah, daß sie fast nicht mehr zu hinken schien, sprach man davon, daß sie sich habe operieren lassen.