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Zweiundzwanzigstes Kapitel.

In der Irrenhauszelle zu Tulettes herrschte finstere Nacht. Ein eisiger Zug weckte Mouret aus der stumpfen Starre, in die der Anfall ihn versetzt hatte. Neben der Mauer hockend, blieb er einen Augenblick unbeweglich; seine Augen standen offen, er rieb sachte den Kopf an den kalten Steinen und wimmerte wie ein Kind, das aufwacht. Aber er hatte von dem feuchten Luftzuge einen solchen Schmerz in den Beinen, daß er aufstand und sich umsah. Da erst bemerkte er, daß die Türe der Zelle ganz offen stand.

Sie hat die Tür offen gelassen, sagte der Irre laut. Sie erwartet mich, ich muß gehen.

Er ging hinaus, kam wieder zurück und befühlte seine Kleider sorgfältig wie ein ordnungsliebender Mann, der fürchtet, etwas zu vergessen; dann schloß er sorgfältig die Türe. Er ging langsam über den Hof mit den bedächtigen Schritten eines müßigen Spießbürgers. Als er in den zweiten Hof kam, sah er einen Wärter, der umherzuspähen schien. Er blieb stehen und sann einen Augenblick nach. Aber der Wärter war verschwunden, und er befand sich am anderen Ende des Hofes vor einer zweiten offenen Tür, die in das Freie führte. Er schloß sie hinter sich, ohne sich zu wundern, ohne sich zu beeilen.

Sie ist doch eine gute Frau, brummte er, sie hat gehört, daß ich sie rief ... Es muß spät sein. Ich will heimkehren; sie müssen zu Hause schon besorgt sein.

Er schlug einen Weg ein. Es schien ihm ganz natürlich, daß er sich im freien Felde befinde. Als er hundert Schritte gegangen war, hatte er Tulettes völlig vergessen; er bildete sich ein, daß er von einem Weinbergbesitzer komme, dem er fünfzig Krüge Wein abgekauft habe. Als er an einen Kreuzweg kam, wo sich fünf Wege schnitten, erkannte er die Gegend wieder. Er begann zu lachen und sagte:

Wie dumm ich bin! Ich wollte jetzt die Höhe nach Saint-Eutrope hinauf; ich muß links gehen ... In anderthalb Stunden bin ich in Plassans.

Dann schritt er auf der Landstraße fürbaß, indem er jeden Meilenstein wie einen alten Bekannten ansah. Er blieb vor gewissen Feldern und Landhäusern mit Interesse stehen. Der Himmel war grau, und große rötliche Nebelstreifen erhellten die Nacht mit dem bleichen Widerschein eines erlöschenden Feuers. Schwere Regentropfen begannen zu fallen; ein feuchter Ostwind blies daher.

Zum Teufel, ich muß mich beeilen, sagte Mouret, indem er unruhig zum Himmel emporblickte. Es weht ein Ostwind, und wir bekommen einen hübschen Regen. Trocken komme ich nicht nach Plassans. Auch bin ich zu leicht gekleidet.

Er zog die grobe, graue Leinwandjacke fester zusammen, die er in Tulettes in Fetzen gerissen hatte. Am Kinn hatte er eine tiefe Wunde, die er sich mit der Hand zuhielt, ohne sich von dem heftigen Schmerze Rechenschaft zu geben, den er da empfand. Die Landstraße blieb öde; er begegnete nur einem Wagen, der langsam dahinfuhr. Der schlafende Fuhrmann antwortete nicht auf den freundlichen Gruß, den er ihm zurief. Auf der Viornebrücke überraschte ihn der Regen. Er war ihm sehr unangenehm; er schützte sich davor, indem er unter die Brücke flüchtete. Es sei unerträglich, schimpfte er, nichts schade den Kleidern mehr als das; wenn er es gewußt hätte, würde er einen Regenschirm mitgenommen haben. Er wartete eine gute halbe Stunde, während er froh dem Rieseln des Wassers lauschte; als de« Regen vorüber war, stieg er wieder auf die Straße hinauf und kam endlich nach Plassans. Er vermied sorgfältig die Pfützen.

Es war fast Mitternacht. Mouret berechnete, daß es noch nicht acht Uhr geschlagen habe. Er durchschritt die leeren Straßen voll Ärger, daß er seine Frau habe so lange warten lassen.

Sie wird gar nicht wissen, was es heißen soll, dachte er. Das Essen wird kalt sein ... Na, Rosa wird mich schön empfangen!

Er war in die Balande-Straße gekommen und stand vor seinem Haustor.

Schau, sagte er, ich habe keinen Hausschlüssel.

Aber er klopfte nicht. Das Küchenfenster blieb finster, und auch die anderen Fenster der Vorderseite schienen erstorben. Tiefes Mißtrauen bemächtigte sich des Irren; mit dem Instinkte eines Tieres witterte er eine Gefahr. Er zog sich in den Schatten der benachbarten Häuser zurück und prüfte nochmals die Vorderseite des Hauses; dann schien er einen Entschluß gefaßt zu haben; er ging in die Sackgasse Chevillottes. Aber die kleine Gartentüre war verriegelt. Da stemmte er sich mit übermenschlicher Kraft, die ihm eine plötzliche Wut verliehen, gegen die Türe, die morsch von der Nässe sofort entzweiging. Die Heftigkeit des Stoßes machte ihn betäubt, und er wußte nicht mehr, warum er die Türe soeben eingebrochen habe, die er wiederherzustellen versuchte, indem er die Stücke zusammenfügte.

Da habe ich was Schönes angerichtet, und es war doch so leicht anzuklopfen! brummte er mit einem plötzlichen Bedauern. Eine neue Türe kostet mich wenigstens dreißig Franken.

Er war jetzt im Garten. Als er den Kopf erhob und das Schlafzimmer im ersten Stocke hell erleuchtet sah, glaubte er, daß seine Frau eben zu Bette gehe. Das setzte ihn in großes Erstaunen. Ohne Zweifel hatte er unter der Brücke geschlafen, während er das Ende des Regens abwartete. Es mußte sehr spät sein. Wirklich waren die Fenster in der Nachbarschaft, die des Herrn Rastoil wie die der Präfektur, schon finster. Als er wieder hinaufsah, erblickte er im zweiten Stocke, hinter den dichten Vorhängen des Abbé Faujas das Licht einer Lampe. Es war wie ein flammendes Auge, das an der Mauer des Hauses angezündet, ihn schier verbrannte. Er preßte die Stirne in seine fieberheißen Hände, mit seinem wirren Geiste irrte er in einer schrecklichen Erinnerung, in einem verschwommenen Traume umher, wo nichts Deutliches sich formte, wo für ihn und die Seinigen eine drohende Gefahr emporstieg, die langsam größer und schrecklicher wurde und das Haus zu verschlingen drohte, wenn er es nicht rettete.

Martha, Martha, wo bist du? stammelte er leise. Komm, führe die Kinder hinaus.

Er suchte Martha in dem Garten, aber er erkannte ihn nicht mehr. Er schien ihm größer, öde und düster gleich einem Friedhofe. Die Sträucher waren verschwunden, die Salatpflanzen waren nicht mehr da, die Obstbäume schienen versetzt. Er ging zurück, kniete nieder, um zu sehen, ob nicht die Schnecken alles gefressen hätten. Das fehlende Strauchwerk, der Tod dieses hohen Grüns schnürte ihm ganz besonders das Herz zusammen wie der Tod eines lebenden Winkels des Hauses. Wer hatte das Strauchwerk vernichtet? Welche Sense war da drübergefahren und hatte alles wegrasiert und vernichtet, selbst die Veilchenstöcke, die er am Fuße der Terrasse gepflanzt hatte? Ein dumpfer Zorn stieg bei dem Anblicke dieses Verfalles in ihm auf.

Martha, Martha, wo bist du? rief er wieder.

Er suchte sie in dem kleinen Treibhause rechts von der Terrasse. Das Treibhaus war voll der dürren Reste der Büsche; sie lagen in Bündeln herum inmitten der Stümpfe der Obstbäume, die wie abgehauene Glieder herumlagen. In einer Ecke hing das Vogelbauer Desirees in einem kläglichen Zustande. Die Türe war zerschlagen, und die Drähte hingen wirr durcheinander. Der Irrsinnige wich entsetzt zurück, als wenn er die Türe einer Gruft geöffnet habe. Stöhnend stieg er die Terrasse hinauf und ging vor der Türe und den geschlossenen Fenstern hin und her. Der Zorn, der in ihm wuchs, verlieh seinen Gliedern die Geschmeidigkeit einer Bestie; er ging geräuschlos umher und suchte einen Spalt. Ein Kellerloch genügte ihm. Er kroch mit der Geschicklichkeit einer Katze hindurch, indem er sich mit den Nägeln an der Mauer festhielt. Endlich war er in dem Hause.

Die Kellertür hatte nur eine Klinke. Er ging inmitten der tiefsten Finsternis durch das Vorhaus, indem er sich an den Mauern weitertastete, und stieß die Küchentüre auf. Die Zündhölzchen lagen links auf einem Brette. Er ging gerade auf das Brett zu, rieb ein Zündhölzchen an und machte Licht, um eine Lampe von dem Gesimse des Herdes zu nehmen, ohne etwas zu zerbrechen. Dann sah er sich um. Es mußte diesen Abend eine große Mahlzeit stattgefunden haben. Die Küche war in der größten Unordnung: Teller, Schüsseln, schmutzige Gläser standen auf dem Tische umher, zahlreiche Geräte noch warm in der Abwasche auf den Stühlen und dem Boden; eine Kaffeemaschine, die auf dem Ofen vergessen war, kochte noch, Mouret zog sie zurück und brachte die Schüsseln in Ordnung; er befühlte sie, roch an den Resten der Flüssigkeit in den Gläsern und zählte die Schüsseln und Teller mit tiefem Ingrimm. Das war nicht die saubere und kühle Küche eines von seinen Renten lebenden Kaufmannes; man hatte hier das Essen eines ganzen Wirtshauses verschlungen; diese gierige Unreinlichkeit troff von Übermaß.

Martha! Martha! hub er wieder an, indem er, die Lampe in der Hand, in den Vorraum zurückkehrte; antworte mir, sage mir, wo sie dich eingeschlossen haben. Wir müssen fort, fort sogleich.

Er suchte sie in dem Speisezimmer. Die beiden Schränke rechts und links vom Ofen standen offen; am Ende eines Brettes war eine Papiertüte geplatzt und ließ die Zuckerstücke auf den Fußboden rollen. Weiter oben erblickte er eine Flasche Kognak ohne Hals, die mit einem Leinwandfetzen zugestöpselt war. Er stieg auf einen Stuhl, um die Schränke zu untersuchen. Sie waren halb leer: Die Fruchtgläser halb ausgetrunken, das Eingemachte offen und zur Hälfte verzehrt, die Früchte angebissen, die Vorräte aller Art angegriffen, beschmutzt, als wenn ein Heer von Ratten durchgezogen sei. Da er Martha in den Schränken nicht fand, sah er überall hinter die Vorhänge, unter den Tisch; da lagen Knochen umher und Brotstücke; auf der Wachsdecke des Tisches hatten die Ränder der Gläser runde Spuren zurückgelassen. Hierauf ging er über den Flur und suchte sie in dem Salon. Aber auf der Schwelle blieb er stehen; er war nicht zu Hause. Die hellgelben Tapeten des Salons, der rotgeblümte Teppich, die neuen mit kirschrotem Damast überzogenen Sessel setzten ihn in großes Erstaunen. Er fürchtete, zu einem Fremden zu kommen; er schloß die Türe.

Martha! Martha! stammelte er wieder verzweiflungsvoll.

Er blieb im Vorraum stehen und überlegte, da er den dumpfen Zorn, der ihm die Kehle zuschnürte, nicht besänftigen konnte. Wo war er denn, daß er kein Zimmer wiedererkannte? Wer hatte ihm sein Haus so verändert? Seine Erinnerungen verschwammen. Er sah nur Schatten den Flur entlang gleiten; zwei schwarze, ärmliche Schatten, die sich höflich duckten; dann zwei graue verdächtige Schatten, die höhnten. Er hob die Lampe, deren Docht aufflammte; die Schatten wuchsen an den Mauern, stiegen die Treppe empor, erfüllten und verzehrten das ganze Haus. Ein böser Aussatz, ein Zerstörungskeim, der hier eingeführt worden war, hatte das Getäfel morsch, das Eisen rostig gemacht, die Mauern gespalten. Dann hörte er, wie das Haus in Staub sank gleich faulem Mauerwerk und zerschmolz wie ein Stück Salz, das in warmes Wasser geworfen wird.

Oben ertönte helles Lachen, darob ihm die Haare zu Berge standen. Er stellte die Lampe auf die Erde und ging hinauf um Martha zu suchen; er stieg auf allen vieren geräuschlos und leicht wie ein Wolf hinauf. Als er auf dem Absätze des ersten Stockes war, kniete er vor der Türe des Schlafzimmers nieder. Ein Lichtstrahl drang unter der Türe hervor. Martha schien zu Bette zu gehen.

Ah, ertönte die Stimme Olympias, ist ihr Bett aber gut! Sieh nur, Honore, wie man da einsinkt; mir gehen die Federn bis an die Augen.

Sie lachte, streckte und wälzte sich in den Betten herum.

Soll ich es dir sagen? fuhr sie fort. Seitdem ich hier bin, wollte ich immer in diesem Bette liegen ... Es war eine förmliche Krankheit von mir. Ich konnte diese dumme Trude von einer Hausfrau nicht da drinnen liegen sehen, ohne von einer wütenden Lust erfaßt zu werden, sie hinauszuwerfen und mich an ihre Stelle zu legen ... Da ist einem gleich warm! Mir ist, als läge ich in Wolle.

Trouche, der sich noch nicht niedergelegt hatte, kramte unter den Toilettefläschchen herum.

Sie hat alle Arten von Parfüm, murmelte er.

Sieh, fuhr Olympia fort, da sie nicht hier ist, können wir es uns in dem schönen Zimmer bequem machen! Es hat keine Gefahr, daß sie uns stört; ich habe zugeriegelt ... Du wirst dich erkälten, Honoré!

Er zog die Schubläden der Kommode auf und wühlte in der Wäsche herum.

Zieh doch das an, sagte er und warf Olympia ein Nachthemd zu. Es ist voll Spitzen. Ich habe immer gewünscht, mit einer Frau zu schlafen, die ein Spitzenhemd an hat ... Ich will mir dieses rote Tuch um den Kopf binden ... Hast du frische Bettücher genommen?

Nein, erwiderte sie; ich habe nicht daran gedacht; sie sind noch rein ... Sie achtet sehr auf sich, ich habe keinen Ekel vor ihr.

Als sich Trouche endlich niederlegte, rief sie ihm zu:

Stelle doch den Grog auf das Nachttischchen. Wir werden doch nicht aufstehen und bis ans Ende des Zimmers gehen, wenn wir trinken wollen ... So, jetzt sind wir wirkliche Hausbesitzer.

Sie lagen jetzt beisammen und hatten die warmen Eiderdaunen bis an das Kinn hinaufgezogen.

Ich habe heute abend gut gegessen, murmelte Trouche nach einer Pause.

Und ich getrunken! fügte Olympia lachend hinzu. Ich bin ganz duselig; mir dreht sich alles im Kopfe ... Das Dumme ist, daß uns die Mutter immer auf dem Nacken sitzt; heute ist sie fürchterlich gewesen; ich konnte keinen Schritt mehr im Hause tun ... was nützt es uns, daß die Hausfrau fortgeht, wenn die Mutter hierbleibt und den Gendarmen macht. Das hat mir den ganzen Tag vergällt.

Denkt der Abbé nicht daran fortzugehen? fragte Trouche wieder nach einer Weile. Wenn man ihn zum Bischof ernennt, muß er uns das Haus überlassen.

Man weiß nicht, erwiderte sie verdrossen. Die Mutter will es vielleicht für sich behalten ... Es wäre so schön, wenn man ganz allein wäre! Ich würde die Hausfrau oben in dem Zimmer meines Bruders schlafen lassen, indem ich ihr sagen würde, daß es gesünder sei ... Gib einmal das Glas her, Honoré!

Beide tranken und krochen dann wieder unter die Decken.

Bah, fuhr Trouche fort, es ist nicht leicht, sie hinauszubringen; man kann es aber immerhin versuchen ... Ich glaube, der Abbé hätte schon eine andere Wohnung genommen, wenn er nicht fürchtete, daß ihm die Hausfrau einen Skandal macht, weil er sie verläßt. Ich habe Lust, die Hausfrau zu bearbeiten; ich würde ihr Geschichten erzählen, die ihr das Bleiben verleiden.

Er trank von neuem.

Wenn ich ihr den Hof machte, sagte er dann leiser.

Ach nein, rief Olympia, die zu lachen begann, als wenn sie gekitzelt würde. Du bist zu alt und bist nicht schön genug. Ich würde mir nichts daraus machen, aber sie würde sicherlich von dir nichts wissen wollen ... Laß mich nur machen, ich werde ihr schön den Kopf zurechtsetzen. Ich gebe der Mutter und Ovid den Abschied, weil sie zu uns so wenig gut sind.

Übrigens, wenn es dir nicht gelingt, brummte er, erzähle ich überall, daß man den Abbé bei der Hausfrau im Bette gefunden hat. Das wird ein solches Ärgernis erfegen, daß er ausziehen muß.

Olympia hatte sich aufgesetzt.

Das ist ein guter Gedanke, sagte sie. Morgen müssen wir damit anfangen. In einem Monat gehört uns die Bude ... Ich küsse dich für deine Mühe.

Das stimmte beide ungemein heiter. Sie sprachen davon, wie sie das Zimmer einrichten wollten; die Kommode würden sie auf einen anderen Platz stellen und aus dem Salon zwei Sessel hinaufschaffen. Ihre Sprache stockte immer mehr. Es wurde still.

He, du bist schon im Zuge, stammelte Olympia; du schnarchst mit offenen Augen. Laß mich vorne liegen; wenigstens kann ich meinen Roman beenden. Ich bin nicht schläfrig.

Sie erhob sich, rollte ihn wie eine Masse gegen die Wand und begann zu lesen. Aber gleich bei der ersten Seite drehte sie unruhig den Kopf nach der Türe. Sie glaubte ein eigentümliches Grunzen auf dem Gange zu hören. Dann geriet sie in Zorn.

Du weißt doch, daß ich solche Scherze nicht leiden kann, sagte sie und stieß ihren Mann mit dem Ellenbogen an. Du machst schon wieder den Wolf! ... Man möchte glauben, es sei ein Wolf vor der Türe. Nur zu, wenn es dir gefällt. Geh, du bist sehr lästig.

Sie vertiefte sich von neuem eifrig in ihren Roman, nachdem sie an der Zitrone ihrs Grogs gesogen hatte.

Mouret verließ mit schleichendem Gange die Türe, wo er zusammengekauert gewesen. Er stieg in das zweite Stockwerk hinauf, kniete vor dem Zimmer des Abbé Faujas nieder und schaute durch das Schlüsselloch hinein. Er erstickte in sich den Namen Marthas, spähte mit glühendem Auge in allen Winkeln des Zimmers umher und vergewisserte sich, daß man sie da nicht verberge. Das große kahle Zimmer war düster; eine kleine Lampe, die am Rande des Tisches stand, warf auf den Boden einen runden lichten Fleck. Nachdem Mouret hinter die Kommode und die Vorhänge gespäht hatte, blieben seine Blicke auf dem eisernen Bette haften, auf dem der Hut des Priesters wie das Haar einer Frau ausgebreitet lag. Martha mußte ohne Zweifel im Bette sein. Die Trouche hatten ja gesagt, daß sie jetzt da schlafe. Aber er sah das kalte Bett, das mit seinen glatt gespannten Tüchern einem Grabsteine glich; er gewöhnte sich an das Dunkel. Der Abbé Faujas mußte ein Geräusch gehört haben, denn er sah nach der Türe. Als der Irrsinnige das ruhige Gesicht des Priesters erblickte, röteten sich seine Augen, ein leichter Schaum erschien in den Winkeln seiner Lippen; er unterdrückte ein Geheul und ging auf allen vieren die Treppe und die Gänge zurück, indem er leise rief:

Martha! Martha!

Er suchte sie im ganzen Hause: in dem Zimmer Rosas, das er leer fand, in der Wohnung der Trouche, die mit den Möbeln anderer Zimmer angefüllt war; in den ehemaligen Zimmern der Kinder, wo er schluchzte, als ihm ein Paar vertretene Stiefelchen in die Hände fielen, die Desirée getragen. Er ging hinauf und hinunter, er hielt sich an dem Geländer fest, glitt die Mauern entlang, tastete sich durch alle Zimmer, ohne anzustoßen, mit der außerordentlichen Behendigkeit eines vorsichtigen Irren. Bald war kein Winkel im Keller und auf dem Dachboden, den er nicht durchsucht hatte. Martha war nicht im Hause, noch die Kinder, noch Rosa. Das Haus war leer, das Haus konnte zusammenstürzen.

Mouret setzte sich auf eine Stufe der Treppe zwischen dem ersten und zweiten Stocke. Er unterdrückte den mächtigen Sturm, der seine Brust durchtobte. Er saß da mit gekreuzten Händen, dem Rücken an dem Geländer, offenen Augen und starrte ins Dunkel, ganz dem fixen Gedanken hingegeben, der langsam heranreifte. Seine Sinne waren so scharf, daß er das leiseste Geräusch im Hause vernahm. Unten schnarchte Trouche; Olympia drehte mit einem leisen Knistern des Papieres die Seiten ihres Romanes um. Im zweiten Stocke kratzte die Feder des Abbé wie die Füße eines Insektes, während in dem benachbarten Zimmer die schlafende Frau Faujas diese schrille Musik mit ihren kräftigen Atemzügen zu begleiten schien. Mouret lauschte so eine Stunde. Olympia sank zuerst in Schlaf; er hörte das Buch auf den Teppich fallen. Dann legte der Abbé Faujas die Feder weg und entkleidete sich unter leisem Schlürfen seiner Pantoffel; die Kleider glitten leise herab, das Bett krachte kaum. Das ganze Haus war zu Bett gegangen. Aber der Irre merkte an dem leisen Atem des Abbé, daß er nicht schlief. Allmählich wurde der Atemzug stärker. Das ganze Haus schlief.

Mouret wartete noch eine halbe Stunde. Er lauschte noch immer mit großer Aufmerksamkeit, als wenn er die vier Personen, die da in ihren Betten lagen, mit immer schwerfälligerem Tritt in die Erstarrung des Schlafes versinken hörte. Das Haus verschwamm in der Finsternis und war wie ausgestorben. Da erhob er sich und ging langsam in den Vorraum. Er brummte vor sich hin:

Martha ist nicht mehr da, das Haus ist nicht mehr, nichts ist mehr.

Er öffnete die Türe, die in den Garten führte und ging in das kleine Treibhaus hinunter. Hier holte er die großen, trockenen Bündel heraus, trug sie armvoll hinauf und häufte sie vor den Türen der Trouche und Faujas' auf. Da er von einem Bedürfnisse nach großer Helle erfaßt wurde, zündete er in der Küche alle Lampen an, die er auf die Tische in den Zimmern und auf die Stiegenabsätze der Gänge stellte. Dann trug er den Rest der Reisigbündel herüber. Die Haufen türmten sich höher als die Türen. Aber als er den Weg zum letztenmal machte, fiel sein Blick auf die Fenster. Da kehrte er zurück und holte die Stümpfe der Obstbäume und errichtete unter den Fenstern einen Scheiterhaufen, indem er auf geschickte Weise für Luftzug sorgte, damit es besser brenne. Der Holzstoß kam ihm zu klein vor.

Es ist nichts mehr da, sagte er, es muß auch nichts mehr da sein.

Er besann sich, ging in den Keller hinunter und begann von neuem seine Wege. Jetzt schaffte er die Winterfeuerung herauf: Kohle, Reisig und Holz. Der Scheiterhaufen unter den Fenstern wurde größer. Bei jedem Reisigbündel, das er geschickt aufschichtete, wurde er zufriedener. Er verteilte dann den Brennstoff in den Räumlichkeiten des Erdgeschosses, errichtete einen Haufen in der Küche, einen anderen im Vorraum. Schließlich stieß er die Möbel um und brachte sie zu einem Haufen zusammen. Eine Stunde hatte ihm für diese harte Arbeit genügt. Ohne Schuhe, die Arme beladen, war er überall herumgeschlichen, hatte alles mit einer solchen Geschicklichkeit ausgeführt, daß er auch nicht einen Scheit Holz zu laut niederfallen ließ. Es schien neues Leben, eine ganz außerordentliche Logik der Bewegungen in ihn gefahren zu sein. Er war in seinen fixen Gedanken sehr stark, sehr vorsichtig.

Als alles fertig war, sah er einen Augenblick wohlgefällig auf sein Werk. Er ging von Haufen zu Haufen, freute sich über die regelmäßige Form der Scheiterhaufen, schritt um jeden einzelnen herum und klatschte in äußerster Zufriedenheit leise in die Hände. Da einige Kohlenstücke auf der Treppe lagen, holte er einen Besen und kehrte den schwarzen Staub sorgfältig von den Stufen weg. Er vollendete so seinen Rundgang in der bedächtigen Weise eines sorgsamen Bürgers, der alles so einzurichten bemüht ist, wie es eingerichtet sein soll. Die Freude erschreckte ihn allmählich; er bückte sich und kroch auf allen vieren herum, stärker schnaufend und vor Freude grunzend. Dann nahm er eine Weinrebe und zündete die Haufen an, und zwar zuerst die auf der Terrasse unter den Fenstern. Mit einem Satze eilte er zurück, setzte die Haufen im Salon und Speisezimmer, in der Küche und im Vorraum in Brand. Dann sprang er von Stockwerk zu Stockwerk und warf die brennenden Reste seiner Weinrebe auf die Haufen, die die Türen der Trouche und Faujas' versperrten. Seine Wut steigerte sich, die Helle des Brandes machte ihn vollends toll. Zweimal eilte er mit gewaltigen Sätzen hinunter, drehte sich um sich selbst, drang durch den dichten Rauch, blies die Glut der Scheiterhaufen an und warf glühende Kohlen hinein. Als die Flammen schon bis zur Decke der Zimmer schlugen, setzte er sich zeitweilig auf den Boden nieder, lachte und klatschte in die Hände.

Unterdessen schnaubte das Haus wie ein überheizter Ofen. Das Feuer brach an allen Punkten auf einmal mit einer Heftigkeit aus, die die Fußböden spaltete. Der Irrsinnige stieg mitten durch das Feuer mit versengtem Haar und geschwärzten Kleidern wieder hinauf. Er legte sich im zweiten Stocke wie eine lauernde Bestie in den Hinterhalt, auf den Fäusten kriechend, den grunzenden Kopf vorstreckend. So bewachte er den Gang und wandte von der Türe des Priesters kein Auge.

Ovid! Ovid! rief eine erschreckte Stimme.

Am Ende des Ganges öffnete sich plötzlich die Türe der Frau Faujas, und die Flamme schlug mit der Raserei eines Sturmwindes in das Zimmer hinein. Die alte Frau erschien mitten im Feuer. Die Hände ausstreckend, warf sie die brennenden Bündel auseinander, sprang in den Gang, stieß mit Händen und Füßen die Scheite hinweg, die die Türe ihres Sohnes verrammelten, den sie immerfort mit verzweifelter Stimme rief. Der Irrsinnige hatte sich mit glühenden Augen noch mehr geduckt, indem er immer noch sein klagendes Geheul ausstieß.

Erwarte mich! Springe nicht zum Fenster hinaus! rief sie, indem sie an die Türe schlug.

Sie mußte sie einbrechen. Die brennende Türe gab leicht nach. Sie erschien wieder und hielt ihren Sohn in den Armen. Er hatte sich noch Zeit genommen, seinen Talar anzuziehen; er war schier im Rauche erstickt.

Ich trage dich, Ovid, rief sie in energischem Tone. Klammere dich an meine Schulter; halte dich an meinen Haaren fest, wenn du dich schwach fühlst ... Sei ruhig, ich bringe dich hinaus.

Sie nahm ihn wie ein Kind auf die Schultern, und diese brave Mutter, diese alte Bäuerin, bis zum Tode ergeben, wankte nicht unter der erdrückenden Last des ohnmächtigen Körpers. Sie erstickte die Kohlen unter ihren nackten Füßen, bahnte sich einen Weg, indem sie die Flammen mit ihrer Hand abwehrte, damit ihr Sohn keinen Schaden nehme. Aber in dem Augenblicke, wo sie hinuntergehen wollte, stürzte sich der Irrsinnige, den sie nicht gesehen hatte, auf den Abbé Faujas, den er ihr von den Schultern riß. Sein klagendes Winseln artete in ein Geheul aus, während ein Anfall ihn am Rande der Treppe niederwarf. Er schlug, kratzte und würgte den Priester.

Martha! Martha! rief er.

Er rollte mit seinem Opfer die brennenden Stufen hinunter; während Frau Faujas, die mit ihren Zähnen ihn in die Gurgel biß, sein Blut trank. Die Trouche verbrannten in ihrer Trunkenheit, ohne einen Seufzer auszustoßen. Das verwüstete Haus sank inmitten eine Welle von Funken in Trümmer.


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