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Der Monat April war sehr mild. Abends nach dem Essen verließen die Kinder den Speisesaal, um in dem Garten zu spielen. Da es in dem kleinen Zimmer zum Ersticken warm war, gingen Martha und der Abbé schließlich auf die Terrasse, wo sie sich in der Nähe des offenen Fensters fern von den Strahlen der Lampe niederließen, die das hohe Gebüsch beleuchtete. Hier sprachen sie, während die Nacht sich auf sie herabsenkte, von den tausend Einzelheiten des Werkes der heiligen Jungfrau. Diese stete Beschäftigung mit dem frommen Werke brachte einen milden Zug mehr in ihre Unterhaltung. Ihnen gegenüber war zwischen den riesigen Birnbäumen des Herrn Rastoil und den schwarzen Kastanienbäumen der Präfektur ein großes Stück Himmel sichtbar. Die Kinder liefen unter den Lauben am anderen Ende des Gartens umher, während zwischen Mouret und Madame Faujas, die im Speisesaale beim Spiel zurückgeblieben waren, von Zeit zu Zeit ein kleiner Zank losbrach.
Manchmal hielt Martha in ihren Worten, die langsam von ihren Lippen kamen, gerührt inne, wenn sie am Himmel eine Sternschnuppe dahinfliegen sah. Sie lächelte dann, sah zum Himmel empor und sagte leise:
Da geht wieder eine Seele aus dem Fegefeuer ins Paradies ein.
Dabei lehnte sie das Haupt zurück und blickte zum Himmel empor. Als der Priester schwieg, fügte sie hinzu:
Das ist ein schöner Kinderglaube ... Man möchte immer ein Kind bleiben ...
Jetzt besserte sie abends nicht mehr die Wäsche aus, weil sie eine Lampe auf der Terrasse hätte anzünden müssen; sie blieb lieber in dem lauen Schatten der Nacht sitzen, was ihr so wohl tat. Außerdem ging sie jetzt fast jeden Tag aus und war abends immer sehr müde, so daß sie nach dem Essen nicht einmal mehr den Mut hatte, eine Nadel in die Hand zu nehmen. Rosa mußte die Wäsche ausbessern, weil Mouret sich immer über seine zerrissenen Strümpfe beklagte.
In Wahrheit war aber Martha sehr beschäftigt. Außer den Ausschußsitzungen, die sie leitete, hatte sie eine Menge anderer Sorgen, hatte Besuche zu machen und Arbeiten zu beaufsichtigen. Die Schreibereien und andere Kleinigkeiten mehr überließ sie zwar der Frau Paloque; aber je weiter das Werk gedieh, desto nervöser wurde sie und begab sich jede Woche dreimal in die Vorstadt, um den Stand der Arbeiten zu besichtigen. Da ihr aber die Arbeit viel zu langsam vorwärtskam, eilte sie in die Kirche und suchte den Baumeister auf, zankte mit ihm und bat ihn flehentlich, doch die Arbeiter da draußen nicht ohne Aufsicht zu lassen; sie war sogar auf die Arbeiten eifersüchtig, die er in der Kirche ausführen ließ, weil die Kapelle sich viel rascher der Vollendung näherte. Lieutaud lächelte und versicherte ihr, daß alles bis zur vereinbarten Frist fertig sei.
Auch der Abbé Faujas erklärte, daß gar nichts vorwärtsgehe, und drängte Martha, den Baumeister nicht eine Minute in Ruhe zu lassen. Diese kam daher jeden Tag in die Kirche, den Kopf voll von Ziffern und ganz beschäftigt mit den Mauern, die niederzureißen und neu aufzurichten waren. Die Kühle des Gotteshauses beruhigte sie ein wenig. Sie nahm Weihwasser und bekreuzte sich, um es zu machen wie die übrigen Leute. Schließlich kannten die Kirchendiener sie und grüßten sie; sie selbst wurde mit allen Räumlichkeiten bekannt; mit der Sakristei, wo sie manchmal den Abbé Faujas aufsuchte, mit den großen und kleinen Gängen des Klosters, die sie durchschreiten mußte. Nach vier Wochen war in der Kirche kein Winkel, den sie nicht kannte. Manchmal mußte sie auf den Baumeister warten; sie setzte sich dann in einer Seitenkapelle nieder, ruhte von dem schnellen Gange aus und dachte über tausenderlei Dinge nach, die sie dem Herrn Lieutaud zu sagen hatte; die tiefe Stille, die sie umgab und der fromm stimmende Schatten der Kirchenfenster versenkten sie zuweilen in eine Art süßer Träumerei. Sie begann sich unter den hohen Gewölben, vor den geschmückten Altären und den in Reihen aufgestellten Stühlen so heimisch zu fühlen, daß, sobald die Doppeltüre leise hinter ihr zufiel, ein Gefühl tiefster Ruhe, ein Vergessen der Widerwärtigkeiten des Lebens, ein Aufgehen ihres ganzen Wesens in diesem irdischen Frieden sich in ihr Herz senkten.
Wie schön es in der Kirche ist! sagte sie eines Abends nach einem stürmischen Tage zu ihrem Gatten.
Sollen wir dahin schlafen gehen? erwiderte Mouret lachend.
Martha fühlte sich verletzt. Der Gedanke an das rein leibliche Wohlbehagen, das sie in der Kirche fühlte, beleidigte sie wie etwas Ungeziemendes, so daß sie jetzt nur mehr mit einer gewissen Angst dahinging und sich Mühe gab dort gleichgültig einzutreten wie in die Säle des Rathauses; trotzdem fühlte sie ihr Innerstes erschauern. Sie litt darunter und unterzog sich doch gern diesem Leiden.
Der Abbé Faujas schien diese langsame Veränderung, die sie jeden Tag tiefer ergriff, nicht zu bemerken. Er blieb für sie ein geschäftiger, verbindlicher Mann, der nie etwas vom Himmel sagte, nie den Priester hervorkehrte. Manchmal rief sie ihn von einem Begräbnisse weg, und er sprach zwischen zwei Pfeilern mit ihr, von Weihrauch und Wachs duftend. Das geschah oft wegen einer Maurerrechnung oder einer Tischlerforderung. Er gab genaue Auskunft und ging dann wieder zu seinem Toten, den er zu Grabe geleitete, während sie in dem leeren Schiffe zurückblieb, wo der Kirchendiener die Kerzen auslöschte. Wenn der Abbé mit ihr die Kirche durchschritt und sich vor dem Hochaltare verbeugte, tat sie es ebenfalls; zuerst hatte sie sich aus Anstand verbeugt, dann sich so daran gewöhnt, daß sie es auch tat, wenn sie allein war. Bis zu dieser Ehrfurchtsbezeugung ging ihre Frömmigkeit. Zwei oder drei Male kam sie zufällig an hohen Festtagen zur Kirche; wenn sie aber die Orgel hörte und die Kirche voll Menschen sah, wich sie, von Furcht ergriffen zurück und wagte nicht einzutreten.
Nun, fragte Mouret sie jetzt oft in höhnischem Tone, wann gehst du denn das erstemal zur Kommunion?
In dieser Weise ärgerte er sie mit seinen Späßen, zu denen sie immer schwieg. Sie sah ihn nur mit starrem Auge an, in dem ein Blitz aufleuchtete, wenn er zu weit ging. Allmählich wurde er herber; er hatte nicht mehr den Mut zu spotten; nach einem Monat ward er böse.
Ist das vernünftig, sich mit den Pfaffen abzugeben? schimpfte er, wenn er sein Essen nicht fertig fand. Du bist jetzt immer außer dem Hause, und man kann dich nicht eine Stunde hier festhalten ... Es würde mir nichts daran liegen, wenn nur nicht alles darunter litte; aber ich bekomme keine Wäsche mehr geflickt, das Essen ist um sieben Uhr nicht fertig, und Rosa kann mit allem nicht fertig werden; das Haus geht zugrunde.
Damit hob er einen Staubfetzen auf, verschloß eine vergessene Weinflasche, wischte mit den Fingerspitzen den Staub von den Möbeln, wurde immer zorniger und schrie zuletzt:
Nicht wahr, einen Kehrbesen soll ich in die Hand nehmen und eine Küchenschürze umbinden! ... Das wäre dir recht! Du ließest mich die Wirtschaft führen und würdest es nicht einmal bemerken. Weißt du, daß ich heute früh zwei Stunden gebraucht habe, diesen Schrank da in Ordnung zu bringen? Nein, meine Beste, so kann es nicht weitergehen.
Ein andermal entstand wieder ein Streit wegen der Kinder. Als Mouret nach Hause kam fand er Desirée ganz allein im Garten vor einem Ameisenhaufen auf dem Bauche liegen und zusehen, was diese Tiere treiben. Sie sah »schmutzig wie ein kleines Schwein« aus.
Es ist nur ein Glück, daß du nicht noch draußen schläfst, rief er seiner Frau zu, sobald er sie erblickte. Schau dir doch deine Tochter an! Sie durfte kein anderes Kleid anziehen, damit du auch diesen schönen Anblick genießen kannst.
Das Mädchen weinte bitterlich, als ihr Vater es nach allen Seiten drehte.
Ist sie nicht hübsch? ... So sehen die Kinder aus, wenn man sie allein läßt. Ihr Fehler ist es nicht; die arme Kleine ist unschuldig. Du wolltest sie ehemals nicht fünf Minuten allein lassen, weil sie, wie du sagtest, etwas in Brand stecken könnte ... Ja, sie steckt alles in Brand; alles geht in Flammen auf, und das ist ganz recht.
Als hierauf Rosa das Mädchen hinausgeführt hatte, schimpfte er noch stundenlang weiter:
Jetzt lebst du für die Kinder anderer und kannst nicht einmal für deine eigenen sorgen. Wie du dumm bist, dich für ein solches Bettelpack abzumühen, das sich über dich lustig macht und in allen Winkeln der Schanzen herumliegt! Geh' doch einmal des Abends vor die Stadt hinaus, da kannst du sehen, wie diese Dirnen, die du in den Schutz der heiligen Jungfrau stellst, ihre Röcke über den Kopf heben ...
Er holte Atem, dann fuhr er fort:
Gib wenigstens auf Desirée acht, bevor du fortgehst, um Dirnen aus der Gosse aufzulesen. Sie hat faustgroße Löcher in ihrem Kleide. Eines Tages finden wir sie mit einem gebrochenen Gliede im Garten ... Von Octave und Serge spreche ich gar nicht, obgleich es mir lieber wäre, dich zu Hause zu wissen, wenn sie aus dem Kolleg kommen. Sie hecken allerlei tolle Streiche aus; gestern haben sie zwei Steinplatten auf der Terrasse zerbrochen, als sie Petarden anzündeten ... Ich sage dir, wenn du nicht in deinem Hause bleibst, werden wir eines Tages alles in Trümmern finden. Martha entschuldigte sich mit einigen Worten: Sie habe ausgehen müssen. Mouret sagte in seinem zänkischen Wesen die Wahrheit: Um das Haus stand es schlecht. Der ruhige Winkel, über den die Sonne so friedlich zur Rüste ging, ward zu einem Orte des Zankes, der Verlassenheit, des tollen Treibens der Kinder, der schlechten Laune des Vaters und der Gleichgültigkeit der Mutter. Abends bei Tische aßen alle schlecht und zankten. Rosa tat, was sie wollte, und gab im übrigen der Frau des Hauses recht.
Es kam so weit, daß Mouret, als er seiner Schwiegermutter begegnete, sich bitter über Martha beklagte, obgleich er wußte, welche Freude er der alten Frau bereitete, wenn er ihr von dem Ungemach seiner Häuslichkeit erzählte.
Sie setzen mich in großes Erstaunen, erwiderte Felicité lächelnd. Martha schien Sie zu fürchten; ich fand sie sogar zu schwach und zu gehorsam. Eine Frau soll vor ihrem Gatten nicht zittern.
Freilich, rief Mouret verzweifelt aus. Sie wäre unter die Erde gekrochen, um nur einen Streit zu vermeiden. Ein Blick genügte; sie tat alles was ich wollte ... Jetzt ist alles anders. Ich kann noch so sehr schreien, sie tut nur, was sie will. Sie antwortet mir nicht, das ist wahr; sie trotzt mir auch nicht, aber das wird schon kommen.
Felicité erwiderte scheinheilig:
Wenn Sie es wünschen, will ich mit Martha sprechen; nur könnte es sie verletzen, denn solche Sachen sollen lieber zwischen Mann und Frau bleiben ... Ich mache mir keine Sorgen: Sie werden sehr gut den häuslichen Frieden wieder zu finden wissen, auf den Sie so stolz waren.
Mouret zuckte mit den Achseln und erwiderte, während er zu Boden sah:
Nein, nein, ich kenne mich; ich schimpfe, aber das führt zu nichts. Im Grunde genommen bin ich schwach wie ein Kind ... Man ist im Unrecht, wenn man glaubt, daß ich immer meine Frau am Gängelbande geführt habe. Wenn sie oft das tat, was ich wollte, so geschah es nur, weil es ihr gleichgültig war, ob sie dies oder jenes tat. Bei all ihrer Sanftmut ist sie doch sehr eigensinnig ... Ich will versuchen, sie auf den rechten Weg zurückzuführen.
Dann sah er auf und fuhr fort:
Ich hätte besser getan, wenn ich es Ihnen nicht gesagt hätte. Nicht wahr, Sie erzählen es niemanden?
Als Martha am folgenden Tage ihre Mutter besuchte, nahm diese eine gekränkte Miene an und sagte ihr:
Du tust unrecht, liebe Tochter, daß du dich mit deinem Gatten so schlecht verträgst. Ich habe ihn gestern gesehen, er ist ganz außer sich. Ich weiß wohl, daß er viele Lächerlichkeiten an sich hat, aber das ist kein Grund, deine Wirtschaft zu vernachlässigen.
Martha sah ihre Mutter scharf an.
Also er beklagt sich über mich, sagte sie kurz. Er sollte wenigstens schweigen; ich beklage mich nicht über ihn.
Dann sprach sie von anderen Dingen. Aber Madame Rougon brachte das Gespräch wieder auf ihren Gatten, indem sie sich nach dem Abbé Faujas erkundigte.
Weißt du, vielleicht kann Mouret den Abbé nicht leiden und zankt seinethalben mit dir.
Martha war ganz überrascht.
Welcher Gedanke! sagte sie leise. Warum soll mein Mann den Abbé Faujas nicht leiden mögen? Mir gegenüber hat er wenigstens noch kein Wort fallen lassen, das mich zu dieser Annahme berechtigen würde. Er hat dir doch auch nicht darüber gesagt, nicht wahr? ... Nein, du täuschest dich. Er würde sie in ihrem Zimmer aufsuchen, wenn die Alte nicht herabkäme, um mit ihm zu spielen.
Wirklich ließ Mouret kein Wort über den Abbé Faujas fallen; er verspottete ihn nur manchmal in ungehöriger Weise. Er zog ihn oft in die Neckereien, mit denen er seine Frau in bezug auf die Religion plagte, mit hinein. Aber das war alles.
Eines Morgens rief er beim Rasieren Martha zu:
Höre, meine Beste, wenn du zur Beichte gehst, nimm dir den Abbé. Wenigstens bleiben deine Sünden unter uns.
Der Abbé hörte jeden Dienstag und Freitag die Beichte. An diesen Tagen begab sich Martha nicht in die Kirche; sie sagte, sie wolle ihn nicht stören. Aber sie gehorchte mehr jener ängstlichen Scheu, die sie befangen machte, wenn sie ihn im Chorhemde antraf, in dessen Spitzen er den geheimnisvollen Geruch der Sakristei mitbrachte. An einem Freitage ging sie mit Frau von Condamin nachsehen, wie weit die Arbeiten des Werkes der heiligen Jungfrau gediehen seien. Die Arbeiter vollendeten eben die Außenseite. Frau von Condamin war damit ganz unzufrieden, weil sie den äußeren Schmuck armselig und ohne Stil fand; es hätten zwei einfache Säulen mit einem Spitzbogen angebracht werden sollen, etwas Jugendliches und Religiöses zugleich, ein klein wenig Architektur, das dem Ausschuß Ehre gemacht hätte. Martha zögerte und gab schließlich zu, daß es wirklich armselig aussehe. Als die andere ihr zuredete, versprach sie, noch an demselben Tage mit Herrn Lieutaud darüber zu sprechen. Um ihr Wort zu halten, ging sie, bevor sie heimkehrte, noch in die Kathedral-Kirche. Es war vier Uhr, und der Baumeister hatte soeben das Gotteshaus verlassen. Als sie nach dem Abbé Faujas fragte, sagte ihr ein Kirchendiener, daß er in der Kapelle Sankta-Aurelia Beichte höre. Sie erinnerte sich, was heute für ein Tag war, und erwiderte leise, daß sie nicht warten könne. Aber als sie auf dem Rückwege an der Kapelle Sankta-Aurelia vorüberkam, dachte sie, daß der Abbé sie vielleicht gesehen habe. In Wahrheit aber fühlte sie eine eigentümliche Schwäche; sie setzte sich außerhalb der Kapelle an das Gitter. Hier blieb sie.
Der Himmel war bewölkt, die Kirche füllte sich mit einer langsam hernieder sinkenden Dämmerung. In den schon dunkelen Seitenschiffen leuchteten das Licht einer Ampel, der vergoldete Fuß eines Leuchters und das silberne Gewand einer Mutter Gottes; und das Hauptschiff entlang brach sich ein bleicher Strahl auf dem blanken Eichenholz der Bänke und Stühle. Noch nie hatte sich Martha hier so schwach gefühlt; ihre Beine waren wie gebrochen, ihre Hände so schwer, daß sie sie über den Knien zusammenfaltete, um nicht die Mühe zu haben, sie zu tragen. Sie überließ sich einem Schlafe, in dem sie immer noch sah und hörte, aber es war ein sehr angenehmes Gefühl. Die leisen Geräusche unter dem Gewölbe, das Fallen eines Stuhles, der langsame Schritt einer Frommen stimmte sie weich und nahm einen schier musikalischen Klang an, der ihr zu Herzen drang; während der letzte Glanz des Tages, die Schatten, die wie eine Hülle die Pfeiler hinan stiegen, ihr zart wie schillernde Seide schienen, fühlte sie in der wohligen Schwäche, die sie erfaßte, ihr ganzes Wesen aufgehen und erlöschen. Sie war in diesem namenlosen Etwas vollkommen selig.
Eine Stimme entriß sie diesem Entzücken.
Es tut mir sehr leid, sagte der Abbe Faujas, ich habe Sie bemerkt, aber ich konnte nicht weggehen.
Jetzt schien sie plötzlich zu erwachen. Sie sah ihn an. Er stand im Chorhemde vor ihr in dem erlöschenden Tageslichte. Sein letztes Beichtkind war eben fortgegangen, und die leere Kirche versank in eine noch größere Feierlichkeit.
Sie wollten mit mir sprechen? fragte er.
Sie machte eine Anstrengung, suchte sich zu erinnern.
Ja, sagte sie leise, ich weiß es aber nicht mehr ... Richtig, es handelt sich um die Außenseite, die Frau von Condamin zu einfach findet. Man sollte zwei Säulen anstatt dieser flachen, nichtssagenden Tür anbringen; man könnte auch einen Spitzbogen mit bemalten Fenstern einsetzen. Das wäre sehr hübsch ... Sie verstehen mich, nicht wahr?
Die Hände über seinem Chorhemde gefaltet, sah er sie ernst an; er überragte sie und neigte sein nachdenkliches Antlitz zu ihr. Sie saß noch immer, da sie nicht die Kraft hatte, aufzustehen; sie stammelte noch mehr, als wenn sie in einem Schlummer ihres Willens überrascht worden sei, den sie nicht abschütteln konnte.
Das würde zwar noch mehr kosten ... Man könnte sich ja mit Säulen aus weichem Steine und einem einfachen Gesimse zufrieden geben ... Wir werden darüber mit dem Maurermeister sprechen, wenn Sie wollen; er wird uns den Preis sagen. Nur wäre es gut, ihm zuerst seine letzte Rechnung zu begleichen. Es sind, wie ich glaube, zweitausend und einige Franken. Wir haben das nötige Geld, Frau Paloque hat es mir heute früh gesagt ... All dies läßt sich einrichten, Herr Abbé.
Sie hatte den Kopf gesenkt, als drücke sie der Blick nieder, den sie auf sich ruhen fühlte. Als sie wieder aufsah und den Blicken des Priesters begegnete, faltete sie die Hände zusammen wie ein Kind, das um Gnade bittet, und brach in Schluchzen aus. Der Priester, der schweigend vor ihr stand, ließ sie weinen. Dann fiel sie vor ihm auf die Knie und weinte in die Hände, mit denen sie ihr Gesicht bedeckte.
Ich bitte Sie, stehen Sie auf, sagte der Abbé sanft zu ihr. Nur vor Gott sollen Sie knien.
Er zog sie empor und setzte sich neben sie. Dann sprachen sie lange leise miteinander. Die Nacht war ganz hereingebrochen, und die Ampeln leuchteten mit einem Goldschimmer in den schwarzen Tiefen der Kirche. Das Geflüster der beiden allein zitterte vor der Kapelle der heiligen Aurelie. Man hörte den Priester unaufhörlich sprechen; nach jeder schwachen und abgebrochenen Antwort Marthas nahm er von neuem das Wort. Als sie sich endlich erhoben, schien er eine Gnade, um die sie dringend bat, abzuschlagen; als er sie zur Türe führte, sagte er lauter zu ihr:
Nein, ich kann wirklich nicht. Es ist besser, Sie nehmen den Abbé Bourrette.
Ich benötige so sehr Ihrer Ratschläge, erwiderte Martha mit flehender Stimme leise. Es scheint mir, daß mir mit Ihnen alles leicht wird.
Sie täuschen sich, fuhr er in weniger sanftem Tone fort. Ich fürchte im Gegenteil, daß meine Leitung Ihnen im Anfange schadet. Der Abbé Bourrette ist, glauben Sie es mir, der Priester, den Sie brauchen ... Später werde ich Ihnen vielleicht eine andere Antwort geben.
Martha gehorchte. Am folgenden Tage waren die frommen Besucherinnen der Kirche Sankt-Saturnin nicht wenig erstaunt, als sie Frau Mouret vor dem Beichtstuhl des Abbé Bourrette niederknien sahen. Zwei Tage nachher sprach man in Plassans von nichts anderem als von dieser Bekehrung. Der Name des Abbé Faujas wurde von gewissen Leuten mit einem feinen Lächeln genannt; aber im ganzen war der Eindruck ein ausgezeichneter und ganz zum Vorteile des Abbé. Frau Rastoil drückte Frau Mouret in der Ausschußsitzung die Anerkennung aus; Frau Delangre wollte darin den ersten Segen Gottes sehen, der die Gönnerinnen für ihr gutes Werk belohnte, indem er das Herz der einzigen unter ihnen rührte, die nicht zu beichten pflegte. Frau von Condamin nahm Martha beiseite und sagte zu ihr:
Meine Teure, Sie haben recht gehabt; das ist für eine Frau notwendig. Sobald man ein wenig ausgeht, muß man schon in die Kirche gehen.
Man wunderte sich nur, daß sie den Abbé Bourrette gewählt habe, denn dieser würdige Mann nahm sonst nur kleinen Mädchen die Beichte ab. Die Damen fanden ihn »so wenig unterhaltend«. Als am Donnerstage Martha noch nicht angekommen war, sprach man bei den Rougons in einer Ecke des grünen Salons davon, und diesmal fand Frau Paloque mit ihrer Vipernzunge das letzte Wort in diesem Geklatsche.
Der Abbé Faujas hat recht gehabt, sie nicht für sich zu behalten, sagte sie mit einer Gesichtsverzerrung, die sie noch häßlicher machte. Der Abbé Bourrette rettet alles und hat nichts Anstößiges.
Als Martha an diesem Tage ankam, ging ihre Mutter ihr entgegen und küßte sie auffallend zärtlich vor der Gesellschaft. Sie hatte sich mit Gott versöhnt, und zwar an dem Tage nach dem Staatsstreiche. Es schien ihr, daß der Abbé Faujas sich jetzt wieder in den grünen Salon wagen könnte, aber er ließ sich entschuldigen, indem er Mangel an Zeit und seinen Hang zur Einsamkeit vorschützte. Sie glaubte, daß er sich die triumphierende Wiederkehr für den nächsten Winter aufhebe. Überhaupt wurden die Erfolge des Abbé immer größer. In den ersten Monaten hatte er als Beichtkinder nur die frommen Weiber vom Grünzeugmarkte, der hinter der Kathedrale stand und Salatverkäuferinnen, deren Kauderwelsch er ruhig anhörte, ohne sie immer zu verstehen; doch jetzt, besonders seit dem Aufsehen, das das Werk von der heiligen Jungfrau veranlaßt hatte, sah er jeden Dienstag und Freitag einen ganzen Kreis von Bürgersfrauen in seidenen Kleidern um seinen Beichtstuhl knien. Als Martha einfach erzählte, daß er sie nicht zum Beichtkinde haben wolle, da entschloß sich Frau von Condamin zu einer kühnen Tat: sie verließ ihren Beichtvater, den ersten Vikar von Saint-Saturnin. der darüber ganz verzweifelt war, und ging mit großem Aufsehen zu dem Abbé Faujas. Ein solcher Vorfall befestigte vollständig die Stellung des letzteren in der Gesellschaft von Plassans.
Als Mouret erfuhr, daß seine Frau zur Beichte ging, sagte er einfach zu ihr:
Du tust etwas Schlimmes, da du das Bedürfnis fühlst, deine Angelegenheiten einem Priesterrocke zu erzählen.
Im übrigen schien er sich inmitten dieser frommen Aufregung abzusondern und sich noch mehr hinter seinen Gewohnheiten in seiner einfachen Lebensweise zu verschanzen. Seine Frau hatte ihm vorgeworfen, daß er sich beklagt habe.
Du hast recht, es war nicht schön, hatte er erwidert. Man darf nicht andern eine Freude bereiten, indem man ihnen seine Verdrießlichkeiten erzählt. Ich verspreche dir, deiner Mutter diese Freude nicht noch einmal zu machen. Ich habe es mir überlegt. Das Haus kann über mir zusammenstürzen, und ich werde es niemandem vorjammern.
Wirklich achtete er seit dieser Zeit sein Haus; er stritt vor niemandem mehr mit seiner Frau und nannte sich wie früher den glücklichsten der Menschen. Diese Anstrengung seiner Einsicht kostete ihm wenig; sie stimmte ganz gut zur fortwährenden Berechnung seines Wohlbehagens; er übertrieb sogar seine Rolle eines ordnungsliebenden Spießbürgers und war des Lebens froh.
Martha fühlte seine Ungeduld nur an seinen lebhaften Gebärden. Er sprach wochenlang kein böses Wort mit ihr, überhäufte nur die Kinder und Rosa mit seinen Spötteleien und tadelte sie von früh bis abends wegen der geringsten Fehler. Wenn er Martha beleidigte, so geschah dies am öftesten durch Bosheiten, die sie allein verstehen konnte.
War er früher sparsam, so wurde er jetzt geizig.
Es ist unsinnig, zankte er, daß wir soviel Geld ausgeben. Ich wette, du schenkst alles deinem Bettelpack. Nicht genug damit, daß du deine Zeit vertrödelst ... Höre, meine Beste, ich gebe dir monatlich hundert Franken für die Wirtschaft. Wenn du Dirnen Almosen geben willst, die es nicht verdienen, magst du es von deinem Nadelgeld tun.
Er hielt Wort; im folgenden Monat schlug er Martha ein Paar Stiefelchen ab, indem er vorgab, es störe seine Rechnungen, und er habe sie gewarnt. Aber eines Abends traf ihn seine Frau im Schlafzimmer bitterlich weinend an. Bei ihrer großen Güte ward sie dadurch tief gerührt. Sie küßte ihn und bat ihn flehentlich, ihr seinen Kummer mitzuteilen. Aber er machte sich unzart von ihr los, und sagte, daß er nicht weine und nur an Kopfschmerzen leide, die ihm die Augen gerötet haben.
Glaubst du, schrie er, daß ich so dumm bin zu schluchzen wie du?
Sie war beleidigt. Er stellte sich am folgenden Tage recht lustig. Als nach einigen Tagen der Abbé und seine Mutter nach dem Essen herunterkamen, weigerte er sich, seine Spielpartie zu machen. Er sei nicht dazu aufgelegt, sagte er. Die folgenden Tage fand er andere Vorwände, so da& die Partien aufhörten. Jeder ging auf die Terrasse hinaus, Mouret setzte sich seiner Frau und dem Abbé gegenüber, plauderte und benutzte jede Gelegenheit, um zu reden. Einige Schritte weiter saß im Schatten Madame Faujas, stumm und unbeweglich, die Hände auf den Knien gleich einer jener sagenhaften Gestalten, die mit bissiger Treue wie ein knurrender Hund einen Schatz bewachen.
Wirklich ein schöner Abend! sagte Mouret jedesmal. Hier ist es viel schöner als in dem Speisezimmer. Sie hatten ganz recht, an die frische Luft zu gehen ... Da fällt eine Sternschnuppe! Haben Sie sie gesehen, Herr Abbé? Ich habe mir erzählen lassen, daß da der heilige Petrus seine Pfeife anzündet.
Er lachte. Martha blieb ernst, da sie die Späße verletzten, mit denen er gleichsam den Himmel beleidigte, der sich vor ihr zwischen den Birnbäumen des Herrn Rastoil und den Kastanienbäumen der Präfektur ausbreitete. Manchmal stellte er sich, als wisse er nicht, daß sie jetzt fromm sei; er nahm den Abbé beiseite und erklärte ihm, er rechne auf ihn, um das Heil des ganzen Hauses zu sichern. Ein andermal begann er jeden Satz in heiterem Tone mit den Worten: Jetzt, wo meine Frau zur Beichte geht ... Wenn er dieses ewigen Themas überdrüssig war, horchte er auf das, was man in den Nachbargärten sprach. Er erkannte die Stimmen, die hörbar wurden und durch die ruhige Nacht herüberklangen, während das letzte Geräusch von Plassans in der Ferne erstarb.
Das, sagte er leise, indem er sich nach der Seite der Präfektur hinneigte, das sind die Stimmen des Herrn von Condamin und des Dr. Porquier. Sie müssen sich über die Paloques lustig machen ... Haben Sie die Fistelstimme des Herrn Delangre gehört, der gesagt hat: »Meine Damen, Sie sollten hineingehen, es wird kühl.« Finden Sie nicht, daß der kleine Delangre immer so redet, als wenn er eine Flöte verschluckt habe?
Dann wandte er sich dem Garten der Rastoil zu:
Dort ist niemand zu Hause, fuhr er fort. Ich höre nichts ... doch, die großen dummen Töchter sitzen bei dem Wasserfalle. Wenn die Ältere spricht, kaut sie förmlich Kieselsteine. Alle Abende haben sie eine ganze Stunde zu plaudern. Wenn sie sich gegenseitig Liebeserklärungen anvertrauen, die man ihnen gemacht hat, kann es nicht lange währen. Ei, es sind alle da ... Der Abbé Surin mit seiner Flötenstimme und der Abbé Fenil, der am Karfreitag als Schnarre dienen könnte. In diesem Garten drängen sich manchmal etwa zwanzig Personen zusammen, ohne einen Finger zu rühren. Ich glaube, sie sind rein nur dort, um uns zu belauschen.
Auf all dieses Geplauder gaben der Abbé Faujas und Martha nur kurze Antworten, wenn er sie direkt ansprach. Gewöhnlich waren beide, den Kopf erhoben und die Augen in der Ferne schweifend, zusammen anderswo, viel weiter und höher. Eines Abends schlief Mouret ein. Da begannen sie leise zu plaudern und näherten sich mit den Köpfen. Einige Schritte von ihnen schien Madame Faujas, die Hände auf den Knien, die Ohren gespannt, das Auge offen, ohne zu sehen und zu hören, die beiden zu bewachen.