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Achtzehntes Kapitel.

Am Sonntag machte Mouret, wie er es noch als Kaufmann gewohnt war, einen Spaziergang in der Stadt. Er verließ nur an diesem Tage die enge Einsamkeit, in die er sich mit einer gewissen Scham einschloß. Das ging ganz mechanisch. Morgens rasierte er sich, zog ein frisches Hemd an, bürstete Überzieher und Hut; nach dem Frühstücke befand er sich, ohne daß er wußte wie, auf der Straße, auf der er langsam, ruhig, die Hände auf dem Rücken dahinging.

Als er eines Sonntags vom Hause wegging, bemerkte er auf dem Fußsteige der Balande-Straße Rosa, die lebhaft mit dem Dienstmädchen des Herrn Rastoil sprach. Die beiden Köchinnen schwiegen, als sie ihn bemerkten. Sie sahen ihn so sonderbar an, daß er sich vergewisserte, ob ihm nicht aus einer Tasche rückwärts ein Zipfel seines Taschentuches heraushänge. Als er auf den Präfekturplatz kam, drehte er sich um und sah sie noch auf demselben Fleck. Rosa ahmte das Taumeln eines betrunkenen Menschen nach, während das Mädchen des Präsidenten hell auflachte.

Ich gehe zu schnell, sie machen sich über mich lustig, dachte Mouret.

Er ging noch langsamer. In dem Maße, als er in der Banne-Straße dem Marktplatze näherkam, eilten die Geschäftsleute an die Türen und folgten ihm mit neugierigen Augen. Er nickte ein wenig dem Fleischhauer zu, der ganz bestürzt war und seinen Gruß erwiderte. Die Bäckerin, vor der er grüßend den Hut lüpfte, schien so erschrocken, daß sie zurückfuhr. Die Obsthändlerin, der Gewürzkrämer, der Kuchenbäcker zeigten sich den Mouret, indem sie mit dem Finger von einem Fußsteige auf den anderen nach ihm wiesen. Er ließ hinter sich einen ganzen Aufruhr zurück; es bildeten sich Gruppen, es entstand ein Stimmengewirr, in das sich höhnisches Kichern mischte.

Haben Sie gesehen, wie steif er geht?

Ja ... Als er über den Rinngraben ging, wäre er bald gepurzelt.

Man sagt, so machen es alle diese Leute.

Ich habe mich sehr gefürchtet ... Warum läßt man ihn ausgehen? Das sollte verboten sein.

Mouret, der furchtsam wurde, wagte sich nicht mehr umzudrehen; er wurde von einer Unruhe erfaßt, obgleich er noch nicht bestimmt wußte, daß man von ihm sprach. Er ging schneller und ließ die Arme leicht hin und her schwenken. Er bedauerte, seinen alten nußbraunen Überzieher angezogen zu haben, der nicht mehr modern war. Als er auf den Markt kam, zögerte er einen Augenblick, dann drängte er sich entschlossen durch die Gemüseweiber. Aber hier erregte sein Erscheinen einen wahren Aufruhr.

Die Hausfrauen von ganz Hassans bildeten auf seinem Wege eine Reihe. Die Gemüseweiber standen auf ihren Bänken, stemmten die Faust in die Seite und betrachteten ihn. Es entstand ein Gedränge, und Frauen stiegen auf die Ecksteine der Getreidehalle. Er beschleunigte seine Schritte noch mehr und suchte aus dem Gedränge zu kommen, weil er noch nicht bestimmt glaubte, daß er die Ursache dieses Getümmels sei.

Man möchte sagen, seine Arme seien Windmühlenflügel, bemerkte eine Bäuerin, die Obst feil hatte.

Er geht wie ein Narr; er hätte beinahe meinen Stand umgeworfen, fügte eine Salathändlerin hinzu.

Aufhalten! Aufhalten! riefen die Müller scherzend.

Mouret blieb neugierig stehen und stellte sich ganz unschuldig auf die Fußspitzen, um zu sehen was vorgehe; er glaubte, daß man soeben einen Dieb erwischt habe. Ein ungeheures Gelächter erhob sich in der Menge; Johlen, Pfeifen und Tierschreie ließen sich hören.

Er ist nicht bösartig, fügen Sie ihm kein Leid zu.

Na, ich traue ihm nicht ... Er steht in der Nacht auf, um die Leute zu erwürgen.

Tatsache ist, daß er unheimliche Augen hat.

Ist ihm das plötzlich gekommen?

Ja, plötzlich ... Wie hinfällig ist doch der Mensch ... Ein so ruhiger Mann! Ich gehe fort, es tut mir zu leid! ... Da sind drei Sous für die Rüben.

Mouret hatte soeben inmitten einer Gruppe von Frauen Olympia erkannt. Sie hatte prächtige Pfirsiche gekauft, die sie in einem kleinen Arbeitskörbchen trug, wie es Damen geziemt. Sie mußte eine rührende Geschichte erzählt haben, denn die Klatschweiber, die sie umstanden, stießen leise Rufe des Bedauerns aus und falteten mitleidsvoll die Hände.

Dann, schloß sie, hat er sie bei den Haaren erfaßt und würde ihr mit einem Rasiermesser, das auf der Kommode lag, die Kehle durchschnitten haben, wenn wir nicht zur rechten Zeit gekommen wären, um das Verbrechen zu verhindern ... Sagen Sie ihm nichts, es könnte ein Unglück geben ...

Was für ein Unglück? fragte Mouret bestürzt Olympia.

Die Frauen stoben auseinander, Olympia zeigte sich auf ihrer Hut; sie wich vorsichtig zurück und sagte leise:

Ärgern Sie sich nicht, Herr Mouret ... Sie sollten lieber nach Hause gehen.

Mouret flüchtete in eine kleine Gasse, die nach der Promenade Sauvaire führte. Das Geschrei wurde stärker, und er wurde einen Augenblick von einem wilden Johlen des Marktes verfolgt.

Was haben sie denn heute? dachte er. Vielleicht machen sie sich über mich lustig; doch habe ich meinen Namen nicht gehört ... Es muß etwas geschehen sein.

Er nahm seinen Hut ab, besah ihn, da er glaubte, irgendein Gassenjunge hätte ihm eine Hand voll Kalk darauf geworfen; er hatte auch keinen Papierdrachen oder Rattenschwanz auf dem Rücken. Das beruhigte ihn. Er ging nun wie ein Bürger ruhig seines Weges weiter und lenkte in die Promenade Sauvaire ein. Die kleinen Rentner saßen auf ihrem Platze auf einer Bank im Sonnenschein.

Da kommt Mouret, sagte der pensionierte Hauptmann mit erstaunter Miene.

Die lebhafteste Neugierde spiegelte sich auf den schläfrigen Gesichtern der Herren ab. Sie reckten den Hals; ohne sich zu erheben, ließen sie Mouret vor sich stehen; sie betrachteten ihn forschend vom Kopf bis zu den Füßen.

Sie machen einen kleinen Spaziergang? begann der Kapitän, der am kühnsten schien.

Ja, einen kleinen Spaziergang, wiederholte Mouret zerstreut; das Wetter ist sehr schön.

Die Herren lächelten einander verständnisvoll an. Ihnen war kalt, und der Himmel hatte sich bewölkt.

Sehr schön, sagte der Gerber leise, Sie nehmen es nicht genau ... Es ist wahr, Sie sind winterlich gekleidet. Sie haben einen sonderbaren Überzieher an.

Man lachte höhnisch. Mouret schien von einem plötzlichen Gedanken erfaßt zu sein.

Sehen Sie doch, fragte er und drehte sich plötzlich um, ob ich nicht eine Sonne auf den Rücken gemalt habe.

Die Mandelhändler konnten nicht länger ernst bleiben und brachen los. Der Spaßmacher der Gesellschaft, der Kapitän, zwinkerte mit den Augen.

Wo denn eine Sonne? fragte er, ich sehe nur einen Mond.

Die anderen stießen sich an und fanden es ungemein geistreich.

Einen Mond? sagte Mouret. Erweisen Sie mir den Dienst und wischen Sie ihn weg; er hat mir Unannehmlichkeiten verursacht.

Der Hauptmann klopfte ihm drei- oder viermal auf den Rücken.

So, mein Guter, jetzt sind Sie ihn los. Das muß nicht angenehm sein, einen Mond auf dem Rücken zu haben ... Sie sehen leidend aus?

Ich befinde mich nicht ganz wohl, erwiderte er in gleichgültigem Tone. Da er Zischeln auf der Bank zu hören glaubte, fügte er hinzu:

Ich werde zu Hause gut gepflegt. Meine Frau ist sehr lieb, sie verzärtelt mich ... Aber ich bedarf sehr der Ruhe. Deshalb gehe ich nicht mehr so oft aus und sieht man mich nicht mehr so häufig. Wenn ich gesund bin, nehme ich die Geschäfte wieder auf.

Nun, unterbrach ihn schroff der ehemalige Gerbermeister, man behauptet, daß Ihre Frau sich nicht wohl befindet.

Meine Frau? ... Sie ist nicht krank, das sind Lügen! rief er lebhaft aus. Ihr fehlt nichts, gar nichts ... Man grollt uns, weil wir zurückgezogen leben ... Ach, krank, meine Frau! Sie ist stark, sie hat nicht einmal Kopfschmerzen.

So sprach er in kurzen Sätzen weiter mit den ruhigen Augen eines Mannes, der lügt und der schwerfälligen Zunge eines schweigsam gewordenen Schwätzers. Die kleinen Rentner schüttelten mitleidig mit dem Kopfe, während der Kapitän sich mit dem Zeigefinger an die Stirn klopfte. Ein alter Hutmacher der Vorstadt, der Mouret von der Krawatte bis zum letzten Knopfe des Überziehers geprüft hatte, war schließlich ganz in den Anblick seiner Schuhe vertieft. Das Band des linken Schuhes war aufgegangen, was dem Hutmacher als etwas Außergewöhnliches vorkam; er stieß seine Nachbarn mit dem Ellenbogen und zeigte ihnen mit einem Zwinkern der Augen das Schuhband, dessen Enden herabhingen. Bald sah die ganze Gesellschaft nur auf dieses Band. Das machte das Maß voll. Die Herren zuckten mit den Achseln, womit sie sagen wollten, daß sie nicht die geringste Hoffnung mehr hätten.

Mouret, sagte der Kapitän in väterlichem Tone, binden Sie sich doch das Band Ihres Schuhes zu.

Mouret blickte auf seine Füße, aber er schien den Wink nicht zu verstehen und redete weiter. Da man ihm nicht mehr antwortete, schwieg er, blieb noch einen Augenblick stehen und setzte schließlich ruhig seinen Weg fort.

Er fällt gewiß, erklärte der Gerbermeister und stand auf, um ihm länger nachzusehen. He! ist er drollig! Ist der aus den Fugen!

Als Mouret am Ende der Promenade Sauvaire an dem Jugendklub vorüberkam, hörte er wieder das unterdrückte Lachen, das ihn begleitete, seitdem er den Fuß auf die Straße gesetzt hatte. Er sah deutlich auf der Schwelle des Klubs Severin Rastoil, der ihn einer Gruppe von jungen Leuten zeigte. Es war sicher: die Stadt lachte über ihn. Er senkte den Kopf, wurde von einer Art Furcht erfaßt und ging, ohne sich diese Verbissenheit gegen ihn zu erklären, längs der Häuser dahin. Als er in die Canquoin-Straße trat, bemerkte er drei Gassenjungen, die ihm folgten; zwei größere mit frecher Miene und einen ganz kleinen, sehr ernsten, der in der Hand eine alte Orange hielt, die er in der Gasse aufgelesen hatte. Dann ging er in der Canquoin-Straße weiter, schritt über den Recollets-Platz und befand sich in der Banne-Straße. Die Gassenbuben folgten ihm immer nach.

Soll ich euch bei den Ohren nehmen? rief er ihnen zu und drehte sich rasch um.

Sie liefen auf die Seite, lachten, heulten und entliefen auf allen Vieren. Mouret, der ganz rot geworden war, fühlte sich lächerlich. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben und setzte seinen Spaziergang fort. Am peinlichsten war ihm, daß er den Präfekturplatz durchschreiten und an den Fenstern der Rougon vorübergehen mußte, gefolgt von diesen Taugenichtsen, deren Zahl er hinter sich anwachsen und frecher werden hörte. Als er weiterging, mußte er einen Umweg machen, um seiner Schwiegermutter auszuweichen, die mit Frau von Condamin aus der Vesper kam.

Ein Wolf! Ein Wolf! schrien die Gassenjungen.

Mouret, dem der Schweiß auf der Stirne stand und die Beine schlotterten, hörte die alte Frau Rougon zu der Frau des Forstinspektors sagen:

Da sehen Sie den Unglücklichen! Es ist eine Schande. Wir können das nicht länger dulden!

Da begann Mouret unwillkürlich zu laufen. Mit ausgestreckten Armen lief er in die Balande-Straße, wohin ihm eine Schar von zehn bis zwölf Gassenjungen folgte. Es schien ihm, als ob die Kaufleute der Banne-Straße, die Marktweiber, die Spaziergänger auf der Promenade, die jungen Herren des Klubs, die Rougon, die Condamin, ganz Plassans mit heiserem Lachen hinter ihm den steilen Abhang der Straße herunterrannten. Die Kinder stampften mit den Füßen, glitten auf dem spitzigen Pflaster aus und machten in dem ruhigen Viertel einen Lärm wie eine losgelassene Meute.

Fangt ihn! heulten sie.

Hep, hep, der sieht gut aus in seinem Überzieher!

He! Ihr anderen! laufet durch die Taravelle-Straße, ihr müßt ihn packen.

Mouret machte außer sich eine verzweifelte Anstrengung, um seine Haustüre zu erreichen; aber er stolperte und fiel auf dem Fußsteige hin, wo er einige Sekunden wie bewußtlos liegen blieb. Die Gassenjungen, die Prügel fürchteten, umringten ihn mit einem Triumphgeschrei, während der kleine, ernste Junge näher trat und die faule Orange nach ihm warf, die über seinem linken Auge platzte. Er stand mühsam auf und ging, ohne sich abzuwischen, in das Haus. Rosa mußte einen Besen nehmen, um die Taugenichtse davonzujagen.

Seit jenem Sonntag war ganz Plassans überzeugt, daß Mouret vollständig verrückt sei. Man erzählte überraschende Tatsachen. Er schließe sich ganze Tage in ein kahles Zimmer ein, wo man seit einem Jahre nicht gefegt habe; das sei keine Erfindung; die Personen, die es erzählten, hatten es von der Köchin des Hauses selbst gehört. Was könne er in diesem kahlen Zimmer tun? Die Ansichten waren geteilt; die Köchin meinte, er stelle sich tot, worüber das ganze Viertel sich entsetzte. Auf dem Markte glaubte man fest, daß er einen Sarg dort versteckt halte und sich der Länge nach hinein lege, die Augen offen und die Hände auf der Brust gefaltet; nur zu seinem Vergnügen von früh bis abends.

Seit langem drohte der Ausbruch, wiederholte Olympia in allen Läden. Das Übel steckte in ihm; er wurde traurig, suchte die Winkel auf, um sich zu verstecken, Sie wissen ja, wie die Tiere, die krank werden. Ich habe am ersten Tage, als ich den Fuß in dieses Haus setzte, zu meinem Gatten gesagt: Der Hausherr steckt in einer schlimmen Haut. Er hatte gelbe Augen und eine scheue Miene. Seitdem ist das Haus nicht mehr ruhig geworden. Er hatte alle möglichen Einfälle. Er zählte die Zuckerstücke ab und schloß selbst das Brot ein. Er wurde so geizig, daß seine arme Frau keine Schuhe mehr anzuziehen hatte ... Sie ist unglücklich, ich bedaure sie aus vollem Herzen! Sie hat was durchzumachen! Stellen Sie sich ihr Leben vor mit diesem Narren, der nicht einmal bei Tische sich rein zu halten weiß; er wirft seine Serviette während des Essens weg und geht wie ein Stumpfsinniger fort, nachdem er in seinem Teller herumgepatscht hat ... Und wie eigensinnig er ist! Wegen des Senfnapfes, der verstellt worden, macht er lärmende Auftritte. Jetzt sagt er nichts mehr; er wirft Blicke wie ein wildes Tier und springt den Leuten an den Hals, ohne einen Laut auszustoßen ... Ich muß Dinge sehen! ... Wenn ich erzählen wollte!

Wenn sie die größte Neugierde erregt hatte und man sie mit Fragen bedrängte, sagte sie leise:

Nein, nein, das geht mich nichts an ... Frau Mouret ist eine fromme Frau, die es als wahre Christin erträgt; sie hat ihre Ansichten darüber und die muß man achten ... Denken Sie, er wollte ihr den Hals mit einem Rasiermesser abschneiden!

Es war immer eine und dieselbe Geschichte, aber sie hatte einen sicheren Erfolg. Die Fäuste wurden geballt, die Weiber wollten Mouret erwürgen. Wenn ein Ungläubiger mit dem Kopfe schüttelte, brachte man ihn sogleich in Verlegenheit, indem man ihn aufforderte, die schrecklichen Szenen einer jeden Nacht zu erklären; nur ein Verrückter sei imstande, seiner Frau, sobald sie im Bette sei, an den Hals zu springen. Hier lag der Schwerpunkt des Geheimnisses, der ganz besonders zur Verbreitung der Geschichte in der Stadt beitrug. Fast einen Monat lang wuchsen die Gerüchte. In der Balande-Straße war trotz der von Olympia verbreiteten Schauergeschichten Ruhe eingetreten, und die Nächte verliefen still. Martha wurde nervös, ungeduldig, wenn ihre Freundinnen, ohne sich klarer auszudrücken, ihr rieten, sehr vorsichtig zu sein.

Sie wollen nur nach Ihrem Kopfe handeln, nicht wahr? sagte Rosa. Sie sollen sehen ... Er fängt wieder an. Wir finden Sie eines Morgens ermordet.

Frau Rougon kam jetzt alle zwei Tage zu Besuch. Sie trat mit ängstlicher Miene in das Haus und fragte im Vorraum Rosa:

Ist heute nichts vorgefallen?

Wenn sie dann ihre Tochter sah, umarmte sie diese mit ungemeiner Zärtlichkeit, als habe sie gefürchtet, sie nicht mehr anzutreffen. Sie bringe fürchterliche Nächte zu, sagte sie; sie zittere bei jedem Zug an der Hausglocke, weil sie sich einbilde, daß man ihr eine Unglücksbotschaft bringe; sie lebe nicht mehr. Wenn Martha ihr versicherte, daß sie von gar keiner Gefahr bedroht sei, sah sie sie mit Bewunderung an und rief:

Du bist ein Engel! Wenn ich nicht da wäre, würdest du dich töten lassen, ohne einen Seufzer auszustoßen. Aber, sei ruhig, ich wache über dich, ich treffe meine Vorsichtsmaßregeln. Wenn dein Mann nur den kleinen Finger gegen dich erhebt, soll er von mir hören.

Sie gab keine weiteren Erklärungen. Tatsächlich machte sie allen vornehmen Persönlichkeiten von Plassans Besuche. Sie hatte so das Unglück ihrer Tochter dem Bürgermeister, dem Unterpräfekten, dem Präsidenten des Gerichtshofes vertraulich mitgeteilt und sie volle Verschwiegenheit schwören lassen.

Eine verzweifelte Mutter wendet sich an Sie, sagte sie leise mit einer Träne; ich vertraue Ihnen die Ehre, die Würde meines armen Kindes an. Mein Mann würde krank werden, wenn ein öffentlicher Skandal entstände, und doch kann ich eine unheilvolle Katastrophe nicht abwarten ... Raten Sie mir, sagen Sie mir, was ich tun soll.

Die Herren waren sehr liebenswürdig. Sie beruhigten sie, versprachen ihr, über Mouret im geheimen zu wachen; übrigens würden sie bei der geringsten Gefahr handeln. Besonders bestand sie darauf bei den Herren Péqueur des Saulaies und Rastoil, den beiden Nachbarn ihres Schwiegersohnes, die sofort eingreifen sollten, wenn sich ein Unglück ereigne. Diese Geschichte von dem Narren, der den Schlag der Mitternachtsstunde abwarte, um wütend zu werden, erregte ein lebhaftes Interesse bei den Zusammenkünften der beiden Gesellschaften in dem Garten der Mourets. Man beeilte sich, den Abbé Faujas zu begrüßen. Dieser kam um vier Uhr herunter und machte mit vieler Gutmütigkeit den Hausherrn in der Laube; er blieb weiter noch zurückhaltend und antwortete nur mit einem Kopfschütteln. In den ersten Tagen machte man nur versteckte Anspielungen auf das Drama, das sich in dem Hause abspielte; aber eines Dienstages wagte Herr Maffre, der unruhig nach dem Hause hinüberblickte, zu fragen, indem er auf ein Fenster des ersten Stockes zeigte:

Das ist das Zimmer, nicht wahr?

Jetzt sprachen die beiden Gesellschaften mit leiser Stimme von dem sonderbaren Ereignisse, das das Viertel in Atem hielt. Der Priester gab nur einige oberflächliche Erklärungen: Es sei sehr ärgerlich, sehr traurig, und er beklage alle, ohne aber weiter etwas zu sagen.

Aber Sie, Herr Doktor, fragte Frau von Condamin Herrn Porquier, Sie sind der Hausarzt, was halten denn Sie davon?

Doktor Porquier schüttelte lange mit dem Kopfe, bevor er antwortete.

Das ist eine heikle Sache, sagte er leise. Frau Mouret ist nicht von kräftiger Gesundheit ... Was Herrn Mouret anbelangt ...

Ich habe Frau Rougon getroffen, meinte der Unterpräfekt. Sie ist sehr beunruhigt.

Ihren Schwiegersohn hat sie nie leiden können, unterbrach ihn barsch Herr von Condamin. Ich habe Mouret neulich im Klub getroffen. Er hat mich im Piquet geschlagen. Ich habe ihn ebenso vernünftig wie früher gefunden ... Ein großes Geisteskind war der liebe Mann ja nie.

Ich habe durchaus nicht gesagt, daß er verrückt sei, wie die Leute behaupten, erwiderte der Doktor, der sich beleidigt fühlte; nur sage ich auch, daß es nicht klug ist, ihn in Freiheit zu lassen.

Diese Erklärung brachte eine gewisse Aufregung hervor. Herr Rastoil betrachtete unwillkürlich die Mauer, welche die beiden Gärten trennte. Alle blickten auf den Doktor.

Ich kannte eine reizende Dame, fuhr er fort, die großes Haus machte, Essen gab, die höchsten Personen empfing und selbst sehr geistreich sprach. Sobald diese Frau in ihr Zimmer kam, schloß sie sich ein und brachte einen Teil der Nacht damit zu, daß sie auf allen vieren in ihm herumlief und wie ein Hund bellte. Ihre Leute glaubten lange, daß sie in ihrem Zimmer einen Hund versteckt halte. Diese Frau bot uns Ärzten einen Fall dar, den wir »lichten Wahnsinn« nennen.

Der Abbé Surin hielt das Lachen zurück, als er die Fräulein Rastoil ansah, die die Geschichte einer Person, die einem Hund nachäfft, sehr belustigte. Doktor Porquier räusperte sich mit ernster Miene.

Ich könnte noch zwanzig ähnliche Geschichten erzählen, fügte er hinzu. Leute, die ihren vollen Verstand zu haben scheinen und sich den überraschendsten Sonderbarkeiten hingeben, sobald sie allein sind. Herr von Bordeu hat sehr gut in Valence einen Marquis gekannt, ich will ihn nicht nennen.

Er ist mein intimster Freund gewesen, sagte Herr Bourdeu; er speiste oft auf der Präfektur. Seine Geschichte hat riesiges Aufsehen gemacht.

Welche Geschichte? fragte Frau von Condamin, als sie sah, daß der Doktor und der ehemalige Präfekt schwiegen.

Die Geschichte ist nicht sehr anständig, hub Herr von Bourdeu lachend wieder an. Der Marquis, der übrigens ein Schwachkopf war, brachte ganze Tage in seinem Arbeitszimmer zu, wo er, wie er sagte, mit einem großen volkswirtschaftlichen Werke beschäftigt sei ... Nach zehn Jahren entdeckte man, daß er dort von früh bis abends kleine, gleich große Kugeln machte aus ...

Aus seinem Kote, ergänzte der Doktor mit so ernster Stimme, daß das Wort nicht auffiel und nicht einmal die Frauen erröteten.

Ich, sagte der Abbé Bourrette, den diese Anekdoten unterhielten, hatte ein sonderbares Beichtkind ... Sie hatte eine Leidenschaft, Fliegen zu töten; sie konnte keine sehen, ohne von einer unwiderstehlichen Lust überfallen zu werden, sie zu fangen. Zu Hause spießte sie sie auf Stecknadeln. Wenn sie dann beichten kam, weinte sie heiße Tränen; sie klagte sich des Mordes an diesen armen Tieren an, hielt sich für verdammt ... Nie konnte ich sie davon abbringen.

Die Geschichte des Abbé gefiel. Selbst Herr Pequeur des Saulaies und Herr Rastoil geruhten zu lächeln.

Es ist kein großes Unglück, wenn man nur Fliegen tötet, bemerkte der Doktor. Aber die mit lichtem Wahnsinn Behafteten sind nicht immer so harmlos. Es gibt welche, die ihre Familie durch ein heimliches Laster, das zur Manie geworden ist, quälen; Elende, die trinken, sich geheimen Ausschweifungen hingeben, stehlen, weil sie stehlen müssen, die vor Stolz, Eifersucht und Ehrgeiz vergehen. Sie können sich in ihrem Wahne so verstellen, daß es ihnen gelingt, sich selbst zu überwachen, und die verwickeltesten Pläne zu Ende führen, ohne daß jemand ihr geistiges Gebrechen ahnt; wenn sie mit ihren Opfern allein sind, geben sie sich ihren hirnverbrannten Einfällen hin und werden zum Henker. Wenn sie nicht morden, töten sie nach und nach.

Wie ist es denn mit Herrn Mouret? fragte Frau von Condamin.

Herr Mouret ist immer zänkisch, unruhig, herrschsüchtig gewesen. Diese geistige Störung scheint mit dem Alter schlimmer geworden zu sein. Heute zögere ich nicht, ihn zu den bösartigen Wahnsinnigen zu rechnen ... Ich hatte eine Kranke, die sich wie er in ein entlegenes Zimmer einschloß, wo sie ganze Tage mit dem Ersinnen der scheußlichsten Pläne zubrachte.

Aber, Herr Doktor, wenn das Ihre Meinung ist, müssen Sie es melden! rief Herr Rastoil aus. Sie sollten an die zuständige Behörde einen Bericht machen.

Doktor Porquier war ein wenig verlegen.

Wir plaudern, sagte er, indem er wieder das Lächeln eines Frauenarztes annahm. Wenn ich gefragt werde, wenn es ernst ist, tue ich meine Pflicht.

Bah, schloß boshaft Herr von Condamin, die größten Narren sind nicht jene, die man dafür hält. Für einen Irrenarzt gibt es kein gesundes Gehirn ... Der Herr Doktor hat uns da soeben eine Seite aus einem Buche über den hellen Wahnsinn erzählt, das ich gelesen habe und das ebenso interessant ist wie ein Roman.

Der Abbé Faujas hatte neugierig zugehört, ohne an der Unterhaltung teilzunehmen. Als man schwieg, machte er die Bemerkung, daß diese Wahnsinngeschichten die Damen traurig stimmten, und er wünschte, daß man von etwas anderem spreche. Aber die Neugierde war erwacht, die beiden Gesellschaften begannen die geringfügigsten Handlungen Mourets zu beobachten. Dieser kam nur eine Stunde täglich in den Garten nach dem Frühstück, während die Faujas mit seiner Frau bei Tische blieben. Sobald er den Fuß in den Garten setzte, wurde er von der Familie Rastoil und den Familienmitgliedern der Präfektur beobachtet. Er mochte vor einem Gemüsebeete stehen bleiben, sich für den Salat interessieren oder eine Gebärde machen, so fand dies rechts und links in den Nachbargärten die böswilligsten Auslegungen. Jedermann trat gegen ihn auf. Herr von Condamin verteidigte ihn allein noch. Aber eines Tages sagte Octavia beim Frühstück zu ihm:

Was kümmert es dich, ob dieser Mouret verrückt ist?

Mich, liebe Frau? gar nicht, erwiderte er erstaunt.

Nun, dann laß ihn verrückt sein, da einmal jeder dir sagt, daß er verrückt ist. Ich weiß nicht, weshalb du anderer Ansicht sein willst als deine Frau. Das bringt dir kein Glück, mein Lieber ... Habe so viel Geist, in Plassans nicht geistreich zu sein.

Herr von Condamin lächelte.

Du hast recht wie immer, sagte er galant; du weißt, daß ich mein Glück in deine Hände gelegt habe ... Erwarte mich nicht zum Essen. Ich muß nach Saint-Eutrope reiten, um einen Holzschlag anzusehen.

Er ging fort, an einer Zigarre herumkauend.

Frau von Condamin wußte, daß er bei Saint-Eutrope ein Verhältnis mit einem Mädchen hatte. Aber sie war nachsichtig und hatte ihn selbst zweimal vor den Folgen sehr heikler Geschichten gerettet. Er selbst war ganz beruhigt über die Tugend seiner Frau; er hielt sie für viel zu klug, um in Plassans sich mit Männern einzulassen.

Du wirst dir niemals vorstellen können, womit Mouret seine Zeit in dem Zimmer vertreibt, in dem er sich einschließt, sagte den folgenden Tag der Forstinspektor, als er sich auf die Präfektur begab. Er zählt, wieviel S in der Bibel vorkommen. Er fürchtete, sich verzählt zu haben und hat schon dreimal wieder von vorn angefangen ... Du hattest wirklich recht, der Sonderling ist ganz verrückt.

Von diesem Augenblicke an fiel Herr von Condamin schrecklich über Mouret her. Er trieb die Dinge etwas zu weit, indem er seine ganze Erfindungsgabe darauf verwandte, heikle Geschichten aufzubringen, die die Familie Rastoil entsetzten. Er suchte sich besonders Herrn Maffre als Opfer aus. Eines Tages erzählte er ihm, daß er Mouret an einem Straßenfenster ganz nackt und mit einem Frauenhut auf dem Kopfe Verbeugungen in das Leere habe machen gesehen. An einem anderen Tage wieder versicherte er mit erstaunlicher Gewichtigkeit, daß er drei Meilen entfernt Mouret begegnet sei, der in einem kleinen Walde wie ein Wilder herumgetanzt habe. Als der Friedensrichter zu zweifeln schien, ärgerte er sich und erklärte, daß Mouret, ohne daß man ihn bemerke, an der Dachrinne herunterklettern könnte. Die Familienmitglieder der Präfektur lächelten; aber von dem folgenden Tage an verbreitete das Dienstmädchen Rastoils diese unglaublichen Geschichten in der Stadt, wo das Märchen von dem Manne, der seine Frau prügelt, immer größere Verhältnisse annahm.

Eines Nachmittags erzählte Aurelia, das ältere Fräulein Rastoil errötend, daß sie am vorhergehenden Abende, als sie gegen Mitternacht an das Fenster getreten war, den Nachbar mit einer großen Kerze in seinem Garten habe spazieren gehen sehen. Herr von Condamin glaubte, daß das Mädchen sich über ihn lustig mache, aber sie gab genaue Einzelheiten darüber.

Er hielt die Kerze in der linken Hand und kniete nieder; dann kroch er schluchzend auf den Knien weiter.

Vielleicht hat er ein Verbrechen begangen und den Leichnam im Garten vergraben, meinte Herr Maffre, der blaß geworden war.

Dann kamen die zwei Gesellschaften überein, eines Abends, wenn es nötig sei, bis Mitternacht zu wachen, um dieses Abenteuer aufzuklären. Die folgende Nacht lauerten sie in den zwei Gärten; aber Mouret erschien nicht. Drei Abende gingen so verloren. Die Präfektur gab es auf; Frau von Condamin weigerte sich, unter den Kastanienbäumen zu bleiben, wo es schrecklich finster war, als in der vierten Nacht bei pechschwarzem Himmel ein Licht in dem Erdgeschosse der Mourets schimmerte. Herr Péqueur des Saulaies, der in Kenntnis gesetzt wurde, schlich sich in die Sackgasse, um die Familie Rastoil einzuladen, auf die Terrasse seines Hauses zu kommen, von wo man den benachbarten Garten übersehen konnte. Der Präsident, der mit seinen Töchtern hinter dem Wasserfalle lauerte, zögerte ein wenig; er überlegte, daß er sich in politischer Beziehung schade, wenn er zu dem Unterpräfekten gehe; aber die Nacht war so finster, seine Tochter Aurelia hielt so sehr darauf, die Wahrheit ihrer Geschichte zu beweisen, daß er Herrn Péqueur des Saulaies leise im nächtlichen Dunkel folgte. So kam es, daß in Plassans zum ersten Male die Legitimität zu einem bonapartistischen Beamten ging.

Machen Sie kein Geräusch, empfahl der Unterpräfekt, bücken Sie sich auf der Terrasse.

Herr Rastoil und seine Töchter trafen dort den Doktor Porquier, Frau von Condamin und ihren Gatten. Die Finsternis war so dicht, daß man sich begrüßte, ohne einander zu sehen. Doch alle atmeten kaum. Mouret hatte sich soeben auf der Freitreppe gezeigt mit einer Kerze, die in einem großen Küchenleuchter stak.

Sie sehen, daß er eine Kerze hat, murmelte Aurelia.

Niemand machte eine Einwendung. Tatsache war, daß Mouret eine Kerze in der Hand hielt. Er stieg langsam die Freitreppe herab, wandte sich nach links und blieb unbeweglich vor einem Salatbeete stehen. Er hob die Kerze, um den Salat zu beleuchten; sein Gesicht erschien ganz gelb in dem schwarzen Grunde der Nacht.

Was für ein Gesicht! sagte Frau von Condamin. Das kommt mir sicher im Traume vor ... Schläft er, Herr Doktor?

Nein, nein, erwiderte Herr Porquier, er ist kein Nachtwandler, er ist ganz wach ... Sie können seinen starren Blick sehen; auch bitte ich Sie, die Unbeholfenheit in seinen Bewegungen zu beachten ...

Schweigen Sie doch, wir brauchen jetzt keinen Vortrag, unterbrach Herr Péqueur des Saulaies.

Dann herrschte das tiefste Stillschweigen. Mouret war über das Gebüsch gestiegen und inmitten des Salates niedergekniet. Er hielt die Kerze tief, er suchte unter den grünen ausgebreiteten Blättern längs der Rinnen. Von Zeit zu Zeit brummte er leise; er schien etwas im Boden zu vergraben. Das dauerte ungefähr eine halbe Stunde.

Er weint, ich sagte es Ihnen ja, meinte Aurelia selbstgefällig.

Das ist wirklich schrecklich, stammelte Frau von Condamin. Kommen Sie, bitte.

Mouret ließ seine Kerze fallen, die erlosch. Man hörte ihn schimpfen und die Freitreppe stolpernd hinaufgehen. Die Fräulein Rastoil stießen einen leisen Schrei des Schreckens aus. Sie beruhigten sich erst in dem kleinen erleuchteten Salon, wo Herr Pequeur des Saulaies in die Gesellschaft drang, daß sie eine Tasse Tee und Biskuits nehme. Frau von Condamin zitterte immer noch; sie ließ sich in einer Ecke auf einem Sofa nieder und versicherte mit einem Lächeln der Rührung, daß sie noch nie so aufgeregt gewesen sei, selbst nicht an dem Morgen, wo sie aus häßlicher Neugierde einer Hinrichtung beigewohnt habe.

Es ist sonderbar, sagte Herr Rastoil, der seit einem Augenblick sehr nachdenklich war, Mouret sah aus, als wenn er Schnecken unter seinem Salat suche. Die Gärten sind davon überschwemmt und ich habe mir sagen lassen, daß man sie bei Nacht besser ausrotten kann.

Die Schnecken! rief Herr von Condamin aus. Gehen Sie, er wird sich um die Schnecken kümmern! Sucht man Schnecken bei Kerzenlicht? Ich glaube vielmehr, wie Herr Maffre, daß irgendein Verbrechen dabei ist ... Hat dieser Mouret nicht einen Dienstboten gehabt, der verschwunden ist? Man sollte Nachforschungen anstellen.

Herr Péqueur des Saulaies sah ein, daß sein Freund, der Forstinspektor, zu weit ging. Er sagte leise, während er einen Schluck Tee nahm:

Nein, nein, mein Lieber. Er ist verrückt und hat außerordentliche Einfälle, das ist alles ... Es ist schon schrecklich genug!

Er nahm den Teller mit Biskuit und reichte ihn mit der strammen Haltung des feschen Offiziers den Fräulein Rastoil; dann fuhr er fort und setzte den Teller wieder hin:

Wenn man bedenkt, daß dieser Unglückliche sich mit Politik beschäftigt hat! Ich will Ihnen nicht Ihre Verbindung mit den Republikanern vorwerfen, Herr Präsident, aber gestehen Sie, daß der Marquis von Lagrifoul einen sehr sonderbaren Bundesgenossen hatte.

Herr Rastoil war sehr ernst geworden. Er machte eine unbestimmte Handbewegung, ohne zu antworten.

Und er beschäftigt sich noch immer damit; vielleicht verdreht ihm die Politik den Kopf, meinte die schöne Octavia, indem sie sich zierlich den Mund abwischte. Man stellt ihn als sehr eifrigen Agitator für die nächsten Wahlen hin, nicht wahr?

Sie wendete sich zu ihrem Gatten, dem sie einen Blick zuwarf.

Er geht daran zugrunde, rief Herr von Condamin aus; er erklärt überall, daß er über die Stimmen gebiete, und wenn es ihm gefällt, einen Schuhmacher wählen lassen könne.

Sie übertreiben, versetzte Doktor Porquier; er hat nicht mehr soviel Einfluß, die ganze Stadt macht sieh über ihn lustig.

Eh, da täuschen Sie sich recht! Wenn er will, führt er das ganze alte Viertel und eine große Anzahl Dörfer zu den Urnen ... Er ist zwar närrisch, aber das ist eine Empfehlung. Ich finde ihn noch immer sehr vernünftig für einen Republikaner.

Dieser mittelmäßige Witz erzielte einen lebhaften Erfolg. Die Fräulein Rastoil lächelten wie Backfische. Der Präsident wollte mit einem Kopfnicken zustimmen; er kam von seinem Ernste ab und sagte, wobei er vermied, den Unterpräfekten anzusehen:

Lagrifoul hat uns vielleicht nicht die Dienste erwiesen, die wir mit Recht von ihm erwarten durften; aber ein Schuhmacher wäre wirklich eine Schande für Plassans.

Um jede Erwiderung auf seine Bemerkung abzuschneiden, fügte er schnell hinzu:

Es ist halb zwei Uhr; das ist über das Maß. Herr Unterpräfekt, wir danken alle.

Frau von Condamin fand, als sie den Schal um ihre Schultern warf, eine Schlußbemerkung:

Man kann doch die Wahlen nicht durch einen Mann leiten lassen, der nach Mitternacht unter seinen Salatbeeten herumrutscht.

Diese Nacht kam in aller Mund. Herr von Condamin hatte leichtes Spiel, als er das Abenteuer den Herren von Bourdeu, Maffre und den Abbé erzählte, die den Nachbar nicht mit einer Kerze gesehen hatten. Drei Tage später schwur das Viertel, daß es den Narren, der seine Frau schlug, gesehen habe, wie er spazieren ging, den Kopf in ein Leinentuch eingehüllt. In der Laube bei den Nachmittagszusammenkünften beschäftigte man sich besonders mit der Kandidatur des Schuhmachers Mourets. Man lachte, während man sich gegenseitig genau beobachtete. Es war ein Mittel, die politische Gesinnung zu erfahren. Herr von Bourdeu glaubte aus gewissen vertraulichen Bemerkungen seines Freundes, des Präsidenten, zu entnehmen, daß ein stilles Einvernehmen hinsichtlich seiner zwischen der Unterpräfektur und der gemäßigten Opposition Zustandekommen könnte, so daß die Republikaner schmählich geschlagen würden. Auch zeigte er sich immer bissiger gegen den Marquis von Lagrifoul, dessen kleinste Mißgriffe in der Kammer er festnagelte. Herr Delangre, der nur selten kam, unter dem Vorwand der Sorgen um die Stadtverwaltung, lächelte schlau bei jedem Spotte des ehemaligen Präfekten.

Sie brauchen den Marquis nur mehr zu begraben, Herr Pfarrer, flüsterte er eines Tages dem Abbé Faujas ins Ohr.

Frau von Condamin, die es hörte, drehte sich um und legte einen Finger auf ihre Lippen mit dem Ausdrucke des größten Unwillens.

Der Abbé Faujas ließ jetzt in seiner Gegenwart von der Politik sprechen. Er gab manchmal selbst eine Meinung ab und war für die Vereinigung der ehrenhaften und religiös gesinnten Geister. Da überboten sich alle, Herr Péqueur des Saulaies, Herr Rastoil, Herr von Bourdeu, selbst Herr Maffre. Es mußte leicht sein, unter guten Menschen sich zu verständigen und gemeinschaftlich an der Befestigung der großen Grundsätze zu arbeiten, ohne die keine Gesellschaft bestehen könne! Das Gespräch kam auf das Eigentum, die Familie und die Religion. Manchmal wurde der Name Mourets genannt, und Herr von Condamin murmelte:

Ich lasse meine Frau nur mit Zittern hierherkommen. Ich habe Angst! Sie erleben bei den Wahlen eigentümliche Dinge, wenn er noch in Freiheit ist.

Unterdessen suchte Trouche alle Morgen den Abbé Faujas, mit dem er regelmäßig sich besprach, zu erschrecken. Er brachte ihm die beunruhigendsten Nachrichten: Die Arbeiter des alten Viertels beschäftigten sich, sagte er, viel zu sehr mit dem Hause Mouret; sie redeten davon, den guten Mann zu besuchen, seinen Zustand zu beurteilen und seine Meinung zu hören. Der Priester zuckte wie gewöhnlich die Achseln. Aber eines Tages kam Trouche entzückt von ihm. Er umarmte Olympia und rief aus:

Diesmal, liebes Kind, ist es geglückt.

Er erlaubt dir zu handeln? fragte sie.

Ja, in voller Freiheit ... Wir können ruhig leben, wenn der andere nicht mehr da ist.

Sie lag noch im Bette; sie sprang unter der Decke wie ein Karpfen und lachte vergnügt.

Nun also! Alles wird uns gehören, nicht wahr? ... Ich nehme ein anderes Zimmer. Und ich will in den Garten gehen, ich will unten kochen ... Mein Bruder schuldet uns das alles. Du hast ihm sicher einen guten Dienst geleistet!

Am Abende kam Trouche erst gegen zehn Uhr in das verdächtige Kaffeehaus, in dem er mit Wilhelm Porquier und anderen jungen Leuten der Stadt zusammentraf. Man hänselte ihn wegen seines Spätkommens und beschuldigte ihn, daß er mit einem der jungen Mädchen aus der Anstalt der heiligen Jungfrau auf den Wällen spazieren gegangen sei. Dieser Scherz schmeichelte ihm gewöhnlich; aber er blieb ernst. Er sagte, daß er Geschäfte, ernste Geschäfte hatte. Erst gegen Mitternacht, als er die Flaschen auf dem Tische geleert hatte, wurde er mitteilsam. Er duzte Wilhelm und stammelte, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, während er seine Pfeife bei jedem Satze anzündete:

Ich habe heute abend deinen Vater besucht. Er ist ein braver Mann ... Ich brauchte ein Papier. Er ist sehr zuvorkommend, sehr zuvorkommend. Er hat es mir gegeben. Ich habe es da in meiner Tasche ... Zuerst wollte er nicht. Er sagte, daß es die Familie angehe. Ich habe ihm gesagt: Ich bin die Familie; ich habe den Auftrag von der Mama ... Du kennst sie, die Mama; du gehst zu ihr in das Haus. Eine brave Frau. Sie schien sehr zufrieden zu sein, als ich ihr vorhin die Angelegenheit erzählte ... Dann hat er mir das Papier gegeben. Du kannst es anrühren, fühlst es in meiner Tasche ...

Wilhelm sah ihn scharf an und verbarg seine lebhafte Neugierde unter einem zweifelnden Lächeln.

Ich lüge nicht, fuhr der Betrunkene fort; das Papier ist in meiner Tasche ... Du hast es gefühlt?

Das ist eine Zeitung, meinte der junge Mann.

Trouche zog grinsend aus seinem Rocke einen großen Briefumschlag heraus, den er auf den Tisch mitten unter die Tassen und Gläser legte. Er verteidigte ihn einen Augenblick gegen Wilhelm, der die Hände ausgestreckt hatte; dann ließ er ihn ihn nehmen, indem er noch stärker lachte, als habe man ihn gekitzelt. Es war eine Erklärung des Doktor Porquier über den Geisteszustand des Herrn François Mouret, Hausbesitzers in Plassans.

So will man ihn einsperren? fragte Wilhelm und gab das Papier zurück.

Das geht dich nichts an, mein Junge, erwiderte Trouche, der wieder mißtrauisch geworden war. Dieses Papier da ist für seine Frau. Ich bin nur ein Freund, der anderen gern einen Dienst leistet. Sie soll machen, was sie will ... Sie kann sich nicht länger hinmorden lassen, die arme Frau.

Er war so betrunken, daß, als man sie zur Türe hinauswarf, Wilhelm ihn bis zu der Balande-Straße begleiten mußte. Er wollte sich auf allen Bänken der Promenade Sauvaire schlafen legen. Als er auf den Präfekturplatz kam, schluchzte er und sagte:

Es gibt keine Freunde mehr; weil ich arm bin, werde ich verachtet ... Du, du bist ein guter Junge. Du trinkst mit uns Kaffee, wenn wir erst die Herren sind. Wenn der Abbé uns im Wege steht, schicken wir ihn zu dem anderen ... Es ist mit ihm nicht weit her trotz seines Stolzes; ich mache ihm alles weis. Du bist ein Freund, ein wahrer Freund, nicht wahr? Der Mouret ist ein abgetaner Kerl; er wird eingesperrt und wir trinken seinen Wein.

Als Wilhelm den Trouche vor seiner Haustüre abgesetzt hatte, ging er durch das schlafende Plassans und pfiff leise vor dem Hause des Friedensrichters. Das war ein Zeichen. Die jungen Maffre, die ihr Vater eigenhändig in ihr Zimmer einsperrte, öffneten im ersten Stocke ein Fenster, aus dem sie herunterstiegen, indem sie sich an dem Fenstergitter des Erdgeschosses festhielten. Jede Nacht gingen sie auf diese Weise in Gesellschaft des jungen Porquier dem Laster nach.

Nun, sagte dieser zu ihnen, als sie schweigend die dunklen Gäßchen der Schanzen erreicht hatten, wir wären dumm, uns zu genieren ... Wenn mein Vater noch einmal droht, mich aus Strafe in irgendein Loch zu schicken, so weiß ich, was ich ihm zu antworten habe. Wollt ihr wetten, daß ich in den Jugendklub aufgenommen werde, sobald ich will?

Die jungen Maffre nahmen die Wette an. Alle drei schlichen in ein gelbes Haus mit grünen Vorhängen, das am Ende einer Sackgasse in einem Winkel der Schanzen stand.

In der folgenden Nacht hatte Martha einen schrecklichen Anfall. Sie hatte am Morgen einer langen religiösen Feier beigewohnt, die Olympia bis zu Ende sehen wollte. Als Rosa und die Mieterin auf die herzzerreißenden Schreie herbeieilten, fanden sie sie am Fuße des Bettes mit einer klaffenden Wunde an der Stirne ausgestreckt liegen. Mouret, der auf den Bettdecken kniete, zitterte am ganzen Leibe.

Diesmal hat er sie getötet! rief die Köchin.

Und sie nahm ihn in ihre Arme, obgleich er im Hemde war, schleppte ihn durch das Zimmer bis in seine Kanzlei, deren Türe sich am anderen Ende des Flurs befand. Trouche war fortgelaufen, um den Doktor Porquier zu holen. Der Arzt verband die Wunde Marthas; zwei Linien tiefer, sagte er, und der Schlag wäre tödlich. Unten im Vorraum erklärte er vor allen, daß man handeln müsse und nicht länger das Leben der Frau Mouret der Gnade eines Tobsüchtigen überlassen dürfe.

Martha mußte am folgenden Tage das Bett hüten; sie phantasierte auch und sah eine eiserne Hand, die ihr mit einem flammenden Schwerte den Schädel spaltete. Rosa weigerte sich entschieden, Mouret einzulassen. Sie trug ihm das Frühstück in der Kanzlei auf dem staubigen Tische auf. Er aß nicht, sondern sah stumpfsinnig auf seinen Teller, als die Köchin drei schwarz gekleidete Herren zu ihm führte.

Sind Sie die Ärzte? fragte er. Wie geht es ihr?

Es geht besser, antwortete einer der Herren.

Mouret schnitt sich mechanisch ein Stück Brot ab, als wenn er essen wolle.

Ich möchte, daß die Kinder da seien, sagte er leise; sie könnten sie pflegen, und wir würden weniger allein sein. Seitdem die Kinder fort sind, ist sie krank ... Auch ich bin nicht mehr ganz wohl.

Er hatte einen Bissen Brot in den Mund gesteckt und schwere Tränen liefen über seine Wangen. Der Mann, der schon mit ihm gesprochen hatte, sagte dann mit einem Blicke auf seine zwei Begleiter:

Wollen wir Ihre Kinder holen?

Gewiß, rief Mouret und erhob sich. Reisen wir sofort!

Auf der Treppe sah er nicht, wie Trouche und seine Frau im zweiten Stocke über dem Geländer lehnten und mit glühenden Augen ihm über jede Stufe folgten. Olympia schritt schnell hinter ihm herunter und stürzte in die Küche, wo Rosa in großer Aufregung an dem Fenster lauerte. Als ein Wagen, der vor der Türe wartete, Mouret weggeführt hatte, nahm sie vier Stufen auf einmal und eilte in den zweiten Stock hinauf, nahm Trouche bei den Schultern und tanzte mit ihm auf dem Stiegenabsatze herum; sie war vor Freude schier toll.

Den sind wir los! rief sie.

Martha blieb acht Tage lang zu Bette. Ihre Mutter besuchte sie jeden Nachmittag und bezeigte ihr große Zärtlichkeit. Die Faujas und die Trouche kamen fortwährend an ihr Bett. Auch Frau von Condamin besuchte sie mehrmals. Nach Mouret wurde nicht gefragt. Rosa sagte ihrer Herrin, daß er nach Marseille habe fahren müssen; aber als Martha zum ersten Male hinuntergehen und sich im Speisezimmer an den Tisch setzen konnte, geriet sie in Erstaunen und fragte mit einiger Unruhe nach ihrem Gatten.

Liebe Frau, machen Sie sich nicht krank, sagte Frau Faujas. Sie kommen sonst wieder ins Bett. Man mußte einen Entschluß fassen. Ihre Freunde haben sich beraten und in Ihrem Interesse handeln müssen.

Sie brauchen ihn nicht zu bedauern, rief in rohem Tone Rosa, nach dem Hieb mit dem Stocke, den er Ihnen auf den Kopf versetzt hat. Das Viertel atmet auf, seitdem er nicht mehr da ist. Man befürchtete immer, er werde Feuer legen oder mit einem Messer auf die Straße stürzen. Ich versteckte alle Küchenmesser; das Dienstmädchen des Herrn Rastoil tat es ebenfalls ... Und Ihre arme Mutter, die kaum mehr lebte! ... Alle, die Sie während Ihrer Krankheit besuchten, alle Damen und Herren sagten mir es wohl, wenn ich sie hinunterbegleitete: Es ist eine Erlösung für Plassans. Eine Stadt ist in ewiger Sorge, wenn ein solcher Mensch frei herumgeht.

Martha hörte diesen Wortschwall mit weit geöffneten Augen und schrecklicher Blässe an. Sie hatte ihren Löffel fallen lassen und sah zu dem offenen Fenster ihr gegenüber hinaus, als wenn sie irgendeine Erscheinung hinter den Obstbäumen des Gartens erschreckt habe.

Tulettes! Tulettes! stotterte sie und verbarg ihre Augen hinter den zitternden Händen.

Sie sank zurück und reckte sich schon in einem Nervenanfalle, als der Abbé Faujas, der mit seiner Suppe fertig war, sie bei den Händen nahm und sie fest drückte, indem er im sanftesten Tone flüsterte:

Seien Sie stark bei dieser Prüfung, die Ihnen Gott schickt. Er gewährt Ihnen Tröstungen, wenn Sie sich nicht auflehnen; er schenkt Ihnen das Glück, das Sie verdienen.

Unter dem Händedrucke des Priesters und dem zärtlichen Tone seiner Worte ermannte sich Martha, wie zu neuem Leben erweckt, und ihre Wangen glühten.

O ja, sagte sie schluchzend, ich brauche viel Glück, versprechen Sie mir viel Glück.


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