Fedor von Zobeltitz
Der Telamone
Fedor von Zobeltitz

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Achtzehntes Kapitel

In der Arène d'hiver, dem großen Pariser Spezialitäten-Theater, dem einzigen, welches – im Gegensatze zu seinem Namen – das ganze Jahr hindurch geöffnet blieb, herrschte kurz vor Beginn der Vorstellung ein lebhaft bewegtes Treiben. Hinter der geschlossenen Gardine tummelte sich auf dem Podium, das bereits die Dekoration für die erste Abteilung des Programms zeigte, ein ganzer Schwarm von Balleteusen in luftigen Phantasiekostümen. Mit einem von Meister Gredelue in Scene gesetzten Divertissement »Die Feier der Vesta« sollte der Abend eröffnet werden. Die Vestalinnen der Arène d'hiver, deren Tracht indessen mehr an die »Schöne Helena« als an die klassische Epoche Roms erinnerte, drängten sich vorläufig noch um das Loch im Vorhang, um nach den Freunden und Bekannten in dem sich immer mehr füllenden Zuschauerraum auszuspähen. Auf einem unbequemen Praktikabel, das giftgrün angestrichen war und eine Rasenbank darstellen sollte, hatte sich ein hübsches junges Mädchen in überaus groteskem und frechen Kostüm niedergelassen: Grille d'Enes, die gefeierte »Kankantänzerin«, die 318 in dem Ballet als »Prinzip des Schlechten«, wie der philosophische Choreograph auf das Personenverzeichnis gesetzt, mitzuwirken hatte. Grille d'Enes schien sich zu langweilen, denn sie verzog den erdbeerfarben geschminkten Mund mehr als einmal zu einem energischen Gähnen; sie sah überhaupt etwas mißmutig aus, und wenn ihre hübschen braunen Augen in das Gewirr zwischen den Coulissen spähten, als suche sie dort ein etwas, dann legte sich eine kleine Falte zwischen ihre scharf gezeichneten und schön geschwungenen Brauen. Die Kolleginnen kannten den Kummer der Ärmsten; Grille d'Enes war verliebt, – das kam öfters vor, – aber was nicht oft vorkam: Grille d'Enes war aussichtslos verliebt, und zwar in den Schatten-Silhouettisten Mister Tom Price.

Der Mensch mußte ein steinernes Herz haben. Er war wirklich unnahbar. Die hübschesten Mädchen aus der Arène d'hiver konnten sich keines freundlichen Blicks aus seinen ehrlichen, stahlblauen Augen rühmen. Tom Price schritt an ihnen vorüber, als existierten sie gar nicht. Sein Freund Fritz Sterzinger, der »Tyroler Herkules«, war freilich nicht viel besser, – aber doch immerhin ein klein wenig. Er war wenigstens etwas zugänglicher, liebenswürdiger, höflicher als der angelsächsische Barbar, scherzte wohl auch einmal mit dieser und jener und lachte lustig auf, wenn man ihm ein fröhlich gemeintes Wort zurief. Aber dieser Tom Price, – das ganze weibliche Personal der Arène d'hiver, von der Prima Ballerina assoluta Signora Anina Palermi bis herab zur Friseuse Madame Athénais Fanchon, war einig darüber, daß Tom Price ein Ungeheuer ohnegleichen sei.

319 Da kam er, – Grille d'Enes hob das Köpfchen und gähnte nicht mehr! Sie lächelte unendlich süß, aber es nützte ihr nichts. Tom Price sah sie gar nicht. Er trat zwischen die erste und zweite Coulisse und lehnte sich an einen Rosenbusch aus Pappe. Er war schon in Kostüm. Sein Gesicht sah wie eine Maske aus, – es war mit einer dichten Schicht Paste bedeckt, das die ursprünglichen Linien seines Profils vollkommen veränderte; dazu trug er einen falschen Bart à la Rubens und ein weites Sammetkostüm.

Tom blickte einige Minuten hindurch träumerisch in das bunte Gewühl. All' die lachenden, rosigen Gesichter, die nackten Schultern und Arme, die von leichter Gaze und seidenem Tand umflatterten Glieder hatten keinen Reiz für ihn. Sein Auge sah sie kaum. Er hatte vor einer Stunde einen langen und lieben Brief aus der Heimat erhalten, und immer, wenn er so traute Grüße aus England empfing, wollte das süße Gesichtchen seines sweet-heart vor seinem Blicke nicht weichen. Wie lebend sah er es vor sich, – mitten im Tollen der Balletratten und der traurigen Pracht der Coulissenwelt . . .

Tom seufzte auf und riß sich gewaltsam aus seinem wachen Traum. Halb mechanisch schritt er über die Bühne 320 durch den Kreis der kichernd und leise flüsternd zurückweichenden Tänzerinnen und bückte sich zu dem Loch im Vorhange herab. Der Zuschauerraum war voll wie immer. In den Logen saßen vereinzelte Offiziere in ihren koketten Uniformen, junge Stutzer mit ängstlich hohen Stehkragen, farbigen Shlipsen und den unvermeidlichen Monocles im Auge, – hie und da einmal eine würdigere Herrenerscheinung, irgend ein fremder Diplomat vielleicht, denn die vornehmere Pariser Aristokratie besuchte die Arena nicht, – und schließlich massenhaft geschminkte Weiber, die Nachtfalter der Boulevards, die gerade der Art Theater wie die Arène d'hiver mit Vorliebe zu besuchen pflegten.

In einer der Logen rechts, ganz nahe dem Proscenium, glaubte Tom ein bekanntes Gesicht entdeckt zu haben. Oder irrte er sich? – Er blickte noch einmal durch den Vorhang, – nein, er täuschte sich nicht: dies selten schöne Antlitz mit seinen großen kohlschwarzen Augen war gar nicht zu verkennen! . . Die Klingel des Inspizienten ertönte in diesem Augenblick; Tom zog sich zurück, und der Schwarm der Tänzerinnen begann sich unter Leitung des Ballettmeisters zu den Auftrittsfiguren zu ordnen, – die Gasflammen hinter den Soffiten und Coulissenreihen leuchteten auf, und der Regisseur nahm auf seinem Stuhle hinter der rechten Prosceniumssäule Platz, wischte sich das Augenglas sauber, stopfte rasch eine Prise in die Nase und gab dann dem Theatermeister das Zeichen, das letzte Glockensignal zu geben. Die Gardine rauschte auseinander.

Grille d'Enes, das »Prinzip des Schlechten«, war erst nach den ersten Ensembletänzen beschäftigt. Sie hatte 321 sich beim Erscheinen des Inspizienten auf die linke Seite der Bühne gedrängt und wartete hier auf Tom Price. Er mußte sich doch endlich einmal erweichen lassen!

»Guten Abend, Mister Tom,« flüsterte sie, als er mit geneigtem Kopfe und wie immer tief in Gedanken an ihr vorüberschritt, blickte verführerisch zu ihm auf und streckte ihm die niedliche, mit Brillanten bedeckte Hand entgegen. Aber Tom, der Barbar, sah diese niedliche Hand nicht oder wollte sie nicht sehen; er ließ einen flüchtigen Blick über die in Mousseline und Seidentrikot gehüllte reizende Gestalt der vor ihm Stehenden gleiten, nickte dann gleichgiltig und schritt mit den Worten weiter: »– 'd evening, Miss Grille!«

Die kleine Tänzerin wurde rot und ihre Augen sprühten. Diese kühle Abweisung war empörend! Sie ballte die Händchen und riß an ihrem Battisttuche. Um dieses stiernackigen Engländers willen hatte sie sich seit Wochen nicht mehr um ihren Grafen gekümmert, – nun aber sollte es anders werden, – oho, ganz anders! Und sie sprang eilfertig auf den dicken Pompier zu, der jeden Abend auf derselben Stelle zwischen der zweiten und dritten Coulisse auf einem Vorsatzstücke träumte und von allen Ratten als zuverlässigster postillon d'amour geschätzt wurde, und wisperte ihm, sich tief zu ihm hinabneigend, in's Ohr:

»Gehen Sie in der nächsten Pause zum Logenschließer von Nummer drei, Froissard: er soll dem Grafen d'Haussonville sagen, ich erwartete ihn gegen Zehn in der Garderobe!« . . Und dann hüpfte Grille d'Enes auf ihren Standplatz zurück und murrte ärgerlich in sich hinein: 322 »O Gott, was ist es doch schwer, tugendhaft zu bleiben, – o Gott, dieser Tom!« –

Derselbe Tom dachte schon gar nicht mehr an die verliebte kleine Grille, sondern schritt langsam und in dem ihm eignen wiegenden Gange nach der Garderobe seines Freundes Fritz Sterzinger, die ganz am Ende eines langen, halbdunklen Korridors lag.

Fritz saß, gleichfalls schon im Kostüm, vor einem Handspiegel und ordnete sich das Haar.

»Grüß' Gott, Tom, – was giebt's?«

Tom setzte sich auf den Schemel, der neben der primitiven Toilette Fritzens stand, zog eine locker in seiner Jackettasche steckende Cigarette hervor und zündete sie an der Gasflamme an.

»Il est interdit de fumer, monsieur,« lachte Fritz; »du bist eine unverbesserliche Schmauchratze!«

»Weiß schon,« nickte Tom mit seinem, von einer mächtigen Perrücke umwallten Kopfe. »Du, – ich habe eine Entdeckung gemacht! Weißt du, wer im Theater ist?«

Fritz legte die Bürste hin und schaute auf.

»Nun?«

»Erschrick' nicht, mein Junge, – du dürftest es kaum erwarten! Carmella Nera!« –

Fritz erschrack doch. In der That, – es war mehr Schreck als Staunen, das er in diesem Augenblick empfand.

»Carmella?!« rief er. »Ja, du lieber Gott, wie ist denn das möglich?! Wie kommt die nach Paris?!«

»Wohl auf direktestem Wege,« entgegnete Tom trocken. »Wann hat sie dir zum letztenmal geschrieben?«

»Sie hat mir seit unserer Abreise von Kopenhagen 323 überhaupt nur ein einzigmal geschrieben – wenige Zeilen in kaum lesbaren Krähenzügen! Das ist über ein halb' Jahr her . . . Höre, Tom, es ist mir durchaus nicht angenehm, abermals mit Carmella zusammentreffen zu müssen!«

»Warum nicht? Übrigens, – geniert sie dich, so kümmere dich nicht um sie!«

»Das ist leicht gesagt, aber sie wird mich aufsuchen und die alten Beziehungen von neuem anknüpfen wollen! Ich weiß nicht, woher es kommt, aber ich gestehe offen, daß ich das Interesse und die Sympathie für sie eingebüßt habe.«

»Das ist nicht hübsch von dir, denn ich weiß, daß du einstmals dein kinderreines Herz an sie verloren hattest! Aber die Zeiten ändern sich ja. Dein Herz hat sich ausgewachsen, – apropos, die kleine Titi Prillon muß dir doch ausgezeichnet gefallen, daß du dir hundert Francs von deiner Gage absparen konntest, um ihr ein neues Armband zu schenken« . . .

Fritz wurde dunkelrot.

»Was geht mich die Titi Prillon an?« gab er in verlegener Heftigkeit zurück; »mag ihr Armbänder schenken, wer da will – ich werde den Teufel thun! Laß mich mit deinen Neckereien in Frieden!«

»Ah bah – ruhig Blut, mein Junge! Du bist dein freier Herr, – mir soll's auch schon ganz recht sein, wenn du dir die Hörner ein wenig abstößst! Aber ich warne dich vor den Liebhabereien unserer kleinen Kolleginnen, – sie sind kostspielig. Die zierlichste Ratte ist oft gefräßiger als ein Oger; sie kann einen Menschen mit 324 Haut und Haar verschlingen und lächelt dazu . . . Besides, my boy, wenn dein Herz nun doch einmal so ungestüm ist, daß es sich in den ruhigen Gleichschlag der Leidenschaftslosigkeit nicht mehr hineinfindet, so erweise mir wenigstens den Gefallen und verliebe dich in die Grille d'Enes. Sie verfolgt mich mit ihren Blicken, und das wird mir auf die Dauer erschrecklich langweilig« . . .

Fritz wollte eine lachende Entgegnung geben, als es an die Thüre klopfte. Monsieur Roche-Crevet, der zweite Direktor und artistische Leiter der Arène d'hiver, trat ein, – wie gewöhnlich in tadellos sitzendem schwarzen Überrock, mit der knallroten Rosette des Ordens für Kunst und Wissenschaft von San Marino im Knopfloch, die der Herr Direktor immer trug, weil man sie von weitem für das Band der Ehrenlegion halten konnte, das die einem feilen Nepotismus huldigende Regierung der Republik ihm noch immer vorenthalten hatte.

»Guten Abend, meine Herren,« sagte Roche-Crevet, während die beiden Künstler sich von ihren Sitzen erhoben, »ich bitte Platz zu behalten – bitte sehr! . . Mister Price, ich sehe, Sie rauchen, und Sie wissen doch, daß das Rauchen in den Garderoben auf das Strengste verboten ist. Wollen Sie die Güte haben, die Cigarette ausgehen zu lassen – so – ich danke Ihnen . . . Monsieur Sterßengschèr, ich möchte Sie bitten, mich auf eine Minute anzuhören; – wollen Sie nicht ruhig hierbleiben, Mister Price, Sie stören durchaus nicht; – sollten Sie indessen auf der Scene beschäftigt sein, so bitte ich, sich nicht abhalten zu lassen . . . Also, Monsieur Sterßengschèr, ich möchte Sie um die Gewogenheit ersuchen, Ihr Programm 325 für den ersten Oktober mit neuen Trics ausstatten zu wollen, falls Sie, wie ich zu Gunsten unsres Instituts erhoffe, eine Verlängerung Ihres Kontrakts wünschen. Sie mögen mir gestatten, mein Anliegen, das auch das des ersten Direktors ist, kurz näher zu begründen. Wir haben die Erfahrung machen müssen, daß das Publikum sich bei Ihren Produktionen, denen ich meine Hochschätzung nicht versage, zu langweilen beginnt. Das Kugelspiel, das Kettensprengen und derlei Kunststücke mehr fallen nach und nach in das alte Register. Ich möchte Sie, immer in vollem Einverständnisse mit dem ersten Direktor, daher bitten, etwas Neues zu erfinden, etwas Packendes, etwas Sensationelles – sagen wir etwas Nerven Aufregendes. Sie haben noch sechs Wochen vor sich, – bei Ihrer Geschicklichkeit, Gewandtheit, Volubilität und Erfindungsgabe eine ungemessene Spanne Zeit. Ich darf wohl höflichst bis zum fünfzehnten September um geneigte Benachrichtigung bitten, was Sie zu thun gedenken . . . Da ich auch Sie zufällig vorfinde, Mister Price, so gestatten Sie mir die ergebene Bemerkung, daß wir uns zum ersten Oktober leider trennen werden müssen; eine schriftliche Kündigung dürfte Ihnen zur gesetzlichen Frist zugehen, doch gebe ich mir jetzt bereits die Ehre, Ihnen diese bedauerliche Mitteilung zu unterbreiten, damit Sie sich rechtzeitig anderweitig umthun können . . . Guten Abend, meine Herren – es war mir eine große Freude« . . .

Und Monsieur Roche-Crevet reckte sich zu imponierender Höhe empor, neigte dann den Kopf zu flüchtig vornehmem Gruße und verschwand hinter der Thür.

326 »Schuft!« sagte Fritz. »Diese gleißnerische Höflichkeit ist nicht mehr auszuhalten! Lieber eine Grobheit als – diese kandierte Niedertracht! – Was soll nun werden?«

Tom zündete in aller Gemächlichkeit seine Papyrus wieder an.

»Ich sah die Wendung der Dinge voraus,« meinte er; »Roche-Crevet mag bemerkt haben, daß sich die Grille an meine Rockschöße hängen wollte, und da er selbst zu ihren Anbetern zählt, so bin ich überflüssig geworden. Das ist immer so im Coulissenleben. 's soll mir übrigens recht sein, – ich bin fertig mit meiner ›Künstlerlaufbahn‹. Meine Braut hat mir heute geschrieben, daß sie ihren Eltern unser ganzes Liebesverhältnis mit all' seinen romantischen Anhängseln entdeckt habe. Die guten Alten sind gerührt gewesen und haben mich auffordern lassen, meine Studien in ihrem Hause zu vollenden. Ich hoffe aber, es wird nicht mehr nötig sein. Vor acht Tagen habe ich meine Arbeit an die Prüfungs-Kommission gesandt, und für das mündliche Examen fühl' ich mich sicher. Es wird also an das Abschiednehmen gehen müssen, mein treuer Junge.«

»So bald und so plötzlich?!« – Fritz schaute mit unglücklichem Gesicht zu dem Freunde auf. »Das wird schrecklich werden, wenn ich ohne dich sein muß, Tom! Weißt du, Tom, daß der Gedanke allein mich rasend 327 machen kann? – Was warst du mir alles! Freund, Vater, Bruder, Lehrer – alles! Erst durch dich bin ich Mensch geworden, und ich fühle wohl, ich wäre in dieser schmutzigen Flitterwelt zu Grunde gegangen, hättest du mich nicht gestützt und gehalten! Du hast mir einmal gesagt, ich sei kein Charakter, – ein guter Kerl, was man so nennt, aber kein Charakter. Und du hast Recht: ich bin kein Charakter! Ich bin eine haltlose Natur und bedarf fester Stützung. O – daß du gehen mußt!« –

Und Fritz blickte finster brütend vor sich hin; sein Herz war voll von Weh.

Das durch die Schminkpasta wie versteint aussehende Gesicht Toms veränderte sich in keiner Miene, aber die Hand, welche die Cigarette zum Munde führte, zitterte:

»Sei nicht thöricht, Junge, und mach' uns das Herz nicht so schwer,« gab er zurück. »'mal mußte es so kommen! Glaubst du, es wird mir leicht, dir Lebewohl zu sagen – vielleicht für immer? Müßte deine Wesenheit nicht kennen gelernt haben und dir nicht so nahe getreten sein, wie ein Bruder zum Bruder! Wie lieb ich dich habe, weißt du, und ich denke, wir werden auch in schriftlichem Verkehr miteinander bleiben, können wir uns persönlich nicht mehr sehen. Und nun höre noch eins: es ist richtig, ich sagte dir einmal, du seiest kein Charakter. Aber darüber ist ein Jahr verflossen und mehr, und gerade dies Jahr, mein Alter, war, mein' ich entscheidend für dich! Du bist geistig gewachsen, trotz des erniedrigenden Gaukelspiels, das dir das Leben fristet, du bist innerlich reifer geworden. Ich weiß das besser als du. Du 328 bedarfst keiner Stütze mehr, wenn du dein Ziel nicht aus dem Auge verlierst. Und rascher als ich wirst du dein Ziel erreichen und dann jubelnd wie ich diesen Coulissen-Plunder vom Leibe streifen, denn Fritz, ich muß dir sagen, daß das Gefühl wahrhaft beseligend für mich ist, endlich, endlich die Fesseln lösen zu dürfen, die mich an diese triste Welt voll Schein und Hohlheit binden!«

»Ob ich das glaube! Ich weiß ja, wie es in dir aussieht und wie du dich nach Freiheit gesehnt hast! Mehr wie ich, denn ich bin anders beschaffen als du! Mein Wissen ist Stückwerk gegen das deine, und meine Zukunft auch im besten Falle ein eng begrenztes Stück Leben gegen die Carriere, die dir offen steht! Du sprichst von meinen Zielen! Sie sind nicht hoch gesteckt, sie können es gar nicht sein – ich weiß das wohl. Und noch ein andres weiß ich – weiß ich zuversichtlich: wenn ich es einmal wirklich zu der erhabenen Stellung eines Handlungsreisenden oder eines Buchhalters gebracht haben sollte, dann würde ich sicher nicht glücklicher sein als in der Zeit, da ich mit dir gemeinsam vor dem Publikum meine Späße machte oder in unserm kleinen Zimmer über den Büchern saß!« . . .

Eine Glocke schlug an, und dann hörte man bis in das entlegene Garderobezimmerchen hinein den dumpfen Wiederhall der Beifall klatschenden Menge. Die erste Abteilung des Programms war beendet.

»Ich muß auf die Bühne,« sagte Tom und reichte Fritz die Hand. »Wir werden ein ander Mal auf das Thema zurückkommen, old boy, und ich denke, du wirst dann wohl überlegener urteilen als heute« . . .

329 Tom nickte und ging. Fritz beendete langsam seine Toilette. Er war in unglückseliger Stimmung. Um mit dem Freunde zusammenbleiben zu können, hatte er es im Frühjahr bei seinem Agenten glücklich durchgesetzt, daß er in Paris engagiert wurde, – und nun sollte diesem Beisammensein so rasch und so unerwartet ein Ende gemacht werden! Freilich – Tom hatte ganz recht: früher oder später hätte es ja doch einmal so kommen müssen! Und Fritz konnte dem Scheidenden nicht einmal zürnen! Der brach alle Brücken hinter sich ab und stieg in schönerem Neuland ans Ufer, wo seiner eine geachtete Stellung, ein liebes Weib und ein gemütliches Heim harrte! Der hatte sein Ziel erreicht! –

Fritz warf einen Blick tiefen, verachtenden Ingrimms auf das Gladiatoren-Kostüm, das er trug. Er war noch nicht so weit, daß er diese schillernde Hülle hätte abstreifen dürfen. Mit seinen paar hundert Thalern Ersparnis war nicht viel zu machen, – und was winkten ihm auch für Aussichten, wenn er in einen »anständigen« bürgerlichen Beruf zurückkehrte! Er dachte mit Schrecken daran, wie er gezwungen sein würde, sich in einem dumpfen Comtoir am Pulte in langweiligem Rechendienste abzumühen oder am Ladentische mit der Elle zu hantieren! Ihm blieb ja nichts, als irgend ein kaufmännischer Beruf zur Wahl, und er wußte genau, daß er seiner ganzen Veranlagung nach zu allem anderen eher geschaffen war als zum Kaufmann. Es war ein quälendes Dilemma für ihn: auf der einen Seite der von der besseren Gesellschaft und von ihm selbst mit Verachtung betrachtete, wenn auch materiell günstige Erwerb als vagierender Gaukler, – auf der 330 andern ein geringer Verdienst in einem Berufe, den er mit wirklicher Hingebung nie würde ausfüllen können! Und nun noch die Trennung von dem lieb gewordenen Freunde, und zu all' dem die drohende Forderung des Direktors, bei Beginn der neuen Saison mit einem reichhaltiger ausgestatteten Programm als bisher vor das Publikum zu treten! Es war zum Verzweifeln! –

Mißmutig schraubte Fritz die Gasflamme über den Spiegel tiefer herab und begab sich hinter die Scene, um den Aufbau seiner Cachiertische und seines eisernen Materials zu überwachen!

Es war hohe Zeit geworden. Das Arrangement stand bereits fertig auf der Bühne, – wenige Minuten später flog die Gardine auseinander, und Fritz trat mit einer Verbeugung vor die Rampe. Seine Produktionen wurden nur mit lauem Beifall aufgenommen, obwohl er sie exakt und sicher wie immer ausführte. Heute zum erstenmale fiel Fritz diese kühler gewordene Stimmung des Publikums auf. Vielleicht war Roche-Crevet doch nicht im Unrecht; vielleicht langweilte die Menge sich wirklich bei diesen sich Abend für Abend wiederholenden Kraft-Kunststücken des »Tirolischen« Herkules (die neue Nationalität hatte Fritz in Rücksicht auf die Preußenfeindlichkeit der Pariser annehmen müssen). Er war schon zu lange am gleichen Ort im Engagement; die Zuschauer wollten Abwechslung haben – Roche-Crevet kannte seine Leute . . .

Nach dem letzten, besonders gelungenen Tric wurde der Beifall stärker, und durch das Klatschen des Publikums glaubte Fritz aus der rechten Bogenreihe auch ein hell 331 klingendes Bravo zu vernehmen. Als die Gardine zum zweitenmal auseinanderging und Fritz sich dankend verneigte, ließ er einen raschen und scharfen Blick über die Bogenreihe gleiten. Und wieder klang ihm ein Bravo entgegen, und gleichzeitig sah er, daß eine in helles Leder geschlossene Damenhand ihm grüßend zuwinkte. Tom hatte sich nicht geirrt: da saß Carmella, – mitten in einem Schwarm geputzter Weiber und nickte lächelnd zur Bühne herüber! –

Als Fritz in seine Garderobe zurückkehrte, kam ihm bereits einer der Logenschließer entgegen und überreichte ihm ein kleines Billet. Es war von Carmellas Hand und enthielt, mit Bleistift geschrieben und in unorthographischem Deutsch nur die wenigen Worte: »Nach der Vorstellung am kleinen Ausgange links! Wie freu' ich mich! Carmella« . . .

Fritz schminkte sich ab und kleidete sich um. Als er fertig war, spielte gerade das Orchester den Kehraus-Marsch. Tom war vorangegangen; er hatte noch in der Nacht wichtige Briefe nach der Heimat zu schreiben und bedauerte, Fritz nicht begleiten zu können. Als dieser 332 durch den kleinen seitlichen, vom Publikum wenig benutzten Ausgang vor das Theater trat, sah er Carmella vor sich stehen. Sie streckte ihm beide Hände entgegen und ihr ganzes Gesicht lachte.

»Fritz!« sagte sie und preßte seine Rechte, und ihre dunklen Augen leuchteten. »Mein Gott, wie ich mich freue!« . . .

Die Begrüßung seinerseits war kühler. Er sprach ein paar freundliche Worte und reichte ihr dann den Arm.

»Wohin?« fragte er. »Sie wollen doch auch noch zu Abend speisen? – Gehen wir zu Civré, – das ist ein kleines Weinhaus ganz in der Nähe, mit guter Küche und billigen Preisen« . . .

»Gehen wir,« gab sie zurück und hängte sich an ihn. Sie duftete stark nach Patschouli; Fritz fiel das um so mehr auf, als ihm bekannt war, daß sie ehedem keine Freundin schwerer Parfums gewesen war.

Es war in den ersten Septembertagen und noch sommerlich warm, so daß man im Restaurant Civré, an 333 das sich nach hinten heraus ein kleiner Garten schloß, im Freien sitzen konnte. Die beiden wählten eine Laubennische, die ein bunter Ballon matt erleuchtete. Es war ein behagliches Plätzchen, fernab vom Nachtgeräusch der Straße, in halbem Dämmer liegend und von frischem Grün umrankt. Der Garten enthielt etwa ein halb Dutzend solcher Lauben, die sich längs der Mauerfront der ihn umschließenden Häuser hinzogen; aus allen leuchtete eine bunte Laterne und erklang leises Wispern und Lachen.

Ein Kellner deckte den Tisch und brachte Wein. Fritz bestellte ein kleines Souper mit einer Delikatesse als Vorgericht; er wußte, daß Carmella ein gutes Essen liebte, und er wollte ihr eine Freude machen.

Sie hatte neben ihm Platz genommen, und jetzt erst kam er dazu, ihr nähere Aufmerksamkeit zu schenken. Er war erstaunt, sie schöner wiederzufinden, als sie je gewesen war. Ihre Figur hatte etwas an Üppigkeit verloren, aber das stand ihr vortrefflich. Auch ihre Wangen waren ein wenig schmäler als früher, und dadurch gewann das Gesicht an Charakter und Ausdruck. Die Züge schienen weicher geworden zu sein, der düstere Ernst, der die einzelnen Linien des Profils oft wie zu einer tragischen Maske versteinte, war gewichen. Und herrlich, ganz herrlich wie einst schimmerten noch immer die Kohlenaugen, – die mächtig großen, durstigen Augen, vor denen Tom einmal in gelegentlichem Gespräche den Freund gewarnt hatte.

Carmella hatte bisher wenig gesprochen. Erst als sie in der Laube saß und gemächlich ihre Handschuh aufknöpfte, während Fritz den Wein einschenkte, wurde sie 334 lebhafter und begann zu erzählen. Das seien böse Monate gewesen, die hinter ihr lägen. Viel Krankheit und dazu den Kummer des Verlassenseins und schließlich eine schwere Zeit im Wochenbette! Aber nun sei das alles verwunden, und sie fühle sich frischer und kräftiger denn je – wie neu geboren! Und ihr Junge, – o, das sei das süßeste Kind auf Gottes Erdenrund; er habe Ähnlichkeit mit Krey, aber ihre Augen – »schwarz wie die Hölle!« lachte sie, und Leopolds Augen seien doch blau! Der Junge sei merkwürdig artig und habe die lange Reise von Kopenhagen nach Paris vortrefflich überstanden. Sie habe eine eigne Amme für ihn, denn sie selbst habe nicht nähren dürfen, – die habe sie auch mit nach Paris gebracht, weil sie das Kind so ausgezeichnet pflege; sie könne sich den Luxus schon erlauben, – ob Fritz denn wisse, daß sie geerbt habe?

»Jawohl – geerbt! Machen Sie nur nicht so große Augen, Fritz, es ist schon so, wie ich sag'! Krieg' ich da eines schönen Tages einen langen Gerichtsbrief, der weiß Gott wo überall in der Welt umhergewesen, eh' er mich erreicht hat, und in dem mir angezeigt wird, daß mein guter Vater, Gott hab' ihn selig, verstorben sei und mir zweitausend Gulden vermacht habe! Das hat natürlich lange gedauert und viel Schreiberei und Schererei gekostet, eh' ich durch Vermittlung von Advokaten und unserm Konsul in Kopenhagen zu meinem Erbe gekommen bin, und schließlich haben mir die Herren Advokaten auch noch ein schön Stück Geld gekostet, – aber am Ende hab' ich es doch gekriegt, und da ich zu der Zeit schon wieder ganz gesund und frisch gewesen bin, hab' ich mich mit 335 meinem Bubi und der Wärterin rasch auf den Weg gemacht und bin hierhergekommen. Ich dachte nämlich so: in Kopenhagen kannst du nicht bleiben und willst es auch nicht, weil es dir da nicht gefällt, und in Paris triffst du wenigstens noch deinen Kollegen Fritz, der dir gern behilflich sein wird beim Suchen nach einer neuen Stellung, – und findest du keine, nun so ist Paris auch nicht aus der Welt und du nimmst an, du hätt'st nur eine kleine Vergnügungsreise gemacht! . . Und da bin ich denn hier! Eine Wohnung habe ich auch schon, in der Rue de Madrid, ganz in der Nähe vom Trocadero, – freilich vier Stiegen hoch, aber freundlich und sonnig –, zwei Zimmer, das eine nach vorn heraus mit Plüschmöbeln und einer Hängelampe, und das andre nach dem Hofe – aber einem weiten und großen Hofe, nicht so einem engen, kleinen, in den kein Sonnenstrahl hinein kann! Sie werden's ja sehen, Fritz, denn ich denke doch« – und sie stockte und warf aus der heimlichsten Tiefe ihrer schönen Augen einen fragenden Blick auf Fritz – »ich denke, Sie werden mich auch einmal besuchen!« . .

Der Kellner servierte das Souper und die Unterhaltung stockte für einige Zeit. Fritz fand indessen Muße, seine stillen Beobachtungen fortzusetzen. Der Leichtsinn Carmellas war der alte geblieben, und ihre unglaubliche Naivität auch. Die ererbten zweitausend Gulden dünkten ihr Schätze, die gar nicht auszugeben seien; statt sich von Kopenhagen aus direkt nach einem neuen Engagement umzuthun, was eine Kleinigkeit gewesen wäre, wenn sie an Rennerke nach Berlin geschrieben hätte, dampfte sie frischfröhlich nach Paris, um – ihn zu besuchen! . . Der letzte Gedanke befremdete und beunruhigte Fritz. Welch' Unsinn, um seinetwillen eine so weite Reise zu unternehmen! Aber bei diesem seltsamen Weibe fielen Entschluß und Ausführung, ließ es sich irgend ermöglichen, immer zusammen.

Sie speiste mit kräftigem Appetit. Es sah reizend aus, wie sie mit den nicht kleinen, doch sehr schön geformten und gepflegten Händen nach dem Hummer griff, seine Schale zerbrach und die roten Scheren mit den Lippen aussaugte. Auf ihrem Gesichte lag dabei der Ausdruck glücklichster Zufriedenheit, aber ohne störende materielle Beimischung; es war nicht die Wiederspiegelung der Freude am Genuß, sondern an der Behaglichkeit des Augenblicks.

Fritz fragte nach Krey. Carmella antwortete mit ruhiger Gelassenheit und ohne mit der Wimper zu zucken, der habe nichts mehr von sich hören lassen, – gar nichts. Er habe auch kein Geld geschickt, – der Himmel wisse, wo er sich herumtreibe. Sie habe anfangs sich das »Herz aus dem Leibe« zu grämen vermeint, daß er sie so mutterseelenallein gelassen, – aber das habe sich gegeben, – wenn er sich nicht um sie kümmere, dann würde auch sie ihn zu vergessen versuchen. Er habe schändlich an ihr gehandelt, so schändlich, wie sie es im Leben nicht verdient habe . . .

Der Kellner räumte ab, nur der Wein blieb stehen. Carmella wurde immer lebhafter. Sie rückte näher an Fritz heran, tastete nach seiner Hand und drückte sie und versicherte ihn immer von neuem, wie froh sie sei, wieder einmal mit ihm zusammen sein zu können. Und dann 337 griff sie zum Glase und stieß mit ihm auf sein Wohl an und dann auf das Wohl Bubis – einen Namen habe er noch nicht, aber er solle Leopold Fritz heißen, nach Vater und »Onkel« – und dann stieß sie auf Tom Price an, nach dem sie sich lebhaft erkundigte, und schließlich auf glückliche Zukunft. Und bei dieser Gelegenheit fragte sie ganz nebenbei und etwas zaghaft, ob Fritz wohl glaube, daß sie in Paris irgendwo Engagement finden werde; französisch spreche sie freilich herzlich schlecht, aber darauf käme es ja nicht an, und die alten Kräfte habe sie längst wieder.

Fritz entgegnete ihr offenherzig, er glaube kaum, daß sie in Paris Beschäftigung finden würde, und erzählte ihr, daß auch er möglicherweise die Arène d'hiver werde verlassen müssen, da sein Direktor ihm ein erweitertes Programm mit neuen Trics vorgeschrieben habe . . . Carmella stutzte, bewegte den schönen Kopf hin und her und zog die Augenbrauen zusammen. Dann aber glitt plötzlich ein glückseliges Lächeln über ihr braun getöntes Gesicht, und mit rascher Bewegung griff sie nach Fritzens Hand.

»Fritz – o, ich habe eine herrliche Idee,« rief sie, »eine Idee, die uns beide von Vorteil werden kann! Eine göttliche Idee, sage ich Ihnen! Wollten wir nicht schon einmal zusammen arbeiten?! – Ihr Direktor verlangt eine Erweiterung Ihres Programms, – ebbene, wir werden morgen zu ihm gehen und ihm sagen, daß wir uns vom ersten Oktober ab gemeinsam produzieren wollen! Ich nehme die Gage, die er mir bietet, und ist sie noch so gering! Zu leben hab' ich ja vorläufig noch! Und dann sollen Sie einmal sehen, wie uns das Publikum 338 zujauchzen wird! . . Bitte, bitte, Fritz, sagen Sie ja! Ja – – ja?!«

Sie beugte sich weit zu ihm herüber und schaute ihm ins Gesicht – mit fiebernden Augen, glühenden Wangen und zitternder Lippe. Ein heißer Strom durchrieselte Fritz, – er lehnte sich weit zurück in den Stuhl, damit ihr Atem seine Wange nicht streife. Er spürte diesen warmen Atem in jedem Nerv . . .

Er nickte. »O ja – ja, ja,« sagte er zögernd, »der Gedanke ist gut, – ich werde mir einmal überlegen« – –

Carmella unterbrach ihn mit einem mühsam unterdrückten Jubel und umschlang seine Schultern.

»Nicht überlegen, – nicht überlegen!« rief sie. »Abgemacht – abgemacht! Ihr Glas, Fritz – wir wollen anstoßen auf die gemeinsame Arbeit! Kling kling – o, wie das klang! Das war ein guter Ton – das bedeutet Glück! Und passen Sie auf: ich bring' Ihnen auch wirklich Glück! Nun aber noch eins, Fritz! Hinter den Coulissen nennt sich alles »du«, – so müssen wir's auch halten! Ich will Sie du nennen, und Sie sollen gerade so sagen! Das ›Sie‹ klingt so steif, so häßlich, so garstig! Holla – jetzt wird Brüderschaft getrunken! Aber halt da, – erst voll gießen! So den einen Arm um den andern, und nun ausgetrunken bis auf die Nagelprobe!« . . Sie leerte das Glas mit tiefen Zügen; in ihren Augen zeigte sich ein verschwimmender Schimmer, – dann lachte sie auf und wurde unmittelbar darauf tief ernst . . . »Fritz,« flüsterte sie und neigte sich vor, »nun müssen wir uns küssen, sonst ist's nichts Rechtes um unsre Brüderschaft. Komm her!«

339 Sie wartete nicht ab, daß er aufstand, – stand selbst auf, legte ihre Arme in enger Verschlingung um seine Schultern und küßte ihn lange und innig. Er aber rührte sich nicht, denn wie in süßer, wonniger und gedankenleerer Betäubung hingen seine Lippen an ihrem Munde.

* * *

Einige Tage später wurde Fritz ein viel in der Welt umhergereister Brief in das Haus gebracht. Er trug den Poststempel Wien und die Aufschrift: »Herrn Fritz Fiedler, bei Herrn Grafen Kölpin-Deesenhoff, Berlin, Stüler Straße 32«. Diese Adresse war ausgestrichen und darunter mit Hempels unverkennbaren Krähenfüßen die Wohnung Otto Hartwigs angegeben worden. Der wieder hatte kurzweg »Reichshallen-Theater« darunter geschrieben; durch die Direktion desselben war der Brief nach Kopenhagen und von dort an die Arène d'hiver nach Paris geschickt worden. Er hatte fünf Wochen gebraucht, um in die Hände seines Empfängers zu gelangen.

Fritzens erster Blick, nachdem er mit Erstaunen das vielbeschriebene Couvert betrachtet und das notwendige Nachporto entrichtet hatte, galt der Unterschrift – und ein Laut freudiger Überraschung entrang sich ihm, als er den Namen »Fanny« las. Ein Brief von Fanny –, der erste, den er von ihrer Hand erhielt . . . und er fühlte, daß sein Herz plötzlich lauter und schneller zu schlagen begann . . .

»Mein lieber Fritz,« schrieb Fanny, »du bist gewiß recht sehr erstaunt, einmal von mir ganz unvermutet etwas zu hören, aber das kommt nämlich so. Seit ich aus 340 Klein-Busedow fort bin, kümmert sich kein Mensch mehr um mich. Du mußt wissen, daß ich es zu Hause nicht länger aushalten konnte – gerade so wie du – und daß ich deshalb eines Tages auf und davon gegangen bin – gerade so wie du. Nur bin ich natürlich nicht Reitknecht geworden wie du, sondern habe mich ehrbarlich als Gesellschaftsdame in einem Wiener Bürgerhause vermietet. Es gefällt mir sehr gut hier, aber daß Vater auf keinen meiner Briefe auch nur eine Zeile antwortet und daß auch Mutter, Gustl, Line, Toni und Bärbchen nichts, gar nichts von sich hören lassen, obwohl sie meine Adresse kennen – das betrübt und schmerzt mich aufs tiefste. Lines Verlobung mit dem Pastor Stube habe ich ganz zufällig aus der Zeitung erfahren – man scheint mich ganz und gar vergessen zu wollen. Der Otto schreibt ja dann und wann einmal eine Postkarte, aber ich glaube, immer nur, wenn er in Katerstimmung ist, denn seine Karten enthalten herzlich wenig und auf meine Fragen geht er überhaupt nicht ein. Da habe ich denn gedacht: du wirst dich einmal an deinen alten Freund und ritterlichen Beschützer Fritz Fiedler wenden, vielleicht meint der es besser mit dir als die eignen Verwandten, die es mir nicht verzeihen können, daß ich mein Glück nicht in der Stille des Pfarrhauses von Klein-Busedow finden wollte. Ich habe dir sehr viel zu erzählen, Fritz, möchte gern einmal so recht vom Herzen herunter zu dir sprechen – aber ich weiß noch nicht einmal, ob dieser Brief dich überhaupt erreichen wird, und es wäre mir unangenehm, wenn meine Herzensergüsse in fremde Hände kämen. Darum zunächst diesen Vorboten mit den Anfragen: wo 341 bist du und was machst du? Ich adressiere meine Zeilen an die Kölpinsche Wohnung, obwohl ich annehme (ich hoffe es, Fritz, das ist wahrer), daß du dir längst eine bessere Beschäftigung gesucht haben wirst als die reitende, aber doch immerhin nicht ganz ritterliche Thätigkeit beim Grafen Kölpin. Sei nicht böse über den schlechten Scherz, aber es ging mir damals wirklich recht nahe, als du, nur um in die Welt zu kommen, den Knechtsdienst in Berlin annahmst. Ich kann nichts für mein Empfinden.

»Mir ist's im ganzen gut, wenn auch bunt genug ergangen. Ich bin, nachdem ich meine Stellung als Gesellschafterin aufgegeben – nein, das erzähle ich dir alles erst, wenn ich weiß, wo du dich gegenwärtig aufhältst und deine neue Adresse kenne. Schreib' sie mir gleich – ja? Ich weiß nicht, woher es kommt, aber ich habe eine förmliche Sehnsucht nach dir, du großer Junge. Du bist mir das letzte Stück Heimat, nachdem ich die Heimat verloren habe. Schreib' mir unter der Chiffre »Fanny O. 7005« postlagernd Hauptpostamt Wien, – ich teile dir später mit, warum gerade so. Aber antworte umgehend; es ist sehr leicht möglich, daß ich schon in den nächsten Tagen Wien verlasse. Nun lebe wohl, Dickkopf, und vergiß du mich nicht auch wie die andern!

Deine Fanny.«

Fritz las den Brief zehnmal durch, setzte sich dann gleich hin und antwortete in einem überschwenglichen, acht Seiten langen Schreiben, das er aber wieder zerriß, weil ihm nachträglich einige Redewendungen mißfielen. Er schrieb dann noch einmal, ruhiger und überlegter, doch 342 nicht minder eingehend, adressierte den Brief, wie Fanny angegeben hatte, und trug ihn selbst zur Post.

Von diesem Tage ab vermied es Fritz geflissentlich, mit Carmella zusammen zu treffen. Er ging nicht mehr zu ihr. Er wartete auf die Antwort Fannys.

Aber die Antwort traf nicht ein. Statt dessen fand Fritz eines Abends, als er aus dem Theater nach Hause kam, seinen eignen Brief wieder vor mit dem postalischen Vermerke: »Nach Lagerfrist geöffnet und zurück an den Absender.« . . Der Brief war nicht abgeholt worden.

Als Fritz am nächstfolgenden Abend durch die kleine, für die Mitglieder der Bühne reservierte Seitenthür der Arène d'hiver auf die Straße trat, stand Carmella vor ihm. Sie schob ihren Arm unter den seinen und sagte:

»Ich habe dir etwas zu erzählen, Fritz – aber sei nicht böse darüber. Ich bin heute vormittag ohne dein Wissen zu Roche-Crevet gegangen und habe mich vor ihm produziert. Er will mich engagieren und wünscht, daß wir beide zusammen auftreten.« . . 343

 


 


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