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Junge, nu laß das Flennen und geh zu Bette. Wat war, das war und da giebt's nischt mehr. Wie du aussiehst! Ganz rote Augen und 'n Gesicht wie die Wand! Junge, das geht nicht so, sonst legst du dir auch noch hin und folgst deinen Eltern nach. Und das verhüte Gott. Komm her und gieb mir die Hand . . . So – und nu machst du, daß du in die Federn kriechst! Siehste, es dämmert schon . . .«
Eine rauhe, krächzende Stimme war's, welche diese Worte im Tone weichen Mitgefühls sprach, und unmittelbar darauf klang durch den unheimlich stillen Raum ein leises Gluckern, als ob jemand einen tiefen Schluck aus einer Flasche nehme.
»Hier, Fritze, willste auch 'mal trinken? – es wärmt!«
»Ich danke schön, Lennert, ich kann nicht« . . .
Durch die schmalen, grünglasigen Fenster fielen die ersten grauen Lichter des erwachenden Sommertags. Im Stübchen brannte nur eine einzige Talgkerze, die in einem 8 Leuchter aus Messing steckte, der mitten auf dem Tische stand. Fritz hatte schon vor einer Stunde das eine der Fenster geöffnet, denn es war dumpf und muffig im Zimmer geworden – und nun strich ein frischer Morgenwind von draußen herein, ließ die Flamme der Talgkerze hoch aufflackern und verlöschte sie dann. Aber weder Fritz, noch der alte Lennert dachten daran, das Licht abermals anzuzünden. Fritz kniete noch immer vor dem wackligen Lehnstuhl in der Ofenecke und hatte das kreideweiße, thränenüberströmte Kindergesicht tief hinein in die verschlissenen und verblaßten Polster des Sessels gebohrt – und der alte Lennert kauerte auf einem Schemel Fritz gegenüber und war nach dem letzten herzhaften Zug aus seiner Schnapsflasche eingeschlafen. Der dicke Kopf, den nur noch wenige gelbweiße Haarsträhne bedeckten, hatte sich tief auf die Brust geneigt und bewegte sich zu den leisen Schnarchtönen des Alten wie ein müder Pendel langsam hin und her.
Draußen flogen die Nebel auf, und der Osten rötete sich. Es wurde heller, sodaß man im Stübchen die einzelnen Gegenstände ziemlich deutlich unterscheiden konnte. 9 Das kleine Zimmer war äußerst einfach möbliert, aber sauber gehalten. Ein Tisch, einige Stühle, der Lehnsessel am Ofen und ein schmales, dürftiges Sofa an einer der Längswände bildeten mit dem Prachtstück dieser Wohnstube, einem alten Harmonium, das unter einem Christusbilde in der Ecke dem Fenster gegenüber stand, den Hauptteil der Ausstattung. An den weiß getünchten Wänden hing unter Glas und Rahmen und mit peinlicher Symmetrie geordnet eine Anzahl teilweise schon stark verblaßter Photographien von Familienmitgliedern.
Zum Nebenzimmer war die Thür nur angelehnt. Auch hier hatte das Tageslicht bereits siegreichen Einzug gehalten und fegte mit seinen immer glänzender werdenden Schwingungen die letzten Reste der Nacht aus Winkeln und Ecken. Selbst hinter die zusammengezogenen Kattungardinen des Himmelbettes drang der neue Tag und versuchte die blassen Gesichter wach zu küssen, die dort in starrer Unbeweglichkeit auf dem Leinen ruhten.
Nun knarrte leicht die Thür, und Fritz trat in das Schlafgemach. Einen Augenblick blieb der dreizehnjährige Junge wie in tiefem Erschauern dicht am Thürpfosten stehen, und durch seine große, massive und starkknochige Gestalt, die den Jahren vorausgeeilt zu sein schien, ging ein nervöses Zittern. Dann kam ein leiser Wehlaut von seinen Lippen, ein rührend klagender Ton – und, mit den ungefügen, knarrenden Stiefeln vorsichtig vorwärts tappend, schlich sich der große Junge an das Himmelbett heran, schlug die Gardinen auseinander und sank in die Knie.
»Mutter – liebe Mutter!« schluchzte er auf . . .
10 Das Frührot schimmerte durch die Fenster und setzte überall seine rosigen Lichter auf. In der Fliederhecke und in den Apfelbäumen im Garten begannen die Vögel zu jubilieren. Die ganze Natur erwachte.
Fritz hatte sich einen Stuhl an das Bett getragen und sich dort niedergesetzt. Mit verglastem Auge, das keine Thräne mehr spenden wollte, starrte er auf die beiden Totengesichter. Er dachte an nichts – nicht an den schrecklichen letzten Tag, der ihm im Laufe einer einzigen Stunde beide Eltern geraubt hatte – nicht an die Zukunft, die so öde und trostlos vor ihm lag – eine verzweiflungsvolle Gleichgültigkeit hatte sich seiner bemächtigt . . .
Vor etwa einer Woche war die »Kantorsche« an einem hitzigen Nervenfieber erkrankt, und in der Pflege um die treue und geliebte Gefährtin seines Lebens hatte sich der Kantor mehr zugemutet, als sein zarter Körper 11 zu ertragen im stande war. Am Tage vor dem Tode seiner Frau legte er sich hin, und kaum eine Stunde nach ihrem Hingange schloß auch er die Augen für immer, und ihr einziges Kind blieb als Waise zurück.
Zehn Jahre hindurch waren die Kantorsleute von Klein-Busedow kinderlos geblieben. Dann flog eines Tages der Storch über das kleine Haus mit dem mächtigen Giebeldach mitten im Dorfe, und die Lennerten, die Frau des Bälgetreters, die damals noch lebte und die in dieser schweren Stunde der Wöchnerin Samariterdienste leistete, konnte dem gerade in der Schulstube bei seinen Kindern beschäftigten Kantor zurufen: »Ein Junge, Herr Fiedler – und was für einer!«
Ja, das war einmal ein Junge! Dreizehn Pfund wog die Range bei der Geburt, und die Leute im Dorfe hatten so Unrecht nicht, wenn sie witzig meinten: was lange währt, wird gut. Die Fiedlers hatten viele Freunde in der Gemeinde. Es waren stille und gutherzige Leute: er ein lang aufgeschossener, bartloser Mensch, den man selten ohne eine mächtige Tabakspfeife im Munde sah – sie eine runde, kleine, freundliche Frau, die Tochter eines gräflichen Unterförsters, der einst infolge eines unglücklichen Ungefährs auf der Jagd erschossen worden war.
Der Junge brachte Leben in das Kantorhaus von Klein-Busedow. Er war ein wilder Strick und an körperlicher Kraft ein kleiner Riese. Bei den Gladiatorenspielen auf dem Dorfplatze, an denen sich alles zu beteiligen pflegte, was bei Herrn Fiedler in die Anfangsgründe des Lesens und Schreibens eingeweiht wurde, blieb er gewöhnlich Sieger – es gab wenig Jungen im Dorfe, die es 12 mit ihm aufzunehmen versuchten. Er schoß wie ein Gigantenkind in die Höhe – groß, breitbrustig, knochig und muskelgeschwellt – »gar nicht wie ein Kantorssohn«, meinte die Lennerten. Er sollte aber auch kein Schullehrer werden wie sein Vater. Du lieber Gott, wenn einer das Elend der Volksschullehrer ausgekostet hatte, dann war es Fiedler gewesen – der arme Teufel, der Fiedler, der seine drückende Mittellosigkeit schon auf dem Seminar, wo ihm eine Freistelle auserwirkt worden war, so bitter hatte empfinden müssen! – Nein, der Fritz sollte kein Schullehrer werden – er wollte auch gar nicht so recht in die Schulstube hineinpassen. Er hatte einen offenen Kopf und war ein gewitzigter Bengel, aber draußen im Freien, im Walde und auf dem Wiesengrün oder auf der Schneehalde fühlte er sich wohler als hinter der Fibel und der Schiefertafel. Er hatte in seinen dreizehn Jahren nicht viel mehr gelernt als Lesen, Schreiben und Rechnen – die Violine spielen und dazu allerhand schnurrige Gassenhauer singen. Für die Violine, die auch sein Vater nicht ohne Talent zu handhaben verstand, hatte er schon als Kind besondere Vorliebe gezeigt, und der Pastor mochte Recht mit seiner Behauptung haben, daß der Junge entschieden musikalisches Gehör besitze. Und der Pastor war ein Mann von musikalischer Bildung, der Bach und Palestrina auf seinem Harmonium mit so erschütternder Verve spielte, daß man den rauschenden Orgelton von einem Ende des Dorfs bis zum andern vernehmen konnte.
Sicher – Fritz besaß Gehör und auch eine schöne, klangvolle Stimme, die er ordentlich auszunutzen verstand, wenn er in der Kirche die Liturgie mitsingen mußte. 13 Durch das unharmonische Gegröhle der übrigen Kinder klang sein Organ hell und schmetternd, Fanfaren gleich, und dann auch wieder weich und schmiegsam wie Geigenton. Die Bauern, die unten auf den gelb gestrichenen Bänken zu Seiten ihrer Eheliebsten ihren Kirchenschlaf hielten, fuhren zeitweise erschreckt aus süßem Traume empor, wenn das »Kyrie eleison« gar zu metallen an ihr Ohr schlug, und bei solcher Gelegenheit pflegte der alte Lennert, der mit seinen gichtischen Beinen nur noch mühselig die Orgelbälge treten konnte, dem in seiner Nähe sitzenden Fritz stets einen gehörigen Rippenstoß zu versetzen und mit seiner heiseren Schnapsstimme zuzuflüstern: »I du imfamichte Range du – wirschte woll nich so gröhlen!« . . .
Es war merkwürdig – alle Leute im Dorfe ärgerten sich über das wundervolle Organ des Kantorjungen, dessen zwitschernden Jubel sie überall, auf dem Anger, in Feld und Hof und selbst in der Kirche hören mußten. Nur der Pastor und Fiedlers selbst, Vater und Mutter, hatten ihre Freude an dem glockenreinen Trilieren des Jungen. »Laßt ihn doch ausbilden,« hatte der Pastor so und so oft halb im Spaße zu den Fiedlers gesagt, »der nimmt's 'mal mit Wachtel auf! . .« Ausbilden lassen! Du meine Güte! Kantors waren froh, wenn sie des Sonntags ein Stück Fleisch auf den Tisch bringen konnten – der Pastor hatte gut reden! –
Pastor und Kantor standen auf bestem Fuß zu einander. Sie hatten eine gemeinschaftliche Lieblingsneigung: die Botanik – und wanderten bei gutem Wetter fast täglich selbander in die blühende Natur hinaus, um auf der grünenden Moossandale im Walde oder am Feldrain, 14 genau nach dem Linnéschen System, ihre Blümchen zu sammeln, die dann daheim gepreßt und dem Herbarium einverleibt wurden. Pastor Hartwig war ein wohlbeleibter Fünfziger, hatte eine kreuzbrave Frau und sieben kreuzbrave Kinder. Er saß schon an die zwanzig Jahre auf seiner Pfarre, aber in diesen zwanzig Jahren hatte er es noch nicht fertig bekommen, sich mit seiner Gemeinde zu verständigen. Er vertrug sich mit jedem einzelnen ausgezeichnet – – sobald aber die dickköpfige Bauerngesellschaft zu einer Gemeinderatssitzung zusammentrat, gab's dem armen Pastor immer etwas am Zeuge zu flicken. Klein-Busedow besaß keine Gutsherrschaft, es war eine »Dorfrepublik«, wie der großschnäuzige Matzenthien, der Schulze des Orts, bei jeder unpassenden Gelegenheit zu versichern pflegte, und der Pastor hing in gewisser Weise von dem Wohlwollen seiner Gemeinde ab. War aber die Gemeinde dickköpfig, so war es der Pastor auch, und an beständigen gegenseitigen Reibereien fehlte es deshalb nicht. In der ersten Zeit seiner pfarramtlichen Thätigkeit hatte Hartwig versucht, die störrischen Bauern durch sanfte Ermahnungen von der Kanzel aus zu bessern. Doch die ganze Gesellschaft hatte sich, wahrscheinlich nach dem Gesetz der Vererbung, durch Generationen hindurch den sonntäglichen Kirchenschlaf so sehr angewöhnt, daß der gute Pastor in des Wortes verwegenster Bedeutung nur tauben Ohren predigte. Da halfen weder sanfte Worte, noch zorniges Donnern – höchstens daß einmal Fritz Fiedlers jugendhelle Stimme einen der Andächtigen weckte. Auch in einer Gemeindesitzung hatte Hartwig einstmals – o, das war aber schon lange her – mit scharfer Betonung 15 gegen den sündlichen Kirchenschlaf protestiert, und da war Matzenthien im Vollbewußtsein seiner Würde aufgestanden und hatte in seinem korrumpierten neumärkischen Landdeutsch also geantwortet: »Nu lassen Se man sin, Herr Paster! Wir sin andechtige Leute und kummen ahle Sunntage zu Ihnen in de Kirche und setzen uns hin und thun unsen Kirchenpfeng in den Beutel und sin mäuschenstill, und wat wir sunst thun, kann Ihnen ehngal sin. Und nu lassen Se man gut sin, denn so haben wir's allweil gehalten.«
Und wirklich – über den Kirchenbesuch konnte der Pastor nicht klagen. Es fehlte selten einer, und die Kirche war immer voll, aber alle Welt schlief. Und das lag nicht an der Predigt, denn die Gemeinde hätte auch geschlafen, wenn der berühmteste Kanzelredner der Welt vor ihr mit feurigen Zungen geredet hätte. Das lag auch nicht an der Gottlosigkeit dieses Bauernvolkes, denn dies Bauernvolk war im Grunde genommen naiver und gläubiger als die städtischen Gemeinden – – es war eben so, weil man's »allweil so gehalten hatte«, wie Matzenthien sagte. Es war auch ein Erbübel.
Besser als der Pastor vertrug sich der Kantor mit der Gemeinde, obgleich er selbst bei den reichsten Bauern sich das Schulgeld förmlich zusammenbetteln mußte, denn ehe einer von diesen Leuten außerhalb des Wirtshauses einmal einen Groschen freiwillig herausrückte, konnten Wunder geschehen. Aber Fiedler war ein stiller Socialdemokrat, der bei allen Wahlen immer einen Stimmzettel gegen den Regierungs-Kandidaten in die Urne warf – und das gefiel den Bauern in ihrer trotzigen Oppositionslust. 16 Es war ihnen allen durch die Bank ganz gleich, wen sie wählten, denn politisches Verständnis besaßen sie wenig. Wenn aber der Landrat die Hoffnung aussprach, die Gemeinde von Klein-Busedow werde all' ihre Stimmen auf den Rittergutsbesitzer und Kammerherrn Grafen Kölpin-Deesenhoff (Reichspartei) vereinigen, dann wählten die Klein-Busedower ganz gewiß den Gegenkandidaten Rechtsanwalt Pfefferkorn (deutsch-freisinnig). Als jedoch der Schulze Matzenthien eines Tages im »Stadt- und Landboten für Tiesewalk und Umgegend« schwarz auf weiß gelesen hatte, jeder gute Bürger habe angesichts der greulichen, pechschwarzen Reaktion, die den Horizont der freien Meinungsäußerung verdunkele, die Pflicht – ja, die unabweisbare Pflicht, für den Vertreter des Fortschritts, des Lichts und der Freiheit, den Bürger Pfefferkorn, seine Stimme abzugeben, da erklärte Matzenthien im Kreise seiner Getreuen feierlich: »Nu wählen wir grade den Deesenhoffener Grafen, denn vorschreiben lassen wir uns nischt, und wir sin eine freie Dorfrepublik und könn'n allweil thun, wat wir thun woll'n! Ja, dat könn'n wir!« – Und er ging hin und wählte den Grafen Kölpin, und alle seine Lämmer folgten ihm.
So sah es in Klein-Busedow aus, wo Fritz Fiedler das Licht der Welt erblickt und seine sonnige Kindheit verlebt hatte. 170