Fedor von Zobeltitz
Der Telamone
Fedor von Zobeltitz

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Sechstes Kapitel

Der Abschied aus dem Pfarrhause wurde dem Kantorsjungen doch schwerer, als er es selbst für möglich gehalten hatte. Daran war aber in der Hauptsache niemand anderes Schuld als Fanny. Noch am Abend jenes Tages, da er in Deesenhoff gewesen war, hatte sie sich ihn in einem Winkel der Wohnstube vorgenommen und recht eindringlich in ihn hineingeredet. Er sei doch zu gut dazu, Reitknecht zu werden oder Stallbursche oder was es sonst sei, er müsse höher hinaus, sonst verliere man ja alle Achtung vor ihm – und sie selbst, die Fanny, würde ihm nicht mehr halb so gut sein können, als sie es jetzt noch sei. Denn mit einem Reitknecht oder Stallburschen oder so etwas Ähnlichem werde sie sich nie auf eine gleiche Stufe stellen, – sie sei wahrhaftig nicht hochfahrend, aber das gehe nun einmal nicht an . . . Und dabei schaute sie Fritzen so ernsthaft mit ihren großen dunklen Augen an, 78 daß der arme Junge ganz verwirrt wurde. Er wußte nicht, was er antworten sollte, aber die Worte Fannys wollten ihm in den nächsten Tagen gar nicht aus dem Kopf. Er überlegte hin und her, und da er sich sagte, daß sie nicht so Unrecht habe, daß er eigentlich wirklich »zu gut« sei zu solch' niederen Diensten, so gab es einen harten Kampf in ihm, ehe er sich zu einem Entschlusse durchzuringen vermochte. Schließlich siegte aber doch die Scheu vor der Stubenluft und sein Drang nach Freiheit und Abwechslung über alle ernsteren Bedenken, und als am Morgen des siebenundzwanzigsten der Wagen, der ihn nach der Station bringen sollte, vor das Pfarrhaus rasselte und als er des Kutschers lustigen Peitschenschlag hörte, da wurden seine trüben Augen auf einmal wieder hell und im Nu waren all' seine sorgenden Gedanken verflogen . . .

Beim Abschiede überkam ihn aber doch die Rührung. Der Pastor hatte Bernschulzes Braunen vor seine eigne alte Kalesche spannen lassen, die er des Sonntags dann und wann benutzte, wenn er einmal auswärts predigen mußte. Im Fond der Kalesche saß Fritz, und vorn auf dem Bocke Bernschulze. Einen Koffer besaß Fritz nicht, dafür hatte ihm aber die Pastorin eine Kiste geschenkt, deren Deckel mit Eisenklammern befestigt war und die sich verschließen ließ. Diese Kiste enthielt die wenigen Habseligkeiten des Jungen: seine beiden Anzüge, seine Wäsche, die alte Erbbibel und die Neu-Ruppiner Bilderbogen, die Fritz vorsichtig von den Wänden seiner Mansarde gelöst und mit eingepackt hatte.

Die ganze Pastorfamilie war zum letzten Abschiedsgruße um die Kalesche versammelt. Man hatte den Jungen 79 recht lieb gewonnen, er war sozusagen mit dem Pfarrhause verwachsen. Das kleine Bärbchen schluchzte leise hinter dem Kleide der Mutter, und auch Fannys dunkle Rätselaugen glänzten feucht. Gustel und Line standen etwas ferner und nickten dem Fritz, sobald seine Augen sie trafen, immer nur stumm mit den Köpfen zu, so daß die blonden Zöpfe flogen. Der Pastor, der barhäuptig aus dem Hause getreten war, hielt die Rechte Fritzens zwischen seinen Händen.

»Behüte dich Gott, mein Junge,« sagte er, »und möge sein Segen mit dir sein immerdar.«

»Und vergiß nicht, Fritz,« fügte die Pastorin hinzu, sich mit dem Schürzenzipfel die Augen wischend, »daß du bei uns allzeit eine Heimat hast, wenn dich draußen in der Welt einmal die Sehnsucht nach einer solchen überkomme.« . . .

»Nun aber los, Bernschulze,« rief der Pastor dazwischen, »es ist an der Zeit! Gott befohlen!«

»Und schreibe recht bald!« ertönte Fannys Stimme – dann knallte Bernschulze mit der Peitsche und der Braune zog an.

Jetzt erst fiel Fritzen ein, daß er sich ja noch nicht einmal bedankt hatte für all' das Gute, das ihm im Pfarrhause geworden war. Sein Herz war voll von Dankbarkeit, aber in der Wehmut der Trennungsstunde hatte er nicht daran gedacht, sie in Worte zu kleiden. Er hatte überhaupt nicht gesprochen, weil er fühlte, daß er dann laut hätte weinen müssen. Er hatte immer nur die Zähne zusammengebissen, aber in seinen Augen gab sich kund, was er fühlte.

80 Während der Wagen über den Anger rollte, wandte Fritz sich noch einmal um. Die Familie des Pastors war noch immer vor dem Pfarrgarten versammelt. Alle Hände winkten ihm nach; Fanny ließ ihr Taschentuch flattern – und in diesem Augenblick flutete eine so heiße Welle Bluts durch das Herz des Abreisenden, daß er, einer unwillkürlichen Eingebung folgend, die beiden großen Hände an die Lippen drückte und dem Mädchen einen schallenden Luftkuß zurücksandte.

Bernschulze drehte sich verwundert um.

»Wat meenst du, Fritze?« fragte er. Aber Fritz gab keine Antwort – mit dem Sprechen wollte es noch nicht recht gehen.

Vor dem Hause des dicken Fleher stand der alte Lennert. Er war wie gewöhnlich betrunken und lallte Fritz mit schwerer Zunge ein Abschiedswort zu. Am Dorfende johlte eine Kohorte Kinder dem Abreisenden entgegen. Matzenthiens Carle, Klein-Schulzes August, der Peter Mennichens und andere Spielgenossen Fritzens.

Fritz nickte nach rechts und links und nahm es nicht einmal übel, daß Matzenthiens Carle, mit dem er in steter Feindschaft gelebt hatte, ihm ein Dutzend Kartoffeln nachpfefferte. Hinter dem Dorfe stuckerte der Wagen über die Holzbrücke der Buse und bog dann in ein Birkenwäldchen ein. Nun war Klein-Busedow aus dem Gesichtskreise Fritzens verschwunden.

Auf dem Bahnhofe Deesenhoff war die Cortege des Grafen Wendelin bereits versammelt, als Fritz dort eintraf. Der alte Hempel nahm ihn sofort in Beschlag, löste ihm ein Billet und besorgte sein Gepäck. Wenige 81 Minuten später rollte ein offener Landauer mit dem alten Grafen Kölpin, seinem Sohn und seiner Schwiegertochter vor das Stationsgebäude. Der Bahnhofsinspektor trat militärisch grüßend an den Wagen heran, erkundigte sich nach dem Befinden der Herrschaften und geleitete sie dann auf den Perron.

Es währte nicht lange, so sah man auch schon über dem Walde, in welchem die Schienenlinie verschwand, die weißgraue, fliegende Dampfwolke des nahenden Zuges auftauchen. Graf Wendelin stieg mit seiner Gattin in ein Coupé erster Klasse ein, während Fritz mit dem alten Hempel, Vegesack, Tom und Nickel in einem solchen dritter Klasse Platz nahm.

Fritz war noch nicht oft mit der Eisenbahn gefahren. Zwei- oder dreimal hatte er Onkel Ede in Frankfurt a. O. besucht, und einmal hatte ihn seine Mutter zu ihrer derzeitig noch lebenden Schwester mit nach Küstrin genommen. So gewährte ihm denn die etwa vier Stunden dauernde Fahrt nach Berlin eine ganz besondere Freude. Seine Coupégenossen waren von ausgelassener Lustigkeit. Der kleine Nickel trank auf jeder Station einen Cognac, was Herr Vegesack für ungemein plebejisch erklärte. Dieser würdige Mann war der einzige, der mit untergeschlagenen Armen stumm in einer Ecke lehnte. Die Unterhaltung der anderen ging ihn nichts an, nur zuweilen warf er eine nicht zur Sache gehörende Bemerkung dazwischen, die er gewöhnlich mit dem vornehm klingenden Nasaltone: »äh –!« abschloß. Als es ihm schließlich zu langweilig wurde, die vorüberfliegende Landschaft zu betrachten, steckte er sich eine Cigarette in den Mund und zog die neueste 82 Nummer der Kreuzzeitung aus der Tasche, in deren Leitartikel er sich vertiefte, ohne ihn zu verstehen.

Gegen Mittag traf man in Berlin ein. Ein elegantes Coupé erwartete den Grafen und die Gräfin auf dem Bahnhofe; Fritz klapperte mit den übrigen in zwei Gepäckdroschken der Equipage seiner neuen Herrschaft nach.

Graf Wendelin Kölpin bewohnte ein mit vollendetem Komfort und hoher Eleganz eingerichtetes kleines Palais in der Stülerstraße. Die Kölpins zählten zur begütertsten Aristokratie des Landes, und Wendelin war der einzige Sohn. Er besaß nur noch eine um weniges ältere Schwester, die mit einem Fürsten Wolchonski verheiratet war und in St. Petersburg lebte. Wendelin Kölpin sollte ursprünglich in diplomatische Dienste treten, aber über seine juristischen Lehrjahre, die er bei den Saxo-Borussen in Heidelberg in äußerst zweckdienlicher Weise absolvierte, war er nicht hinausgekommen. Das Referendarsexamen wollte ihm nicht gelingen. Er war einmal durchgefallen und hatte genug davon. Um diese Zeit lag während eines großen Manövers vor dem obersten Kriegsherrn der Prinz Friedrich Karl in Deesenhoff in Quartier. Der alte Graf klagte dem Prinzen die Antipathie, die sein Sohn gegen das juristische Studium im allgemeinen und gegen das Referendarsexamen im besonderen hegte, und der gütige Fürst versprach dem Leidtragenden, für eine »Umsattelung« Wendelins Sorge tragen zu wollen. Diese Umsattelung ging denn auch Dank der Fürsprache des Prinzen rasch genug und ohne Schwierigkeiten von statten. Wendelin trat als Avantageur beim 83 Leibgardedragoner-Regiment ein, avancierte schnell und konnte sich in anderthalb Jahren die Epaulettes auf den Waffenrock stecken. Nun war er geborgen, und auch sein geistig bei weitem bedeutenderer Vater gab sich zufrieden und verzichtete auf den Ehrgeiz, seinen Herrn Sohn einstmals am Steuer des Staatsschiffs zu sehen.

Graf Wendelin war eine harmlose und gutmütige Natur, die nur eine hervorstechendere Passion, den Sport, und nur einen unangenehmen Charakterfehler besaß: eine fast an Geiz grenzende Genauigkeit in finanziellen Dingen. Merkwürdigerweise äußerte sich diese Genauigkeit hauptsächlich in recht kleinlichen Angelegenheiten. Sein Haus war auf großem Fuß eingerichtet, sein Stall vorzüglich versehen, und seine Feste und Gesellschaften bildeten häufig das Tagesgespräch in der eleganten Welt. Galt es indessen nicht, eine eigne Liebhaberei zu befriedigen oder standesgemäß zu repräsentieren, so war der dreiunddreißigjährige junge Mann gewaltig genau. Die Oberleitung der Wirtschaft lag in seinen Händen. Er prüfte jede Rechnung selbst und wetterte gehörig, wenn er sich einmal übervorteilt glaubte; er sah dem Koch ebenso scharf auf die Finger wie seinen Bedienten und gab den Schlüssel zum Weinkeller nur ungern aus der Hand. Das alles wäre ja nun kein Unglück gewesen, denn eine weise Sparsamkeit ist sicher auch bei denen eine Art von Tugend, die sie nicht nötig haben. Aber Graf Wendelin übertrieb. Es kam sogar vor, daß der Herr Premierleutnant die silberne Zuckerdose höchst eigenhändig verschloß, wenn ihm der Verbrauch ihres süßen Inhalts zu stark erschien, und daß er dem Koch eine Strafpredigt hielt, wenn dieser 84 für einen Rehrücken mehr bezahlt hatte, als er es für notwendig hielt.

Niemand konnte über derartige Kleinlichkeiten mehr in Ärger und Aufregung geraten als die Gräfin Katinka, Wendelins Gattin. Sie war ihrem Gemahl nicht nur geistig, sondern auch an Bildung des Herzens bei weitem überlegen. Wendelin hatte Katinka vor vier Jahren bei einem Sommerausflug nach Tirol in Cortina kennen gelernt und sich in sie verliebt. Verlobung und Heirat folgten schnell hintereinander. Das hatte seiner Zeit gewisses Aufsehen in der Gesellschaft erregt. Man hielt Katinka schon für gebunden; ein Vetter von ihr, der Freiherr Leopold von Krey, der in österreichischen Diensten beim Regiment der Kaiser-Jäger stand, hatte sich lange Zeit um sie beworben. Aber Baron Krey war tief verschuldet – man wußte das – und Katinka ein armes Mädchen. So ließ sich denn ihre Heirat mit dem reichen Majoratsherrn von Deesenhoff leicht erklären. Die Welt beneidete sie; es war ein Glück für sie, daß die Liebelei mit dem Leutnant von Krey nicht zur Ehe geführt hatte. Krey galt für einen bodenlos leichtsinnigen Menschen und für eine brutale, tief leidenschaftliche Natur. Er hatte kurze Zeit nach der Hochzeit Katinkas den Dienst quittiert und war vor seinen Gläubigern in die weite Welt geflohen – nach Amerika oder Australien – man wußte nicht, wohin: er galt für verschollen.

Am ehelichen Leben Wendelins und Katinkas ließ sich, äußerlich betrachtet, nichts aussetzen. Gräfin Katinka repräsentierte das Haus Kölpin mit vornehmer Würde und bezaubernder Liebenswürdigkeit. Das genügte 85 Wendelin – minder aber seinem Vater, dem Deesenhoffner. Schon im ersten Jahre nach der Heirat seines Sohnes glaubte Graf Kölpin bemerken zu können, daß der Ehe der beiden das Ferment innigster Seelengemeinschaft fehle; Wendelin und Katinka lebten nebeneinander, aber keiner ging im andern auf. Nur im Interesse für den Sport trafen sich ihre Neigungen; für geistige Liebhabereien hatte Wendelin keinen Sinn – er hatte seine junge Frau sogar einmal recht tüchtig ausgelacht, als er eines Tages auf ihrem Schreibtische ein kleines Heft mit Gedichten aus ihrer Feder vorfand.

Die Ehe war kinderlos. Auch das schmerzte den alten Deesenhoffner tief. Nicht nur, weil das reiche Erbe der Kölpins, wenn das Geschlecht mit Wendelin aussterben sollte, auf eine Seitenlinie überging – sondern weil er gehofft hatte, ein Kind würde die beiden Ehegatten inniger aneinander führen. Dem Grafen Kölpin kamen zeitweilig derartige unmoderne, sentimentale Anwandlungen. Er hatte aus seinem reichen und vielbewegten Diplomatenleben noch ein Stück warm schlagendes Herz in das Alter hinübergerettet, das zu seinem Recht kommen wollte.

Das kleine Palais Wendelins in der Stülerstraße war ein schlichter Bau mit einem Parterregeschoß und einem Stockwerk. Es machte äußerlich einen fast bescheidenen Eindruck, enthielt aber eine lange 86 Reihe großer und sehr schöner Zimmer, die mit vollendeter Eleganz ausgestattet waren, ohne daß es ihnen an Behaglichkeit gefehlt hätte.

Fritz sperrte Mund und Augen auf, als er zum erstenmale in diese Flucht von Gemächern schauen durfte. Er war wie berauscht. Im Schlosse des Kaisers konnte es auch nicht herrlicher sein! War das eine Pracht! Diese schwellenden Teppiche, diese blitzenden Spiegel, die vom Fußboden bis hoch an die Decke reichten, dieser Bilderschmuck rings an den Wänden, diese hunderterlei verschiedene Gegenstände in Gold, Silber, Glas, Bronze und Porzellan, Gegenstände, von deren Gebrauchsverwertung Fritz sich nicht die leiseste Vorstellung machen konnte – das war ihm wie in einem Feenmärchen!

Es war unmöglich für Fritz, während der ersten Nacht, die er im Dienste des Grafen Wendelin verbrachte, auch nur ein Auge zu schließen. Tolle Phantasien umgaukelten ihn. Die beiden großen Pagoden, die er in der Entree auf dem Kaminsimse hatte stehen sehen, hielten stundenlang Wache neben seinem Bette, glotzten ihn mit ihren Porzellanaugen an, nickten mit den Köpfen und streckten dazu die Zungen heraus. Und dann trat plötzlich an ihre Stelle der Hellebardier aus Bronze, der im Treppenhause eine hell leuchtende Glaskugel hielt – und dann wieder die milesische Venus mit ihrem schimmernden Marmorleibe, die im Gartensaale aus einem Arrangement großblättriger exotischer Pflanzen hervorlugte. Und im wachen Traume hörte Fritz allerhand Stimmen an sein Ohr schlagen: das lustig klingende »my boy« des alten Hempel, das dröhnende »sollte man's glauben!« des 87 Pastors Hartwig, das krächzende Organ Lennerts und die vornehmen Nasallaute des Herrn Vegesack. Einmal war es ihm auch, als sähe er Fanny mit ihren traurigen Schwärmeraugen vor sich stehen und als hörte er ihre schöne Altstimme sprechen – und dann kam Matzenthiens langer Carle und warf mit Kartoffeln nach ihm . . .

In aller Frühe am nächsten Morgen wurde Fritz zu Hempel beschieden, der ihn in den Stall führte, um ihm die Pferde vorzustellen, die seiner besonderen Obhut anvertraut werden sollten. In dem großen, hellen und luftigen und äußerst sauber gehaltenen Raume standen zwölf Gäule vor ihren Krippen und wühlten im Futter. Da war zunächst der berühmte Viererzug Wendelins – Goldfüchse mit wundervoller Halsung und prächtigen Mähnen, die augenblicklich, wie das Haar schöner Frauen vor der Toilette, durchflochten waren, die aber aufgelöst gleich einem Ballen Goldfäden schimmerten. Dann kamen zwei stämmige Karossiers, »Barodok« und »Troilus« genannt, zwei riesige Gäule von mächtigem Gliederbau – dann der Lieblingsrenner des Grafen, der dunkelbraune »Josias«, ein schlanker Trakehner mit nervösem Ohrenspiel, schönem Bug und drahtigen Beinen. Neben ihm stand der Apfelschimmel »Jemina«, das Reitpferd der Gräfin Katinka, und neben diesem der Rapp-Wallach »Hubertus«, ein Pferd, das Wendelin einmal auf einer Auktion gekauft hatte und das merkwürdigerweise unbekannter Abstammung war, obwohl es sicher Vollblut in sich hatte und auf allen Rennplätzen sich wacker hielt. Nun folgte »Princeps«, ein Graditzer, der seinem Herrn im letzten Meeting ein hübsches Kapital gebracht hatte – 88 dann der »Zappelphilipp« und schließlich der »Jason«, ein hellbrauner Wallach, dem auch ein Laie sein hohes Alter ohne weiteres ansehen mußte und der sich gar seltsam unter seiner stattlichen Umgebung ausnahm. Vier Boxe waren unbesetzt.

Zwischen den Boxen von »Zappelphilipp«, der schon vor acht Tagen von Deesenhoff zurückgeschickt worden war, und »Jason« blieb der alte Hempel mit Fritz stehen.

»Wundre dich nicht, mein Sohn,« sagte er, seine beiden Daumen in die Ärmelausschnitte der blau und weiß gestreiften Weste steckend, »daß ich dir grad' die beiden Gäule herausgesucht habe. Das Reiten wird dich in erster Zeit ziemlich in Anspruch nehmen, deshalb wollt' ich dir absichtlich keine größere Last für den niederen Stalldienst aufhalsen. Den Zappelphilipp kennst du ja schon – das ist dein alter Freund – sieh' nur, wie freundlich er dich anschaut, der Racker ist by Jove klüger wie manch zweibeinig Geschöpf! Am Jason drüben sollst du die Pflege erlernen. Auch das ist eine Kunst, und der Jason verdient ebenso gut seine Pflege, wie ein müde gewordener alter Mensch, der sich sein Leben lang zum besten anderer abgerackert hat. Der Jason hat an die zehn Jahre unserm Herrn Grafen getreulich gedient und war dereinst ein Schrecken für alle Konkurrenten. Er hat einmal den großen Preis und zahlreiche zweite Preise gewonnen und ist seiner Zeit als Sohn des Kentucky und der Joe mit schwerem Gelde bezahlt worden. Eine chronische Bindegewebeverdickung in den Kniegelenken hat ihn unbrauchbar gemacht, und alle möglichen anderen Leiden sind dazu gekommen, wie das eben nur einer so treuen 89 alten Bestie passieren kann. In deinen freien Stunden werde ich dir, zur Erholung gewissermaßen und damit du lernst, dem Tierarzt zur Hand zu gehen, ausführlich beschreiben, an welchen Fehlern, wie man sagt, unser alter Jason leidet, und werde dir erzählen, was ein Lufthopper ist und was Fesselgallen und was Staarpunkte und Überbeine sind. Ein tüchtiger Reitersmann muß in all' diesen Dingen Bescheid wissen und muß bei einem gelinden Kolikanfall oder einem unvorsichtigen Übertreten auch einmal selbst einzugreifen verstehen. Ja, mein Sohn, das muß er. Der Jason sei dir also von nun ab zur besonderen Pflege übergeben; der gnädige Herr Graf hat ihm das Gnadenbrot geschenkt, und nimmst du dich dieses alten Tiers recht brav und ordentlich an, so verdienst du dir damit so zu sagen auch einen Gotteslohn. Dixi, mein Junge. Nun an die Arbeit! . . .«

Es gab vollauf zu thun im Stall und auf dem Hofe. Nickel mußte auf Befehl Hempels Fritz die äußere Anleitung zum Putzen, Waschen und Füttern der Pferde geben. Das war nicht schwer zu begreifen, kostete aber fürerst noch manchen Schweißtropfen. Die Handhabung von Striegel und Kartätsche erforderte ebenso viel Übung wie das geschickte Reinigen der Hufe und das Futterschütten und Tränken. Fritz arbeitete am glatten Fell des Zappelphilipp sich förmlich müde, aber er war nicht wenig erstaunt, als der alte Hempel mühelos noch fünf Striche weißen Staubs aus der Striegel herausklopfte, nachdem er, der Fritz, seiner Meinung nach doch schon das Menschenmöglichste geleistet hatte. Hempel lächelte mit wohlmeinender Überlegenheit, als er das dumme 90 Gesicht des Jungen sah. »Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, my boy,« sagte er, »gelernt will eben alles werden!« – Und in der That, so leicht sich der Stalldienst auch anließ – es gehörte immerhin Kraft und Geschicklichkeit dazu, ihn recht zu erfüllen. Wie vorsichtig mußte die Kartätsche gebraucht werden, damit der kitzliche Zappelphilipp nicht hell wiehernd ausschlug! Wie geschickt mußte der Hafer in die Krippe geschüttet und das Heu in die Raufe geworfen werden, damit kein Atom des kostbaren Futters umkam! Und wie schwierig war die Schweifwäsche des ungeberdigen Gauls, der unausgesetzt mit den Hufen das Stroh durchwühlte und boshaften Gemüts dem guten alten Jason ins Ohr biß, sobald dieser einmal seinen schläfrigen Kopf zu weit nach dem Stande Zappelphilipps hinüberneigte! »Es will eben alles gelernt sein«, Hempel hatte ganz recht.

Um die Mittagsstunde trat ein bewegliches kleines Männchen in den Stall. Tom, Nickel und der lange Basedow, der immer mit der Zunge anstieß – der Bursche des Grafen – begrüßten den Kleinen mit schmetterndem Hallo. Das verdroß das Männlein sichtlich. Es stellte sich mitten im Stallgange auf, schob die rechte Hand in die lebhaft karrierte Weste, warf den Kopf zurück und schaute die johlenden Burschen mit Verachtung an.

»Erziehungsloses Plebs!« meckerte er dabei; »habt ihr noch immer nicht gelernt, was sich dem Vertreter von Landré und Bonnheimer gegenüber schickt?! Gegen Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens, sagt freilich schon der große Körner – aber gut wär's, hättet ihr wenigstens Achtung vor dem Alter und vor der höheren 91 Bildung! Wo ist Herr Hempel, mein Freund, keckes Gesindel?«

Erneutes Gejohle. Nickel pflanzte sich vor dem Kleinen auf und machte ihm ein halbes Dutzend Verbeugungen bis zur Erde. Basedow holte einen Stalleimer herbei, setzte ihn umgekehrt vor dem Männlein nieder und fragte in parodierender Ehrfurcht: »Wollen der gnädige Herr Graf Meck von Meckernsdorf nicht Platz nehmen?« Tom aber klopfte dem Kleinen mit derber Hand ziemlich rücksichtslos auf die Schulter und sagte in seinem künstlich gebrochenen Deutsch:

»Mit Ihrer Schneiderei können Sie sick begrabben lassen, my dear mister Mausebrei – die neue Hose sein auch schon wieder geblatzt!«

Das ging dem Vertreter von Landré und Bonnheimer aber doch über den Spaß. Er wurde kirschrot im Gesicht und schleuderte dem falschen Englishman einen vernichtenden Blick zu.

»Wenn Ihre neue Hose geblatzt sein, so werden Sie woll von eine Pferde heruntergekabolzt sein, mein werter Mister Tom oder vielmehr Mister August Pretzel aus Pasewalk,« fuhr er mit dünner Stimme los. »Was denken Sie sich denn eigentlich, Sie grünschnäbliges Individibum? Glauben Sie, Sie können einen Mann, der klafterhoch an geistiger Bildung über Ihnen steht, ungestraft uzen? Noch eine solche Beleidigung, Herr Pretzel – und ich verklage Sie wegen Beschimpfung meiner Firma! Das fehlte mir grade! Die Hosen von Landré und Bonnheimer platzen nie, wenn man es nicht darauf absieht – wissen Sie das! Landré und Bonnheimer ist das erste 92 Geschäft in Livreen aller Art – das erste Geschäft Europas – selbst Dudevant frères in Paris und John Dydles in London haben nicht einen Umsatz wie wir! Das merken Sie sich, Herr Pretzel, und nun heben Sie sich fort und rufen Sie mir Herrn Hempel! Er hat mich herbestellt – ich soll einem neuen Ankömmling Maß nehmen . . .«

Die letzten Worte sprach der kleine Mann voll stolzen Selbstbewußtseins, das sich noch wesentlich hob, als in diesem Augenblicke Hempel in der Stallthür erschien. Auch über sein faltiges Gesicht flog ein belustigendes Lächeln, als er Herrn Mausebrei sah, der sich mit kurzer Kehrtwendung zu ihm wandte und ihm die Rechte entgegenbrachte.

»Seid mir gegrüßt, Ihr Recke ans Champagnerland,« recitierte Mausebrei (er wollte »Burgunderland« sagen, verwechselte aber wie gewöhnlich die Begriffe); »gut, daß Sie kommen, mit Ihren entarteten Söldlingen ist ein Verkehr nicht mehr möglich! Machen Sie's kurz, Stallmeister – wem soll ich Maß nehmen? Ich bin immer froh, wenn ich dem rohen Volk den Rücken gewendet habe . . .«

»Sind Nickel und Tom wieder einmal boshaft gewesen?« entgegnete Hempel, halb schmunzelnd und halb mit Augenrollen. »Oder gar der lange Basedow, mit dem ich sowieso noch ein Hühnchen zu rupfen habe? Wartet, ihr Bürschchen, ihr werdet nicht eher ruhen, bis ich euch einmal allesamt acht Nächte hindurch habe Stallwache thun lassen! Das macht mürbe und dürfte euch die dummen Gedanken auf ein halb' Jahr vertreiben! . . .«

93 Hempel schlug mit der Reitpeitsche über seine Stiefelschäfte, daß es laut knallte. »Auf ein halb' Jahr, versichre ich euch,« wiederholte er noch einmal und faßte dann den Vertreter von Landré und Bonnheimer gemütlich um die Taille. »Machen Sie sich nichts draus, dear Mausebrei,« fuhr er fort, »diese verlotterte junge Gesellschaft ist Ihres Zornes gar nicht wert!« –

Mausebrei erhob seine rechte Hand zu einer Bewegung voll königlicher Würde und rümpfte ein klein wenig die Nase, um durch diese Vereinigung von Geste und Mimik auszudrücken, wie tief er Nickel und Konsorten verachte.

Der alte Hempel hatte inzwischen Fritz herangewinkt.

»Unser neuer Reitknecht,« sagte er zu Mausebrei; »der Junge steht noch in der Entwicklung, also nicht zu eng – auf Nachwuchs berechnet! Stallanzug und kleine Livree – das dürfte vor der Hand genügen, meint der Herr Graf.«

»Des Grafen Wunsch ist Mausebrei Befehl,« deklamierte der Kleine, zog dann ein Metermaß aus der Tasche seines kurzen, hechtgrauen Röckchens und begann die nötigen Schneidermessungen an Fritz vorzunehmen. Auch bei dieser Gelegenheit versäumte er nicht, seinen Citatenreichtum an den Mann zu bringen, wobei es ihm allerdings auf die merkwürdigsten Versverschiebungen und Umformungen durchaus nicht ankam.

»Fertig,« sagte er schließlich, das Metermaß wieder zusammenrollend. »Sie sind entlassen, junger Mann . . . Der Stallanzug aus englisch Leder und an der Livree Wappenknöpfe – nicht wahr, mein werter Herr Hempel?«

94 »Wie gewöhnlich.«

»Ist schon notiert. Und bis wann?«

»So schnell wie möglich, bester Herr Mausebrei.«

»Werde es den Chefs vermelden. Es liegt allerdings kolossale Arbeit vor – die russische Botschaft hat eine völlig neue Equipierung bestellt. Aber Graf Kölpin ist unser alter Kunde – – wollte er nur nicht immer soviel an den Rechnungen streichen! Wollen sehen, was sich machen läßt. Meinen Gruß, Herr Stallmeister – ich muß zu Schiff nach Frankreich!«

»Was wollen Sie denn da?« fragte Hempel zurück.

Mausebrei lächelte halb mitleidig, halb überlegen.

»Dichterische Wendung, Herr Stallmeister – lesen Sie selbige in Schillers Wallenstein nach!«

Und dabei winkte der kleine Mann noch einmal königlich mit der Hand und verließ, wie ein Theatermarquis davontänzelnd, den Stall.

»Verdrehte Schraube,« murmelte Hempel leise vor sich hin und schüttelte den auf einem handbreiten weißen Stehkragen sitzenden Kopf. »Ist mir so etwas Verrücktes schon vorgekommen! Hätte ruhig Komödiant bleiben sollen, der kleine Hanswurst – goddam! . . .«

Fritz erfuhr erst später gelegentlich, welche Bewandtnis es mit diesem seltsamlichen Herrn Mausebrei hatte. Er bekleidete die hohe Würde eines Maßnehmers und Zuschneiders bei der Firma Landré und Bonnheimer, war früher aber einmal Schauspieler gewesen (Hempel behauptete, er hätte »tote Väter und schleichende Intriganten« zu seinen Hauptchargen gezählt) und von dieser Zeit her rührte seine Vorliebe für das Theatralische und für 95 die Dichtercitate, die er, seiner Halbbildung entsprechend, freilich nach Möglichkeit falsch anzuwenden pflegte. –

Am Nachmittage erhielt Fritz in der verdeckten Bahn eines nahe gelegenen Pferdeverleihinstituts seine erste Reitstunde unter der Leitung Hempels. Fritz saß auf dem Zappelphilipp – so hatte es Graf Wendelin befohlen: der dicke faule Braune sollte gleichzeitig auch einmal ordentlich herangenommen werden. Das war eine anstrengende Stunde! Hempel ging nicht methodisch vor, sondern ließ Fritz hintereinander Schritt reiten, traben, galoppieren und springen. Zuerst sollte der Zögling Haltung lernen. Dabei wurden die Anfangsbegriffe der Bewegung dem jungen Reiter spielend eingeprägt. In einer halben Stunde wußte Fritz, was es hieß: durch die Bahn changieren, Volte und Kehrt reiten, Quergalopp und dergleichen mehr, und in der zweiten halben Stunde waren ihm auch die grundlegenden Begriffe der Zügelführung und des Schenkeldrucks nicht mehr fremd. Erst acht Tage später ging Hempel mit strengerer Schulung vor. Fritz war ein gelehriger Schüler, und obwohl ihm in der ersten Zeit alle Glieder des Körpers schmerzten, ließ sein Eifer und sein guter Wille doch keinen Augenblick nach. Auch Zappelphilipp mußte das schon Vergessene von neuem erlernen. Das dicke Tier stöhnte gewaltig, wenn es unter der lockeren Faust, aber dem festen Beindrucke Fritzens Schulter herein durch die Bahn tänzeln oder halb links, halb rechts Galopp eine Achte zirkeln mußte. Aber alles Prusten, Stöhnen und Wiehern half dem guten Zappelphilipp nichts, und wenn er einmal ärgerlich in die Höhe steigen wollte, dann schrie der alte 96 Hempel: »Eisen herein!« und Fritz bohrte dem Widerspenstigen die Sporen in die Weichen, daß Zappelphilipp vermeinte, sein letztes Stündlein sei gekommen.

Sechs Wochen mochten vergangen sein, als Graf Wendelin eines Tages unerwartet in die Reitbahn trat. Fritz mußte zeigen, was er gelernt hatte. Der Graf stand in seiner Interimsuniform, die Hände auf den Säbel gestützt, das Monocle im Auge, breitbeinig in der Mitte der Bahn und schaute aufmerksam zu. Von Zeit zu Zeit nickte er und rief ein kurzes »Bravo« zu Fritz empor. Gegen Ende der Stunde wandte er sich an Hempel.

»Hat denn der Zappelphilipp nun endlich springen gelernt?« fragte er.

»Wie ein Daus, Herr Graf,« antwortete Hempel.

»Na denn 'mal los,« befahl Wendelin.

Hempel ließ Stangen hereinbringen und in die Einschnitte der Bande legen. Die ganze Reitbahn sah wie ein Springgarten aus. Zappelphilipp wieherte und zitterte förmlich vor Nervosität – er kannte die Vorbereitungen. Dann begann die Hetze. Hui – hui – hui ging es über die Hindernisse, schlankweg, ohne Zaudern und Zögern – sechsmal, zwölfmal – ohne daß Zappelphilipp nur Miene gemacht hätte, zu stutzen, geschweige denn auszubrechen.

Der Graf nickte lebhafter mit dem blonden Kopfe. »Seh 'mal einer an,« meinte er, »das hätte ich nicht gedacht! Vortrefflich – ganz vortrefflich! Es ist gut, Hempel – es ist gut, Fritz! Halt!«

Fritz parierte, und der Gaul stand, mit schäumendem Maule an der Kandare kauend.

97 »Ich bin sehr zufrieden, Hempel,« sagte Wendelin, »die Schule hat auch dem Zappelphilipp gut gethan. Er war verwöhnt wie eine Prinzessin von Fez. Nun aber noch eins, Hempel. Halten Sie mir darauf, daß der Fritz eine schlankere Taille bekommt. Zum Zappelphilipp mag der Kartoffelbauch passen, aber für meine Renner nicht. Überwachen Sie die Diät des Jungen. Da – fange 'mal, Fritz!«

Und der Graf zog seine Börse hervor und warf Fritzen ein Goldstück zu. Fritz fing es auf, bedankte sich und steckte es in die Westentasche.

Gut, daß es Fanny nicht gesehen hatte! – 98

 


 


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