Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Dienerschaft im Kölpinschen Hause hatte seit einigen Tagen schöne Zeit. Graf Wendelin hatte sich einen einwöchentlichen Urlaub erbeten und war mit seiner Gattin, doch ohne jede weitere Begleitung, nach Deesenhoff gereist, um dort die Pfingstzeit zu verleben.
In diesen freien Tagen war es, als um die Dämmerungsstunde ein lang aufgeschossener junger Mann in schwarzem Rocke und zu kurzen Beinkleidern beim Portier des Kölpinschen Hauses nach Herrn Fritz Fiedler fragte.
Der Portier wies den Fremden nach den Ställen, und hier fand dieser auch den Gesuchten vor, der gerade damit beschäftigt war, dem Zappelphilipp für die Nachttoilette die buschige Mähne fein säuberlich zu flechten. Der Fremde blieb zuerst einige Minuten in der Stallthür stehen, rückte an seiner Brille und schaute kurzsichtig und blöde umher, ehe er den in Hemdärmeln herumhantierenden Fritz entdeckte und mit zaghaften Schritten, einen Stalleimer umwerfend und mit einer Futterkiste karambolierend, auf ihn zueilte.
131 »Guten Tag, lieber Fritz,« sagte er dann, in scheuer Ehrfurcht drei Schritt hinter dem unruhigen Zappelphilipp stehen bleibend. »Wie geht es dir? – kennst du mich wieder?«
Fritz schaute den Ankömmling erstaunten Auges an. Wer war denn das? Die Stimme klang ihm bekannt, und auch das blasse hagere Gesicht weckte allerhand alte Erinnerungen in ihm – Erinnerungen an die Heimat, an Klein-Busedow, an das Pfarrhaus und die dunkeläugige Fanny . . .
»Herrjeses – Otto – ist es denn möglich! Bist du es wirklich?«
Fritz warf die Striegel hin, wischte sich die Hände an den blanken Lederhosen ab und fiel Otto um den Hals. Dann ging das Fragen an und nahm fürerst kein Ende. Fritz setzte sich auf den Standbalken und der Pastorssohn mußte auf einem umgestülpten Tränkeimer, über den Nickel einen Woilach warf, Platz nehmen. Otto erzählte, daß er vor kurzem sein Abiturium bestanden habe und sich nun auf das Referendarsexamen vorbereite. Er wohne in der Melchiorstraße – Fritz möge ihn doch einmal besuchen; vormittags müsse er auf die Universität in die Kollegien und nachmittags arbeite er für sich, aber des Abends sei er immer frei. In Klein-Busedow sei alles beim alten geblieben, nur den Lennert habe der Schlag gerührt – während des Bälgetretens in der Kirche – und Matzenthiens Carle diene jetzt bei den Vierundfünfzigern sein Jahr ab. Er sei derselbe ruppige Bengel geblieben, der er früher war . . .
Fritz fragte nach dem Pastor und der Pastorin und 132 nach Gustel, Line und Bärbchen. »Alles gesund,« meinte Otto. »Und Fanny?« fuhr Fritz etwas stockend fort, während er das Gesicht interessiert über ein Strohbund neigte, um die plötzliche Röte zu verbergen, die ihm in die Wangen geschossen war.
Otto wurde sichtlich verlegen und schob seine Brille einigemal hin und her. »Die ist nicht mehr da,« entgegnete er dann.
Fritz erschrak. »Was denn? – Nicht mehr da? – Ja, wo ist sie denn sonst?«
»Ach, das ist eine dumme Geschichte, Fritz,« meinte Otto, »davon sprech' ich nicht gern . . . Weißt du, die Fanny war doch immer ein so romantisches Frauenzimmer und hatte allerhand Grillen im Kopfe, und da ist sie eines Tages auf die verrückte Idee gekommen, sie wollte in die Fremde gehen und irgendwo eine Stelle als Gesellschafterin oder Erzieherin oder Stütze der Hausfrau annehmen, damit sie in Klein-Busedow nicht zu versauern brauche. Na – das hat dann natürlich sehr heftige Scenen gegeben, denn Vater versteht in solchen Sachen keinen Spaß, aber vier Wochen später hat Fanny hinter dem Rücken der Eltern thatsächlich ein derartiges Engagement angenommen und energisch erklärt, sie bestehe auf ihrem Willen. Sie hatte ein Inserat aufgegeben, die nötige Korrespondenz selbständig geführt und sich gebunden, ohne daß einer von uns etwas davon wußte. Was sollten die Alten machen? – Der Thatsache gegenüber half alles Räsonnieren nichts – und da hat denn die Fanny ihre Siebensachen zusammengepackt und ist abgedampft.«
133 »Wohin?« fragte Fritz, der mit größter Aufmerksamkeit zugehört hatte.
»Ah – nach Wien – es ist so 'ne Sache – sie lebt da in der Familie eines Schauspielers – Lipinsky oder wie er heißt, zur Erziehung seiner beiden Kinder . . . Das hat den Vater natürlich noch mehr geärgert, daß die Fanny in ein Schauspielerhaus gekommen ist. Der Lipinsky ist ja ein Künstler von großem Rufe, und Vater denkt in derlei Sachen sonst wirklich nicht prüde – fürchtet aber mit Recht, daß die schrullenhafte Vorliebe Fannys für Bühnenromantik und dergleichen sich in diesen neuen Verhältnissen noch mehr steigern wird, und ihm schwebt dann immer gleich das Schicksal unsrer unglücklichen Großmutter vor . . . Nun lassen wir das! Bist du heute abend frei? – ich würde gern einmal ein bißchen bummeln mit dir! . . .«
Fritz war einverstanden – um so mehr, da er noch manches weitere aus Klein-Busedow und vor allem über Fanny zu hören hoffte. Otto begleitete ihn zunächst in seine kleine Kammer über den Pferdeställen, wo Fritz sich umkleidete, während sein Gefährte sich die Wanddekoration mit Neu-Ruppiner Bilderbogen betrachtete. Das waren dieselben Bilderbogen, mit denen Fritz schon sein Stübchen im Pfarrhause von Klein-Busedow geschmückt hatte: die Einnahme von Konstantinopel und der Sturm auf Düppel, Columbus mit den Indianern, Garibaldi im Rubens-Barett und endlich die Tiere der Arche Noah mit ihren poetischen Erläuterungen.
»Die Ameise hat nimmer Ruh',
Der Affe sieht behaglich zu«
134 rezitierte Otto laut. »Du, weißt du, das rührt mich ordentlich, daß du diese heimatlichen Erinnerungen so sorgsam bewahrt hast,« fuhr er fort. »Wenn man nicht den kahlen Hof vor dem Fenster hätte, könnte man sich hier drei Jahre zurückträumen und meinen, man säße friedfertig in Klein-Busedow . . . Bist du fertig? – Ich möchte vorschlagen, zunächst einmal irgendwo zu Abend zu essen – ich habe barbarischen Hunger – dann können wir immer noch etwas mehr in die Tiefe steigen . . .«
Die beiden Freunde machten sich auf den Weg in die innere Stadt. Fritz war ehrlich erfreut, wieder einmal ein paar Stunden mit dem alten Spielkameraden verplaudern zu können. Der junge Jurist hatte äußerlich wenig Bestechendes an sich; das blasse Gesicht zeugte von durcharbeiteten Nächten und die magere, dürftige Figur sah merkwürdig unerwachsen aus, ein Eindruck, den die nichts weniger als elegante, schlecht sitzende Kleidung noch mehr erhöhte. Aber Ottos frisches und herzhaftes Wesen und seine studentische Keckheit, die in fast humoristischem Gegensatze zu seiner nüchternen Äußerlichkeit stand, gefiel Fritz.
Nachdem die beiden in einem der riesenhaften Bierpaläste der Friedrichsstadt zu Abend gegessen und Otto in aller Schnelligkeit drei mächtige Humpen Bier hatte verschwinden lassen, besuchte man auf des letzteren Vorschlag ein in der Nähe gelegenes Café chantant, das den lieblichen Namen »Zu den Palmen des Orients« führte. Otto schien hier bekannt zu sein. Er nickte der an der Kasse sitzenden, stark geschminkten Billeteuse freundlich zu und begrüßte verschiedene der aufwartenden Kellnerinnen in vertraulicher Weise.
135 »Du kommst hier wohl öfters her?« fragte Fritz, in der ersten Stuhlreihe vor dem niedrigen Podium Platz nehmend, auf dem ein halbes Dutzend junger Mädchen in kurzen und tief ausgeschnittenen Kleiden zur Schau saß.
»O ja – dann und wann,« entgegnete Otto. »Was soll man des Abends machen! Verwandte habe ich nicht in Berlin – da bummelt man denn so etwas im Sumpfe der Großstadt herum . . . Eine würdige Vorbereitung für das Referendarsexamen ist das ja gerade nicht – aber man muß doch die Sünde kennen lernen, wenn man vom Richtertische aus gegen sie eifern soll . . . Emmy, noch zwei Schoppen Patzenhofer!«
Und Otto lachte lustig auf, kam Fritz einen Halben vor und ließ fast den ganzen Inhalt seines Glases in die durstige Kehle gleiten.
»Alle Achtung – du kannst's!« meinte Fritz, »du scheinst das Trinken studiert zu haben! Da komm ich ja gar nicht mit.«
»Man lernt das so,« gab Otto zurück; »während der ersten acht Tage jedes Monats bin ich immer ganz besonders durstig. So lange reicht gewöhnlich Vaters Zuschuß – im letzten Drittel des Monats trink ich zu Hause Thee. Heute haben wir den fünften – da geht's noch. Prosit!« –
In diesem Augenblick begann eine der Sängerinnen auf dem Podium, ein hübsches Mädchen in zerdrücktem und zusammengeflicktem Schäferinnenkostüm und in schmutzigen Trikots, mit gänzlich ungeschulter und noch dazu halb heiserer Stimme ein dänisches Lied zur Klavierbegleitung vorzutragen, dessen Refrain Otto mitsummte. Inzwischen 136 hatte sich das Lokal ziemlich gefüllt. Studenten und Commis schienen am meisten vertreten zu sein, ältere Herren sah man nur wenig, weibliche Besucher gar nicht.
Eine durch Portieren verhängte, aber nicht geschlossene Thüre führte aus dem großen Hauptraum in ein paar kleinere Kabinetts, in denen man für teures Geld unglaublich schlechten Wein erhalten und sich nebenbei noch an den faden Späßen der Kellnerinnen intimer ergötzen konnte. Aus diesen Zimmern trat während des Gesanges der kleinen Dänin ein älterer, mit großer Eleganz gekleideter Herr, der sich dicht neben der Thüre aufstellte, dem durch allerhand Grimassen und eckige Gesten begleiteten Gegröhle des Frauenzimmerchens mit wohlgefälligem Schmunzeln und Kopfnicken lauschte und nach Beendigung desselben einen ziemlich kraftvollen Applaus erschallen ließ.
»Brava, brava, ma petite Djella!« rief er dem Mädchen zu, »fang auf!« –
Und er löste das kleine Veilchenbouquet, das er im Knopfloch seines dunkelbraunen Überrocks trug und warf es quer durch den Saal auf die Bühne.
Die Sängerin bückte sich, hob das Sträußchen auf, führte es mit schnippischer Bewegung an die Stumpfnase und knixte dann.
»Danke schön, Herr Graf,« rief sie mit fremd klingendem Accent zurück, »– Bonbons wären mir lieber gewesen . . .«
»Was ist denn das für ein Graf?« wandte sich Fritz an seinen Nebenmann, »– kennst du den Herrn an der Thür?«
137 »Den da drüben –?« Otto nickte lächelnd. »Versteht sich – du, das ist eine interessante Persönlichkeit! Das ist wirklich ein Graf – ein Graf de Montevero, der letzte Abkömmling eines ehemals unermeßlich reichen Geschlechts, das in Frankreich mächtig begütert gewesen sein soll – so sagt er wenigstens selbst – und dem einst ausgedehnte Weinbergsbesitzungen bei Rheims zu eigen waren. Hast du nie etwas von der Champagnermarke ›Duc de Montevero‹ gehört? – Die Monteveros gehörten zu den ersten Schaumweinfabrikanten Frankreichs, und die Marke ›Duc de Montevero‹ wird noch heute in Feinschmeckerkreisen ebenso geschätzt wie der Cliquot und Roederer. Aber die Firma ist längst in andere Hände übergegangen, und der letzte Montevero würde wahrscheinlich vom Betteln leben können, wenn er nicht auf den guten Gedanken gekommen wäre, sich dem Champagnerhause, das seinen Namen führt, als Agent anzubieten. So treibt sich denn der Graf Hektor de Montevero überall in den Kneipen umher, um seinen ›Duc de Montevero‹ loszuschlagen . . . – sic transit gloria mundi oder ›das kommt davon‹, wie wir deutsch sagen würden! . . .«
Der Graf war inzwischen näher getreten. Er mußte in der That eine sehr bekannte Persönlichkeit sein, denn 138 er grüßte bald freundschaftlich, bald durch gnädiges Winken mit der in perlgrauem Glanzleder steckenden Rechten nach allen Seiten hin, flüsterte einer schwarzäugigen Kellnerin ein lockeres Scherzwort ins Ohr und fragte den bleichsüchtigen Klavierspieler nach seinem Befinden. Otto reichte er zwei Fingerspitzen zum Gruße, »gut bekommen, der gestrige Abend?« warf er im Vorüberschreiten hin und ließ sich dann dicht vor dem Podium auf einem Rohrstuhle nieder, um sofort mit einer der Chansonnetten ein lebhaftes Gespräch zu beginnen.
Die beiden Freunde blieben eine kleine Stunde in der Singspielhalle und schickten sich dann an, das Lokal zu verlassen. Otto drängte zum Aufbruch, obwohl Fritz sich gern noch länger dem naiven Vergnügen, die fragwürdigen Leistungen der Sängerinnen zu bewundern, hingegeben hätte.
»Wir woll'n ja noch weiter, Kind,« meinte der erfahrenere Otto, ^ich sehe schon, du kennst noch gar nichts von der Großstadt – ich werde dir ein Mentor sein, mein Sohn. Bist du schon einmal in der ›Springenden Münze‹ gewesen? – Nicht? Nun dieses famose Haus mußt du unter allen Umständen kennen lernen – da wirst du dich amüsieren! Teufel, da wirst du dich amüsieren!«
Und Otto trank aus und gab dem ehemaligen Spielgefährten einen herzhaften Schlag auf die Schulter, so daß es laut schallte und die dicke Tirolerin, die soeben im schönsten Jodeln war, einen mißbilligenden Blick auf die beiden warf.
Nicht ohne heimliches Staunen musterte Fritz, als 139 man die schmale ausgetretene Treppe hinabstieg, die hagere Gestalt seines Begleiters. Was war aus dem Pastorjungen geworden, seit er ihn zum letztenmale in Klein-Busedow gesehen hatte! – Fleißig mußte der Otto gewesen sein, sonst hätte er nicht so schnell sein Abiturientenexamen bestanden, und fleißig war er sicher auch noch, wenn man seinen Worten glauben konnte – aber diese Vorliebe für das abendliche Bummeln, für den Aufenthalt in allerhand lustigen Kneipen, für den Genuß des braunen Gerstensafts – all' das hätte Fritz dem einst ziemlich scheuen und zurückhaltenden Knaben nie zugetraut! Es war merkwürdig, wie die Residenz den verändert hatte . . . Wenn der Pastor wüßte, auf welchen Wegen sein Sprößling wandelte! Das könnte hübsche Strafpredigten geben – Fritz kannte sie und er hatte sie zu schätzen gewußt! –
Otto bog in eine der weniger belebten Nebenzeilen der Friedrichstraße ein. Eine weithin leuchtende rote Laterne zeigte den beiden jungen Leuten den Weg. Sie stiegen einige steinerne Stufen hinauf und traten dann in das im Parterregeschoß liegende Lokal ein.
Ein dichter Tabaksrauch schlug ihnen entgegen, aus dem wüstes Stimmengewirr und das Klirren von Tellern und Gläsern tönte. Erst allmählich vermochte sich Fritz in dem auf und nieder wogenden Rauchnebel zu orientieren.
Die »Springende Münze« – der seltsame Name war einem Theaterstück entlehnt, das vor einigen Jahren Aufsehen erregt und eine starke Anzahl Wiederholungen erlebt hatte – bestand aus zwei großen, durch eine stets 140 weit offen stehende Thür miteinander verbundenen Zimmern. Im ersten Gemache befand sich in einer mit einer verschossenen Portiere dekorierten Nische der Schenktisch, hinter welchem ein hübsches Mädchen in der durch das bekannte Kaulbachsche Gemälde populär gewordenen bayrischen Schützenliesltracht die Biergläser spülte und aus dem mächtigen Fasse im Hintergrunde wieder von neuem füllte. Die Ausstattung der Zimmer war im übrigen eine ziemlich primitive. Staubgraue, morsche Gardinen hingen vor den Fenstern, hinter welchen die Jalousien herabgelassen waren, und einige schlechte Öldruckbilder des Kaisers und der Kaiserin, Bismarcks und Moltkes an den vom Tabaksqualm verdunkelten Wänden.
Die Gesellschaft, die an den zahlreichen, über beide Räume verstreuten Tischen beim Biere saß, war für einen schärferen Beobachter interessant genug. Es fehlte nicht an jenen stereotypen Erscheinungen, die man in allen Lokalen der Residenz, in welchen »zarte Hände« die Bedienung übernommen haben, vorzufinden pflegt – an Studenten, jungen Kaufleuten, Leutnants in Civil, älteren Lebemännern und auch fragwürdigen Existenzen aller Art – dazwischen aber sah man allerhand andere auffällige Gestalten beiderlei Geschlechts, die ihrem Äußeren und ihrem ganzen Sichgeben nach zweifellos nur dem fahrenden Völkchen der Künstler angehören konnten. Künstler allerdings nur in bescheidenerem Sinne des Worts. Man konnte ohne weiteres merken, daß all' diese Leutchen keine bedeutenden Mimen waren, sondern eine niedrigere Stellung in der Welt der Bretter und des Scheins einnahmen, daß sie zur weitverbreiteten Gilde der 141 sogenannten Spezialitätenkünstler gehörten, der Akrobaten und Schlangenmenschen, Kostüm-Soubretten und Parterregymnastiker.
So war es in der That. Während Fritz und Otto sich an einen leeren Tisch in der Nähe des Ofens setzten, weihte der letztere den Freund in die merkwürdigen Geheimnisse der »Springenden Münze« ein. Der Wirt des Lokals – ein kleiner, geckenhaft gekleideter Mann mit einer Brillantnadel im bunt karrierten Schlipse und zahlreichen Ringen an den nie ganz sauberen Fingern – war seinem eigentlichen Berufe nach Theateragent, d. h. er vermittelte die Engagements der Künstler an die Spezialitätentheater und Singspielhallen gegen eine bestimmte Provision. Der Mann war früher selbst einmal Komödiant gewesen und hatte dann die Besitzerin der »Springenden Münze« geheiratet, eine dicke Witwe, die in ihren verschwommenen Zügen noch immer die Spuren ehemaliger Schönheit trug. Die beiden machten ausgezeichnete Geschäfte, denn die Klienten des Theateragenten waren zugleich die besten Gäste der »Springenden Münze« und zogen zahlreiche Besucher mit sich.
Es ging bereits auf Mitternacht, und das Lokal war, wie immer nach Schluß der Theater, bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Unterhaltung war eine überaus ungenierte und wurde in so lebhaft erregtem Tone geführt, daß man glauben konnte, alle Welt zanke sich mit einander. An einem Tische dicht neben dem, an welchem Fritz und Otto Platz genommen hatten, renommierten zwei berühmte »Excentric-Clowns« von ihren letzten Erfolgen in Petersburg und Odessa. Neben ihnen saß ein 142 junges Mädchen von zarter Erscheinung, mit durchsichtig blassem Teint und prachtvollen blauen Augen, die an der Seite eines gigantisch ausschauenden Menschen von wahrhaft herkulischem Körperbau lächelnd den Radamontaden der beiden anderen zuhörte. Es war dies der diesjährige »star« des Reichshallentheaters, Miß Anne Hopskin, die wunderbare Schlangendame, die jeden Abend, in flimmerndes Trikot gekleidet, ihren schlanken Körper auf die unglaublichste Weise zu verrenken verstand und die Professor Virchow für ein »Unikum« erklärt hatte. Ihr kolossaler Nachbar war der bayrische Herkules August Sterzinger, der durch die einfache Anspannung seiner Muskeln eiserne Ketten zersprengte und mit Kanonenkugeln wie mit Gummibällen spielte. Der Kolossalmensch liebte die kleine Schlangendame und wurde immer nur mit dieser zusammen engagiert. Es war rührend anzusehen, mit welcher Zartheit und Fürsorge der Herkules das niedliche Dämchen behandelte; er hatte den ganzen Abend seinen mächtigen rechten Arm über die Lehne des Stuhls gelegt, auf dem Miß Hopskin saß, als wolle er sie vor jeder Berührung von außen schützen, und flüsterte ihr verliebte Dinge ins Ohr. Die Schlangendame trank Limonade gazeuse und aß ein Stück Kuchen, und der Heraklide bestellte sich ein Glas Pschorrbräu nach dem andern und speiste dazu wie ein junger Löwe.
Der allwissende Otto erzählte dem eifrig lauschenden Gefährten noch weitere amüsante Einzelheiten aus der Gesellschaft der »Springenden Münze«. Da drüben – der lange Herr mit dem kurzgeschorenen Kopfe, der soeben einen Knickebein in die Kehle gleiten ließ, war 143 Mister Tom Price, der Schatten-Silhouettist aus dem Wintergarten. Der hatte in Oxford studiert und war Mediziner von Beruf; da er aber keine Praxis fand und seine ärztlichen Kenntnisse ihn kein geeignetes Mittel gegen das Verhungern finden ließen, so bildete er eine dilettantische Spielerei, mit der er oft in Freundeskreisen und in Gesellschaften geglänzt hatte, kunstgerecht aus und wurde Schatten-Silhouettist. Neben ihm saß ein junges Pärchen, zwei Grotesktänzer, Signor Adolo Pirazzi und Signora Monti, ein paar Italiener aus Spandau – sehr gesuchte Spezialitäten, weil sie gleichzeitig Verwandlungskünstler waren und über einen großen Apparat an originellen Kostümen verfügten. Dicht am Büffet hatte der berühmte Tierstimmen-Imitator Henry de Marmotel Platz genommen, ein Herr mit einem Napoleonskopfe, auch ein großer Künstler, der u. a. das allmähliche Näherkommen einer blökenden Schafherde mit bewundernswerter Naturtreue nachahmen konnte. Seinem Genre verwandt war Herr Theo van Brossen vom American-Theater, der erste »Ventriloquist« der Welt, ein Bauchredner, um den alle Direktoren sich rissen und der bereits vor dem Kaiser von Rußland und vor dem Schah von Persien seine Kunst ausgeübt hatte. Der würdige Mann mit dem ernsten, wie aus Stein gehauenen Imperatorengesicht, der in diesem Augenblick am Büffet mit tiefer, klingender Gutturalstimme einen Bittern verlangte, hatte durch seine mimischen Talente schon Hunderttausende ergötzt und erheitert, und eines nicht minder bedeutenden Rufs als er erfreute sich der soeben eintretende Malabarist und Kugelläufer Fred Deeken-Carobatti, dessen 144 Berühmtheit in Form eines roten Bändchens schon aus dem ersten Knopfloch seines gelb und schwarz getigerten Jacketts hervorleuchtete. Blasiert und müde lehnte an der Verbindungsthür der beiden Räume ein schlitzäugiger junger Japaner – Assi Mura-Kiwa, der Draht-Equilibrist aus dem Cirkus Renz, ein ungern gesehener Gast in der »Springenden Münze«, weil er nur Selterwasser genoß und nie ein Trinkgeld gab. Da ging es in der Ecke am Fenster opulenter und lustiger zu. Fröken Rida Anderssen, die dänische Liedersängerin der Walhalla, feierte dort drüben mit zwei Freundinnen bei schäumendem Champagner ihre Verlobung mit Wilhelm Gackerle, dem Wiener Tanzkomiker des gleichen Kunstinstituts, der schon dreimal verheiratet und wieder geschieden worden war, ein Blaubart, der allen Frauen das Herz brach, die es sich brechen ließen . . .
Es war eine Gesellschaft, wie man sie nicht oft zusammen fand. Die meisten kannten sich untereinander und sprachen von Tisch zu Tisch hinüber mit schallendem Organ und in allen möglichen Idiomen und Dialekten. In unverfälschtes Weaner und echtes Berliner Deutsch klangen abgerissene englische Phrasen hinein, italienische Ausdrücke, dann und wann einmal eine schnarrende Redewendung im Boulevardfranzösisch, ein krasses Fluchwort im Slang der Amerikaner – ungarisch, russisch und schließlich selbst japanisch, nachdem Assi Mura-Kiwa in Nisa-Naki, dem Jongleur und Fächerspieler des Konkordiatheaters, einen Landsmann gefunden hatte, mit dem er zusammen Selterwasser trinken konnte. Beim Turmbau zu Babel mußte es ähnlich hergegangen sein – der Sprachenwirrwarr war nervenerregend.
145 Mit zunehmender Nachtstunde verdickte sich die mit Tabaksqualm unerträglich gefüllte Luft immer atembeklemmender, und der Spektakel nahm zu, je mehr die Ungeniertheit wuchs. Das neuverlobte Paar in der Fensterecke hatte sich einen tüchtigen Rausch angetrunken. Fröken Rida Anderssen hatte die Füße auf einen zweiten Stuhl gelegt und zeigte dabei unbekümmert den weißen Saum ihrer Strümpfe. Herr Gackerle trällerte ein Wiener Couplet vor sich hin – einer der Excentric-Clowns balancierte eine gefüllte Rheinweinflasche auf der Nasenspitze, und der Tierstimmen-Imitator begann seine Paradenummer, die näherkommende Schafherde, abzublöken. Plötzlich erklangen helle Mandolinentöne durch das Zimmer, dem ein donnerndes »Bitte um fünf Minuten Rrruhe, meine Herrschaften« folgte. Fred Deeken-Carobatti, der Kugelläufer, hatte sich auf einen Stuhl geschwungen und fuchtelte mit den Armen, immer von neuem Ruhe erbittend, in der Luft umher. »Rrruhe!« rief es von allen Seiten – »Rrruhe, zum Donnerwetter!« brüllte der bayrische Herkules. Das Gespräch verstummte, und Fred Deeken-Carobatti nahm das Wort.
»Drei engagementslose Mandolinenspieler bitten, ein Chanson vortragen zu dürfen!« schrie der Kugelläufer in die Gesellschaft hinein. »Bravo! Bravo!« schallte es zurück – und dann erklangen aufs neue die Mandolinen. Anfänglich lauschte man mit ziemlicher Aufmerksamkeit, aber die Stille währte nicht lange. Man wiegte sich in den Hüften und begleitete durch rhythmische Bewegungen den Takt der Musik, dann begannen vereinzelte Hände 146 die Melodie auf dem Tische nachzutrommeln, mit Messern und Gabeln wurde accompagniert, eine dröhnende Stimme fiel ein, und schließlich sang die ganze Gesellschaft »addio, mia bella Napoli« . . .
Der Wirt sprang wie ein Rasender zwischen den Tischen umher. »Ruhe, meine Herrschaften – ich werde gekündigt! . . . Silenzio – io prego, signori! . . . Donnerwetter, die Polizei! . . . – Be quiet – goddam! – Man macht mir die Bude zu – hört doch endlich 'mal auf! . . . Silence, messieurs, ou – mon dieu, ich werfe die ganze Bande hinaus! . . .«
Kein Mensch achtete auf den eifernden Wirt – man lachte höchstens über die Sorge um seine Existenz und über seine Kapriolen – bis schließlich die Musik von selbst schloß und der eine der Mandolinenspieler mit einem Teller umherging, um seinen Lohn einzukassieren. Alle Hände griffen in die Taschen; da man erst im Anbeginn des Monats stand, so wurde ziemlich reichlich gegeben – die Mildthätigkeit ist eine der besten Seiten des Künstlervölkchens.
Die Ruhe war allmählich wieder hergestellt, und der kleine Wirt schlenkerte mit den ihm eigenen possierlichen Bewegungen wieder zu seiner dicken, am Schenktische postierten Ehehälfte zurück, ließ sich einen Schnaps eingießen und nahm dann neben Herrn Wilhelm Gackerle Platz, den er zu einem Wechsel seines Engagements zu überreden suchte.
Inzwischen hatten sich verschiedene neue Gäste eingefunden, unter ihnen auch jener famose Graf Hektor von 147 Montevero, der Agent für die Champagnerfirma »Duc de Montevero« in Rheims, den Fritz Fiedler bereits im Café chantant »Zu den Palmen des Orients« kennen gelernt hatte. Er kam in Begleitung eines Herrn und einer Dame und ließ sich mit diesen an dem soeben frei gewordenen Tische dicht neben demjenigen, an welchem Fritz und Otto saßen, nieder.
»Was sind denn das wieder für Leute?« flüsterte Fritz seinem Begleiter zu, einen neugierigen Blick auf das Pärchen am Nebentische werfend.
»Weiß nicht,« – Otto zuckte mit den Achseln – »wohl auch Künstler oder dergleichen – der alte Graf hat immer Bekanntschaften in diesen Kreisen! . . . Wetter, ist das ein schönes Weib!« –
Und Otto schielte über sein Bierglas verstohlen nach rechts hinüber. Er hatte Recht. Es war ein auffallend schönes Weib, das da drüben neben dem weißköpfigen Champagnerreisenden mit dem gräflichen Namen und dem andern Herrn saß. Der zurückgeschlagene Schleier zeigte ein edel geschnittenes Antlitz, das in seinen kräftigen und ausdrucksvollen Linien eben so sehr an die stolzen Schönheiten der romanischen Rasse erinnerte, wie der 148 dunkle Schmelz der Augen und der bräunliche Teint. Das nachtschwarze Haar war in leichten Löckchen ziemlich tief in die Stirn gekämmt und vereinigte sich auf dem Hinterkopfe zu einem schweren, schlichten Knoten. Die Oberlippe des reizend geformten, schwellenden und kirschroten Mundes bedeckte ein leichter dunkler Flaum, und wenn das junge Weib lächelte, so sah man zwei Reihen blitzender Zähne. Die Gestalt war groß und voll; eine blaue Seidenblouse umspannte die herrliche Büste, und faltenlos fiel der gleichfarbige Tuchrock über die kräftig gewölbten Hüften bis zu den kleinen, mit niedrigen Lederschuhen bekleideten Füßen herab.
Rechts von der jungen Dame, die man wohl zweifellos für eine ausübende Künstlerin halten konnte, saß Graf Montevero, links der Herr, der mit diesem zugleich das Lokal betreten hatte. Es war dies ein hochgewachsener Mann in hellgrauem, elegant gearbeitetem, aber hie und da bereits etwas verschossenem und fadenscheinig gewordenen Sommeranzug. Sein Gesicht zeigte nicht unsympathische, jedenfalls sehr vornehme Züge, seine Augen waren von merkwürdig hellem Blau und leuchteten auffallend glänzend. Ein mächtiger dunkelblonder Vollbart fiel weit über die Brust herab; er schien sich einer sorgsamen Pflege seitens seines Besitzers zu erfreuen, und auch die weißen, schmalen Hände des Herrn mit den glänzend polierten, spitz zugeschnittenen Fingernägeln zeugten von aristokratischer Pflegung.
Graf Hektor hatte eine Flasche seines »Duc de Montevero« bestellt. Der Kellner brachte einen ungeputzten, blind gewordenen Champagnerkühler mit schmutzigem 149 Wasser, in dem vereinzelte kleine Eisstücke schwammen, und stellte die dickbauchige Flasche in dieses hinein. Dann schenkte der alte Weingraf den warmen, stark schäumenden Mousseux in die Gläser. Das junge Weib leerte ihre Schale mit einem Zuge und schnalzte dabei mit der Zunge, während ihr Nachbar nur nippte und dann widerwillig das Glas bei Seite schob.
»Nun?« fragte Graf Hektor, seinen Kelch gegen das Licht haltend, so daß sich dieses in dem goldgelben Schaumwein brach. »Schmeckt's nicht, Baron Krey? – Die Marke ist echt – der Wirt bezieht sie direkt von meinem Hause« . . .
»Warmes Zeug,« meinte der Angeredete; »Sekt muß kalt sein – ich kann mir nicht helfen!«
»I nun natürlich muß er das,« – und der Graf nippte gleichfalls an seinem Glase und rief dann entrüstet den Kellner herbei, um ihm eine längere Vorlesung über die Ungebühr zu halten, alten Stammgästen warmen Champagner vorzusetzen. »Ein Dutzend Flacons Montevero müssen immer auf Eis liegen – merken Sie sich das, junger Mann, und vermelden Sie es auch Ihrer gestrengen Herrin! Das ist ja eine unglaubliche Wirtschaft! Wer soll denn dies labbrige Zeug trinken? Da sind denn natürlich keine Geschäfte zu machen« . . .
Ein donnerndes Getöse, ein Lärm, der den Spektakel von vorhin noch bei weitem übertraf, unterbrach das Räsonnement des alten Herrn. Es war ein seltsamer und tragikomischer, obwohl in diesem merkwürdigen Lokale durchaus nicht ungewöhnlicher Vorfall, der sich abzuspielen begann.
150 Von zwei jungen Burschen, denen man schon äußerlich das Ellenrittertum ansehen konnte, begleitet – war ein kleines, etwas wunderlich ausschauendes Männchen in das Restaurant getreten. Fritz kannte den Kleinen, und er mußte lächeln, als er ihn sah; das war ja der Vertreter von Landré und Bonnheimer, der würdige Herr Mausebrei, der theatralisch gebildete Freund des alten Hempel und die Zielscheibe aller Bosheiten, die von Nickel und Basedow und den übrigen Bediensteten des Kölpinschen Stalles ausgeheckt wurden! –
Herr Mausebrei grüßte würdevoll mit der Rechten nach allen Seiten, als er das Lokal betrat, und suchte dann forschend nach einem leeren Platze, während seine jugendlichen und, wie es schien, etwas angeheiterten Begleiter sofort allerhand Unfug anzustiften begannen. Pfeifend, johlend und mit brutalen Schlagworten um sich werfend, die in den Regionen der Tingeltangel gerade Mode waren, drängten sie sich zwischen den Stuhlreihen hindurch und belästigten die schimpfenden Gäste auf jede mögliche Art. Als aber einer der beiden Burschen sich erlaubte, im Vorüberschreiten der kleinen blonden Schlangendame mit einem rüden Scherze unter das Kinn zu fassen, da erhob sich plötzlich Herr August Sterzinger, der bayrische Herkules, und gab dem Unverschämten eine so gewichtige Ohrfeige, daß er im Taumeln der Chansonettesängerin Rida Anderssen in den Schoß flog. Fröken Anderssen, die sich damit beschäftigte, ihren Rausch auszuschlafen, kreischte wild auf – ihr Amoroso, Herr Wilhelm Gackerle, begann in allen Tonarten zu schimpfen – Miß Anne Hopskin schimpfte in gebrochenen Lauten mit 151 – von den entfernteren Tischen eilten die Gäste herbei, und nun bildeten sich im Nu zwei debattierende Gruppen, die unter lebhafter Gestikulation für und gegen den Gezüchtigten Partei ergriffen.
Es war ein toller Spektakel. Vergebens bemühte sich der arme Wirt, hochrot im Gesicht und mit fliegenden Rockschößen, von neuem Ruhe zu stiften – er sauste wie ein Gummiball hin und her. Der geohrfeigte Bursche war ziemlich unsanft durch Herrn Gackerles biedere Rechte von dem weichen Schoße der Fröken Anderssen entfernt worden und drückte sich zähneknirschend mit geballten Fäusten und mit geiferndem Munde an die Wand. Leider mischte sich schließlich auch noch Herr Mausebrei in die unerquickliche Zänkerei. Empört über die Züchtigung eines Angestellten der Weltfirma Landré und Bonnheimer, pflanzte er sich couragiert dicht vor dem Herkules auf, hielt ihm, sich auf den Zehen reckend, die geballte Hand unter die Nase und fauchte grimmig los:
»O Sie Labander – Sie unverschämter Patron – Sie glauben wohl, Sie können sich alles erlauben, weil Sie so dumm sind, wie Sie groß sind, Sie dicker Fresser Sie« . . .
Weiter kam aber Herr Mausebrei nicht, denn der Herkules faßte ihn plötzlich mit der einen Hand an den Kragen und mit der andern unter die Kniekehlen, hob ihn mit mächtigem Schwunge hoch in die Luft und schritt dann gemächlich zum nächsten Fenster, wo er, den armen Schneider noch immer in der Schwebe haltend, gemütlichen Tones fragte:
»Wo willst du hinaus, Jammermensch? Auf die 152 Straße oder auf den Hof? Durchs Fenster aber geht's . . .«
Der Schneider schrie, tobte und zappelte erbärmlich, doch Sterzinger ließ ihn nicht locker, obwohl ihm der Wirt in steigender Aufregung schon zum drittenmale befohlen hatte, auf der Stelle das Lokal zu verlassen. Kein Mensch wollte dem armen Herrn Mausebrei zu Hilfe kommen – die meisten lachten und amüsierten sich königlich über sein hilfloses Gebahren.
Nur Fritz war erbittert über die gemütliche Brutalität des Kolossalmenschen.
»Welche Roheit!« meinte er, zu Otto gewendet. »Dieser riesige Kerl kann dem armen Mausebrei alle Knochen zerbrechen! Er bekommt's fertig und wirft ihn zum Fenster hinaus« – –
Und Fritz sprang voller Erregung empor.
»Um Himmels Willen, Fritz – mach' keine Thorheiten! Bleib' hier,« mahnte der vorsichtigere Otto, aber unser junger Freund hatte sich bereits kräftigen Armes Raum geschafft und stand nun mit zornflammenden Augen vor Sterzinger.
»Loslassen – oder . . .?« sagte er laut und fest, und ein leises Zittern flog dabei durch seinen Körper.
Der Herkules stieß ein dröhnendes Lachen aus.
»Was willst du denn, Krabbe?« rief er belustigt. Aber er hatte kaum ausgesprochen, so fühlte er auch schon auf der Dickmuskel seines rechten Oberarms einen so gewaltigen Faustschlag, daß er ein Stöhnen des Schmerzes nicht unterdrücken konnte und den unglücklichen Schneider freigeben mußte. Mausebrei stürzte zur Erde, ohne sich 153 Schaden zu thun, und im selben Augenblick sprang Fritz über ihn fort und saß Sterzinger an der Kehle. Mit beiden Armen umspannte er wie mit Eisenklammern den Herkules, so daß dieser sich schäumend und prustend der unwiderstehlichen Kraft des jungen Enakssohnes beugen mußte.
»Los« . . . keuchte Sterzinger, blaurot im Gesicht, und mit den schon erlahmenden Fäusten Fritz in die Seiten greifend, »los – ich ersticke« . . .
»Erst mach' deine Verbeugung vor dem Publikum,« lachte Fritz, der immer enger den Hals seines Opfers umspannte und ihn immer tiefer mit dem Oberkörper zu Boden zog. Der Herkules keuchte – der Atem verging ihm, und nun erst gab Fritz ihn frei und sprang einige Schritte zurück.
Hoch aufgerichtet, die Ellenbogen fest in die Seiten gestemmt und die Hände zur Abwehr geballt, stand er da. Er erwartete, daß Sterzinger sich in rasender Wut auf ihn stürzen würde – ein Lächeln glitt um seinen Mund – Furcht kannte er nicht.
»Komm' nur heran, du Goliath!« . . .
Aber der Goliath kam nicht. Sterzinger pustete gewaltig, als er sich wieder aufrichtete, und schüttelte sich wie ein ins Wasser gefallener Hund. Dann lachte er mächtig auf und streckte Fritz seine Hand entgegen.
»So ein Bengel,« meinte er treuherzig. »Der weiß einen zu fassen! 's ist mir zum erstenmale im Leben passiert, daß mich ein andrer untergekriegt hat! Ein Kunststück war es ja nicht, denn wenn einem die Puste vergeht, ist's mit der Kraft vorbei! Aber das schadet nichts 154 – es steckt doch was in dir, mein Junge! Wo arbeitest du denn?«
»Ich bin nicht gewohnt, mit Du angeredet zu werden,« gab Fritz trotzig zurück.
Der andre wurde einen Augenblick stutzig und lachte dann abermals.
»Ist recht, mein Junge,« sagte er und erfaßte Fritzens Hand, »bin ganz damit einverstanden! Bist groß genug geworden, sollst auch mit Sie angeredet werden! . . . Na – also? Wo sind Sie engagiert, wenn die Frage erlaubt ist –«
Das klang schon anders. Der Ärger Fritzens war im Nu verraucht. In dem breiten, roten, bierlustigen Gesicht des Herkules lag ein so ehrlicher und gutmütiger Ausdruck, daß Fritz sich thöricht vorgekommen wäre, wenn er noch länger hätte den Trotzigen spielen wollen.
»Ich bin kein Künstler,« entgegnete er, die Hand des Riesen kräftig schüttelnd, »sondern Bereiter« . . .
»Ah – der Tausend!« Sterzinger schüttelte den Kopf. »Bereiter! Schade drum. Wo denn? Bei Renz?«
»Beim Grafen Kölpin-Deesenhoff.«
»Also privatim – schade, sehr schade! Rennerke, komm' doch 'mal her! Komm' 'mal 'nen Augenblick her, alte Seele!«
Der kleine Wirt, der glücklich war, daß auch dieser Zwiespalt wieder ausgeglichen worden und der sich inzwischen mit der ganzen Kunst seiner Beredsamkeit bemüht hatte, den vor Wut und Aufregung förmlich schäumenden Herrn Mausebrei zu beruhigen, drängte sich, rasch herbeispringend, durch den Kreis der Gäste.
155 »Was soll ich?«
»Sollst dir einmal diesen jungen Herkules ansehen, dir seine Adresse notieren und sollst versuchen, ihn für uns zu gewinnen,« antwortete Sterzinger mit prononciertem Wohlwollen im Tone. »Der könnte ein tüchtiger Akrobat werden, wenn er in richtige Hände käme. Da steckt Kraft drin und mehr noch als Kraft – Courage! Sollte zu mir in die Lehre kommen – ich würde es billig machen und fürchte nicht 'mal seine Konkurrenz! Überlegen Sie sich's, Kleiner . . .«
Herr Rennerke hatte Fritz bereits bei der Rockklappe gepackt und ihn in eine Fensternische gezogen.
»Der Dicke hat recht,« meinte er, während er ein schmutziges Notizbuch aus der Tasche zog, einen Bleistift hervornahm und ihn mit den Lippen befeuchtete. »Lassen Sie doch Ihren Dienst schießen, junger Mann – was verdienen Sie denn dabei! Eine Lumperei – ich kenne das. Widmen Sie sich der Bühne – Sie haben das Zeug dazu! Es fehlt an tüchtigen Spezialitäten – ich muß es wissen, ich arbeite an die fünfzehn Jahre in der Branche. Wenn Sie heute mit mir abschließen und sich bei Sterzinger in die Lehre geben, garantiere ich Ihnen, daß Sie in sechs Monaten auftreten können. Sterzinger wird ja sehen, was aus Ihnen zu machen ist. Parterreakrobat oder Herkules – eins von beiden wird es wohl werden . . . Haben Sie denn etwas Vermögen? – Viel wird's nicht sein, ich kann mir's schon denken. Aber ich helfe Ihnen gern und will auch die Lehrzeit bei Sterzinger bezahlen, wenn Sie sich verpflichten, alle Ihre späteren Engagements durch meine Hand gehen zu lassen. 156 Schwarz auf weiß natürlich – das wird sich schon finden . . . Na, da giebt's doch kein langes Besinnen! Ich sage Ihnen ja, Spezialitäten Ihres Fachs werden immer gesucht und gut bezahlt! Dreihundert bis tausend Mark pro Monat, junger Mann, und noch mehr, wenn Sie erst Kasse machen! . . . Überlegen wollen Sie sich's? Na, das ist natürlich – dagegen läßt sich nichts sagen. Aber Ihre Adresse – wie war's gleich? – – So, und nun auf Wiedersehen, und auf ein baldiges! Dreihundert bis tausend Mark monatlich – vergessen Sie das nicht! . . .«
Fritz war ganz wirr im Kopfe. Er schaute mit blödem Auge in das von dichtem, grauen Qualm erfüllte Zimmer, in dem sich die ferner Sitzenden nur in undeutlichen Umrissen erkennen ließen. Er wußte kaum, was er zu den Vorschlägen des Agenten geantwortet hatte – das Überraschende der Situation hatte ihn förmlich benommen.
Erst als Otto mit Hut und Mantel zu ihm trat, kam er zu sich. Otto sah verärgert aus und schien schlechter Laune zu sein.
»Komm,« sagte er, »es geht auf zwei, und ich habe keine Lust, in dieser Bude zu nächtigen . . . Warum hast du dich denn eigentlich unnötigerweise in den Skandal eingemischt? Das paßt mir nicht – laß' das künftighin! Ansehen, aber nicht anfassen!« . . .
Er stülpte Fritz den Hut auf den Kopf, hing ihm den Mantel über und schob ihn vorwärts. Wo er vorüberkam, empfing ihn ein Halloh und wurde ihm zugetrunken. Mausebrei hatte sich augenscheinlich mit dem Herkules 157 ausgesöhnt, denn er saß an dessen Tische, dicht an der Seite der Schlangenmaid, hielt pathetische Reden und schwang dazu den Bierkrug. Sterzinger rief Fritz ein dröhnendes Abschiedswort nach, und die kleine blonde Miß Hopskin nickte ihm freundlich zu.
Die beiden waren schon auf der Straße, als ein kurzes »Pst – Sie!« hinter ihnen herschallte. Sie wandten sich um und sahen den alten Montevero mit seinen Begleitern soeben das Haus, in dem sich die »Springende Münze« befand, verlassen.
»Einen Moment,« rief der Champagnergraf und winkte Fritzen, »einen Moment, lieber Freund!«
Die drei waren in den Lichtschein der nächsten Laterne getreten, der voll auf das schöne Gesicht des Weibes fiel, dessen junonische Erscheinung den jungen Leuten schon im Lokal aufgefallen war. Die schwarzen Augen des Mädchens leuchteten, und hinter den sich üppig wölbenden Lippen blitzten die Zähne.
Fritz trat näher.
»Meinten Sie mich?« fragte er.
»Ja wohl – Sie, mein Freund,« nahm der Herr mit dem blonden Vollbart das Wort und schaute Fritz prüfend in die Erwartung ausdrückenden Züge. »Ich interessier' mich für Sie und möchte Sie näher kennen lernen. Besuchen Sie mich einmal. Sie sind beim Grafen Kölpin bedienstet, wie ich höre –?«
Fritz nickte.
»Warten Sie – ich will Ihnen meine Adresse geben,« fuhr der andre fort, eine Visitenkarte aus seinem Cigarrenetui nehmend. »Acco, amico – aber kommen 158 Sie bald! Es handelt sich um Wichtiges – Sie können mir eine große Gefälligkeit erweisen und dabei ein hübsches Stück Geld verdienen« . . .
Er hielt die kleine, thongelbe Visitenkarte noch einen Augenblick wie zögernd zwischen den schmalen weißen Fingern und reichte sie sodann Fritz.
»Kann ich Sie erwarten?« fragte er.
»Kommen Sie nur,« fügte seine Begleiterin an und wandte Fritz voll das lichtüberzogene Antlitz zu; »Sie finden uns jeden Nachmittag bis gegen Sieben zu Hause!«
Fritz sah nur dieses wunderschöne Gesicht mit seinen leuchtenden schwarzen Augen und dem blühenden Lippenpaar. »Ja – ich werde kommen,« entgegnete er stockend.
»Charmant! Ich verlasse mich d'rauf!« rief der andre – dann wandten sich die drei und schritten plaudernd die Straße hinab.
Otto, der sich bis dahin in den Schatten der Häuser zurückgezogen, lugte neugierig über Fritzens Schulter hinüber, um beim Laternenscheine den auf der Visitenkarte stehenden Namen zu entziffern.
»›Leopold Freiherr von Krey‹,« las er, »– alle Wetter, das ist eine vornehme Bekanntschaft, Fritze! Wie 159 kommt denn der mit dem alten Champagneronkel zusammen?! – Du, aber die Wohnungsadresse, die er unter den Namen geschrieben hat, klingt nicht sonderlich aristokratisch! Dresdener Straße 117, Hof III – da pflegen sonst keine Barone zu wohnen! Sei lieber ein bißchen vorsichtig mit diesem würdigen Wappenträger, lieber Fritz – mir scheint, als ob so etwas wie höherer Bauernfang dahinter stecken könnte!« . . .
Fritz antwortete nicht. Er grübelte darüber nach, wo und von wem ihm der Name Krey schon genannt worden war. 160