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Vischnu als Fisch

Einleitung

»Reich mir die Hand, mein Leben,
Komm auf mein Schloß mit mir!
– – – – – – – – – –
Es ist nicht weit von hier.«

Unter chinesischen Schimpfwörtern findet sich ein merkwürdiges: »Wang-ba-dan«, zu deutsch: »Du Schildkrötenei«! – das ist eine unfeine, ja ausgesprochen unanständige Benamsung. Sie setzt nicht bloß den Angeredeten herab, sondern wirft noch Schmutz auf seine Mutter. Sie will nämlich gleichnisweis sagen, daß der Beschimpfte einem ganz perversen Fehltritt seiner Mutter das Dasein verdanke. Es bezichtigt seine Mutter, ihn auf die Art, die unter Schildkröten üblich sein soll, empfangen zu haben – auf eine merkwürdige Art, die der Sittenkodex für Menschen streng verpönt. Mit den Schildkröten ist es nämlich nach Meinung der Chinesen eigentümlich bestellt: es gibt unter ihnen keine Männchen. Also sind die Schildkrötenweibchen, um die Art fortzupflanzen, gezwungen, sich von Männchen einer anderen Tierart befruchten zu lassen. Sie haben Umgang mit männlichen Schlangen, und von dieser zur Regel gewordenen Perversion rühren die Schildkröteneier her. Wer also den anderen »Du Schildkrötenei!« schimpft, erklärt ihn für die Frucht einer Sodomie, er soll dem Umgang seiner Mutter mit einem Tier entsprungen sein.

Die Anschauung, alle Schildkröten seien Weibchen, ist China über seine Jahrtausende hin selbstverständlich; erst die Übernahme westlicher Zoologie wird sie zur Altweiberweisheit stempeln und mählich ausräumen. Zugleich ist China von alters her das Land genauester Naturbeobachtung und genialer Anpassung des Menschen an seine Umwelt: an den Kreislauf des Jahres, an das vielfältige Ineinanderspiel von Himmel und Erde und aller lebendigen Kräfte ringsum. Wohl nirgends sonst hat der Mensch Elemente und Geschöpfe so hellsichtig und einfühlend belauscht, sich in die Eigenheiten, die an ihnen zutage liegen, eingelebt und dazu ihr geheimeres Wesen ausgespürt. Der erbliche Scharfblick des Bauern und Gärtners, der die künstlichen Gebilde des Reisbaus und der Seidenraupenzucht schuf und an Blumen und Tieren die reizvollsten Spielarten züchtete, hat die hohe wirtschaftliche Kultur Alt-Chinas aufgebaut; aus der gesiebten Erfahrung stetiger Naturnähe, vielfältig ihr sich schmiegend, um sie sich fügsam und fruchtbar zu machen, ward die Weisheit sozialer Gemeinschaft und politischer Herrschaft in China abgezogen, deren Ordnung Jahrtausende überdauern konnte.

Aber diese ehrfürchtige Hellsicht für das Eigene aller Lebensformen ringsum, die ihr Wildes und Geheimes zum freundlichen Bestande menschlicher Kultur umwandelt, verdunkelt sich in so wundersamen Vorstellungen, wie dieser von der ausschließlichen Weiblichkeit der Schildkröten bis zur Blindheit gegenüber dem uns offensichtlichen Wirklichen. Eine mythische Anschauung über das wunderbare Tier hängt die großartige Begabung unbefangener Beobachtung aus. Die Schildkröte ist das ehrwürdige Zeichen chinesischen Altertums für das mütterlich Weibliche, dessen Schoß der Weltgrund ist. Das alterslos langlebige Tier, das vieles sah und aus seinem Wissen ums Vergangene den Weg des Künftigen kennt und ihn aus Kerben seines Schildes, die sich als Schriftbilder lesen lassen, orakelnd künden kann, ist der mütterliche Anfang der Welt. Und so sind alle Schildkröten, die man gewahrt, Muttertiere wie jene mythisch-urweltliche Mutter – sind keine Söhne oder Väter. Die tägliche Beobachtung, die vom Gegenteil überzeugen könnte, kommt gegen die mythische Anschauung nicht auf; ein mögliches Urteil aus dem Augenschein verschwindet im Schatten, den ein mythisches Vorurteil wirft; die dämmernd deutende Überlieferung ist stärker als das helle Licht des Tages.

Ähnlich steht es mit den Schweinen, die zum Haushalt der Trobriands auf einer Insel der Südsee gehören. Malinowski von der London School of Economics hat das auf einer seiner »Argonautenfahrten« in die Südsee bemerken können. Er kam zu den Trobriands, um ihre Familienordnung, ihre Formen der Liebe und Ehe zu studieren, und fand diese von den unseren grundverschieden. Die Trobriands haben eine andere Meinung als wir darüber, woher die Kinder kommen; unser Kausalschluß, den wir Heutigen mit vielen alten Kulturen und Primitiven teilen, daß Nachkommenschaft aus dem Umgang der Geschlechter entspringt, ist den Trobriands fremd. Er dünkt ihnen so absurd und belächelnswert, wie uns die chinesische Meinung von den Schildkröten. Für die Trobriands sind es die Abgeschiedenen, die aus dem Jenseits wiederkommen und als Kinder in die Leiber der Frauen eingehen. Der Umgang der Geschlechter hat nichts damit zu tun, der Vater begrüßt im Sohne nicht sein wiedergeborenes Ich.

Der Mann liebt die Kinder als die Kinder seiner Frau und wird ihr dadurch liebenswerter; fährt er auf die See hinaus, zum Fischfang oder Handel mit entfernteren Inseln, und kommt er erst nach Jahr und Tag zurück, so wundert es ihn nicht weiter, wenn er, heimkehrend, die Kinderschar vergrößert findet; kein Schatten fällt auf die Frau – das haben die Ahnengeister gewirkt, und alles ist für alle in Ordnung. Beträfe er aber seine Frau mit einem anderen Manne in einer zweideutigen Situation und wollte sich deshalb von der Ungetreuen scheiden, würde der ganze Stamm sein Verhalten billigen.

Malinowski unternahm es in seinen Palavers mit den Trobriands zu ergründen, wie weit ihre eigentümliche Auffassung von der Fortpflanzung bei Mensch und Tier Stich hielte, wenn er ihnen seine westliche nahezubringen suchte; Das mußte natürlich taktvoll geschehen, wollte er die Eingeborenen nicht in ihrem Zutrauen irremachen und selber ihnen lachhaft oder anstößig werden. Aber die Trobriands lächelten nur, als er ihnen seine Idee über die Fortpflanzung nahelegte: daß der Umgang der Geschlechter etwas mit der Nachkommenschaft zu tun haben könne. Einer der Eingeborenen wies ihn auf eine Frau hin, die Albino war, und bedeutete ihm, daß ein Verkehr mit einer solchen Frau gar nicht in Frage käme bei ihnen – dabei habe diese Frau aber doch mehrere Kinder. Also sei es nichts mit seiner Theorie. Der ganze Kreis nickte beifällig zu dieser Argumentation. War das nun eine großartige Heuchelei der Gesellschaft? – Aber ihr Glaube saß tiefer, mindestens wußten sie ihn vor sich selbst noch schlagender, unwiderleglicher zu begründen als mit diesem Hinweis, bei dem vielleicht der eine oder andere sich an etwas erinnern mochte, was er lieber verschwieg.

Es konnte keine Rede davon sein, daß diese aus der Luft gegriffene, befremdliche Theorie des Fremden irgend etwas auf sich hatte, das der Wirklichkeit gerecht wurde. Die Trobriands wiesen Malinowski auf ihre Hausschweine hin, die ihre Hütten im Busch umwimmelten. Ihr Fleisch gilt als Leckerbissen, während es verpönt ist, das Fleisch der wilden Schweine im Busch zu genießen. Sie erklärten ihm, daß sie die männlichen Ferkel ihrer Hausschweine alsbald, wenn sie geworfen seien, ausnahmslos zu kastrieren pflegten, ihre Säue bekämen aber doch regelmäßig Ferkel. Malinowski unternahm es, sie behutsam darauf hinzuweisen, daß ihre Hausschweine frei herumliefen und ihr Tummelplatz ohne Hag an den Busch grenze, dort aber hausten wilde Schweine, den zahmen ganz ähnlich – wäre es nicht denkbar, daß die zahmen Mutterschweine etwas mit den Ebern der wilden Schweine hätten und daß sie davon ihre Ferkel bekämen? – Aber nein, erklärten die Trobriands, überlegen diese abwegige Hypothese abwehrend, das sei ausgeschlossen. Ihre Hausschweine hätten keinerlei Umgang mit den wilden Schweinen nebenan und könnten keinen mit ihnen haben. »Denn«, sagten sie, und damit war der Fall für sie erledigt, »wir essen doch das Fleisch der wilden Schweine nicht!«

Wir lächeln über uns selbst, wenn wir über die Trobriands mit ihren Hausschweinen oder über die Chinesen mit ihren Schildkröteneiern lächeln. Haben wir nichts dergleichen in unserem geistigen Haushalt: altererbte Vorstellungen, die sich behaupten, ohne daß unser kritisches Denken sie gewahrt, ja, die sich einer ganz anderen Wirklichkeit zum Trotz eben darum behaupten, weil sie uns den Blick auf diese verstellen? Und wir gründen unser Weltbild auf sie, und dieses Bild wird einem anderen Weltalter so widersprechend wunderlich erscheinen wie uns das Beieinander helläugiger Naturverwobenheit und mythischer Symbolik bei den Chinesen. Das rationale Denken in Philosophie und Wissenschaft arbeitet daran, solche Schildkröteneier und Hausschweine aus dem Haushalt unseres Weltbildes auszuräumen, aber gründet es sich nicht ebensosehr auf sie und schiebt sie hin und her in zeitlos ernstem Spiel?

Gerade wenn das kritische Denken einmal frisch zu beginnen meint und voraussetzungslos die Wirklichkeit und unser Dasein zu ergründen wähnt, wird es an ihm deutlich, daß es mit diesem Unternehmen nur den gewachsenen Untergrund an mythischen Größen bloßlegt, um sein luftiges Gebäude darauf zu gründen. In einem neuen Ansatz des abendländischen Denkens schob Cartesius den überkommenen Bau mittelalterlicher Weltschau beiseite und sagte frisch anhebend: »Ich denke, also bin ich.« Er gründete die Wirklichkeit, die er begriff, auf die unmittelbare Gegebenheit des sich Selbst-Bewußtwerdens eines Ich im Geschehen des Denkens. Aber indem er auf diesem unmittelbaren Befunde rational weiterbaute, hatte er an ihm rein mythische Größen freigelegt – wie ein Tessiner Bauer den Felsen freilegt, um darauf sein Haus fester zu gründen als auf die weiche Erde, die ihm die Wolkenbrüche seines Himmels fortzuschwemmen drohen. Denn was ist dieses »Ich«? – ein Hieroglyphenzeichen, ein helldunkles Munkelwort für eine unergründliche, völlig mystische Größe: Wo fängt es an? Wo hört es auf in uns und um uns? Wo packt man es und was vermag es? – Alle Weltanschauung deutet in todernstem Spiel zeitlos an ihm herum und kann sich dabei auf die gegensätzlichsten Erfahrungen berufen, alle ihre Kämpfe über die Äonen gehen um die wechselnde Bestimmung seines Wesens, seiner Grenzen, Vermögen und Beziehungen; Religion und Rechtsordnung drehen sich wie Wetterfahnen je nach den Winden, die aus diesem unergründlichen Zentrum aller Stürme wehen. – Und was meint »denken«? – Alle Philosophie beschäftigt sich seit Anbeginn mit diesem Licht, das aus dem Dunkel unserer Natur bricht, an Dunkel stößt und sich darein verliert; sie zergliedert diesen schillernden Strahl, auf dem sie selber reitet. Der endlose Prozeß des Geistes ist die Gebärde Münchhausens, der sich selber am Schopfe packt, Roß und Reiter aus dem weichen Grund zu arbeiten, dessen dunkle Tiefe ihn zu schlucken droht. Die mythischen Größen unseres Daseins, mit denen das rationale Denken umgeht, als könne es ihres Kernes innewerden, ragen in sein Licht hinein, wie Berge, die sich vulkanisch durch die Erdrinde stemmen und ihre Häupter ans Licht bringen, indes ihr Leib vom Dunkel der Tiefe umschlossen bleibt – oder sie gleichen Eisbergen, die mit ihrer eigentlichen Masse unsichtbar unter Wasser treiben und nur einen Bruchteil ihres Umfangs dem Lichte oben bieten, daß es ihn betaste. Das kritische Denken mag die greifbare Oberfläche der mythischen Größen abwandern und besiedeln, aber es ergründet nicht, worauf es sich gründet, wenn es seine Weinberge über diese erkalteten Vulkane spinnt und sein Zelt auf diese Gletscher lagert. Der Bauer, der seine Wohnung auf den Felsen gründet, legt seine Oberfläche bloß und schabt ihn an, aber er sprengt nicht den Kern seiner flüssig glühenden Tiefe auf – sie verschlänge ihn mitsamt seinem Hause, und doch hat sie den starren Berg als ihre Schale aufgewölbt und trägt ihn.

Unser Urteilen beruht auf alten Vorurteilen und spielt mit ihnen. Unser rationales und kritisches Denken steigt mit seinem Stoff, den mythischen Größen, aus einem Wissen auf, das dunkel auf unserem Grunde webt. Dieses Wissen in unserer Tiefe hat sich selber, aber wir haben es nicht; es ist sich selber inne, birgt sich in sich selbst und bewegt ein vielfältiges Wirkliches bei sich; die Fülle seiner allseitigen Beziehungen und Lichter und die dämmernde Weite seiner Räume übersteigt die Maße unseres bewußten Denkens ungemessen. Dieses ungreifbare Wissen auf unserem Grunde strahlt in den Teil unseres Wesens, wo wir uns selber greifbar werden, hinauf als Ahnung und intuitives Begreifen, als plötzliche Zusammenschau und regenbogengleiche Beziehung von Horizont zu Horizont, als Blitz eines Erkennens, das uns blendend erfüllt, als plötzliche Regung, die uns rettet und weiterträgt, als Einfall und zähe Idee. Mit seinen untergründlichen Ausstrahlungen gleicht es jener Sphäre unterseeischer Vulkane, wie sie vom indischen Ozean in die Südsee reicht: ihre Münder durchstoßen das Erdreich der Sunda-Inseln, ihre Kraterränder bilden Inselriffe des Archipels, Erdbeschreibung und Mythen der Inder wissen von ihren untermeerischen Mäulern. Ihr gleich wirft unsere Tiefe innen ihr glühendes Licht aufschäumend aus verborgenen Mäulern durch unsere untere Flut hinauf in den Meeresspiegel des Bewußtseins und wirft in ihm die erstarrenden Inselbrocken des Greifbaren hervor, auf denen die Ordnung des bewußten Lebens sich ansiedelt.

Aus der Tiefe dieses Wissens quillt die mythische Anschauung von der Schildkröte, sie sei ein bares Muttertier ohne Männchen neben sich – freilich nicht in der später gängigen Meinung einer Perversion, die nachträglicher Witz ihr angesponnen hat, als er rational weiterfragte, wie denn dieses rein weibliche Geschöpf zur Fortpflanzung käme, damit bei den Schildkröteneiern doch auch alles »normal«, das heißt trivial wie bei anderen Tieren mit Männchen und Weibchen, in Ordnung ginge (wenn auch etwas unanständig, aber eben damit desto unterhaltsamer) – nicht von dieser nachträglich-perversen Zweigeschlechtigkeit der Schildkröte im Zusammenspiel mit der männlichen Schlange als Buhle handelt der ursprüngliche Sinn der mythischen Eigenart der Schildkröte, aber von reiner Weiblichkeit, die in sich schon Mütterlichkeit ist und Kraft der Fortpflanzung und keiner männlichen Ergänzung welcher Art immer bedarf. In ihr spiegelt sich eine ursprüngliche Intuition des Lebens in sein eigenes Wesen: die Schau nach innen, daß Leben von Haus aus nicht des gegensätzlichen Zusammenspiels zweier Geschlechter bedarf, um sich über die Zeiten fortzupflanzen und zu vermehren – daß die beiden Geschlechter vielmehr nur eine unter mancherlei Erfindungen des Lebensdranges sind, deren er sich beim Menschen und vielen ihm ähnlichen Typen im Reiche der Natur bedient, um sie zu erhalten.

Diese verbreitete, uns geläufige Wirklichkeit von der Zweigeschlechtigkeit des Lebens als der Bedingung, an die seine Fortpflanzung gebunden ist, geht ja auch ins Weltbild der Trobriands nicht ein. Aber ihre gegensätzlichen Anschauungen, daß die Ahnen des Stammes im Leibe der Frauen zu neuem Leben erstehen bei Mensch und Tier, die ihnen unsere Idee von der Fortpflanzung verstellt, ist nicht ein anmutiges Gespinst fabelnder Phantasie, vielmehr eine treffende, ins Wesen zielende Formel für den wirklichen Kern der Fortpflanzung: daß in ihr uralte Erbmasse sich zu immer neuen Gestalten aufbaut. Vielleicht berührt sie Wesentlicheres am Geschehen der Fortpflanzung als der einseitige Bezug auf den jeweiligen Vater, auf das Männchen als Kausalfaktor, den Malinowski den Trobriands in ihren Gesichtskreis rücken wollte. Mindestens war dieser Bezug auf eine Größe »Vater« für die Trobriands gar nicht interessant; von ihrer Lebens- und Familienordnung her waren sie außerstande, die Bedeutung der westlichen Anschauung zu erfassen. Sie konnten gar nicht begreifen, was Malinowski mit der Beziehung der Kinder auf den Liebesgefährten der Mutter sagen wollte. In unserer westlichen Familienordnung spielt der Mann den Ernährer für Frau und Kinder und ist (mindestens herkömmlicherweise) die erziehende Autorität für die jüngere Generation; in China hat er sogar Eigentumsrecht an Frau und Kind wie an einem Stück Vieh und seinem Nachwuchs und kann sie unter Umständen verkaufen, da er die Frau aus dem Eigentum ihres Vaters sich hat erwerben müssen. Dann spielt die Frage, wer der Frau Kinder machen darf und wer für den Unterhalt ihrer Kinder aufzukommen hat, eine entscheidende Rolle. Unsere Rechtsordnung des Privateigentums und der Unterhaltspflicht dringt neben anderen, heiligeren Größen unserer Lebensordnung und Weltanschauung auf die Klärung der Vaterschaft: die Herkunft soll eindeutig feststehen, Recht und Last der Aufzucht soll gebührend verteilt sein – aber unser puritanischer Warnungsruf an selbstvergessen Liebende, »der schöne Augenblick – verpflichtet!« konnte mit all seinen Konsequenzen auf der glücklicheren Südsee-Insel niemals laut werden.

Die Lebens- und Familienordnung ist dort eine andere, aber nicht ungewöhnliche. Der Gatte hat keine väterliche Gewalt über die Kinder seiner Frau; die höheren Elemente der Erziehung und Einweihung kommen den heranwachsenden Kindern von ihrem Oheim, dem Mutterbruder. Er vertritt die männliche Autorität der älteren Generation. Aber er lebt fern vom mütterlichen Heim der Kinder bei der Frau, der er zugewandert ist, als sie ihn zum Manne nahm – er wohnt in einem anderen Dorfe. Haus und Feld gehört der Frau, und was der Mann erarbeitet, kommt nicht so sehr ihrem gemeinsamen Haushalte zugute, als dem Unterhalte der Schwester und ihrer Kinder im anderen Dorfe. An Stelle väterlicher Gewalt und Unterhaltspflicht steht die Beziehung zu den Kindern der eigenen Schwester.

Was bedeutet bei dieser Ordnung die Frage nach der Vaterschaft? – Sie ist wesentlich eine Angelegenheit der erotischen Bindung zwischen den Gatten, sie ist ein Prüfstein der weiblichen Treue. Die Frau wird gut tun, wenn sie untreu ward, es zu verhehlen, wenn ihr daran liegt, sich ihren Mann zu erhalten. Aber kommt ihr der Mann auf die Schliche und verläßt sie, so bleibt die materielle Grundlage ihres Lebens und ihr alleiniges Recht auf die Kinder, die sie geboren hat, davon unberührt.

Die biologische Theorie der Trobriands und ihre Familienordnung hängen innigst zusammen, aber sie lassen sich nicht kausal aufeinander beziehen. Es ist nicht so, daß eines von beiden die Ursache des anderen wäre, vielmehr sie halten sich aneinander wie die beiden Sterne eines Doppelgestirns, die mit ihrer Schwere um ein gemeinsames Gewichtssystem schwingen. Sie bedingen einander in ihrem Dasein und sind aufeinander angewiesen in ihrem Bestand und Vergehen wie ein Paar zusammengewachsener Zwillinge, denen das Messer, das sie trennen wollte, beiden den Tod brächte statt eigenständigen Lebens. Lebensordnung und biologische Theorie sind in verschiedenem Material – hier in sozialen Banden, dort in einer Verbindung von Anschauungen – eines das Double vom anderen. Sie sind zwei Facetten einer Größe, die nur an ihnen greifbar wird, an sich aber kaum zu benennen ist – aber diese unsichtbare Größe wirkt und trägt das Gefüge dieser Inselkultur weithin.

Das gibt der biologischen Theorie ihre ungemeine Stärke: sie ist nicht bloß eine Angelegenheit des Denkens und fürs Denken vertauschbar mit einer anderen, falls diese dem Denken plausibler werden könnte – vielmehr die Angelegenheiten des Denkens, die greifbaren Theorien, erweisen sich als abhängig und bedingt von dieser ungreifbaren Größe. Sie sind Funktion und Erscheinung dieser Größe, die selbst in einer ganz anderen Ordnungsreihe des Wirklichen zu Hause ist: in der Sphäre der unsichtbaren Mächte. Von dorther strahlt sie ihre Macht, das Leben zu einer Ordnung gestaltend, das Denken zu Theorien kommandierend. Eine andere, widersprechende Theorie ist gar nicht gefragt im Lebensraume dieser Familienordnung und im Banne dieser Größe, die sich in Lebensordnung wie -theorie gestaltend und gebietend ausstrahlt, ja sie kommt nicht in Frage, weil sie die bestehende Ordnung und den Bann der ungreifbaren Größe, die greifbar in ihr wirkt, in Frage stellen würde. Hier läuft das Leben in ererbten, erprobten Geleisen, formt seine wechselnden Geschlechter von klein auf in alter Ordnung für eine möglichst reibungslose Erfüllung ihrer Gebote, auf daß sie daran eine möglichst störungsfreie und vollständige Erfüllung der ihnen eingeprägten Form des Lebens finden, auf daß sie erfüllend und erfüllt dahingehen und als die Gleichen zu gleichem Dasein neu ins Leben kehren. Dieses Leben wehrt eine fremde Theorie energisch ab, die das vollkommene Ineinanderspiel seiner Ordnung und der ihr gemäßen Theorie stören könnte. Ordnung und Theorie sind die beiden Füße, auf denen die geheimnisvolle, stilgebende Größe dieses Lebens festgegründet, ausgewogen steht – bräche der eine Fuß weg, verlöre auch der andere seinen Stand. Darum ficht die Größe dieses Lebensstil mit kritisch-theoretischen Paraden, wie die Trobriands sie entwaffnend bereit hielten; aber die Kraft, diese Paraden aufzubringen, entspringt nicht dem Denken, das sie kritisch entfaltet, der eigentliche Widerstand gegen das befremdend Verstörende der fremden Theorie schießt aus dem stilisierten Lebensganzen des Menschen, schießt aus der dunklen Größe, die dieses Leben stilisiert hat und ihren ungreifbar formenden Bann beim bloßen Auftauchen einer widersprechenden Theorie samt der ins Greifbare ausgestrahlten Form bedroht sieht. Sie rüstet das rationale Denken zu argumentierender Abwehr, wenn sich die bloße Möglichkeit einer ihre Form zersetzenden Theorie am Horizonte abzeichnet.

So verstellt sich das Leben, wie es in wunderbar gewordenem Gefüge und in rational sich greifbarer Theorie dahinlebt und sich behauptet, mit seiner eigenen Gestalt den Blick auf ein mögliches anderes Gefüge in praktischer Ordnung und rationaler Theorie; die bloße Anerkennung einer anderen theoretischen Konstruktion des Wirklichen als einer logischen Möglichkeit würde praktisch in unabsehbaren Folgen den Zusammenbruch der alles tragenden und durchdringenden Ordnung nach sich ziehen, und jene hintergründlich bannende Größe, aus der Lebensordnung und -theorie ihr Dasein ziehen, würde in gespenstiges Nichts zerstäuben.

Auf solchen merkwürdigen Wesen wie den Hausschweinen der Trobriands und den Schildkröteneiern der Chinesen beruht unser menschlicher Haushalt zu allen Zeiten, in praktischer Lebensordnung wie theoretischer Bewältigung des Wirklichen. Alle Zeiten und Kulturen züchten solchen Bestand und gehen pfleglich, ja ehrfürchtig mit ihm um. In ihm wirkt die geheime mächtige Größe, die jeder Kultur und Epoche ihren Stil gibt. Das kritische Denken ruht auf ihm und arbeitet mit ihm; wenn es in seiner Arbeit einige zersetzt, spielt es die einen gegen die anderen aus und formt neue aus alten – um das ewig Unmögliche zu vollbringen: ein Weltbild, das in sich rational stimmt. Es schabt an ihrer Oberfläche und ritzt sie zu wechselnden Figuren unter dem wechselnden Bann jener Größen der Tiefe, die ihre Oberfläche aufgewölbt haben. In immer erneuter Arbeit dient es dem Stilwillen dieser ungreifbaren Größen, die zu neuer Gestaltung des Lebens ins Greifbare wirken. Wer diesen Bestand an Vorurteilen angreift, rührt an den »Schlaf der Zeit«; im einzelnen Gliede auflösbar sind sie als lebentragende Schicht unzerstörbar und »tabu«, als Schicht verbieten sie es unserem Blick, sie kritisch ins Auge zu fassen. Sie liegen tiefer als die wechselnden Werte, die jeweils Epoche machen und zerschlagen werden; diese Oberflächengebilde gründen sich bald mehr auf den einen, bald den anderen Teil der tieferen Schicht, sie selbst aber ist als Ganzes der unzerlösliche Untergrund, auf dem sich das Oberflächenspiel philosophischen Ordnens, weltanschaulicher Lichter, politischen Wollens und Gestaltens begibt.

Unsere eigenen Hausschweine und Schildkröteneier – wo sind sie? Ja, wo sind sie nicht? – Sie wimmeln zwischen unseren Füßen, sie liegen uns vor Augen, aber wir gewahren sie nicht als das, was sie sind. Wir werden nie wissen, was von unserem kritisch-rationalen Bestand an Vorstellungen zu ihnen gehört, und ob auch nur etwas daran von ihnen unberührt ist. Aber Spätere, und Ferne, für die wir ein Stück Fabel abgetaner Geschichte sind, werden, falls unsere Lebensordnung und Weltschau in ihr Blickfeld gerät, mit verwundertem Lächeln ihren Finger darauf legen. Ihr Bestand bildet das Netz, das in immer neuer Form uns befängt; wir zerreißen es an einzelnen Stellen in kritischen Durchbrüchen des Geistes und schmerzhaften Verwandlungen der Lebensordnung – um es mit dem Garn desselben Geistes neu zu flicken. Wir kreisen mit rasender Selbstbefangenheit des Geistes in diesem Maschenwerk herum, wie das gefangene Eichhörnchen in der Trommel aus Maschendraht, die zwischen zwei Gabelstreben drehbar aufgehängt seinen Käfig bildet: es mag in ihr laufen, solange es will, die Trommel läuft um sich selbst, je schneller das Tierchen in ihr läuft, aber zugleich ruht sie zwischen den Gabeln, die sie halten, und das Eichhörnchen kommt nicht vom Fleck.

In allem Fortschreiten kritischen Denkens, das mit exakter Wissenschaft Weltsicht und Lebensordnung rationalisiert, bleiben wir mythisch wie Trobriands und alte Chinesen; das Kritisch-Rationale ist sowenig ein wahrer Gegensatz zu den mythischen Größen, an denen es schabt, wie der Spaten zum gewachsenen Fels – wie rational und kritisch ist die Argumentation der Trobriands gegen die Hypothese ihres westlichen Gastfreunds! Freilich, die Umgangsformen des rationalen Denkens mit den mythischen Größen, an deren Bestand es arbeitet, auch wenn es eine um die andere auflöst, wechseln über die Weltalter – Denkstile wechseln: einst beobachtendes assoziierendes Denken mit bald glücklichen, bald völlig leeren Analogien, heut experimentelles Verhör, Isolierung von Faktoren und Komponenten, Zwang zur kausalen Verknüpfung. – Denkstile wechseln, aber die mythischen Größen, mit denen das Wirkliche aus dem Untergrunde unseres Lebens in uns bricht, bleiben.

Keiner von uns kann die Schildkröteneier und Hausschweine im eigenen Haushalt innen als das gewahren, was sie für unseren Blick von außen im Haushalt der Chinesen und Trobriands sind – könnte er sie bei sich alle auf einmal gewahren, so würde das Weltgefüge, das ihn trägt, in lauter Atome von Nichts zerstäuben. Das Geheimnis ihres Daseins ist, daß, wer sie hat, ihr geheimnisvolles Wesen gar nicht gewahrt. Darin beruht ihr Nutzen, ja ihre Unentbehrlichkeit. Sie ermöglichen jeweils Lebensform und Weltbild; unser Dasein, wie es sich selbst erfaßt, ist nach indischer Lehre auf Befangensein in sich selbst gebaut, es ist gewoben aus Sichnichtanderswissen, aus »Nichtwissen«, das es nicht besser weiß (avidya). Darum ist es Maya. Leben denkt sich nicht zu Ende, davon hat es seine Lebensluft.

Wohin der Mensch denkend schreiten mag, wird er dem Umkreis solcher Schildkröteneier oder Hausschweine nicht entschreiten; er führt sie mit sich und weiß es nicht – ja, sein Denken heißt ihn sie allerwegen suchen und findet sie für ihn. Nur die Gegenwelt zum kritisch-rationalen Denken, das mythische Wissen, aus dem die Schildkröteneier der Chinesen wie die Hausschweine der Trobriands und ihre unabsehbare Verwandtschaft heut und eh entstammt, kann uns von diesem Banne, der uns ungreifbar immer neu befängt, für blitzende Erleuchtungen von Augenblicken befreien. »Der verwundet hat, wird auch heilen«, heißt ein Orakelwort des griechischen Mythos, der vom Seher Teiresias handelt, wie er verflucht ward, Weib zu sein, dann aber wieder in einen Mann zurückverwandelt wurde. Sein Speer, der ein Schlangenpaar in Liebesverschlingung traf und ihm den Fluch eintrug, erlöste ihn nach dem Rat des delphischen Gottes, als er zum andernmal ein Schlangenpaar wie damals fand und wieder die männliche mit seiner Waffe traf. »Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug«, ruft Parsifal, die heilige Lanze schwingend. Die mythische Sphäre, die mit ihren Größen in Leben und Denken das unsichtbare Netz der Vorurteile, die uns tragen, über uns wirft, die alterslos unser jüngeres Denken tragen wie der Fels Weinberg und Haus, vermag uns von den Grenzen, die sie unserem Denken ungreifbar zieht, auf Augenblicke zu erlösen. Darin gleicht sie der Sphäre des Traumes, der mit seinem vieldeutigen Bilderspiel der Logik des wachen Denkens spottet, aber in ihren proteushaften Verwandlungen geistvolle Sinnbeziehung unausschöpflich wälzt; damit kann sie dem wachen Denken andeuten, was es, von sich selbst befangen, sich nicht zu sagen vermag.

Ein Traum ist unserem Bewußtsein, wenn es ihn nachträglich bedenkt, nicht als etwas Rundes und Ganzes oder gar Eindeutiges gegeben; wir erinnern nicht geschaute Bilder aus seinem Ablauf, wenngleich die mißverständliche Redeweise von Traumbildern und von im Traume Geschautem dergleichen nahelegt. Wenn wir träumen, stehen wir nicht einem Traumbild gegenüber, wir blicken nicht in eine Traumlandschaft mit ihren Vorgängen, vielmehr, indem wir ihn träumen, sind wir selbst der Traum, er ist ein Zustand unser selbst, der uns erfüllt, ein Geschehen in Sphären der kleinen Welt unseres Leibes, das uns umfängt. Wir haben ihn nicht, er hat uns. All das ist ihm gemeinsam mit der Wirklichkeit der Wachwelt. Sie ist uns auch nicht als eine runde, in sich geschlossene Größe gegeben, wir fassen Ausschnitte von ihr, die nach allen Seiten ins Verdämmernde beziehungsreich verfließen, und sie ist so weit wie der Traum davon entfernt, eindeutig zu sein, auch wenn wir uns handelnd und leidend – oft erst im nachhinein – meist einen einfältigen Reim auf ihre Vielfalt machen. Sie ist wie der Traum Ablauf und Zustand, der uns befängt, wir haben sie nicht, sie hat uns. Und wie im Traum die Traumwelt, die das geisternde Ich des Träumers umfängt mit Räumen und Gestalten, eigentümlich mit ihm verfließt, so daß sein Traum-Ich geheimnisvoll auch in den Dingen ist, die es locken und schrecken, so ist die Grenze zwischen Ich und Umwelt, die wir in der wachen Wirklichkeit spüren und festhalten sollen, eigentümlich fließend – in der allen gemeinsamen Umwelt steht jedes Ich in einer ganz ihm eigenen, anders getönten Umwelt, die so unübertragbar auf andere ist, wie sie von ihm selber unablösbar bleibt. Der eigentliche Unterschied zwischen der Wirklichkeit des Träumenden und des Wachenden scheint darin zu liegen, daß wir als wachendes Ich gegenüber unserer Umwelt einer durchschlagenderen Kraft unseres Willens innezuwerden vermeinen, als uns das Spiel des Traumes meist verstattet. Im Wachen schafft unser Denken uns Abstand und Gegenüber zur Welt, das Spiel des Traums quillt in uns selber ohne Abstand und Gegenüber, wir selbst, der Mikrokosmos, quellen auf zu Räumen und Figuren.

Wenn wir uns nachträglich vorhalten, was wir geträumt haben, so fischen wir mit rissigem Netz im Meer unserer Tiefe; einige der Fische, die uns als Traum umspielten, hat die verebbende Welle des Schlafs nicht mit sich zurückschlingen können, sie liegen am Strande des wachen Bewußtseins und erinnern uns daran, daß wir geträumt haben – aber es sind wenige, gemessen an der Fülle, die uns überspielte, und indes wir sie ins Auge fassen, zerfällt noch ein Teil ins Wesenlose, wird ungreifbar, und die übriggebliebenen sind wie leblos, verglichen mit der schillernden Beweglichkeit des Spiels, das uns umfing. Wir haben immer nur Reste in Händen und halten sie aneinander, weniger um aus diesen Bruchstücken ein Ganzes erinnernd zu beschwören, das schaukelnd vorüberstürzte und mit seinem Reichtum unwiederbringlich dahin ist, als um die Fragmente betastend und deutend unwillkürlich zu einem neuen Ganzen zusammenzufügen und in dieser Nachbildung zu bewahren, was uns im verlorenen Original des Traumes betroffen hat.

Im wachen Leben ist es kaum anders: ein unabsehbar Vielfältiges bildet sein wirkliches Gewebe, wir aber erfassen nur Einzelnes, Weniges, erinnern Bruchstücke daraus und fügen sie zu einem Bilde, das uns halbwegs geschlossen deucht, zu unserer Legende von der Wirklichkeit, die uns sinnsuchend, sinngebend beschäftigt. Da ist, wie im Traum, nichts, das schon von sich aus eine präzise Bedeutung, einen eindeutigen Sinn hätte.

Stücken wir Reste eines Traums zu einem Zusammenhang aneinander, der seinem verblassenden, schon verronnenen Ganzen Genüge täte, dann spricht uns Ahnung eines Sinnes an, nichts fest Umrissenes, Endgültiges, aber Schatten und Töne von Sinnhaftigkeit, immer neue Bedeutung, solange wir unser Erinnern geduldig belauschen können und nicht, vorschnell zupackend, bestimmend dazwischenreden, um einen Sinn festzulegen, der uns anmutet. In diesem nachträglichen Umgang spielen Träumer und Traum miteinander, was darin als Sinn aufscheint, ist von beiden gewoben: mit seinem Rätselantlitz taucht der Traum nur mehr in einzelnen Zügen aus dem Dunkel, das ihn auswarf und wieder schluckte, dieses verdämmernde Antlitz überschauert sich mit immer anderen Lichtern, indes wir es betrachten, und wir bilden unwillkürlich an seinen Zügen, indem wir die auftauchenden fixieren, deuten und aufeinander beziehen wollen. Deutend tragen wir uns selbst heran, unsere Erwartungen und Sorgen bemächtigen sich des Bruchstückhaften, durchtränken es, um es zu fixieren, gießen wechselnd Licht darüber, gestalten das Gebild des Unbewußten noch einmal, und in dieser Gestalt wird es erinnerter Besitz. Was im ursprünglichen Ablauf unendlich beziehungsreich bei aller Schärfe des Konturs und Vorgangs schlechthin alldeutig schimmerte, wird zu eindeutigem oder mehrfältigem Sinngehalt, aber indes diese Verfestigung und Verarmung sich nachträglich am Traumgebild vollzieht, um von seiner Fülle zu retten, was noch nicht unwiederbringlich verloren ist, zerbricht eben dieses gestückte Ersatzgebild uns immer wieder an der Erinnerung jener allseitig dunkelnden Fülle, die es uns vertreten soll. Unser Denken schöpft eine Handvoll Sinn aus der Welle des Traums – ein paar Hände voll Sinn nacheinander, und sie gehen untereinander nicht zusammen mit ihrem Gehalt, sie widersprechen einander, aber jede spricht uns an. Vor der Unendlichkeit des Wissens, das im Traum Gebärde wird, vor der allseitigen Sinnbeziehung seines Facettenspiels aufblitzender Lichter wird die Endlichkeit des Versuchs, sie eindeutig oder mehrgleisig denkend zu erfassen, offenbar. Aber eben im Erfassen dieser Endlichkeit, die ihre Waffen streckt, rühren wir als Grenze unseres Denkens das Unendliche der Traumwirklichkeit an – so wie wir in unserer Endlichkeit des Denkens es allein anrühren können: als Grenze des Denkens, an der es sich stößt und entsagt, um in seinem Verstummen mit einer namenlos erfüllten, aber unbestimmbaren Ahnung des Wirklichen sich selbst zu überschwingen.

Die ebenso alldeutige Beziehungsfülle der wachen Wirklichkeit erlaubt uns nicht, uns ihr gegenüber geradeso zu verhalten. Wir stehen in der Zeit, die verrinnt, und alle Umwelt mit ihrer Fülle ist verfließend im Gefäß der Zeit beschlossen und brodelt in ständiger Wallung. Immer sind wir verlangend oder besorgt, immer beschäftigt, zu verbinden und zu trennen, der Stand in der Zeit und im Fluß der Dinge verlangt Entschlüsse und Bestimmungen, Urteil und Handlung, also einfältige Reime auf die Vielfalt des Wirklichen. Denn ständiger Anschluß an das Geschiebe, das sich um uns weiterschiebt in immer wechselnder Figur, soll uns weitertragen, dieser Eisgang ohne Ende ist uns nicht zu zeitloser Betrachtung geboten, wir sollen uns springend auf ihm oben halten.

Aber gegenüber der Wirklichkeit des Mythos ist unser Verhalten angesichts der Träume angemessen. Die Mythen sind die Träume der Völker; aber wie sie erinnert werden in namenloser Überlieferung, tragen sie schon die Züge der Gebilde, die der Erwachte sich aus seinem Traum zusammenstückt: ihre Bilder sind mit Deutung übermalt und untereinander vernietet, ihr zerrinnender Kontur ist mit Sinngebung nachgezogen. Aber wie ein Traum, den uns ein anderer von sich erzählt, uns einen Sinn erschließen kann, der dem Träumer nicht aufging, können Mythen uns Sinn vielfältig schenken, den ihre eigene Überlieferung nicht ausdrücklich anrührt. Indem einer Mythen erzählt und sagt, was sie ihm selbst bedeuten, ruft er im anderen auf, was sie ihm anderes sagen können. Ihre unendliche Melodie wird laut, und jeder vernimmt aus dem Vielklang dieser Sphäre den Ton, der sich in seinem Innern fängt, wie ein Saitenspiel, vom Winde angerührt, mit jeder Saite in ihrer besonderen Höhe und Tiefe schwingt. Es ist, als führe der Wind in seinem Schwalle alle Töne mit sich, die er zum Klingen bringt, freilich als Bewegung und nicht als Klang – so trägt der Mythos allen Sinn in jeder Höhe, vom Trivialen zum Ungeheuren, auf seinen Schwingen: in uns als Sinn, in sich als Gestalt und Geschehen.

Die Weltwirklichkeit des wachen Lebens bleibt immer alldeutig, dem Denken unausschöpflich, nicht zu bewältigen im Triumph seines Fortschreitens, und der Wechsel der Erkenntnisbilder, die das Denken erdacht hat, schließt noch den geschichtlichen Wandel des Menschen ein; daneben bleibt der Mythos das zugleich alles kündende und alles verhehlende Abbild der Beziehungen des Menschen zu seiner Welt außen und innen.

Magische Naturweisheit früher Zeiten fand weltweit in Mythen die ursächliche Begründung dafür, daß alle Dinge sind, wie sie sind mit ihren besonderen Kräften und den Eigentümlichkeiten ihrer Erscheinung. In vielerlei mythischem Geschehen hat sich jeweils etwas Besonderes mit ihnen ereignet, das ihnen ihre Eigenart aufprägte. Da ist der Mythos Natur-Geschichte im wahren Wortsinn, er berichtet anekdotisch, wie alle Natur mählich zu dem ward, was sie im einzelnen scheint. Wer diese Geschichten weiß, kennt das geheime Wesen von Pflanze und Tier, Gestein und Element aus der Art, wie sie dazu kamen. Das Holz des Baumes, aus dem der Inder von alters her den Quirl schnitzt, mit dem er das Feuer erzeugt, muß das Feuer in sich bergen. Wie kam das Feuer gerade in das Holz dieses Baumes und findet sich in keinem andern? Der Feuergott ward es einmal müde, die Opfergaben der Menschen mit seiner Flamme von den Altären himmelauf zu den Göttern zu tragen, ohne daran Anteil zu haben – er machte sich davon und versteckte sich in diesem Baume. Es währte ein volles Jahr, bis die Götter ihn glücklich wiederfanden und mit einem Anteil an den Opfern versöhnten; weil er ein ganzes Jahr, einen vollen Umschwung des Kreises, in dem das Leben stirbt und wieder ersteht, in diesem Baume verweilte, hat er ihn mit seiner feurigen Natur durchtränkt. So hat alles seine Geschichte, der zitternde Lorbeer ist Daphne auf der Flucht vor Apoll, ein sinternder Fels die versteinte Niobe, die nicht abläßt, ihre Kinder zu beweinen.

Als die wissenschaftliche Weltschau des Hellenismus mit den alten Göttern ihren Mythos entthronte, ließ sie ihn als fabulierende Einkleidung und bildlichen Hinweis auf die Theorien ihrer neuartigen Naturdurchdringung gelten; die Vernünftigkeit des 18. Jahrhunderts beschritt zunächst den gleichen Weg, als sie sich entschloß, in seinen Gebilden mehr zu sehen als luftige Ausgeburten liebenswerter Phantasie. So erläuterte ein Berliner Altphilologe, den seine Zunft vergessen hat, Martin Gottfried Hermann, 1803 die »Feste von Hellas« nach ihrem »Sinn und Zweck historisch-philosophisch«; das Bemerkenswerteste an diesem Buche ist seine Widmung – dieselbe, die Beethoven vom Titel der Eroica gestrichen hat: »Dem Helden und Weisen Napoleon Bonaparte, Ersten Konsul der Französischen Republik, in tiefster Ehrfurcht dargebracht.« In diesem verschollenen Buche deutete Hermann antike Götter (Kronos, Zeus) und ihre Weltalter als Sinnbilder verschiedener Systeme, den Jahreskalender zu berechnen. Hier wie anderwärts erlag der Tiefsinn des Mythos platter Vernünftigkeit, sie suchte seine übervernünftige Vielfalt an Sinn auf einfältige Reime des eigenen Stils zu bringen, um den befremdenden großen Gegenstand in einer ihr selbst erträglichen Beziehung sich einzuverleiben, und entfremdete ihn dabei seinem eigenen Wesen.

Aber Schellings Genius erhob seine Löwenstimme gegen »Geistesfaulheit, die sich oft als vernünftige Aufklärung breitet«, und gab der Beziehung zum Mythos die Weite, die seinem Wesen gemäß ist: »Jeder Sinn ist in der Mythologie, aber bloß potentiell, wie in einem Chaos, ohne sich eben beschränken, partikularisieren zu lassen; sowie man dies versucht, wird die Erscheinung entstellt, ja zerstört; man lasse den Sinn, wie er in ihr ist, und erfreue sich dieser Unendlichkeit möglicher Beziehungen, so ist man in der rechten Stimmung, die Mythologie aufzufassen.«

Der Drang, die Bedeutungsfülle des Mythos auszuschöpfen, der die Epoche von Herder über Schelling bis Bachofen beseelt, konnte es nicht bei dieser Grundeinsicht ins Wesen des Mythischen belassen; auf die Gefahr hin, seine »Erscheinung zu entstellen, ja zu zerstören«, ging man daran, seinen Sinn zu »beschränken und zu partikularisieren«, um die Vielfalt seines Gehalts in immer anderen Vereinfältigungen zu erfassen. Schelling selbst beschritt diesen Weg, wenn er jede Mythologie als das Schicksal ihres Volkes bezeichnete: »Nicht durch Geschichte wird dem Volk seine Mythologie, sondern umgekehrt ihm durch seine Mythologie sein Schicksal bestimmt, oder vielmehr diese bestimmt nicht, sie ist selbst Schicksal, wie der Charakter des Menschen sein Schicksal ist, sein ihm gleich anfangs gefallenes Los.« Schelling konstruierte die Bilderfolge der Mythologie bis zu ihrer Aufhebung in der christlichen Offenbarungsreligion als Selbstentfaltung und -verwandlung des göttlichen Weltgrundes im Gange der Erdgeschichte.

Der Jurist Bachofen sah in alten Mythen sinnbildliche Zeugnisse frühgeschichtlicher Kämpfe um die Familienordnung, um Rang und Rechte der Geschlechter; aus einer Zeit, in die Rechtsquellen nicht hinaufreichten, zeugten ihm Mythen vom Wandel der Lebensordnung zwischen Mutter- und Vaterrecht. So wird der Mythos zum vielstimmigen Orakel, das jeder mit seinen Fragen bedrängt – und er hat auf alles Antwort, er enthält und ist alles.

Nach Metaphysik und Kulturgeschichte hat als jüngste die neuere Seelenkunde zum Mythos gefunden; jeder neue Versuch, ihn auszuschöpfen, bringt dabei anderen Reichtum an ihm herauf. Die Psychologie gibt dem Umgang mit ihm eine große Wendung, sie deckt in der Tiefe der Seelen die Größe auf, die ein verborgener Quell des Mythos ist, seine geschichtlichen Dokumente begegnen in ihr seinem zeitlosen Leben am Grunde unserer Seele. Beide erleuchten einander: verklungene Sage, kosmische Ballade gibt ihren seelenhaften Sinn zu lesen, und diese geschichtlich überkommenen Hieroglyphen des Mythos deuten den Bilderschatz der Seelentiefe, ihre Träume und Gesichte.

So verrichtet der Mythos auf seinem neueren wissenschaftlichen Gange zu sich selbst mit jedem Schritt Wunder, die immer anderen dienen und Segen bringen. Er ist wie Herakles, der zum Menschen verwunschene Sohn des Zeus, der durch die Reihe seiner übermenschlichen Taten, die anderen frommen, selbst heimfindet zur Ganzheit der ihm eingeborenen Größe, indem er seine verborgene Gottnatur Tat um Tat schrittweise an sich entfaltet. Wie er, auf dem Weg, die Rosse des Diomed zu bezwingen, für den trauernden Admet die durch den Tod entführte Alkestis der Schattenwelt entreißt, so hilft der Mythos jedem das Teuerste, nach dem sein Sehnen steht, dem Dunkel abgewinnen: bald dem Urgrund Gottes, bald dem Dämmer der Frühzeit oder der Tiefe der Seele. Es gilt, ihn als hohen Gast zu ehren, wie Admet mit Herakles tat.

Aber indem der Mythos bei uns der vernünftigen Erkenntnis in Philosophie und Wissenschaften dient, frondet er im Hause der Gewalt, die seine eingeborene volle Größe unterdrückt, wie Herakles im Hause des schlechten ungöttlichen Bruders Eurystheus dienen muß. Im Kampf mit immer anderen Ungeheuern, die kein Mensch bezwingen kann, wächst Herakles sein übermenschliches Wesen aus, aber die letzte Entfaltung seiner göttlichen Natur entführt den Heros himmelan in Flammen, sie entrückt ihn dem verehrenden Blick im Augenblicke, wo dieser wissend genug wäre, das Wesen des Gottsohnes recht an ihm zu schauen. Nur in beschränktem Anblick, in partikulären Taten wird sein Wunderwesen den Menschen greifbar – so kann auch die Betrachtung des Mythos nicht umhin, ihn zu beschränken, zu partikularisieren, indem sie ihn betrachtet und ergreift. Aber die Gefahr, ihn zu entstellen, ja zu zerstören, bleibt ein Schein, sobald der Umgang mit dem Mythos sich mit dem Wissen um die natürliche Unzulänglichkeit jeder Umgangsweise mit ihm recht durchtränkt. Einer nach dem anderen spannt das himmlische Flügelpferd vor seinen Pflug, um mit seiner Kraft das Feld einer Wissenschaft neu aufzureißen, spannt das Götterroß neben das Arbeitstier der Gelehrsamkeit, den Ochsen – eigentlich darf nur der Dichter die Hand auf seine Mähne legen und sich auf seinen Rücken schwingen. Aber es ist das Wesen der himmlischen Kräfte, daß sie irdischen Zwecken fronden dürfen, ohne davon Entstellung zu leiden. Herakles reinigt den Stall des Augias: erst das macht seine Kraft den Augen der Ewigkeit sichtbar.

Jede Linie, auf der einer bedeutend dem Mythischen sich nähert, kann nur den Sinn haben, ihn dorthin zu führen, von wo er sich in die Sphäre oder Bewegung hineinschnellt, in der das mythische Element seine schwindelnd alldeutige Kraft, zu sein und zu sagen, ihm entriegelt. Wir reden uns betrachtend an den Mythos heran, um uns über uns selbst hinauszuschwingen: hinein in den Augenblick, in dem die mythischen Größen unseres eigenen Daseins durch den Mund mythischer Überlieferung sich uns zu schrankenlosem Selbstgenusse geben – wo das Denken, das ihn bedenkt, in seinem blendenden Anblick an die Grenze seiner selbst schnellt und über die Bindung in seinen Grenzen und Gesetzen sich hinausschwingt zu einem Darinstehen in einem grenzenlosen Allzumal erfahrener Sinnfülle des Wirklichen, die der Mythos bildhaft in seinem Leibe trägt.

Alle Deutung am Mythischen bleibt ein Anspielen einiger Möglichkeiten, seinen unendlichen Gehalt in eine produktive Beziehung zu uns selbst zu setzen und zu einer Wirkung auf uns kommen zu lassen, auf daß diese Wirkung den mythischen Kern unserer eigenen Natur zu freierem Spiel entbinde und er aus seiner unterseeischen Verborgenheit vulkanisch in uns aufstrahle. Dann heilt der Speer, der uns verwundete: das Mythische löst uns aus dem Banne der Vorurteile, mit denen es uns befängt, und tut uns seine Weite jenseits unserer Grenzen auf.

Das Reich des Geistes mit seinen Gebäuden und Formen des Wissens liegt vor uns als eine geschichtliche Reihe großer Konventionen, Wirklichkeit zu haben; diese Konventionen geben der kritischen Betrachtung ihre Voraussetzungen preis, wie die euklidische Geometrie ihre Axiome, deren Entfaltung ihr Gebäude bildet. Wir gewahren eine Reihe von Grundrissen, die wechselnde Möglichkeiten bedeuten, etwas von uns selbst und der Welt unter bestimmten Perspektiven als wirklich zu haben. Diese Grundrisse sind wie Spielregeln des Geistes, und wir begreifen, daß wir unter ihnen nicht frei wählen können: sie sind Verwandlungsformen des menschlichen Geistes, Stile oder Allüren seines Umgangs mit dem vielfältig Wirklichen, und binden jeden an sich nach seinem Standort in den wechselnden Epochen. Wir können dem unseren nicht eine Nähe zum Wirklichen zusprechen, die andere, frühere, wesentlich überstrahlt.

Hier kommt die Vernunft an eine Grenze, wo sie sich in ein anderes überschlagen muß, und der Mythos tritt mit einem Ernste vor sie hin wie nie vorher, seit er in unserem Altertum aufgehört hat, unser natürlicher Ernst zu sein. Sein delphischer Charakter, daß er dem Orakel des Traumes verwandt, »nicht redet, nicht verbirgt, aber Zeichen gibt«, bringt es mit sich, daß er jedem auf eben der Ebene von Trivialität und Tiefe perspektivischer Vereinseitigung und Nutzbarkeit Antwort gibt, die der Fragende mit sich an ihn heranträgt. Er ist die Sphinx, die uns immer nur sagen wird, was uns sein Rätsel ist. Unser eigenes Rätsel wird uns in seinem Spiegel als Bild geschenkt – wie in einem Spiegel werden wir uns selbst in ihm sichtbar.

Wir sprechen von ihm immer in unwillkürlichem Blick auf uns selbst, aber er dient uns dazu, das völlig Rätselhafte alles Daseins zu erfassen und aufzuhellen, dessen Vorhandensein die Vernunft sich rastlos bemüht, in Frage zu stellen und wegzuhellen. So bildet der Mythos das notwendige Gleichgewicht zur Vernunft, denn das Dasein ist immer gerade so weitgehend verständlich, wie es rätselhaft bleibt – seine verständliche Helle und sein rätselhaftes Dunkel sind nichts anderes als zwei verschiedene, gleich sinnvolle und notwendige Verhaltungsweisen unser selbst gegenüber dem Wirklichen, wenn wir mit ihm umgehen, zwei Gebärden, ihm gegenüberzutreten und standzuhalten. Beide machen einander erst sinnvoll, eine ohne die andere bleibt taub. Das Wirkliche ist so paradox wie logisch – das eben aber ist der Mythos auch; darum scheint er die einzig adäquate Form, vom Wirklichen zu handeln.

Nachdem einmal die Vernunft als universales Prinzip des All-Ordnens und -Begreifens aufgetreten ist und sich aus ihrem Wesen den Anspruch beigelegt hat, all-zureichend, all- und selbstgenügsam zu sein, bedarf es eines ihr entgegengesetzten Prinzips, um die Alldeutigkeit der Natur des Wirklichen zu retten, um die bodenlose Spiegeltiefe des Daseins wiederzugeben, um das Leben in der souveränen Paradoxie seiner Erscheinung zu ergreifen.

Was der Traum für den Schlafenden ist, bedeutet der Mythos für den wachen Menschen. Wenn der Geist im Bann des Schlafes ruht, wird in den Träumen laut, was nicht Geist ist an unserer Natur, es spricht in Sinn und Bild. So handeln auch die Mythen nicht vom Reich des Geistes, aber des Leibes – vom großen Leib der Welt und vom kleinen des Menschen, der das Gesamtorgan seines Lebens ist. Darum ist der göttliche Stoff, der mythisch alles Leben aufbaut und trägt, die Wasser, das Urelement der Mythen. Wenn einer nach der Göttergestalt fragte, die, uns geläufig, das Wesen des Mythos in sich trüge und darstellte, so wäre es Proteus, der wandlungsfrohe Gott der Wasser, aus denen alle Lebensgestalt steigt und sich nährt, der Herr der Salzflut, die allen Unrat verrotteten Lebens in sich schlingt wie die Ströme ihn ihr zuwälzen, und dabei rein bleibt, indem sie alles in sich verzehrt zu frischem Lebendigen – die Heimat der Ungeheuer und der schimmernden Muscheln.

Von Proteus erzählt Homer in seinem Gedicht, das der Atem der Salzflut durchsprüht:

»Wenn nun Helios hoch an dem Mittagshimmel einhergeht
Dann aus salziger Flut entsteigt der untrügliche Meergreis.
Unterm Wehen des Westwinds, umhüllt von dunklem Gekräusel,
Kommt er und sinkt zum Schlummer in hangendes Felsengeklüft hin!«

Proteus könnte Menelaos sagen, warum er auf seiner Heimfahrt von Ilion nach Sparta an die Küste Ägyptens verschlagen ward und nur widrigen Winden begegnet, die ihm nach zehnjähriger Kriegsmühsal die glückhafte Heimkehr mit Helena wehren. Er könnte ihm sagen, welche Götter er unwissentlich erzürnt hat und wie er ihren Zorn versöhne.

Proteus' Tochter berät den Helden erbarmend am Strande Ägyptens:

»Hierher pflegt zu kommen ein fehllos redender Meergreis, Proteus, göttlicher Macht, der Aigyptier, welcher des Meeres
Tiefen gesamtdurchschaute, ein Untertan des Poseidon.
Wenn du den nur vermöchtest durch heimliche List zu erhaschen,
Er weissagte dir wohl die Fahrt und die Maße des Weges,
Und wie heim du gelangst auf des Meers fischwimmelnden Fluten.
Wohl auch verkündete er, o Göttlicher, wenn du es wolltest,
Was dir Böses und Gutes daheim im Palaste geschehen sei,
Während du fern durchirrtest den Weg so lang und gefahrvoll.«

Das göttliche Wesen, das im Urelement zu Haus ist, durchschaut seine Tiefen, über die der Menschenheld mit seinem Schifflein hinkreuzt, von Wellen verschlagen, vom Wind getrieben und verlassen. Der »fehllos redende Meergreis« kann den Ratlosen beraten, ihm den Weg weisen, wie er heimgelange über die vom Leben der Fische wimmelnde, alles verschlingende Lebensflut. Ja, er verkündet ihm auch, was ihm verborgen ist, weil er nicht bei sich »zu Haus« ist, und was ihn doch zunächst betrifft – leuchtend vieldeutige Worte für den Sinn des Mythischen, den es in uns und um uns gewinnen kann!

Aber das allgestaltige, verwandlungsfrohe Wesen ist nur durch heimliche List zu erhaschen – schwerer noch ist es festzuhalten, in immer anderen trügenden Gestalten liebt es, sich jedem Zugriff zu entwinden. In der amphibischen Gestalt der Robbe, des Warmblüters mit dem Fischschwanz, der unter allen meerischen Tieren den menschlichsten Blick hat, steigt Proteus an den mittäglich besonnten Strand und lagert sich mit seiner Robbenschar zum Schlafen. Menelaos erzählt, wie er mit seinen Gefährten, in Robbenfelle vermummt, ihm auflauerte und den schlafend Hingestreckten überfiel:

»Schnell mit lautem Geschrei anstürzten wir, rings mit den Händen
Fassend den Greis, doch jener vergaß der betrüglichen Kunst nicht.
Siehe, zuerst erschien er ein bärtiger Leu des Gebirges,
Wieder darauf ein Pardel, ein Drache, ein mächtiges Wildschwein,
Floß dann in Wasser dahin und sproßte als Baum in die Lüfte.
Doch unverrückt umschlangen wir ihn ausdauernden Herzens.
Aber als müde ward der zaubernde Greis der Verwandlung,
Da erhob er selber die Stimme und fragte mich ...«

Proteus läßt sich erzählen, was Menelaos dazu trieb, ihn zu fangen. Er läßt sich die Not des Helden klagen und berät ihn, wie er die zürnenden Mächte, die er unwissend durch Versäumen kränkte, versöhnen kann, er weist ihm, wie er wieder heimgelange, und kündet ihm, was sich bei ihm zu Haus begeben hat, soweit es ihn selber angeht. Dann taucht er in die Flut zurück, der er entstieg, ins Urelement, dessen zeitloses Erinnern und bodenloses Wissen, allumspülendes Erfahren und Voraufdeuten er ist.

Was hätte Proteus dem Helden nicht alles künden können: der fehllos redende Meergreis, der in unendlicher Lust der Selbstverwandlung alles von innen kennt, in jeder Haut, in jedem Element zu Haus ist? Aber er will keinen Schüler für seine unendliche Lehre, für das Meer seines Wissens. Er berät nur im nächsten: wie der auf seiner Lebensfahrt Verschlagene glücklich zu sich selbst heimfinde und die Helena seines Herzens, die heiß umkämpfte, von vielen umarmte glücklich heimbringe, wenn er sie wiedergewonnen hat. Was könnte der »zaubernde Greis« dem Menschen alles offenbaren, der ihn zu haschen vermochte? Die Wunder der Tiefe und alle Formen ihres Lebens mit der Sinnbildlichkeit ihrer Gestalten, die Ferne aller Horizonte in Stille und Sturm, purpurne Finsternis und phosphorisches Leuchten – alles Wissen seiner Verwandlungen ohne Ende.

Aber er sagt dem Helden nur das Notwendige, das seine Not wendet, und Menelaos verlangt nicht mehr. Wie der Held zu Proteus, so stehen wir zum Genius unserer Träume und aller Mythen: Wir müssen es uns genügen lassen, daß sie uns weiterhelfen auf der lebenslangen Heimfahrt zu uns selbst, wenn unbewußte Schuld und Versäumnis die Mächte wider uns erzürnte und sie unser Schiff an fremder Küste auf den Sand setzen und nicht freigeben – daß sie uns helfen, nach langem Fernsein in Kampf und Irrfahrt heimzufinden zu uns selbst nach Haus, und Helena, den doppelgesichtigen Dämon unseres Lebens, glücklich heimzubringen, diese Zeustochter und halbe Göttin, die uns als Schicksal zugefallen ist, die trügerisch enteilende, nur allzubereit, uns zu verlassen, in der Ferne zu vergessen und von den Zinnen der feindlichen Burg gleichmütig wie ein Götterbild herabzuschauen, wenn wir zum Kampfe um sie antreten. Nur die Fragen, die uns gerade das Herz abdrücken, Fragen, die wir aus unserer Not zu stellen vermögen, nicht die Unendlichkeit des Wissens, das wir nicht einmal ahnen, um danach fragen zu können, bringen den Genius unserer Träume und aller Mythen zum Reden.

Es ist uns nicht gegeben, bei Proteus zu verweilen, wie er sich nicht bei uns verweilt – nicht gegeben, die unergründliche Tiefe seines Elementes auszuschöpfen, indem wir zeitlos, uns zu seinen Füßen hinhockend, seiner Lehre lauschen. Wir gingen darüber der Welt und uns selbst verloren, anstatt mit unserem Lebensschiff die Fahrt zu vollenden und heimzukehren in unsere Burg, unser Sparta, wir entsänken ganz in Proteus' Element, ins Meer, und lösten uns in den Wassern auf. Wir müßten im Gefolge des Gottes zu den amphibischen Geschöpfen werden, in die wir uns mit heimlicher List verlarvten, ihn auf einen Augenblick zu fangen, und müßten für unser Menschentum ein elementisches Dasein eintauschen.

Das Wort, das Thales in der »Klassischen Walpurgisnacht« dem Homunkulus zuruft:

»Hinweg zu Proteus! fragt den Wundermann:
Wie man entstehn und sich verwandeln kann«

gilt nur für dieses »Menschlein«, das noch kein Mensch ist, sondern einstweilen nur Kunstgebild in der Phiole und das die Reihe der Lebensformen erst von unten auf im nährenden Salzmeer durchlaufen muß, wie das Ungeborene im Fruchtwasser innen.

Menelaos ist es aufgegeben, nach Sparta heimzukehren und an Helenas Seite sein begrenztes königliches Erdendasein zu Ende zu führen; darin wird die rettende Begegnung mit Proteus zur heiligen Erinnerung an ein wunderbares Abenteuer, in dem helfende übermenschliche Macht und menschliche Tüchtigkeit, aneinander sich bewährend, sich unlöslich ins eins verschlangen.

Schlägt man eins der alten unsterblichen Bücher des Abendlandes auf, eine antike Tragödie oder Herodots Historien – immer umfängt einen der besondere Atem, das eigene geistige Licht einer Persönlichkeit. Eine Person, ein einzelner, spricht uns an, mag er immer der erwählte Chor- und Stimmführer einer ganzen Stadt oder der festlich anerkannte Ruhmredner aller griechischen Stämme sein. Das gilt schon von Homer, mit dem unser Europa seine Stimme erhebt, und sie so erhebt wie nie wieder – wie viele Sänger in seinem Schatten verschwunden sind, die ihm die Helden herreichten und die Strophen dazu, seine Gedichte sind nicht wie ein Gewebe vieler Hände mit vielen Mustern; so vieles sie auch verweben in wechselnden Stilen, sie bringen es zu der Einheit der Anschauung und Gesinnung, die eine große Person in ihnen am Werke erweist. Bei uns im Westen war am Anfang die Person, und noch das allgemeinste, überpersönliche Geistesgut der Kultur, ihr Mythos, ist nur in großen persönlichen Prägungen der Dichter und der Bildner lebendig auf uns gekommen.

Ein merkwürdiges Schicksal des mythischen Elements – es stellt die Ausnahme dar, wie Europa den großen Sonderfall unter den Kulturen der Erde bildet. Aber unsere Wißbegier geht ja nicht nach dem alten Indien, das nach Hegel »immer das Land der Sehnsucht« gewesen ist und uns noch als ein »Wunderreich, eine verzauberte Welt« erscheint, um dort die gewohnten Bedingungen auf dem Grunde der Dinge wiederzufinden; wir sind bereit, durch eine verwandelte Welt zu schreiten und uns von ihr verwandeln zu lassen, soweit wir für ihre Magie uns öffnen können.

Der Westen hat Geschichte seit Herodot, und Geschichte handelt von Personen; der Mythos aber schließt Personen aus, er kennt nur Sinnbilder. Nur wessen Persönliches zum Sinnbild geworden ist, kann im Mythos fortleben, wie er geschichtlichem Erinnern zerfließt. Keinem zu eigen und allen gemeinsam webt der Mythos als das wesentliche Element, Welt und Leben zu begreifen, jenseits der Sphäre, in der Person geschichtlich als etwas Herrliches aufgeht und ihre Bahn durchläuft. Im geschichtlichen Westen haben allein die Dichter den Mythos gerettet und beleben ihn immer neu, sie sind die Träger seines Elements durch eine Sphäre, die ihn auszuschließen scheint, und wie weit sie an ihn heranzureichen vermögen mit ihren bildenden Händen, gibt ihnen Rang über die Zeiten weg.

In Indien ist das mythische Element die allgemeine Sphäre, bis an den Rand der Gegenwart, bis in ihre Zersetzung durch die Gärstoffe des Westens. Das Gedächtnis des alten Indien ist mythisch; nur wer dazu taugt, ein Sinnbild abzugeben, kann in ihm haften, so der geschichtliche Krischna epischer Heldenzeit, indem er zum göttlichen Heros und Bringer einer neuen Weltepoche wird, zur Verleiblichung des Allgottes unter den gläubigen Menschen – oder wer wie der Buddha als ein Weiser und Yogin die Person ganz überwindend den Weg über sie hinausweist ins Überpersönliche, Gotthafte an Mensch und Welt: ins Jenseits des Ich tief innen, und außen jenseits aller gestaltigen Welt.

Aber der Person, dem Ich, dieser gebrechlichen Endlichkeit, die Ewigkeiten lang nicht gewesen ist und wie bald nicht mehr sein wird, weiht Indien keine Erinnerung. Gedächtnislos wie die Natur läßt es die Könige und was sonst prunkt samt Reichen, Bauten, Namen hinrauschen wie falben Blättersturz, der wieder Erde wird. Aus den Berichten fremder Völker, der Griechen, Chinesen und Araber, tragen westliche Gelehrte, geschichtlich interessiert, im Schatten ihrer Bibliotheken das Zuverlässigste geschichtlicher Erinnerung über Indien zusammen – was Indien selbst für ihr Mosaik beisteuert, spendet es aus den Schätzen seiner vergessenden Gleichgültigkeit. Weihinschriften an Tempeln, die, für Weltalter erbaut, ihren fürstlichen Stiftern Weltalter in Götterhimmeln verbürgen sollten, zeugen schattenhaft – nicht von Geschichte, nur von Herrschern, die waren und um die Geschichte war, die sich selbst vergessen hat. Aus Schenkungsakten an Tempeln und Brahmanen, deren metallene Urkundplatten heut der Pflug des Bauern aus langer Ruh im Grab der Erde wirft, steigen verschollene Dynastien, Namen von Königen; ihre frommen Werke raunen noch von ihnen, indes die Mutter Indien, die sie trug und ihnen wechselnd frondete, sie wie Staub zwischen den Fingern aus ihrem Gedächtnis rieseln ließ.

Das Leben, das dem Mythos gemäß ist, webt, wie jenseits von Person und Geschichte, auch jenseits jener Sicht der Welt und ihrer göttlichen Kräfte, mit der das Alte Testament anhebt: wo der Geist als ordnend allmächtiges Prinzip des Göttlichen sich der Dumpfheit und Starre des Stoffs der Welt ganz und gar entrungen hat, über den Wassern des Lebens schwebt und brütet, aus ihnen nach seinem Willen Sphären und Gestalten bildet und aus dem Nichtsein das Licht ruft mit der reinen Geisteskraft der Sprache, die Dinge beim Namen nennt, und sie sind. Der Mythos handelt von der Weltfülle als einig vielfältigem Leben göttlicher Mächte, ehe die ursprüngliche Einheit sich in die gegensätzlichen Prinzipien von Geist und Stoff zerfällt und dem Geist die Palme reicht. So sehr wir die beiden Prinzipien sondern mögen, mit deren Scheidung der Geist sich selber fand und als Macht über den Stoff setzte – sie sind ewig eins; das erfahren wir an uns selbst als dauerndes Geheimnis unseres Daseins. Der Mythos handelt von der Natur – von dem in uns, darin wir nicht Person sind, die sich geistig erhellt; er handelt von der Welt als Natur, soweit sie nicht Menschenwelt ist und auf des Menschen Geist bezogen und von ihm gemeint und für ihn bereitet ist – aber soweit sie das große zeitlose Ungeheuer ist, das sich selber lebt und uns nicht zu gewahren scheint, indem es uns in seinem Bauche trägt, uns hervorbringt, nährt und verschlingt.

Daß die Mythen aus dem Jenseits von Person und Geist stammen, macht sie zu Geschwistern der Träume. Bei den Griechen wurde ihr Stoff in der Zeit geschichtlicher Personen vom wachen Geist gestaltet zu großer Dichtung; einmalige Kräfte einzelner stilisierten ihn zum Ausdruck besonderer Weltdeutung und Gesinnung geschichtlichen Augenblicks; aber im Strome indischer Überlieferung treiben die Mythen näher ihrem traumhaften Urzustande einher. Auch in Indien dient der Mythos der Weltdeutung und Menschenführung, tröstender Weisheit und ordnender Lehre, aber er legt im einzelnen nicht Zeugnis ab für das Antlitz einer Person, das sich gestaltend über ihn neigte und sein Metall nach den eigenen Zügen prägte, wie bei den großen Dichtern der Tragödie. Das ganze Volk fand sich in ihm, ihn hörend und erzählend, und ihn lebend formten alle unwillkürlich an ihm. Davon haben die indischen Mythen das verfließende Tiefendunkel der Träume an sich bewahrt, das sich nach unten in ein Bodenloses bildhafter Sinnbezüge öffnet. Sie sind so ungebändigt und so maßlos in sich verwoben, gestaltlos vor Gestaltenfülle, spielerisch und gewaltig, sinnhell und undurchdringlich zugleich wie nur Träume.

Sie sind erinnerungsträchtig und gedächtnislos wie Träume: was schon da war, kommt nochmals zum Entstehen, schon Besessenes wird neu erworben, Getanes scheint auf einmal unvollbracht, und was schon nahe war, naht sich von fern. Geschehenes hebt von vorn an und wiederholt sich doch nicht ganz, wie im verfließenden Gange der Träume selten etwas Endgültiges geschieht – die innere Weberin trennt spielend auf, was sie gewoben hat, und verknüpft Zertrenntes neu. Der ganze indische Mythos ist wie von einem Gott geträumt, dem nichts wirklich geschieht, indes seine innere Fülle ihn als Welt in immer anderen Bildern und Vorgängen umspielt.

Hier ist alles bei allem, und alles wird zu allem in freiestem Verwandlungsspiel – wenn auch nicht sinnlos willkürlich in jedem Augenblick des Ablaufs, so doch in der Möglichkeit, die in jedem Augenblick die Atmosphäre füllt und als ein Ungeheures in ihm lauert. Es fehlt die Grenze der Besinnung und die Absicht auf eine fest umrissene, eindeutig verharrende Gestalt; hier schaltet grenzenlose Freiheit bildnerischen Spiels in fließendem Element. Der Vorgang der Gestaltung steht jenseits der Notwendigkeit, die Gebilde in ausgewählten, einzig bedeutsamen Konturen zu verdichten, wie sie das wache Tun des Künstlers beherrscht bei aller Hingegebenheit an den quellenden Grund seiner Gesichte. Überquellend an künstlerischen Mitteln des Schilderns und Sagens im einzelnen weben diese Mythen jenseits der noch im Rausch hellsichtigen und besonnenen Dichtung, sie weben in der besinnungslosen Hingabe des Träumers oder des Sehers und Rasenden, die ein Ausbruch des inneren Kraters mit quellenden Wolkengestalten, wogenden Schwaden von Gesichtern befängt.

Wie löst hier alles einander ab in traumgleichem Fließen: atemraubende Bewegung und stockende Kleinlichkeit; aus blankem Nichts ballt sich ein tobendes Gewühl, über ein Meer beklemmender Angst rudert Pedanterie wie in einer Barke von schimmerndem Blech unangefochten einher; das Schale drängt sich neben das Sinnreiche, das Undurchsichtige liegt neben dem glühend Durchscheinenden, schwimmt nah und dunkel im gelösten Glast erleuchtender Fernen. Aus dem Trivialen bricht blitzend das Bedeutende hervor und verzischt ins Gewölk des Phantastischen. Das alberne Genaue, das sich Wissen dünkt, spreizt seine scharfgezackte Zwergform vor die Riesenschatten schwindelerregender Ahnung, vor das Wallen und Brauen hintergründiger Trächtigkeiten. Wer sich am Rand des Kraters unserer eigenen vulkanischen Tiefe seine Hütte bauen mag, ist hier zu Haus; dies ist das Reich der tiefen Träume, aber nicht der Träume einzelner – es sei denn, sie webten im ganzen – hier sind die Schicksalsträume eines Erdteils, über den Völker in Wellen hereinbrachen und miteinander verschmolzen.

Aber Mythen kann man sowenig wie Träume schildern – man kann sie nur wiedererzählen, dann erhellen sie sich selbst, soweit eben Träume sich erhellen und sich deuten lassen. Es ist im Leben ja auch wichtiger, Träume, die einem kommen, auf sich wirken zu lassen, indem man sie still festhält, immer wieder betrachtet und mit ihnen wie mit Geistern lebt, als daß man sie weitersagt, um sie nach einem Schema zu erklären und einen Bodensatz an Bedeutung aus ihrer gestaltigen Flut niederzuschlagen. Es gilt, die »Alten Überlieferungen« (Purana) indischen Glaubens und Lebens mit ihren Mythenschätzen aufzublättern, um ihre Traumbilder göttlicher Gewalten und Weltschicksale in unsere Sprache umzuschreiben.

Diese Träume Indiens, so fremd ihre Namen und Gestalten, ihre Sphären und Gebärden uns anmuten mögen, sind mehr als bloße Ausgeburten der indischen Tiefe. In einem großen Sinne sind es auch unsere eigenen Träume, sind Gesichte, die unsere eigene Schicksalstiefe spiegeln und aufhellen. So verschieden die Menschen über die Erde hin scheinen, so verwandt sind ihre Träume einander in allen Breiten und Zeiten. Ein Zeitloses wird in ihnen laut und wird in ihrer Bilderschrift allen greifbar. Was sich zu ihnen deutend anmerken läßt, kann bestenfalls wie ein Echo-Lot sein, dessen Klang die Meerestiefe kündet, die sein Blei nicht erreicht. Man muß mit Mythen leben, dann erfährt man wohl ihren Sinn – immer wieder einen anderen, jeder seinen anderen.


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