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Im etruskischen Museum zu Volterra befindet sich eine merkwürdige Kleinbronze aus den Gräberfunden der alten Stadt; sie hält den Blick fest, wenn sie ihn einmal gefangen hat. Es ist eine Figur von übertriebener Länge und Schlankheit; ein Traumgebilde: unwahrscheinlich und nicht fremd. Sie überragt die anderen Gegenstände, die der Wandschrank in Regalen schichtet, Spiegel und Kleinbronzen, alle um ein Vielfaches, sie überschneidet Regal um Regal; wie eine schlanke Rauchfahne hebt sich ihre unsinnliche Nacktheit aus schmälsten Füßen in einem Wachsen, das nicht enden will. – »L'ombra dell'uomo nella sera«, antwortet der grauhaarige kleine Kustode auf den fragenden Blick – »Der Schatten des Menschen am Abend«. Der Schatten des Menschen ist seine Seele; am Abend seines Lebenstages, wenn die Sonne ihm sinkt und alle Schatten länger fallen, erhebt sich sein Schatten überlang aus ihm und wächst immer weiter in die Dämmerung hinaus, die Dämmerung umwächst ihn, überwächst ihn, und, mit ihr verschwimmend, verschmilzt er in die Nacht des Todes, aus der er einst in seinen Lebensmorgen trat: die Mütterliche nimmt den Dunkeln heim in ihren dunklen Schoß.
Mit Krischnas Hingang wachsen die Schatten der Dämmerung über den Himmel des indischen Mythos; Schiva, der Asket mit der Schädelschale als Trinkgefäß, im Knochenschmuck, den nackten Leib mit der Asche von Scheiterhaufen bepudert, beherrscht das End-Weltalter: der Friedebringer und Erlöser mit den Zeichen des Todes. In seinem vieldeutigen Zwielicht wächst der Mythos aus seiner gestaltigen Kraft ins konturlos Verblassende, er verschwimmt im Dunkel, das ihn riesenhaft überwächst – das er, im Riesenhaften ermattend, ergreifen will, und als dessen Grenzenlosigkeit er sich begreift.
Der erhabene Vischnu sprach: »Es war ein all-eines Meer, furchtbar und unzerteilt, aus Dunkel gebildet. Mitten darin lag ich, das ewige Wesen, mit meinen Waffen in Händen, mit tausend Köpfen und Augen, tausend Füßen und Armen. Da sah ich in der Ferne gewaltig leuchtend, wie Myriaden Sonnen strahlend, den Gott, den die Veden als Herrn preisen: Brahma, von großem Yoga voll, mit vier Gesichtern: die gestaltende Ursache der Welt. In einem Nu war er bei mir, der Höchste der Yogakundigen sagte voll großen Glanzes lächelnd zu mir: ›Wer bist du? Woher bist du? Was weilst du hier? Das sag mir, denn ich bin der Schöpfer der Welten, der Ältervater, der aus sich selbst entstanden ist.‹
Als Brahma so zu mir sprach, sagte ich: ›Ich bin der Schöpfer der Welten und ihr Vernichter Mal um Mal‹ – so breitete sich Hader zwischen uns beiden dank der Maya des Allerhöchsten. Um uns beide zur Erkenntnis zu wecken, erschien ein unvergleichliches Lingam: Schiva ist sein Wesen. Es sah wie das Feuer des Weltuntergangs aus und lohte rings von Flammenkränzen, es ward nicht kleiner und nicht größer, es hatte keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende. Da sprach Brahma zu mir: ›Geh du geschwind abwärts, ich will aufwärts gehen, wir wollen ausfinden, wo sein Ende ist‹ – so sprach der Ungeborene, und so wurden wir schnell einig und gingen: der eine aufwärts, der andere abwärts. Aber wir konnten beide ein Ende nicht ausfinden, und so trafen wir uns wieder. Wundern überfiel uns, und wir fürchteten uns vor Schiva. Von seiner Maya verblendet, sammelten wir uns in innere Schau auf den Herrn, den All, und riefen feierlich den großen Ruf, die Silbe OM, das höchste Wort, legten unsere Hände betend zusammen und priesen den Höchsten, den Friedebringer:
›Anbetung dem Friedebringer, dem Arzt für das Leiden des kreisend sich immer erneuernden Lebens, des Wurzel ohne Anfang ist: Schiva dem Friedevollen, dem Brahman, dessen Gestalt das Lingam ist! Anbetung ihm, der im Meere der Weltauflösung weilt, der das Entstehen der Auflösung bewirkt, der einem Flammenkranze gleicht und die Gestalt einer Feuersäule hat. Anbetung ihm, der ohne Anfang, Mitte und Ende ist, fleckenloser Glanz, stoffliches Urwesen der Welt, dessen Gestalt der unendliche Raum ist. Anbetung dem Wandellosen, Wahren voll unvergleichlicher strahlender Kraft, dessen Gestalt die Zeit ist: Schiva, dem Friedevollen, dem Brahman, dessen Gestalt das Lingam ist!‹
Als wir den Großen Herrn priesen, offenbarte er sich, der große Yogin strahlte, er leuchtete wie Myriaden Sonnen, es war, als schlänge er den Himmelsraum mit seinen Myriaden Mündern. Er hatte tausend Hände und Füße, Sonne und Mond waren seine beiden Augen; ins Antilopenfell, den Schurz des Yogin gewandet, hielt der Erhabene den Bogen in Händen und führte den Dreizack, eine Schlange war die Opferschnur, die ihm um Schulter und Hüfte lief, und seine Stimme war wie Wolkenpauken. Er sprach: ›Ich bin erfreut, ihr beiden Besten der Götter! Schaut mich, den Großen Gott, an und laßt alle Furcht fahren! Vorzeiten seid ihr aus meinen Gliedern erzeugt worden, ihr Ewigen: Brahma, der Ältervater der Welten, in meiner rechten Seite, und in meiner linken Vischnu, der Erhalter, in meinem Herzen aber Hara, der die Welt vernichtend zusammenrafft. Ich freue mich wahrhaft an euch beiden und schenke euch, was ihr euch wünscht.‹
So sprach der Große Gott, und Schiva selbst umarmte mich und Brahma, und war voll großer Gnade. Da fielen Vischnu und Brahma frohen Sinnes vor ihm nieder und sprachen, in sein Antlitz blickend: ›Wenn du uns eine Gabe schenken willst, so wollen wir ewig dir, dem Großen Gott, ergeben sein.‹ – Da lachte der erhabene Herr auf und sprach freundlich zu mir: ›Du, Herr der Erde, vollziehst Auflösung, Bestand und Entfaltung der Welten – Kind, Kind, Hari, schirme alles umher, was geht und steht. Ich bin zweimal gespalten durch die unterschiedlichen Kräfte der Weltentfaltung, Welterhaltung und Weltauflösung unter die Namen Brahma, Vischnu und Hara, und bin dabei doch unterschiedslos, aller schminkenden Färbung bar. Laß fahren deinen Wahn, o Vischnu, und gewähre dem Ältervater Brahma deinen Schutz, denn er wird dein ewiger Sohn sein, und ich werde, Gestalt eines Gottes tragend, zu Weltalters Beginn aus deinem Munde geboren werden. Mit dem Spieß in Händen werde ich, aus deinem Zorn geboren, dein Sohn sein.‹
So sprach der Große Gott und bezeigte Brahma und mir seine Güte und verschwand daselbst. Seit jener Zeit ist die Verehrung des Lingam in allen Welten wohlbegründet. Das Lingam ist das Brahman, ist höchster Leib des Brahman, das eben ist das göttlich-große Wunderwesen am Lingam, davon wissen yogakundige Götter und Dämonen nichts. Denn das ist die höchste Erkenntnis, unentfaltet, nach Schiva benannt; mit ihr schaut, wer das Auge der Erkenntnis besitzt, das unwahrnehmbar Feinste, das Unausdenkbare.«
Sulpiz Boisserée erzählt, wie Goethe ihm auf ihrer gemeinsamen Reise 1815 in Darmstadt, als er ihn mittags zu Hofe begleitete, im Gehen die »Entstehung des Lingam« erzählte: es sei unendlicher Geist und Weisheit in den indischen Sagen, er verehre sie sehr hoch. – Aus seiner Abneigung gegen die indische Kunst fügte er freilich hinzu: Aber nur müßte er ihre Bilder nicht dabei sehen, die verdürben gleich die Phantasie bis zum Verfluchen! Die Erscheinung des kosmischen Lingam ist ein geläufiges Thema südindischer Plastik, und diese macht die erstaunliche Selbstoffenbarung Schivas in dem riesigen Gebilde, das unergründlich aus der Tiefe ins Grenzenlose aufwächst, anschaulicher, als der etwas kahle Bericht des Mythos: als eine flammenumkränzte Säule ragt es mächtig auf, indes die beiden Götter sich vergeblich tummeln, seine Wurzeln in der Tiefe des Weltmeers drunten, sein Ende droben im Weltraum auszufinden: Brahma schwingt sich als Schwan in die Höhe, während Vischnu als Eber sich in die vertraute Tiefe stürzt – umsonst, sie erreichen die Enden nicht. Indessen birst die Haut des gewaltigen Dinges, und Schiva offenbart sich als sein Kern.
Der handgreiflichste Zweck dieses Mythos ist die Einführung des Lingamkultes aus vorarisch-alter Tradition in die brahmanisch-hinduistische Überlieferung: Vischnu selbst wird bestellt, was die Veden und ganze Zeitalter nach ihnen bekämpften, endlich heiligzusprechen und das Lingam als geheimnisvollste Offenbarung des höchsten Gottes zu lehren. Das Lingam »ist das Brahman«, es ist sein »höchster Leib«. Das ist das »göttlich-große Wunderwesen« am Lingam, davon wissen freilich selbst yogakundige Götter nichts: Vischnu und Brahma selbst sind der Offenbarung bedürftig. Die phallische Erscheinung in kosmischer Größe und reiner Materialität ist der höchste Leib der stofflos lautersten Kraft, des Brahman, die als Inbrunst und Ziel alles Aufschwungs nach Erkenntnis des Innersten erfahren wird. Es ist das All-in-Eins der Kräfte, die im Weltspiel weben, der entfaltenden, erhaltenden und wegraffenden Dreiheit Brahma, Vischnu und Schiva als Hara, der »Wegraffer«. Am Weltriesen Vischnu war Brahma in der Lotosblüte seines Nabels die demiurgische Gebärde und Schiva die furchtbare Maske, unter der er die müdgewordene Welt in sich zurücknahm – jetzt offenbart sich Schiva als der Allumgreifende: Brahma entsprang seiner einen, Vischnu der anderen Seite, aber sein Herz, seine Mitte, ist der wegraffende Tod. Das Wissen des letzten Weltalters ist: Entstehen und Bestand sind Facetten des Todes; das Zeichen aber, unter dem sich die Einheit der drei offenbart, ist das Symbol der Zeugung.
Die weltentfaltende und die welterhaltende Kraft begegnen sich im Urmeer und prahlen gegeneinander, wer die höhere, die frühere Kraft sei; trunken von der eigenen strahlenden Herrlichkeit wähnt jede aus sich selbst zu stammen und in sich selbst zu beruhen – das eben ist ihr Verfallensein an die eigene Mayanatur; da wächst jählings das Ungeheuerliche herauf, aus dem Unergründlichen in die grenzenlose Weltnacht, es loht umkränzt vom Flammenfeuer der Vernichtung, es trägt die Gestalt des Zeugenden und ist die Offenbarung des Wegraffend-Tödlichen. Die zerreißende Einheit zwischen Zeugen und darin Versterben, jenes Münden in eine allerfüllende Auflösung, ein Zerspringen der Maya von Ich und Du jenseits des Gegensatzpaares von Lust und Schmerz, aus dem alle Maya der Empfindungssphäre gewoben ist, dieses blitzende In-Eins der Gegensätze, aus denen der Ring des Lebens zusammenschießt: schlichtes Erlebnis der Liebenden, aber in Indien dröhnend und feierlich als Mysterium geformt, ist der naturhaft-weltweite Grund dieses Symbols; es nimmt seine dunkel vielsagende Tönung aus dem Erlebnis, wie der Tod ins Lebendige des Lebens verschlungen ist, wenn sich das Leben des Lebens wahrhaft begibt: wie er als leidlos tiefer Atemzug aus dem elementarsten Rausche des Lebens haucht.
Die religions- und kultgeschichtliche Leistung des Mythos: daß er neue Rangordnungen unter Göttern wirkt, ihre Plätze vertauscht und neue oder uralte Erscheinungen und Kulte heiligspricht, die auf Anerkennung harren, ist in den Schivamythen besonders greifbar. Es hat augenscheinlich eines langen Ringens bedurft, all die unheimliche Substanz, die sich von je an Schiva hängt, erträglich, ja heilbringend notwendig zu empfinden und mit ihm in die gültig-heilige Welt des Brahmanismus hineinzunehmen. Was die arischen Veden mit ihm aus dem inneren Bezirk ihres Göttlichen ausgrenzten, konnte erst nach vielen wechselnden Zeitläuften sich mählich Duldung und Geltung, schließlich Macht und Vorherrschaft erringen.
Schiva trägt die blauschwarze Farbe der Verwesung und die rote des vergossenen Blutes, sein Gefolge sind Geister, Gespenster und Leichendämonen, die sich auf Schlachtfeldern und Richtstätten und, wo die Toten verbrannt werden, am Blut und Fett der Leichen mästen, ihr Fleisch fressen und ihnen das Mark aus den Knochen saugen. Seit alters ist er der wilde Jäger des Dschungels, er führt den festen Bogen und die schnellen Pfeile, er sendet das Fieber und tötet Mensch und Tier, er heißt der »Herr der Tiere« und ist der dämonische Herrscher der Wildnis und ihrer Geschöpfe. Die springende Gazelle auf der Linken ist ein Zeichen seiner Kultfiguren, verknotete Schlangen bilden seine Opferschnur um Schulter und Hüfte, er hat das Tigerfell zu Schurz und Sitz als göttliches Vorbild den irdischen Asketen gegeben: es bezeichnet ihn als Bezwinger des furchtbarsten Tieres des Dschungels. Er ist die göttlich verkörperte Wildnis mit all ihren Schrecken, wie sie, in sich selbst versteckt, rings die den freundlichen Göttern unterstellte Dorfflur der Menschen unheimlich belauert und umleckt. Sein alter Name ist »Rudra«, der »Brüller«, er wird »Schiva« der »Gütige« genannt, weil er so schrecklich ist – begütigend wendet man sich an seine Gnade.
Die vedisch-brahmanische Religion gewährt ihm keinen ebenbürtigen Platz im Kulte Seite an Seite mit den anderen Göttern; an der Grenze ihres Schutzbereiches, außen an der Dorfmark, wird ihm geopfert: der Unheimliche wird nicht hineingelassen ins götterbeschirmte Menschendorf, geschweige denn feierlich herbeigerufen und eingeladen wie die anderen Götter, im Opferbezirk unsichtbar Platz zu nehmen. Draußen an der Schwelle wird er abgefunden wie ein nicht geheurer Fremdling, ein unwillkommener Bettler, den man nicht ins Haus läßt, nicht zum Mahle bittet.
Der Mythos erzählt – über die Zeiten hin in wechselnder Form –, wie er vom eigentlichen Götteropfer ausgeschlossen, gewaltsam in die Feier einbrach: er verfolgte das Opfer, das in Gazellengestalt vor dem Jäger floh, und der Schütze traf es mit seinem Pfeil; der vedische Gott Savitar soll seine goldenen Hände, mit denen er unvergänglich alle Welt antreibt, ihre Bahnen zu ziehen, nicht, wie es eigentlich gemeint war, als Zeichen seiner alterslosen Kraft besitzen, vielmehr: Schiva hieb dem Bevorzugten, zum Opferfest Geladenen die Hände ab, als er ins Opfer einbrach, darum trägt Savitar goldgefertigte zum Ersatz. Der zahnlose Puschan, ein alter Gott der Wege und Herden, in Namen und Wesen der indische Bruder des griechischen Pan, ward angeblich erst zahnlos, weil Schiva ihm die Zähne ausschlug, als er sich am Mahl des Opfers wohl sein ließ.
Aber der Grausame ist auch der Rächer gestörter Ordnung, der Erbarmungslose kann vollbringen, wovor den übrigen Göttern schaudert: der »Herr der Ausgeburten«, der Ältervater und Schöpfer aller Wesen, verführt im vedischen Mythos die eigene Tochter, das Mädchen Morgenröte; da rufen die Götter Schiva, den Frevel des Inzests zu strafen, und er trifft den Vater aller mit seinem Pfeil. Die Rolle des »Herrn der Ausgeburten« fällt im späteren Mythos verschiedenen Gestalten zu, vor allem Brahma und Vischnu, und die Schivamythen erzählen gern, wie beide, von Schivas Maya verblendet, sich wahrhaftig für den Ursprung aller Welt nehmen und miteinander streiten. Um seine Erhabenheit über alle Welt kundzutun, treibt Brahma über seine vier Gesichter, die in alle Weltrichtungen blicken, ein fünftes, überweltliches hervor: der große Demiurg und innerweltliche Walter maßt sich selbstbefangen Jenseitigkeit von der Maya an, deren reinste Kraft er ist. Aber wie einst am »Herrn der Ausgeburten« ahndet Schiva mit einem blutigen Streiche seinen Frevel an der ewigen Ordnung. Damit ist der Abseitige unter den Göttern der größte Verbrecher; er schlägt Brahma das Haupt ab: er verwundet den Brahmanen unter den Göttern und lädt die Blutschuld auf sich, die unter Menschen und Göttern als schwerste, unsühnbare gilt: das Blut eines Brahmanen zu vergießen.