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II

1. Mutschukunda

Ein König schlummert im Berg, im Dunkel seiner Höhle schläft er langen Schlaf – das gibt es in Mythen und Sagen mancher Völker. Aber was senkte ihn in Schlaf? Was hieß ihn Schlummer finden, statt wachzubleiben in königlichen Taten? Was hält ihn schlafend, und was weckt ihn wieder? Was wird geschehen, was wird er tun, wenn er erwacht? – Die Antwort auf diese Frage ist vielstimmig. Die mannigfache Prägung, die diese alte Münze im mythischen Schatze der Völker erfährt, der Sinn, der ihr in immer anderen Räumen und über die Zeiten hin wechselnd aufgeprägt wird, gibt ihr Symbolwert; er erhält sie, oft abgegriffen und verdunkelt, aber immer auf alte oder neue Weise lesbar, in Kurs bei den Lebendigen, und die Prägung solcher Münzen lesen heißt das Geheime eines Volksgeistes und seiner Kultur, seine Haltung zum Leben, zu seinen Mächten und Werten an der Wurzel ergründen oder mindestens anleuchten.

Indien erzählt sich den Mythos vom Könige Mutschukunda, dem vorzeitlichen Helden, der über Weltalter hin in einer Höhle schlief. Sein Vater Mandhatar kam auf wunderbare Weise zur Welt und ward vom Götterkönige Indra selbst mit seinem göttlichen Finger genährt; zu indragleicher Größe unter den Königen der Menschen bestimmt, sog er sich an dem Zeigefinger des Gottes groß, denn keine Mutter nährte ihn, da er von keiner Mutter kam. Ihn mußte sein Vater hundert Herbste lang austragen, bis er ihm aus der linken Flanke brach: der Kinderlose hatte versehentlich das Zauberwasser ausgetrunken, das Priester für seine Frau bereitet hatten, auf daß sie fruchtbar werde. In jenen Jugendtagen der Welt gingen noch Götter und Menschen leibhaft beieinander ein und aus, und weise Seher, die ins Geheimnis der Kräfte schauend wirksame Sprüche, neue mächtige Bräuche fanden, und zaubernde Priester voll asketischer Glut halfen den Göttern die Herrschaft gewinnen. Denn der Anfang der Welt ist gewaltig und ungeklärt, noch sind die Götter nicht wahrhaft die Walter der Welt: »Unsterbliche« und »Himmelbewohnende«; sie ringen mit ihren titanischen Halbbrüdern vom gleichen Vater her, vom »Herrn aller Ausgeburten« (Praja-pati), dem urwesenhaften Schildkrötenmann (Kaschyapa), um den göttlichen Rang, und Menschen helfen diesen wie jenen. Schließlich sind es die Götter, die glückhaft den Aufstieg zur weltordnenden Macht vollbringen, sie ersteigen den Rücken des Himmels, sie gewinnen die Sonne, den Hort unvergänglichen Lebens, sie trinken den Trank der Todlosigkeit (Amrita, Ambrosia). Wie Zeus die Titanen schlägt und die Götter der Edda die Riesen besiegen, meistern sie ihre Rivalen, sie erniedern die rohe Kraft, die ihnen überlegen entgegensteht, durch ihre List und Anschlägigkeit zur Dämonie widergöttlichen Wirkens.

Aber in ihren Schlachten gegen die dämonischen Widergötter bedürfen sie des heldischen Beistandes der Menschen wie ihrer priesterlichen Zauberkunst; Seite an Seite mit Indra und den Göttern stehen bogengewaltige Könige auf ihren Streitwagen. Ein solcher Held, der vorzeiten den Göttern siegen half, war Mutschukunda. Als der Sieg errungen war, gaben die Götter ihm einen Wunsch frei: was immer sie schenken konnten, durfte er sich wünschen. Da wünschte er sich – vom Kampf ermüdet, wie es heißt – zu schlafen ohne Ende. Wer aber seinen Schlaf störe, sollte vom ersten Strahl aus den Augen des Erwachenden zu Asche verbrennen.

Sein Wunsch ging in Erfüllung. Er schlief drei Weltalter lang in einer Höhle; erst als das vierte, letzte, heraufdämmerte, und der Allgott Vischnu im heldischen Erlöser Krischna zur Erde niedergestiegen war, die dämonischen Kräfte der Welt zu bekämpfen, die sich in menschliche Unholde und menschenplagende Ungeheuer verlarvt hatten, und um dem letzten Weltalter seine Heilsordnung in der Bhagavadgita zu künden, ward Mutschukunda aus seinem Schlaf gestört.

Siegreich über Dämonen in vielerlei Gestalt, hatte Krischna aus verborgenen Anfängen sich eben zum führenden Helden des Geschlechtes erhoben, das der Allgott dieses Niedersteigens in die Menschenwelt gewürdigt hatte, als er sein Volk von Barbaren aus dem Nordwesten bedroht sah. Er überwand sie, wie es seiner göttlichen Natur gemäß ist, spielend: mit einer List. Lotosbekränzt und waffenlos, der neu wachsenden Mondsichel gleich, trat er aus seiner festen Stadt und lockte den feindlichen Heerkönig, ihn zu fangen. Er floh vor ihm und lockte ihn in eine Höhle – da fand der König einen schlafend liegen und dachte: hat er mich so weit gelockt und spielt jetzt den harmlosen Schläfer? und gab dem, der dalag, einen Fußtritt. Da richtete sich Mutschukunda aus weltalterlangem Schlafe auf und öffnete langsam die Augen. Sein Blick durchmaß den Raum und fiel auf den, der dastand: der lohte in Flammen auf und sank in Asche zusammen.

Dann traf Mutschukundas Blick den Allgott in Menschengestalt, der sich vor seinem Verfolger spielend versteckt hatte, und er erkannte ihn, alter Weissagung eingedenk, an seinem Strahlenglanze. Er fand sich selbst erwacht, wider Willen aufs neue dem ziellosen Spiel der Geburten preisgegeben, dem sinnlosen Wechsel von Verlangen und Verlust, den trügerischen Freuden des selbstbefangenen Ich und seinen Verzweiflungen, aus denen die Maya des Gottes endlos flimmernd sich webt. Jetzt wird der Sinn seines Wunsches, zu schlafen ohne Ende, offenbar: es war nicht die Ermüdung von kosmischen Kämpfen und Siegen, an denen er glorreich teilhatte, die ihn gottgleichen Glanz und Weltgenuß verschmähen hieß. Vor dem wissenden Blick des Lebens auf seine Endlosigkeit im Spiel mit Lust und Qual in ziellosem Wechsel enthüllt sich, warum er schlafen wollte, indes Welt spielt und Zeit verrinnt, und in Asche wandeln wollte, wer ihn zu wecken wage. Er spricht zum Gott: »Seit Ewigkeiten irre ich im Ringe dieses Samsara umher, und Glut aller Leiden überwältigt mich, und nirgendwo fand ich Aufhörens Ruh. Leiden hielt ich für Freuden, Luftspiegelung überm Wüstensande dünkte mich erquickendes Gewässer, ich griff nach den Freuden, und sie brachten mir Qual. Königsgewalt und Besitz der Erde, Macht und Reichtum, Freunde und Söhne, Gattin und Gefolgsleute und alle Sinnendinge – alles ergriff ich, weil es mir Freude dünkte, aber es wandelte sich, sein Wesen ward quälende Glut. Ich erlangte, in die Schar der Götter aufzusteigen, und die Schar der Götter wollte mich zu ihrem Gesellen – wo war da ewigen Aufhörens Ruh? – Von deiner Maya, Herr, betört, geraten die Wesen in Geburt, Alter, Tod und alle Leiden, dazwischen schauen sie den Gott der Toten und finden in den Höllen unerbittliches Leiden, allgestaltiges – es kommt von dir. Von deiner Maya verblendet bin ich der Welt ganz verfallen, am Grunde der bodenlosen Fallgrube des Ichtums irre ich umher – so fliehe ich zu dir, dem Uferlosen, Anbetungswürdigen, mich verlangt, von alledem frei zu sein.« –

Der fürstliche Schläfer im Berg ist bei uns Deutschen der heimliche Kaiser, er trägt die Züge des heidnischen Allvaters, den das christliche Kreuz in unterweltliche Höhle verbannte, indes seine weisen Raben den Berg umkreisen; aber wie ein persischer Held und Heiland der Endzeit soll er gewappnet und schimmernd hervorgehen, wenn die Zeit erfüllt ist, zerrissenes Wirrsal bezwingen, ein ideales Reich der Kraft und Einheit errichten. Ein böser Schicksalsbann hält ihn wider Willen in freudlosem Schlaf, wann kommt seine Zeit? Was melden die Raben? – Und durch die Unrast dieses Schlummers geistert das Traumbild einer Kaiserkrone: »Königsgewalt und Besitz der Erde.«

Indiens lebenssatter Schläfer und jener ausgeträumte Kaisertraum des alten Deutschlands: zwei Münzen mit verwandtem Bild, ein vorzeitlicher König im Berge schlummernd, doch wie verschieden die Umschrift! Aber die indische haben wir auch, als Umschrift um die Figur des jungen Dänenprinzen bei Shakespeare:

... Sterben: Schlafen,
Nichts weiter! – Und zu wissen, daß ein Schlaf
Das Herzweh und die tausend Stöße endet,
Die unsres Fleisches Erbteil – 's ist ein Ziel,
Aufs innigste zu wünschen. Sterben, Schlafen!

In Hamlets Maske betritt der moderne Mensch die Bühne; in seinem Jugendalter des 16. Jahrhunderts wählt er sich diesen jungen Menschen im Entwicklungsalter als sein Sinnbild.

Hamlet ist ja ein Student – Student von Wittenberg –, Horatio, der Römer, ist sein Studienfreund auf dieser internationalen Universität und kommt vor dort, verspätet, zur Leichenfeier des alten Königs, und Hamlet selbst verschwände, wenn das Spiel anhebt, am liebsten wieder nach dieser Hohen Schule, wo ein halbes Jahrhundert vor Shakespeare der moderne Mensch sich dem Mutterschoße der Kirche entrang, um mutterlos und abgenabelt, auf sich selbst und seinen Geist gestellt, in seine neuen Fernen aufzubrechen. Zwar sagt jener Totengräber, der den Schädel des alten Hofnarren Yorick ausgräbt, der sei schon dreiundzwanzig Jahre in der Erde gelegen, und Hamlet, der den Schädel betrachtet, erinnert sich, wie der Spaßmacher ihn auf dem Rücken getragen hat, als er klein war – aber er ist doch ganz das genial erschaute Bild eines jungen Menschen in der großen Krise des Entwicklungsalters.

Er ist erfüllt von den Wachstumsschmerzen und vom Lebenskater der Pubertät, von der Todesnähe und der Philosophie schmerzhafter Unbezogenheit auf die Wirklichkeit des Weltlaufs in ihrer gräßlichen Vermischtheit, wie adlig reine Jugend sie wittert, indes der Gewöhnliche sich ans Gewöhnliche so flink gewöhnt. Kaum abgeklungen sind die Wehen der neuen Geburt, an der das Kind in uns sterben muß, diese Krämpfe der Verwandlung, die noch keine Erfahrung erhellen und sänftigen kann, weil keine wesentliche Verständigung möglich ist über die Mächte – Genien und Dämonen –, die unversehens ihren Einzug hielten in das sich weitende Haus des Leibes und die seine kindliche Geschlossenheit auf immer gesprengt haben. Hamlets naturhafte Fremdheit zum Unrat seiner Umgebung hat noch teil an der Hellsicht kindhaft-magischer Stufe; er steht an der Schwelle, auf der das wirkliche Leben (das Leben der »Großen« sagt das Kind) im selbstverständlichen Grauen seiner maßlosen Vermischtheit und verhohlenen Vieldeutigkeit sich spielt, und steht schon schmerzlich jenseits des zauberischen Vorspiels gläubigen Kindseins, das erst halb von dieser Welt ist und ihr unausweichlich Gegenwärtiges, das zwingend Enge des medusischen Augenblicks noch mit der Dämonie und Weite seines Über-Ichs zu überfliegen oder zu sprengen vermag; noch ein Rest jener gläsernen Durchsichtigkeit der Welt umgibt den schon Befangenen, die in der Morgenfrühe des Lebens klar und luftig ausbreitet, was dann verhängt und dicht, mit stofflicher Schwere und andrängender Gewalt den Tag des Reifenden innen wie außen umfängt, ihn zu bewältigen oder von ihm bezwungen zu werden.

Ein Jüngling ohne Weltläufigkeit zu Beginn des Spiels, heiliger Trauer maßlos verfallen, einsam treu inmitten vergessenden, vertuschenden Getriebes, ohne Anpassung, Hinblick oder Verstellung, ein unfreiwilliger Mahner, ja eine herausfordernde Kritik der Welt, die ihn umgibt, und gleichgültig gegen seine Wirkung auf sie – so steht Hamlet mit umflorter Reinheit inmitten der prangenden Trübe des Hofes.

Er liebt – aber von diesem Umstande ganz befangen, sieht er nicht, wen er liebt. Eros selbst ist es, den er liebt, dieses nicht zuvor gekannte Grenzenlose des Gefühls, das ihn mit stürmischer Ahnung erfüllt und blind auf das erste Stück Zufall wirft. Ophelia ist die erste beste, die ihm in seiner Sphäre unterkommen konnte. Aber wie übermalt er ihre Wirklichkeit mit einem wolkigen, verschwärmten Ideal; er ist dem blitzgetroffenen Romeo so fern, wie einem Verführer oder Kenner, so fern wie jener »junge Mensch«, dessen Geschichte Flaubert »Education sentimentale« nannte. Er liebt ein Leitbild aus der Tiefe seines Wesens, nicht die Tochter des Polonius. Diese »liebreizende Ophelia«: lüsterne Unschuld und sentimentale Bereitschaft mit süßer, niederer Stirn, schäfchenhafter Durchschnitt in appetitlicher Knospe, die den Wurm des Kupplerischen alles Weltlaufs in sich birgt, die das schrankenlos Vermischte, unwürdig Vieldeutige der Welt als unklar liebliche Verlockung bietet – Reiz als Maske des schlimm Banalen –, wie fern ist sie den reinen, hochherzigen Schwestern Julia und Rosalinde, Desdemona oder Imogen! Hamlet ist noch nicht in der Welt und weiß nicht, was in ihr gespielt wird – daß er's so fürchterlich erfahren muß aus dem Geistermunde seines Vaters, wird seine Tragödie.

Er ist noch ganz in Vater und Mutter. Der Vater ist ihm alles, ist nicht ein Mensch unter anderen, aber ein erhabenes Leitbild seiner Seele, das ihn ganz beherrscht.

Er war ein Mann: nehmt alles nur in allem,
Ich werde nimmer seinesgleichen sehn.

Alles Erhabene, dem seine reine Jugend so geöffnet ist, hat Hamlet auf diese Gestalt geschaut; im Zwischenalter, ehe der Heranwachsende sich von der Mutter löst und sich selbst als Mann erkennt, indem er das Weib »erkennt«, wie es in der Schrift heißt, ehe er mit der unsichtbaren Nabelschnur zur Mutter auch das Geisterband zum Vater zerreißt, sind Sohn und Vater noch mythisch eins. Sie tragen bei Shakespeare den gleichen Namen, und der »alte Hamlet« hat als das andere Ego, das große Ich des Sohnes, keine privaten eigenen Züge, die ihn dieser überpersönlichen Rolle entfremdeten; nichts Anekdotisch-Individuelles zieht seine heldisch-hohe Idealgestalt aus der wolkigen Höhe des Königs und Vaters ins Bereich alltäglicher Menschen. Er ist ganz mit dem inneren Auge des Sohnes erschaut, und wie Hamlet in seiner Trauer um den Vater, geht der Vater ganz darin auf, der große Heimgegangene, die geisterhafte Idealgestalt zu sein.

Was dieses Vaterbild dem jungen Sohne als Schlüssel für die Welt, die seiner harrt, bedeuten kann: die Weihung der vermischten Welt durch den gerechten Sieg der lauteren Mächte und die Erfüllung eines königlichen Lebens durch Tugenden und Taten, die unvergessen bleiben – all das hat Hamlets Mutter ausgelöscht, indes sie des Vaters Bild in ihrem Herzen auslöschte und, kaum in Witwentrauer um ihn, sein vergessend dem ungleichen Bruder in die Arme sank. Dieser Claudius, der den alten Hamlet um Kron' und Weib vergiftete, ist nur ein Schurke; freilich muß er sterben: der Vater will gerächt und seine Krone durch einen anderen reinen Scheitel entsühnt sein – aber seine Mordtat und das schließliche Ende des Vaters verkehren Hamlet nicht das reine Bild der Welt, das seine Reinheit dem Anhauch des Vaters dankt; Hamlets Tragödie ist seine Mutter.

Daß sie nach des Vaters Tode noch einmal Weib sein konnte, diese Mutter, und das so schnell und so gemein, reißt Hamlet eigentlich »die Zeit aus den Gelenken«. Statt in völligem Vergessen des kaum verblichenen Gemahls einem Unwürdigen zum Siege dumpfer Bettfreuden in die Arme zu sinken und ein Gemeines spät, aber beglückend an sich auszuleben – wohl ein Stück ihrer Natur, aber beim alten Hamlet, dem erhabenen, war es nicht auf die Kosten gekommen, es war schlummernd geblieben, indes es Claudius gelang, es wachzukitzeln, den Funken zu erspüren und anzufachen zu schwelender Glut – statt so den Gatten und sich selbst ganz zu vergessen, hätte sie dem entschwundenen Idol des Sohnes die Treue halten müssen, dann wären Mutter und Sohn eines geblieben in Trauer und Andacht vor ihm. Indem sie den Vater vergaß, verriet sie sein doppeltes Ich und verlor auch den Sohn, sein Ebenbild im Fleische. Als des Vaters mahnender Schatten steht Hamlet mit seiner Trauerschwärze unterm Festprunk des neuen Hofstaats, ganz eigentlich als sein Geist, der nicht zur Ruhe kommt über die schamlose Hast seines Vergessenwerdens und der am hellen Tage umgeht, spukt Hamlet durch das Schloß, ehe seines Vaters Geisterstimme ihn zum Amt der Rache ruft.

Dieses Amt, ihm auferlegt, ist die Grenze des Wahnsinns, an der er immer wieder steht, darunter droht er zu zerbrechen, daran eben richtet er sich auf, kommt er zu sich selber und erhebt sich strahlend über die eigene Vergänglichkeit zu einem Wissen und einer Gelassenheit, wie einer sie hat, der schon einmal drüben war und wiedergekommen ist, wie einer, der mit Geistern Rede tauschte und von ihnen Auftrag empfing. Von da her erscheint ihm der geschwellte Prunk des Hofes ein schaler Mummenschanz, die dumpfe Roheit seiner Feste wie Sielen im Kot. Ihm ist der Star gestochen, und wie der Eingeweihte der Isis, der durch ihr Mysterium die Häuser der Unterwelt auf der nächtlichen Fahrt in der Sonnenbarke mit ihren Göttern, Richtern und Toten und den Geheimnissen der anderen Welt geschaut hat, oder wie Lazarus, der vier Tage im Grabe als dem Tor zur anderen Seite gelegen ist, so bringt er der Welt auf unserer Seite ein verwandeltes Auge entgegen. Daher seine seraphische Distanz zu allen Larven des Lebens, die ihm wie Puppen eines albernen Spiels erscheinen, daher als Erquickung eines Augenblicks die Flucht aus dem wüsten und gespenstig fahlen Scheine dieser Wirklichkeit in die Scheinwelt des Theaters.

Im rollenden Wortschwall der Schauspieler, in ihrem gespielten Pathos blitzt etwas Echtes auf: das Wirkliche als gewollter, prunkend gekonnter Schein, an Stelle einer Wirklichkeit, die unwillkürlich trüber Schein ist und sich selbst nur kann als wüster Wirbel des Gemeinen. Aus diesem Wissen um die Gegenwelt inmitten selbstvergessenen Sichverlorengehens der Welt, von diesem Todeskuß des Jenseits auf die Schläfe getroffen, richtet Hamlet das zerreißendste, unheimlichste aller Schauspiele her: daß er selbst die schauerliche Ermordung des Vaters anschauen will im Spiel. Die entscheidenden Verse dichtet er selbst hinzu, er führt die Regie, aber nur, weil er als Lichter, die das groteske Pathos dieses Maskenspiels anleuchten sollen, die Gesichter der Schuldigen vor seine Rampe pflanzt – als einen Spiegel, darin seine Figuren erst die rechte Brechung finden: neben dem betretenen Schurken die dumpfe Animalität dieser immer noch schönen Frau, die Hamlet einst gebar, und die seit kurzem so aufgeblüht, verwandelt und gelöst ist, Hamlet so fremd und so schauerlich nah – oh, daß er sie weniger verstünde, daran geht er zugrunde. Das ist Frau Welt,

... ein wüster Garten,
Der auf in Samen schießt; verworfenes Unkraut
Erfüllt ihn gänzlich

– das ist die Welt, in die er treten soll und glücklich sein: vergnügt, vergessend und gemein wie diese anderen Fratzen rings – ja es ist die Welt, die ihn gebar.

Da sitzt diese Frau und spürt nichts, aber irgendwo muß sie doch alles wissen, auch wenn es nicht zu ihr dringt durch die fleischigen Schichten befriedeter Lüste, aufzüngelnder Triebe und sich wiederkäuender Sättigung. Da sitzt sie, aus Gefälligkeit und Nachsicht mit ihrem Sohn, dem jungen Sonderling, zu dieser Laune seiner Theaterspielerei gekommen – man muß nachsichtig sein mit ihm, er ist nicht so ganz beieinander, des Vaters Tod hat den Jungen ganz verstört. Da sitzt sie, um eine Posse anzuschauen, so zwischen Tisch und Bett, mit denen sie das tiefere Gleichgewicht ihrer Natur von Tag zu Nacht befriedet herstellt. Da sitzt sie, und sie ist die Welt. So ist die Welt, darum kommt Hamlet nicht herum. Was nützt es, diesen König zu erschlagen, Hanswurst und Schuft in einem, – einer weniger? Gut! Aber sie wachsen ja nach wie Pilze, wie in der ungekrönten Sphäre den Zwillingen Rosenkranz und Güldenstern alsbald der junge Osrick nachfolgt; – »kennst du diese Schmeißfliege?« – da gibt es keine Lücke, dem Chor argloser Narren und leichtfertiger Schurken reißt kein Ereignis Lücken, die Flora des Gemeinen ist immer grenzenlos in Flor; wohin du schreitest, trittst du auf ihren Blütenteppich, watest du in ihren Sumpf. Das ist's, was Hamlet immer wieder hemmt, zu vollstrecken, was der Geist des Vaters ihn heißt: den König niederzustoßen – vielmehr die Mutter zu wandeln, das wäre alles. Es würde der Welt ein anderes Gesicht geben, ein edleres ihr wiedergeben, wie die Hoheit des Vaters es ihr aufprägte, ehe die Mutter sein Andenken schändete. Nun ist die ideale Welt vom Vater her durch keine Sühne seines Todes wiederherzustellen, die Mutter enthüllte ihr wahres Gesicht, und keiner straft sie Lügen, nur ein ohnmächtiges Gespenst dieses Maskenspiels anleuchten sollen, die Gesichter der Schuldigen vor seine Rampe pflanzt – als einen Spiegel, darin seine Figuren erst die rechte Brechung finden: neben dem betretenen Schurken die dumpfe Animalität dieser immer noch schönen Frau, die Hamlet einst gebar, und die seit kurzem so aufgeblüht, verwandelt und gelöst ist, Hamlet so fremd und so schauerlich nah – oh, daß er sie weniger verstünde, daran geht er zugrunde. Das ist Frau Welt,

... ein wüster Garten,
Der auf in Samen schießt; verworfenes Unkraut
Erfüllt ihn gänzlich

– das ist die Welt, in die er treten soll und glücklich sein: vergnügt, vergessend und gemein wie diese anderen Fratzen rings – ja es ist die Welt, die ihn gebar.

Da sitzt diese Frau und spürt nichts, aber irgendwo muß sie doch alles wissen, auch wenn es nicht zu ihr dringt durch die fleischigen Schichten befriedeter Lüste, aufzüngelnder Triebe und sich wiederkäuender Sättigung. Da sitzt sie, aus Gefälligkeit und Nachsicht mit ihrem Sohn, dem jungen Sonderling, zu dieser Laune seiner Theaterspielerei gekommen – man muß nachsichtig sein mit ihm, er ist nicht so ganz beieinander, des Vaters Tod hat den Jungen ganz verstört. Da sitzt sie, um eine Posse anzuschauen, so zwischen Tisch und Bett, mit denen sie das tiefere Gleichgewicht ihrer Natur von Tag zu Nacht befriedet herstellt. Da sitzt sie, und sie ist die Welt. So ist die Welt, darum kommt Hamlet nicht herum. Was nützt es, diesen König zu erschlagen, Hanswurst und Schuft in einem, – einer weniger? Gut! Aber sie wachsen ja nach wie Pilze, wie in der ungekrönten Sphäre den Zwillingen Rosenkranz und Güldenstern alsbald der junge Osrick nachfolgt; – »kennst du diese Schmeißfliege?« – da gibt es keine Lücke, dem Chor argloser Narren und leichtfertiger Schurken reißt kein Ereignis Lücken, die Flora des Gemeinen ist immer grenzenlos in Flor; wohin du schreitest, trittst du auf ihren Blütenteppich, watest du in ihren Sumpf. Das ist's, was Hamlet immer wieder hemmt, zu vollstrecken, was der Geist des Vaters ihn heißt: den König niederzustoßen – vielmehr die Mutter zu wandeln, das wäre alles. Es würde der Welt ein anderes Gesicht geben, ein edleres ihr wiedergeben, wie die Hoheit des Vaters es ihr aufprägte, ehe die Mutter sein Andenken schändete. Nun ist die ideale Welt vom Vater her durch keine Sühne seines Todes wiederherzustellen, die Mutter enthüllte ihr wahres Gesicht, und keiner straft sie Lügen, nur ein ohnmächtiges Gespenst klagt an. Die Mutter ist ja die Welt, ihr Schoß gibt uns der Welt. Will der Vater uns nach seinem Bilde formen als sein anderes Ich, das ihn überlebt, wie Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf – nach dem Bilde der Mutter formen die Söhne die Welt, hier fallen die Entscheidungen, die ein Leben selten hinreicht, auszulöschen.

Darum läßt Hamlet den König entkommen, den er im Knien und Beten überrascht, und eilt zur Mutter, ihre vielleicht erschütterte Tiefe vollends aufzureißen. Hat er das Spiel nicht eigentlich, sich selber unbewußt, nur für sie inszeniert, um ihr die Augen aufzutun über sich selbst? Will er nicht sich selbst über diese tiefere Absicht täuschen, wenn er sich einredet, der Zweck des Theaters sei, im Gesicht des Königs das Geständnis seiner Schuld zu lesen? Sein »prophetisches Gemüt« bedurfte dazu kaum des Zeugnisses aus Geistermund.

Der indische König der Vorzeit birgt sich vor allem vielgesichtigen Grauen des Lebens im Dunkel seiner Höhle, er schläft, vertrauend heimgekehrt, im mütterlichen Schoß der Welt und bangt vor keinem Traum, der ihn verstörte. Den Dänenprinzen, Sinnbild des modernen Menschen, umfängt die Welt nicht wie ein mütterlicher Leib, ein Götterleib, nachdem kein Strahl mehr, vom höheren Ich des Vaters ausgesandt, ihr Grauen verklären kann, und beider »Ziel aufs innigste zu wünschen« ist ihm von »des Gedankens Blässe angekränkelt«:

»Schlafen – vielleicht auch Träumen? – ja, da liegt's:
Was in den Schlaf für Träume kommen können,
Das zwingt uns still zu stehn.«

Die Welt hat keinen mütterlichen Schoß mehr, in den der Mensch eingehen könnte, um grenzenlos darin bewahrt zu sein; der mahnende Ruf der Mutter: »Hamlet, geh nicht nach Wittenberg!« – im Ohr des sterbenden Mittelalters muß er geklungen haben wie ein »Geh nicht nach Moskau!« in vielen Ohren heut und gestern – die mahnende Stimme kommt zu spät. Die neue Mischung Mensch ist schon gebraut, in Wittenberg und vielerorts, der tausendjährige Schoß der Kirche ist gesprengt, das Nabelband zur orientalisch-römischen Mutter ist zerrissen, und sie war die letzte, geistig gewordene Form der Mutter Erde, Mutter Isis, Mutter Welt. Jetzt wird der Mensch Natur, den mütterlichen Leib zerfleischen, ihn als Steinbruch neuer Energien und Stoffe brauchen: ganz entgottet und geknebelt gibt der Leib in immer anderen Verwandlungen Kräfte her, wie Willkür und Furcht der Menschen voreinander sie maßlos und vernichterisch sich fordern. Fessellos in entfesselter Welt steht Hamlet heut wie damals da:

»Die Zeit ist ausgerenkt – verfluchter Hohn:
Daß ich jemals geboren ward, sie einzurichten!«

Im indischen Mythos findet Mutschukundas gläubiges Flehen nach Erlösung Gehör. Mit ihrer Verheißung begnadet fällt der vorzeitliche Held dem Herrn der Welten zu Füßen; dann tritt er aus der Höhle, die ihn wie ein Ungeborenes traumlos hegte, hervor, wie aus dem Mutterschoß der Welt aufs neue geboren, zu flüchtigen Geburten in Götterherrlichkeit und Menschenwelt, die Krischnas Mund ihm weissagt, sie werden ihn über die Erinnerung an frühere Geburten ohne Ende der Auflösung im höchsten Gotte entgegenheben – im Gotte, der das Ganze der Welt mit seiner Fülle aller Wesen aus sich spielt und in sich schmilzt und über allem ist.

Er tritt aus dem Maul der Höhle hervor – in eine verwandelte Welt! Wie winzig sind die Menschen geworden seit jenen Weltanfängen, da er zuletzt sie sah! Da erkennt er: das letzte Weltalter ist im Anbruch, und er geht in die Einsamkeit der Berge, sich in asketischer Glut dem Gotte entgegenzuläutern.

Was geschah, indes er schlief? Seit jenem Weltmorgen, aus dessen wallendem Kräfteschwall die Götter in sieghaftem Ringen zur Herrschaft aufstiegen und Mutschukunda sich in Schlummer ohne Ende fallen ließ, ist die göttliche Ordnung, die Brahma der Welt an ihrem Anfang eingeprägt hat, trüb und matt geworden. Verzwergt und schal steht die Welt an der Schwelle des letzten Weltalters, in dem sie völlig verderben wird. Aber Markandeyas Gesichte lehren: selbst wenn sie sich in den Abgrund des lauteren Nichts, in ein allverschlingendes nebelndes Meer ohne Raum zu verwandeln scheint, bleibt sie in Gott und kann ihm nicht entfallen. Wohl entfällt der heilige Markandeya in seiner Unrast der Gestalt, in der das Göttliche sich seinen Geschöpfen bietet – der Welt mit ihren Pflichten und Erfüllungen –, aber wenn er aus der gestaltigen Maya Gottes in seine überweltliche gestaltlose Tiefe stürzt, in der Gott elementisch bei sich ist, wir aber nicht bei ihm – in die Tiefe, die der Kreatur ein bodenloser Abgrund dünken muß und uferloses Todesdunkel –, auch dann noch zeigt sich der Gott in tröstender Gestalt, den Heiligen heimzuholen aus Wahnsinnsangst und Verzweiflung, darin zu vergehen, und bringt ihn zurück in seine gestaltige Erscheinung, in die Maya seines Leibes, der die Maya der Welt als Traum des Schlummernden in sich bewegt.

Die Welt der Geschöpfe ist wohlbewahrt in Gott, sie spielt im Kreislauf seines Leibes, aber auch der Sturz über ihren Rand, in die Tiefe, die alles in sich verschlingt, wie sie alles trägt und aus sich gebiert, der Sturz in den Abgrund in uns, aus dem wir leben, solange wir ihm nicht verfallen – ist ein Sturz in Gott selbst, wenn uns seine Maya nicht davor bewahrte, uns aufzulösen in dem göttlichen Element und wahnsinnig zu werden an seiner Grenzenlosigkeit.

Der schlummernde Gott, der die Welt wie eine Frucht in seinem Bauche trägt, daß er sie ausgebären könnte, ist ein Mann, der schwanger geht mit der Welt – er gleicht im großen jenem vorzeitlichen Helden, der Mutschukundas Vater in sich austragen mußte, weil er unbedacht das Zauberwasser, das fruchtbar macht, geschluckt hatte. Dieser schlummernde Riese hat etwas verborgen Weibliches, geheim Mütterliches. Die Lehre der Jainas, die das vorarisch alte Weltbild Indiens am reinsten spiegelt, sieht den Kosmos in Gestalt einer riesigen Weltfrau; die Unterwelten trägt sie in Füßen, Schenkeln und Bauch, quer in der Leibesmitte liegt die Erdscheibe, und am Rückgrat hinauf, am zentralen Weltberg, liegen Schicht um Schicht übereinander die Götter- und Himmelswelten, gipfelnd in der Sphäre der Erlösten, die zunächst der Kuppel der Hirnschale oben alle Sphären kreisenden Schicksals unter sich läßt. Aber die alten Veden der einwandernden Arier geben dem weiblichen Prinzip in der Sphäre des Göttlichen nur untergeordnete Rollen, die weiblichen Wasser, die Mutter Erde treten im brahmanischen Kult zurück, Weltschöpfung und Weltregiment fällt göttlichen Mannwesen zu. Die müssen dann, wie der Vater jenes Königs Mandhatar der Vorzeit, Weiberwerk verrichten, so gut sie es vermögen. Der »Herr der Ausgeburten« (Praja-pati), der sich in Geschöpfen ausgebären will, befruchtet im Mythos der Veden sich selbst, und aus seinem Atem schafft er die Götter, aus dem Wind seines Leibes die Dämonen. Oder er weint über seine grenzenlose Einsamkeit inmitten der Urwasser, und seine Träne, die ins Wasser fällt, wird die Erde, die Träne, die er abwischt, wird zum Luftraum; was er aber nach oben wischt, wird zum Himmel. Oder er erhitzt sich und bringt das Brahman hervor, die magische Gewalt, die in Spruch und Zauber lebendig ist, dann bringt er die Urwasser hervor, geht in sie ein und bringt das Ei zustande, aus dem die Welt hervorgeht. Wenn das Uranfängliche ins Sein hineinwerden will, so erhitzt es sich innerlich, wie ein Asket in Yogagluten glüht, es dampft Rauch, blitzt Feuer, dunstet Wolke, es sprengt seine blasige Hülle, und sein Fruchtwasser wird das Meer.

So wird auch Vischnu den Traum der Welt, den er in sich bewegt, wenn er die müdgewordene Welt in den Schoß der Wasser zurückgerafft hat, auf wunderbare Weise ausgebären. In seiner Gestalt als Fisch erzählt er Manu den Aufgang des neuen Welttages aus der Nacht, die alles in sich schlang.


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