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Zu Wassern ward das höchste Wesen und sammelte in sich Glutgewalt. Den eigenen Leib bedeckte es, die Ursprungstätte der Meerungeheuer. Danach gedachte das große Wesen voll übergroßer Kraft, die Welt aus sich hervorzubringen.
Er, der All, dachte das All, wie es aus den fünf großen gewordenen Wesen, den fünf Elementen, besteht. Er dachte das All: da breitete sich Windstille über das Meer, über die Welt, die ohne Raum war, die eitel Flut war und bodenlose Tiefe.
Er ging ins Wasser ein und regte ein wenig die Flut; da entstand mit Wellen, die eine der anderen folgten, uranfänglich ein feiner Spalt. Sein Raum war Schall, gegen den Schall erhob sich ein Wind, er fand Raum, und der unerschütterliche Bewegende wuchs in die Weite. Wachsend setzte er mit seiner Wucht das Meer in Aufruhr, und aus der Reibung seiner gequirlten Wasser entstand der Gewaltige, des Pfad von Rauch und Asche schwarz ist: der Feuergott, die Herdflamme der Menschen.
Danach zehrte das Feuer viel Wasser auf, und wie die Fülle der Wasser dahinschmolz, entstand ein breiter Spalt: der Himmelsraum. Das sah der große Gott, der die Elemente aus sich werden läßt, voll Freude.
Da dachte der Vielgestaltige, um die Welt zu entfalten, das Höchste, das mit Brahmas Geburt verknüpft ist. Wenn auf Erden einer, durch die Einweihung zum Schüler des heiligen Wissens wiedergeboren und durch Glutgewalt der Askese in seinem Wesen neu geworden, schließlich höchste Erkenntnis aller Dinge erschaut hat, der wird aller Yogin Höchster. Und diesen höchsten Yogamächtigen, im Besitz vollendeter Herrschaft und Macht, erkennt der yogakundige Allgott und stellt ihn im Wiederaufgang der Welt als Herr des Alls an die Stätte Brahmas.
Da spielt der Allgott in der großen Flut, der Unerschütterliche spielt im Wasser, es freut sich der Schöpfer aller Welt, wie es sein Gesetz ist. Und da treibt er einen einzigen Lotos aus seinem Nabel hervor, der ist tausendblättrig, fleckenlos, aus lauterem Golde und strahlt wie die Sonne. Danach treibt er aus sich den edelsten der Yogamächtigen hervor, der aus sich selber alle Welten hervorbringt: Brahma. Der kehrt seine Angesichter nach allen vier Richtungen des Raumes im goldenen Lotos, der sich viele Meilen weit breitet und aus allen Kräften strahlender Glut besteht und mit dem Zeichen der Erde bedeckt ist. Denn diesen Lotos nennen die Weisen, die alter Überlieferung kundig sind, »höchste Form der Erde«, diese Lotosblume ist die Göttin »Feuchte« und wird »Erde« genannt. Aus ihr erheben sich, vom Saft des Lotos schwer, die himmlischen Berge: Himalaya und Meru, Kailasa, Sonnenaufgangsberg, Vindhya und andere, die sind die Stätten der Götterscharen und der Vollendeten voll hohen Wesens. Sie schenken den Menschen reinen Wandels Frucht aller Wünsche. Das Wasser, das von diesen Bergen strömt, ist dem himmlischen Naß der Unsterblichkeit gleich, die göttlichen Flüsse, so heißt es, sind Gefäße für Hunderte von Wallfahrtsorten. Die Staubfäden, die rings den Lotos umgeben, sind all die unzählbaren Berge der Erde mit Schätzen von Metall, die vielen Blütenblätter aber sind die unzugänglichen felsenbehäuften Lande fremder Völker. Die Blätter auf der Unterseite sind Behausungen der Dämonen, Schlangen und Vögel, das große Meer bei ihnen heißt »die Feuchte«, in ihm ertrinken die Menschen, die eine Todsünde begangen haben. Im Innern des Lotos ruht die große Erde inmitten eines großen Meeres, da nennt man vier Gewässer nach den vier Himmelsrichtungen hin. So schuf der Erhabene die Ordnung des Bestehens für alle Berge, Ströme und Gewässer.
Brahma aber, einsam auf dem goldenen Lotos thronend inmitten der nächtigen Wasser, sammelte in sich Glutgewalt der Askese, um aus seiner Yogaschau die Welt zu entfalten. Da ward er gestört. Zwei Widergötter erhoben sich, sie erstanden aus dem Schmutz der beiden Ohren des liegenden Vischnu, wie der Lotos, auf dem Brahma thront, seinem Nabel entquollen ist. Madhu und Kaitabha hießen die beiden fürchterlichen Dämonen; in ihnen gewannen die Leidenschaft und die Dumpfheit Vischnus Gestalt, wie Brahma seine lichte Klarheit spiegelt. Die beiden setzten im all-einen Meer die ganze Welt in Aufruhr. Sie trugen himmlische rote Gewänder und zeigten weißflammende grausige Hauer, sie ragten hochauf mit Diademen und Ohrgehängen und funkelten von Geschmeiden an Armen und Handgelenken. Ihre kupferroten Augen waren weit aufgerissen, mit mächtiger Brust, großen Armen und berghohem Wuchs glichen sie wandelnden Bergen. Wie die schweren Wolken der neuen Regenzeit waren sie, und ihre Gesichter glichen Sonnen. Sie strahlten Blitze und schwangen furchtbare Keulen in Händen, es war, als erschüttere ihr Tritt das Meer, als erzittere der schlafende Vischnu davon.
So kamen sie daher und fanden im Lotos den Gott, der mit vier Gesichtern nach allen vier Seiten des Weltraums blickt; er brachte alle Geschöpfe aus sich hervor, alle Gottheiten und seine geistentsprungenen Söhne und die Dämonen und Heiligen. Da flammten die beiden vor Zorn und rollten die Augen vor Wut – sie suchten selber ihren Tod – und sprachen zu Brahma: »Wer bist du, mitten im Lotos mit weißem Diadem und vier Armen? Asketische Selbstbezwingung übst du voller Wahn und sitzest bar des Fiebers der Leidenschaften. – Komm! Geh herzu und stell dich uns zum Kampfe, Lotosgeborener! Bist du ohnmächtig vor uns beiden Starken hier im Meere? – Wer ist denn dein Ursprung, oder von wem hast du Auftrag? Wer schuf dich, wer schirmt dich? Mit welchem Namen wirst du gerufen?«
Brahma sprach: »Der eine wird er genannt, der den Welten unausdenkbar ist, der Tausendäugige. Begreift mein Werk von ihm her.« – Aber die beiden gaben ihm zur Antwort: »Es gibt nichts Höheres als uns in der Welt, du Weiser. Wir umhüllen das All mit dumpfer Trübe und mit Wirbelstaub der Leidenschaft. Wir sind Wirbel der Leidenschaft und dumpfe Trübe der Kreatur. Heilige Seher vermögen über uns hinwegzuschreiten, aber schwer überwinden die Menschen uns, wir verwölken ewige Pflicht und rechten Wandel. Weltalter um Weltalter quälen wir Bösen die Welt, wir beide sind Reichtum und Sinnenlust und sind der Opferkult, dessen Gewinn seliges Sinnenglück der Götterhimmel ist. Wo Glück ist mit Freude vereint, überall wo strahlender Glanz und Ruhm, wo alles ist, was Wesen wünschen mögen – denke: das alles sind wir!«
Brahma sprach: »Mühevoll habe ich vorzeiten mit dem Auge des Yogakundigen mir Yoga erworben; ihn ergriff ich und nahm meinen Stand in entfalteter lichter Klarheit. Er, der höchste Yogaweise ist lichte Klarheit, alles entsteht in ihm, er schuf aus sich selbst auch Leidenschaftswirbel und dumpfe Trübe. Von ihm stammen alle gewordenen Wesen her, Wesen voll lichter Klarheit und auch die anderen. Kein anderer als er bringt euch den Untergang, der mächtige Gott wird euch erschlagen.«
Da reckte der strahlende Riese in seinem Schlafe mit der Maya seines Wesens seinen Arm viele Meilen lang und fing sich die beiden. Er zog sie an sich, und sie zappelten wie zwei dicke Vögel, die aus ihrer Bahn gestürzt sind. Sie fielen vor ihm nieder und riefen: »Wir erkennen dich, Schoß des Alls, Einziger, höchstes Wesen! Beschirme uns, sei uns wirkender Grund, denn das wird uns erleuchten! Wir wissen, daß dich zu schauen nicht fruchtlos ist, darum kamen wir beide zu dir, dich ringsum zu betrachten. Darum wünschen wir eine Wahlgabe von dir, eine wunderbare, denn nicht fruchtlos ist es, dich zu schauen!«
Da antwortete der Erhabene: »Was ihr als Wahlgabe wünscht, sagt schnell! Wollt ihr das Leben geschenkt haben und wünscht ihr wieder im Verborgenen zu leben?« – Da sagten die beiden: »Wo noch keiner gestorben ist, dort wünschen wir unseren Tod, o Herr, und von deiner Hand komme uns der Tod, großer Asket!«
Da gab der Erhabene ihnen eine große Verheißung, ehe er sie überlistete und tötete. Er sprach: »Wahrhaftig, ihr werdet auserlesen sein in werdender Zeiten Werden, hegt daran keinen Zweifel, das sage ich euch in Wahrheit.« – Dann machte er seine Wahlgabe wahr und zerrieb die Zwillinge, aus denen das Werden alles Wirbelstaubs der Leidenschaft und aller dumpfen Trübe der Tierheit in Mengen kommt, mit der Fläche seiner Schenkel.
Wie Wasser ihre Vegetation, wie ein Teich den Lotos von seinem Grunde ans Licht des Wasserspiegels sendet, so treibt Vischnu, menschhafte Gestalt der von sich selber trächtigen Lebensflut, einen Lotos aus seinem Nabel hervor, und diese Blüte ist die Welt. Vischnus Nabel selbst wird ein Lotos genannt, und die Lotosblüte ist ein Symbol des Schoßes: wie ein geöffneter Schoß am Leibe der Wasser erschließt sie ihren Kelch über dem feuchten Spiegel. Die Weltfülle, die der männliche Gott in seinem Bauche birgt, wölbt sich als erste Ausgeburt einen Schoß hervor, den Lotos am Nabelstrange des Stengels, um aus diesem Schoße die Welt ans Licht zu gebären. Inmitten seines Blütenbodens trägt dieser Lotos die uranfängliche Erde. Sie heißt die »Göttin Lotos«. Es gibt eine alte vorarisch-indische Göttin mit den zwei Namen Schri und Lakschmi, die in zwei Gestalten über alle Erdschätze gebieten: über die fruchtbringende Feuchte des Bodens und über edle Steine und Metalle. Diese Herrin der Erdkräfte thront auf einem Lotos, wie Vischnu auf der Weltschlange ruht. Ihre weibliche Gestalt über dem Lotos ist ihre menschhafte Erscheinungsform über der pflanzlichen, wie Vischnus männliche Gestalt auf der großen Schlange seine menschhafte Darstellung über der tierischen ist. Diese Göttin ist Vischnu gesellt, wenn er auf der Schlange im Weltmeer ruht, sie hält als seine Gattin verehrend seinen Fuß. Wenn Vischnu als menschhafte Gestalt auf der Weltschlange als auf seinem anderen Ich liegt und unter beiden die Flut sich breitet – als elementhafte Gestalt derselben Größe, die sich darüber in Tier und Mann verlarvt –, so scheint das Wesen eines vorarisch alten Wassergottes in ihm aufgegangen zu sein. Als Gott der allumfassenden, allestragenden und allnährenden Flut gesellt er sich der alten Erdgöttin »Lotos« als Gemahl. In den arischen Veden bilden, wie bei Griechen, Römern und ihnen verwandten Völkern, Vater Himmel und Mutter Erde ein hohes Götterpaar, der regnend-zeugende Mann-Gott oben über der empfangenden Götterfrau unten; aber dieses Götterpaar aus vorarischem Altertum lebt in subtropischer Breite Indiens, die keinen regnenden Himmel, nur die Regenzeit vorüberziehender Monsunwolken kennt. Hier ist der männliche Gott der Wasser das Schlangenwesen der Tiefe und trägt auf seinem Leibe die lotosgleiche Göttin Erde, deren Blütenschoß aus dem Naß der Tiefe seinen Saft zieht, um das Leben der Welt zu entfalten und zu speisen. Das Männliche unten, das Weibliche oben: »verkehrte Welt« für den Blick einer jüngeren Weltzeit in uns und Indien, aber noch die altägyptische Kosmologie zeigt dasselbe Bild: die Himmelsfrau, Finger und Zehen dem Horizont aufstemmend, wölbt den Leib als Bogen des Firmaments; unter ihr liegt, flach hingestreckt, der Erdenmann und blickt zu ihrem Leibe empor, dessen Brüste, Schoß und Schenkel von Sternen blitzen.
Der lautere Blütenkelch des Weltaufgangs ist das Gefäß des lauteren Gottes; die Knospe tut sich auf: in ihr sitzt Brahma, der Demiurg, und entfaltet aus seiner lauteren Yogaschau die kosmisch-irdische Gestaltenfülle. Diese Welt ist wohlverbunden mit Gott, sie hängt an seiner Nabelschnur, der Kreislauf seines Lebenssaftes baut sie auf.
Aber darum ist sie keine Idylle. Das flutend Bodenlose treibt seine Blüte, das gestaltlos Göttliche schwitzt Gestalt – dann hebt nicht nur sein Lauteres den frischen Blütenkelch, auch die Gewalten, die Brahmas Ordnung im Gang der Weltalter verstören und die Welt an ihrem dunklen Ende ganz beherrschen werden, treten ins Licht: das Leidenschaftliche und das Dumpfe aller Kreatur, sich blähende Kraft, reißende Wut, rasendes Verlangen hier, und dort die Dumpfheit der Triebe, die Trägheit des Tiers; bestialische Gemütlichkeit, die sich in süßem Vergessen wärmt oder in Wüten aufbricht, das sich selbst nicht sieht. Diese beiden, der Rausch der Sinne und des Blutes, bringen erst Bewegung, Schwung und Kampf in den Weltlauf. Sie schaffen die Einsätze des Lebensspiels: alles Gleißende, allen Gewinn, indem sie das Trachten danach sind. Was sie anstrahlen mit ihrem Leuchten und Glühen wird zu Lockung und Wert. Alle Schätze und alle Lust, alles Wünschen und seine Erfüllungen, ja auch die frommen Opfer und Gaben, die Seligkeit in Götterhimmeln eintauschen sollen, sind ihr Geschmeide und glitzern nur an ihrer Gebärde. Sie machen das unbedenkliche Leben sich selber lieb, daß es an seinen Räuschen und Enttäuschungen hängt, sein Bitteres schlürft wie seine Süße und dabei nicht über sich selbst hinausverlangen kann in kreatürlicher Verfangenheit. Sie sind die Kräfte dieser Welt, wie Brahma, der entrückte Yogin, über sie hinausweist. Mit ihm bilden die beiden das Kleeblatt ursprünglichster Ausgeburt und Selbstverwandlung des unentfalteten ungreifbaren Gottes zu greifbar entfalteter Gestalt.
In indischer Weltentstehungslehre, die vom Unentfalteten ausgeht, sind seine ersten Wandlungsformen die lichte Klarheit (sattva), der Wirbelstaub der Leidenschaft, der die klare Sicht des Horizonts verwölkt (rajas), und dumpfes Dunkel (tamas). Diese drei Grundkräfte und Selbstverwandlungen des in sich ruhenden göttlichen Urstoffs der Welt sind auf dem Grunde aller Erscheinungen, der seelischen wie der leibhaften. Aus ihnen ist die Welt mit allen ihren Gestalten gebildet, wie das Unentfaltete sie übergegensätzlich in sich aufgehoben beschloß, ehe es sie zum Spiel der Welt auseinandertreten ließ. Im mythischen Geschehen heißen sie Brahma, Madhu und Kaitabha.
Das Göttliche treibt die dämonischen Gewalten so gut wie Brahmas göttliche Klarheit als Kräfte seines Wesens aus sich selbst hervor, wenn es den Traum der Welt als eine Phantasmagorie der inneren Fülle nach außen wirft oder sich den Schein gibt, so zu tun – denn was ist ihm Innen und Außen, was bedeutet Innen und Außen für uns, wenn unsere innere Fülle uns einen Traum auswirft, in dem wir wandeln, als sei er ein Außen, indes wir ihn innen tragen? – Das Göttliche entfaltet die Fülle seines Wesens ganz, wenn es sich zur Welt auswölbt; das tierisch Dumpfe ist ihm so eigen wie die Glut der Leidenschaft, und beide sind dem überweltlich-Göttlichen so nahe wie die selbstgebändigte Klarheit, die beide überwunden hat. Wie das Göttliche alles Dämonisch-Teuflische in sich birgt, gibt es ihm Raum im Spiel und Leib der Welt, die es aus sich entfaltet. Ihre unaufhaltsam wachsende Gewalt bringt die naturhaft steigende Verschlechterung und Verwirrung des Weltlaufs bis zum Dunkel seines Endes. Aber ihr Begehren, Brahma im Augenblick des Weltentfaltens bei seinem demiurgischen Amte zu stören, ist Anmaßung, da unzeitig, es frevelt gegen die naturhafte Ordnung der Weltalter – darum rafft das Göttliche die beiden wieder in sich hinein. Aber bevor es sie spielend zermalmt, weissagt es ihnen tröstend, daß sie im Rhythmus der Weltalter wachsend zu düsterer Herrlichkeit und überwältigender Macht berufen sind.
Wie behutsam, wie zart geht Vischnu im Grunde mit dieser schmutzig-dämonischen Ausschwitzung seiner Ohren um! Welch eigenes Symbol: dieser Schmutz der Ohren! Auch der Reinste findet ihn einmal in seinen Ohren; er mag sich sauber halten, wie er will, mit eins und anscheinend ohne besonderen Anlaß ist der eigentümliche Stoff da und kann, wen der Teufel der Reinheit reitet, außer sich bringen. Das Dämonische tritt unvermittelt auf, es stellt sich unwillkürlich ein. Kaum hebt das Spiel des Göttlichen an, ist auch schon sein Widerpart zur Stelle. Nun erst wird Gleichgewicht sein im Auf und Nieder schwebender Schalen der Weltwaage, jetzt erst ist ihr Schwanken möglich in langem Auf und Ab; erst in der kämpferischen Verschlingung dieser Widersacher wird die Welt ganz. Das Dämonische, wie es sich selbst in Madhus und Kaitabhas Prahlen preist, bildet den Stoff, der die Welt zusammenkittet und die Reibungen schafft, aus seinen Antrieben erst rollt und stockt sie als ein Geschehen über ihre vier Lebensalter hin.
Ein apokalyptischer Endsieg, die glückliche Bezwingung des teuflisch Dämonischen für die Ewigkeit – das ist ein erhaben moralisches Kinderstubenmärchen, das der große Morallehrer Zarathustra seinen Persern erfand. Von ihnen lief es zu Juden und Christen, und mit diesen weit um die Erde. Dieser Mythos begründete die Moral, man solle sein Dämonisches ausrotten, wie die himmlischen Streiter mit den Teufelsdrachen des Abgrunds tun. Der indische Mythos lehrt anderes: man soll seine Dämonen nicht ausbrennen wollen mit Vernichtung, aber einen Arm haben, der sie bezwingt und ihnen den Raum anweist, in dessen Grenzen sie mächtig sein dürfen. Das Dämonische hat das gleiche erhabene Lebensrecht wie sein lauterer Widerpart, es soll nicht ausgestoßen und zu gespenstigem Nichtsein verdammt werden, aber seine Stelle im Spiel des Ganzen finden, wo es seine Art auswirken kann. Denn wo wäre ein Spiel, in dem es nicht seine Hand hätte? Und wenn es davon ausgeschlossen ist, eine Gespensterhand, doppelt schlimm und tückisch, weil ungreifbar.
Der Allgott gibt den beiden Dämonen eine Verheißung auf die Zukunft. Sie selbst sind Verheißung der Zukunft: ihr Kampf gegen Brahmas entfaltete Ordnung der Welt – in immer anderen Gestalten, die aus ihrem Element aufstehen werden – wird den Gang der Welt ausmachen. Unsere dämonischen Anlagen sind die Verheißungen unseres Lebens; unsere Möglichkeiten, schuldig zu werden, führen uns erst in das Leben ein und verstricken uns wirklich, sie haben einweihende Funktionen und schlagen uns Brücken zu allen Gehalten des Daseins. Kinder wissen das, denn sie sind den beiden Dämonen noch in voller Unbefangenheit nahe – und sie sagen es auch. Freilich nur unwillkürlich, denn sie haben meist zuviel Takt, diese selbstverständliche Wahrheit den Erwachsenen, die sie ungern wahr haben wollen, ungefragt nahezubringen. Aber bei Fragen springt es heraus, etwa im Beichtunterricht der Erstkommunikanten. Den gibt der Herr Pfarrer selbst, und dieser Unterricht ist ein großes Erlebnis, in dem eine Schale der Kindheit zerbricht. Auf einmal wird das Kind gewahr, daß alles, was es an Kain und Abel und anderen Gestalten im biblischen Unterricht gelernt hat, auch einen selbst angeht; alle zehn Gebote und alle Sünden beziehen sich auf das Kind selbst. Welche ahnungsvolle Trächtigkeit bemächtigt sich des noch kleinen Lebens in der Gewissenserforschung, daß alle dunklen Mächte schon über uns Gewalt haben und sich in der eigenen kindlichen Vergangenheit aufweisen lassen. Die erste Beichte, eine Generalbeichte, bringt es ans Licht. Aber der Pfarrer bemerkt mit Unbehagen, daß Kinder bei dieser Zeremonie, die ihnen selbst so ernst ist, die Beichtformel immer wieder unwillkürlich verdrehen, statt »In tiefer Demut bekenne ich vor Gott und dem hochwürdigen Herrn meine Sünden«, sagen immer wieder Kinder: »In tiefer Demut bekenne ich vor Gott dem Herrn meine hochwürdigen Sünden.«
Es sind wirklich hochwürdige Wesen, Mystagogen, die den Menschen ins Leben einführen, in die Wirklichkeit aller Welt außen und in die eigene tief innen. »Ihr führt ins Leben uns hinein«, könnte man zu ihnen sprechen, denn durch was anderes kämen die Menschen zur Wirklichkeit außen wie innen als durch Verschuldung? Wo ist Verflechtung in die Wirklichkeit, die frei von Schuld wäre? Erst durch Schuld erfährt man, wer man ist, vorher schwebt man im Bereiche des Scheins. Vischnu, der All, läßt alles an sich gelten, auch den Schmutz in seinen Ohren und die dämonische, zerreißend-trübende Bewegung des Weltspiels, die ihm entquillt. Erst dieses Dunkel und was in ihm wurzelt, gibt dem Oberen, Lauteren, Ordnenden sein Gegenmaß, gibt dem Gang der Welt Schwergewicht und Verlauf ins Wirkliche.
Einem Inder ist die Einseitigkeit verwunderlich, mit der die westliche Welt das Antlitz des Göttlichen ins Milde, Undämonische, Unverzerrbare verklärt hat, wo doch im Lebensganzen ständig alles beieinander ist, das Gegensätzliche Wand an Wand wohnt, ja sich innigst unheimlich durchdringt, wie im selben Hause zugleich geboren und gestorben wird, wie alles Leben im großen gesehen ein maßloses Zugleich des Entgegengesetzten ist. Es ist, als hätte Gott sich für die einseitig stilisierte Maske gerächt, die man ihm hat aufstülpen wollen – zuerst durch die mittelmäßige Erfindung des Teufels, der alles übernehmen mußte, was sich mit diesem einseitigen Gottesgesicht nicht vertrug, dann, indem der Teufel unglaubwürdig wurde, und neuerdings durch den Umstand, daß der Mensch sein einseitig umgeschaffenes Gottesbild mit der völlig dämonischen Wirklichkeit, die ihn umgibt und die er mit den Dämonen der eigenen Tiefe allstündlich selbst hervorbringen hilft, in nichts mehr reimen kann, und also dasteht in einer Welt, die ihm keinen Sinn sagt, und ohne einen Gott, ja sogar ohne einige gute Beziehungen zu den eigenen Teufeln. Das scheint die ironische Rache des Göttlichen zu sein für die willkürliche Verklärung, die man ihm angetan hat.
Der Chor der Flüche und der Dankgebete hält sich vor dem Throne des Namenlosen immer im Gleichgewicht, jedes Mahl ist ein Mord, für jedes Leben, das entsteht, gehen Tausende von Keimen zugrunde, unser ökonomisch gerichtetes Leben wächst auf dem Grunde maßloser Verschwendung der Natur, vielmehr unser Ich, das sich sichern will und soll, ist selbst nur ein Tropfen dieser in sich überströmenden Verschwendung, nur ein flimmernder Blütensamen tanzend im Sonnenstaubstrahl eines verschwenderischen ewigen Tages, der seiner nicht acht hat.
Es ließe sich ein Gebet denken, das für Schuld und Sünde dankt, weil sie den Menschen vor der Gefahr bewahren, sich überhaupt nicht zu ereignen, sich nicht auszuschöpfen, ja sich eigentlich gar nicht anzubrechen, weil sie den Menschen davor bewahren, ewig in der Schwebe als bloße Möglichkeit seiner selbst durchs Leben zu geistern – ein Dankgebet für die Möglichkeit, durch Schuld und Sünde ganz zu werden, wie Dante auf der Wanderung durch alle drei Reiche.
Der schlummernde Gott, wie wir selbst in unserer Tiefe, ist der »All«; er ruht auf der Urschlange der Lebenswasser als seiner Tiergestalt. Indien ist das Land zeitlosen Schlangenkults, ihm ist die Schlange immer das Göttliche geblieben, ihr vielköpfiger Schild überdacht und beschirmt Vischnu in seinen menschhaften wie göttlichen Bildern; aber die Schlange ist auch den menschlich-übermenschlichen Überwindern alles kreatürlichen Lebens freundlich nahe, die wie Brahma, den der Allgott in sein Amt setzt, »höchste Erkenntnis aller Dinge« erschaut haben und »aller Yogin höchster« geworden sind: sie bildet Thronsitz und Baldachin der Buddhas und ist das Zeichen des alten Jaina-Heiligen Pârschva. Es ist der eigentümliche Sündenfall der Genesis, daß sie die Lebensschlange verflucht hat; es gehört aber auch im Aufgang des griechischen Menschen zu den Taten des Herakles, die dem verwunschenen Sohne des Himmelskönigs den Aufstieg zur Sphäre des olympischen Vaters bereiten, daß er als Kind in der Wiege die Schlangen erwürgt, die ihm die alte Erdmutter Hera feindselig sendet, und daß er nachmals, herangewachsen, die vielköpfige Hydra bezwingt, der für jedes abgehauene Haupt vielfältiges neues Leben aus den Hälsen schießt. In diesen Taten begegnet sich Herakles mit des Menschen Sohn, dessen Fuß der Schlange den Kopf zertritt; die überwundene Schlange ist das neue Sinnbild, das sich das Abendland, christlich und antik bestimmt, aus der alten weltweiten Urschlange formte und als Zeichen über seinen Aufgang schrieb. Im indischen Mythos aber sind Mensch und Schlange unlöslich eins in Gott; Thron und Lager des menschgestalten Gottes bleibt die Schlange höchste Tiergestalt des Göttlichen, das viele Gestalten trägt und jenseits aller ist.
Im Leibe des indischen Menschen schläft Kundalini, die geringelte Lebensschlange, als animalische Kraft seiner Tiefe; der Yogin weckt sie durch eigene Übungen, daß sie über die Leiter der Elemente, die Leib wie Weltleib in Schichten füllen, aufwärts steige und einmünde in die überweltliche Sphäre des gestaltlos ruhenden Schiva – auf daß die weltbildende Kraft, die das Göttliche, den Leib entfaltend, in ihn niedersandte, wieder in ihren überweltlichen Quell zurückschmelze am Zenit der Leibeswelt, der Schädelkuppel des Erlösten. Der Inder ehrt die Schlange, sie ist die innerweltliche Kraft des überweltlichen Gottes – seine »schakti« –, ist das greifbare Teil seines Wesens in Gestalt der Maya, die als Lust des Lebens alle Kreatur in sich selbst befängt und im Schlummer des Unbewußtseins unseren kleinen Weltleib trägt. Die innere Schlange in Yoga wecken, heißt ihr den Heimweg suchen in die Überwelt, ins gestaltlose Element, das den Lotos als seine Blüte aus sich treibt.
Die indische Welt mit all ihrem Grauen ist wohlbewahrt in Gott, ihr Ich ist nicht abgenabelt, einsam auf sich selbst gestellt im Wirbel der Vergänglichkeit, im Wüten der Dämonen. Denn das einzelne Ich weiß sich wie die ganze Welt als eine Blüte auf Zeit; es sieht sich aus dem Schoß zeitloser Wasser wachsen und fühlt diese Wasser im Schoße des eigenen Leibes, es findet sie dort im Bilde der Schlange, die geringelt in seiner Tiefe schlummert. Tier und Element sind noch nicht entrückt im Blick des Menschen auf die eigene Tiefe, sind noch nicht ausgegrenzt als ichfremdes Wesen, als das andere, ungeistig Böse vor dem richtenden Vaterblick des Geistes – sie sind das Mütterliche, an dessen Nabelstrang das Ich zeitlebens hängt, im Kreislauf ihm verbunden.
Das weite Reich in uns, wo wir nicht Ich sind, aber Trieb und Ahnung, Eingebung und Dämonie, Frieden und Zwang, völliges Dunkel und ein Wissen wie Blitze – dieser bodenlose Raum schaukelt die Blüte des kleinen Ich wie ein Meer. Gefährlich wie je ein Meer, und nährende Tiefe zugleich – wie ist solch eine Blüte den Wassern preisgegeben und verbunden; genährt, bewahrt und wieder ihr Spiel. Wie sehr sind wir im Abendlande seit Herakles und Christus vergleichsweis aufs Trockene geraten, indes der Inder mit amphibischer Gelassenheit, unmenschlich wie sein Gott, den Kaltblütern Schlangenhaft verwandt, zerlösungsfroh im Elementischen der eigenen Schlangentiefe wie im Gestaltentausche des Samsara, das Blütenhaupt des Ich aus den Wellen hebt und schwebend hält, derweilen sein ganzer Pflanzenleib noch in den Wassern steckt und, mit seinem Stengel angenabelt an den Schlamm der Tiefe, sich Nahrung saugt.
Dem Inder dieser Mythen ist das Gespinst aus Ich und Welt, das sich Bewußtsein nennt, eine bedingte Wirklichkeit – so wirklich wie Träume. Bedingt und wirklich als Gespinst einer Selbstbefangenheit in einem Ich und seiner Welt, wie im Befangensein mit Traum-Ich und Traumgestalten. In uns ist etwas, das spinnt uns Träume und spinnt sie uns sinnvoller, als wir sie meist lesen können. In all ihrer Angst und ihrem Dunkel, die uns jagen, bleibt es ruhig, ja, es kann uns zurufen: »Genug der Angst, genug geträumt! Sei nicht mehr diese Traumgestalt, mit der du in dir selber geisterst und zitternd dich selber schreckst, anstatt in Ich und Schreckensraum des Traumes dich zu spalten, sei ganz und wach! Wirf das gehetzte Traum-Ich ab, mit ihm die Welt, die es umfängt!« – so ist dem Inder der Mythen eine Stimme nahe aus der Tiefe in uns, die nichts schreckt, und ruft ihn an in seinem Lebenstraum; ein Mütterliches, dem er sich entquellen fühlt, umfängt ihn.
Die Seelenlage, aus der solche Sicht des Lebens kommt, ist so bedrohlich wie die entgegengesetzte Hamlets, aber sie ist tröstlich umfangen von den Wassern der Tiefe. Hamlet sitzt auf dem Trockenen, auf dem kahlen Fels stoischen Gleichmuts unterm erbarmungslosen Erz einer entgötterten Himmelsschale, und die Welt, auf die er niederblickt, hat Breughel gemalt: sinnloses Gewimmel dämonischer Trivialität. Hamlet blickt auf das entzauberte Blachfeld des heroischen Epos, auf die Ebene Ilions, nicht wie Homer sie sah, aber wo Shakespeares Pandarus, das Kuppelgenie im Spiel um Troilus und Cressida, als Epilog das letzte Wort behält, nachdem der blöde Haudegen Achill, seinen Mignon Patroklus zu rächen, dem waffenlosen Hektor den Garaus machte. Dort saugt sein froherer Bruder Troilus sich Ekel an der Welt, wie sie ist, im Blick auf Hektors Ende und Cressidas Spiel, die Opheliens gewitztere Schwester ist.
Ein »alter Römer«, der stoische Horatio, ist für Hamlet der einzige Mensch inmitten der Orgie selbstvergnügter Fratzen, schaler und schlimmer Larven – ihm gesteht er:
Seit meine teure Seele Herrin war
Von ihrer Wahl und Menschen unterschied,
Hat sie dich auserkoren. Denn du warst,
Als littst du nichts, indem du alles littest,
Ein Mann, der Stöß' und Gaben vom Geschick
Mit gleichem Dank genommen.
Aber eben die stoisch-antike Haltung vollendeten Gleichmuts, gewappnet zu stehen in einem Leben ohne Ziel und Sinn, ist Hamlet, dem modernen Menschen, verdächtig – wie spräche er sonst:
Sein oder Nichtsein, das ist hier die
Frage,
Ob's edler, im Gemüt die Pfeil' und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden, oder
Sich waffnend gegen eine See von Plagen
Durch Widerstand sie enden? Sterben – schlafen –
Nichts weiter.
Darum reißt er, dem Tode schon geweiht durch das vergiftete Rapier, auch noch den Becher Gifts an sich, der ihm bereitet war, und leert ihn aus – es ist der Trank, an dem die Mutter starb –, und folgt ihr nach. »Der Rest ist Schweigen.«
Dagegen liegt für den Inder der Mythen die Lebensfrage darin, wieweit die Wasser der Tiefe die Blüte des Ichs und seiner Welt hergeben mögen, und wie bereit er ist, sich vom Mütterlichen, das ihn nährt, verschlingen zu lassen.