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Der Mythos, der den Weltuntergang erzählt, nennt den Regen, der die Welt ersäuft, das »milchförmige höchste Naß«. Wasser ist die Lebensmilch des Weltleibes, und der Weltraum ist ein Milchmeer. Der reine, anscheinend leere Himmelsraum verdichtet sich ja zu Wolken, aus ihrem Regen baut sich die Pflanzenwelt auf, von ihr lebt Tier und Mensch – so ist der Weltraum ein großes Meer flüssigen Lebens voll greifbarer Gestalten und ungreifbar schwebender Kräfte. Milch ist der Name für den flüssigen Lebenssaft, aus dem sich der all-lebendige Weltleib in all seinen vergänglichen Gestalten ständig aufbaut, denn aus Milch erbaut sich der Leib des Neugeborenen, wie sie aus der Mutter ins Kind fließt. Aus den Wolken regnet Milch und Butter, auch wenn es nicht so scheint, der Saft des Himmels, der zur Erde trieft und in ihr quillt und rinnt, baut Gras und Kräuter auf, aus ihrem wäßrigen Safte bildet sich das Blut der Kuh, es schießt ins Euter ein und wandelt sich zu Milch, und aus ihr wird Butter gequirlt. Da alle Lebensgestalt davon lebt, daß sie einander aufzehrt, kreist der göttliche Stoff, alle Gestalt aufbauend, in vielfach verlarvtem Lauf unablässig durch alles, vom Firmament zur Erde und durch Pflanze, Tier und Mensch.
Es käme darauf an, diese allerfüllende, in allen Gestalten geballte oder webende göttliche Lebenssubstanz zu verdichten, um ihr Wesen zu steigern, es gälte das allverteilte Lebenselement, das in uns ist und durch uns kreist, indem wir anderes Leben töten und essen, indem wir sterbend und verwesend es wieder abgeben, so in uns zu steigern, daß wir all seinen anderen Trägern in der Welt, von denen wir es immer wieder rauben und empfangen müssen, grenzenlos überlegen werden. Besäße es einer in höchst gesteigerter Form, dann brauchte er es nirgendwoher mehr in täglichen kleinen und vergänglichen Mengen zu nehmen, um sich zu erhalten, und es könnte ihm auch mit keiner Gewalt entrissen werden. In diesem Besitze wäre er der Stärkere und wäre gefeit, er wäre dem zwanghaften Kreislauf des Nehmens und Gebens, um sich zu fristen, entrückt; jenseits des Lebens, das sich vom Sterben anderer nährt und dafür den Preis entrichten muß, selbst in andere hinzusterben, wäre er unsterblich. Dank dieser Quintessenz der Lebenskraft wäre er allen anderen überlegen, in denen sie verdünnt zirkuliert, unangreifbar wäre er reif zur Herrschaft über die Welt. Im ewigen Kampf der göttlichen Mächte mit den dämonischen Widergöttern, wie er den Lebensgang des Weltlaufs füllt, müßte Sieger bleiben, wer das »Untote« (amrita, verwandt mit griechisch Ambrosia), das »Todlose« sich gequirlt hätte aus dem Milchmeer des Lebens, das zeitlos in sich selber hinstirbt und aus seinen Toden auflebt.
Der ganze Weltleib, vom eigenen Lebenssafte voll bis an den Rand, ist wie ein Butterfaß gefüllt mit Milch; man müßte den Weltberg, der den Kosmos in der Mitte von unten nach oben durchragt, wie den Quirlstock, der geradeso im Butterfasse steht, herumwirbeln, bis die Milch des Lebens gebuttert ist und den Trank der Unsterblichkeit als ihre Essenz, als ihre Butter hergibt. Freilich, um den Weltleib mit dem Weltberg zu quirlen, bedarf es der Weltschlange, die als Meer die Erde trägt und gürtet, daß sie, als Quirlstrick um den Weltberg geschlungen, den Riesenquirl im größten Butterfasse der Welt zum Kreiseln bringt. Dann kann das höchste Elixier als Quintessenz dem in sich verfließenden Lebensmeere abgerungen werden. Die Götter, die Brahma hervorgehen ließ und zu Waltern seiner Weltordnung bestellte, sind dieses Tranks der Unsterblichkeit sehr bedürftig, denn im Anbeginn sind sie sowenig unsterblich wie die Widergötter, mit denen sie um die Weltherrschaft ringen. Es gehört zum Entfaltungsspiele der Welt, daß die Götter erst noch werden müssen, als was die Menschen sie nachmals kennen und ehren: Unsterbliche (amara). Es bedurfte eines besonderen Zaubers, einer geheimen Kraft, eines wunderbaren Vorgangs – dank ihrer sind sie geworden, was sie sind. So hat sich im Anfang der Welt und in der Jugend aller Wesen und Dinge viel Wunderbares an ihnen ereignet, das ihrer noch unbestimmten Art die Wesenszüge aufgeprägt hat, die an ihnen besonders ins Auge fallen und ihre eigentümlichsten Kräfte und Schwächen bezeichnen. Der Mythos bewahrt die Erinnerung an dieses vielfältige Geschehen, das die verschwommene Gestalten- und Kräftewelt zu jener Umrißscharfe ausschliff, die den Spätergeborenen mit Wundern und Fragen erfüllt, und hält ihm auf seine Fragen die Kunde bereit, wie die Welt im einzelnen zu dem wurde, als was er sie gewahrt. So fragt der indische Mensch: »Wie gelangten vor Zeiten die klugen Götter zur Unsterblichkeit? Durch Glut der Askese oder durch frommes Werk? Oder wer half ihnen huldvoll mit der Glut seiner Kraft?« Die Antwort auf diese Frage gibt der Mythos von der Quirlung des Milchmeers:
»Das geschah, als Vischnu und Schiva allen Göttern als Gefährten halfen, Unsterblichkeit zu erringen. – Es tobte der Kampf zwischen Göttern und Widergöttern, vorzeiten waren die einen so sterblich wie die anderen. Da fielen Widergötter zu Hunderten von den Händen der Götter.
Schukra, ein Mensch aus dem Brahmanengeschlecht der Bhrigus, war der Priester der Widergötter. Er gehrauchte ein Zauberwissen, das wiederbelebt, und machte damit die erschlagenen Dämonen wieder lebendig, wie einer Schlafende aufweckt. Schiva selbst, der Gott großmächtigen Wesens, hatte ihm gnädig dieses glanzvolle »Geheime Wissen des Großen Herrn« geschenkt, das den Namen trägt »Die Toten belebend«. Alle Dämonen freuten sich, als sie sahen, der Sohn des Bhrigu hat das »Wissen des Großen Herrn« in Besitz, so wie es aus dem Munde des Großen Herrn gekommen ist. Darauf vollzog der weise Schukra den Zauber der Unsterblichkeit an den Dämonen – Unsterblichkeit, die in allen Welten nicht die Götter, nicht Kobolde noch Unholde besaßen, nicht Schlangen noch heilige Seher – Unsterblichkeit, die nicht bei Brahma noch bei Indra oder Vischnu war. Als Schukra sie von Schiva erhalten hatte, erfüllte ihn höchste Ruhe.
Danach erhob sich ein grausiger, gewaltiger Kampf zwischen Göttern und Widergöttern. In ihm richtete der kluge Schukra die von den Göttern erschlagenen Dämonen wieder auf mit der Kraft seines Zauberwissens – für ihn war das ein Spiel. Die Götter aber lagen erschlagen da, zu Hunderten und Tausenden. Da zeigte Indra, der König der Götter, ein bestürztes Gesicht, auch sein Priester Brihaspati, der Mann erhabenen Geistes, und die übrigen Götter waren bestürzt – ohnmächtig standen sie da. Aber der lotosentsprossene Gott, der erhabene Herr der Welt, sprach zu den niedergeschlagenen Götterfürsten auf dem Rücken des Weltberges Meru – Brahma sprach:
»Ihr Götter, hört mein Wort und betrachtet es wohl! Schließt ein Bündnis mit den Dämonen! Müht euch um den Trank der Unsterblichkeit, quirlt das Milchmeer! Nehmt Varuna, den Herrn des Meeres, euch zum Gesellen und weckt Vischnu, den Gott, der die Wurfscheibe in Händen hält, aus seinem Schlummer. Nehmt den Berg Mandara zum Quirlstock und gürtet um ihn die Weltschlange Schescha als Quirlstrick und stellt Bali, den Herrscher der Dämonen, dabei zum Quirlen an – nur auf einen Tropfen Zeit. Bittet den unvergänglichen Vischnu, daß er in seiner Gestalt als Schildkröte, die auf dem untersten Grunde der Welt den ganzen Weltleib trägt, den Quirl auf seinem Schilde trage, indes ihr quirlt!«
Die Götter vernahmen seine Rede und gingen zur Behausung der Dämonen: »Genug der Feindschaft, Bali, fortan sind wir deine Diener. Wir wollen uns um den Trank der Unsterblichkeit mühen! Schescha sei zum Quirlstrick erkoren, und wenn du im Quirlen den Trank der Unsterblichkeit gewonnen hast, werden wir alle unsterblich sein dank deiner Huld.«
Als die Götter so zu ihm sprachen, war der Dämon hochbefriedigt: »He, ihr Götter, ich will tun, was ihr sagt; denn ich allein habe ja die Kräfte, das Milchmeer zu quirlen. Ich werde den Trank der Unsterblichkeit herbeischaffen, auf daß ihr fortan unsterblich seid. Denn wer Feinde, die von weither kommen, Schutz bei ihm suchen und sich vor ihm beugen, nicht liebevoll ehrt, der geht in jenem wie diesem Leben zugrunde. Fortan will ich euch alle in Liebe beschirmen.«
So sprach der Fürst der Dämonen und ging mit den Göttern und bat den Berg Mandara, ihnen zu helfen: »Sei unser Quirlstock jetzt beim Quirlen des Tranks der Unsterblichkeit, denn das ist das große Werk, das allen Göttern und Widergöttern aufgegeben ist.« – »So sei es«, sprach der Mandara, »wenn ein Halt da ist, auf dem ich stehen kann, während ich wirble, so will ich die Allflut quirlen. Zum Amt des Quirlstricks sucht euch einen, der die Kraft hat, mich herumzuwirbeln.«
Da stiegen aus der Tiefe zwei gewaltige Götter empor, die Schildkröte und die Weltschlange Schescha, beide sind Teile eines Viertels Vischnus und sind bestellt, die Welt zu tragen. Beide sprachen stolzgeschwellte Worte. Die Schildkröte sprach: »Ob ich gleich alle drei Welten trage, werd' ich doch nicht müde. Wie würd' ich müde von Klein-Mandara, dem Knirps, der einem Kiesel gleicht.« – Und Schescha sprach: »Ob ich das Weltall, das Ei Brahmas umgürte oder ob ich das Ei Brahmas quirle, beides schafft meinem Leibe kein Ermatten – etwa das Drehen des Berges Mandara?«
Darauf entwurzelte das Schlangenwesen im selben Augenblick den Berg Mandara und warf ihn spielend ins Milchmeer, und die Schildkröte stellte sich unter seine Spitze.
Da vermochten Götter und Dämonen im Verein den Mandara nicht herumzuwirbeln und begaben sich zur Stätte Vischnus, dort sahen sie den strahlenden Gott, er schimmerte wie ein Lotoskelch und war tief versenkt in magischen Schlummer. Der Unerschütterliche trug ein gelbes Gewand, Perlenschnüre und Armbänder umwanden ihn, und er lag auf dem Schlangensitz. Mit dem Lotos seines Fußes berührte er das Nabelrund der Göttin »Lotos«, sie hielt, am Fußende des Lagers kauernd, seinen Fuß in ihrem Schoße. Der Sonnenvogel Garuda, auf dem er reitet, fächelte ihn mit seinen Schwingen, Selige, himmlische Chöre und Halbmenschen priesen ihn, die heiligen Veden umstanden ihn leibhaft und sangen ihm Preis. Götter und Dämonen legten die Hände hohl aneinander und verneigten sich alle aus allen Weltrichtungen und priesen ihn, der da lag, den linken Arm als Kissen unter den Kopf gewickelt Sie sprachen: »Anbetung dir, der über den drei Welten waltet und die Sonne an leuchtender Glut überstrahlt; du treibst die Welt aus dir hervor, du erhältst sie und raffst sie, als Schiva gestaltet, vernichtend wieder in dich hinein! Anbetung dir, der selbst Schiva unnahbar ist, der die Dämonen schlägt und mit drei Schritten die Welt durchmißt, der die Dreiwelt ist und ihre Vernichtung! Anbetung dir, du großes fressendes Feuer der Vernichtung, das die Geschlechter der Dämonenfürsten verbrennt; du Starker, dem Teiche deines Nabels entwuchs Brahma, der lotosentsprossene Gott! Anbetung dir, lotosentsprossenes großes Wesen, Schöpfer, Vernichter und Freund der Welt! Erzeuger und Herr aller Welten, der du Werk, Werkzeug und Werkmeister bist, du Untergang der Götterfeinde, strahlender großer Held, Anbetung dir! Du trinkst den Honig vom Lotosblumenmunde Lakschmis, du bist die Behausung des Ruhms! Um unserer Unsterblichkeit willen halte, o halte du den Mandara, den Berg aller Berge, der Myriaden von Myriaden Berge groß ist! Pack ihn mit einer Hand deiner beiden Arme voll unendlicher Kraft, quirle uns den Trunk der Unsterblichkeit, o Gott, die wir nach Lebenskraft und Heil verlangen!«
Der Erhabene vernahm ihr Lobpreisen und ihre Rede – da ließ er seinen magischen Schlummer fahren. Und der Töter des Madhu sprach: »Willkommen all' ihr Klugen, was ist eures Kommens Grund? Befreit euch vom Fieber der Angst, sagt an, wozu ihr hergekommen seid?« – Da sagten die himmelbewohnenden Götter: »Herr der Götter, wir quirlen das Milchmeer, um Unsterblichkeit zu erlangen – hilf uns, daß wir unsterblich werden! Ohne dich vermögen wir es nicht, du Vernichter Kaitabhas. Führe uns an, o Herr, den Trank der Unsterblichkeit zu gewinnen!«
So sprachen sie, und der unnahbare Vischnu, Vernichter seiner Feinde, schritt samt den Göttern zum Mandaraberge hin, der war von einer Windung der Weltschlange umgürtet, und Götter und Dämonen hielten ihn. Da stellten sich die Götter aus Furcht vor dem Gift der Weltschlange an ihr Schwanzende, die Dämonen aber standen bei ihrem Kopfteil, allen voran Rahu, der Mondverschlinger, der die Mondfinsternis wirkt. Und Bali ergriff mit der linken Hand das Haupt der Schlange mit tausend Mündern, mit der rechten zog er an ihrem Leibe. Vischnu hielt mit zwei Paar Armen den Weltberg Mandara samt seinen lieblichen Schluchten als Quirl umfaßt. Da riefen Götter und Widergötter »Sieg« und quirlten das göttliche Milchmeer volle hundert Jahre lang. Dann waren alle Götter und Dämonen matt, und Indra ward zu einer Wolke und regnete auf die Erschöpften mild stäubende Tropfen, und der Windgott wehte sie kühlend an. Die ermatteten Götter erholten sich, und der lotosthronende Brahma rief: »Quirlt, quirlt das Weltmeer!« so rief er immer wieder, »wer unbezwinglich sich müht, dem winkt uferloses Glück!« Von Brahma angefeuert, quirlten die Götter das Meer aufs neue, da wirbelte der Berg umher mit seinem Gipfel, der Myriaden Meilen maß, und im Wirbeln sausten Elefanten herdenweis von ihm ab, Wildschweine, Ungeheuer und Myriaden wilder Tiere, Blüten, Früchte und Bäume zu Tausenden. Dank der Kraft dieser Früchte und dem Saft der Blüten und Kräuter gerann das flüssige Milchmeer ganz und stockte zu dicker Milch. Da wurden all die Tausende lebender Wesen zerquirlt und strömten Fett und Saft aus – daraus entstand gegorener Rauschtrank.
Die Götter und Dämonen rochen den Duft des Rauschtranks, da jubelten sie auf. Sie schmeckten von ihm und wurden davon voller Kraft; da packten die Widergötter den Schlangenkönig ringsum, Vischnu trat allen voran und umschlang den Mandara mit seinen Armen, an den hinteren Teil der Schlange trat Indra, neben ihn der Sonnengott, dahinter die übrigen Götter, und es erhob sich ein gewaltiger Schall aus dem Meer, wie mächtiger Wolkendonner, als sie die Flut quirlten. Da schleuderte der große Berg Wassertiere aller Arten durcheinander, zu Hunderten und Tausenden kamen sie um, viele Geschöpfe des Meergottes Varuna, die im tiefsten Grunde der Welt hausen, vernichtete er. Und Riesenbäume, aneinander zerrieben, stürzten da samt ihren Vögeln vom Gipfel des Bergs, als er herumgewirbelt wurde; sie rieben sich aneinander, entzündeten sich, und Feuer umlohte den Berg. Immer wieder flammte es auf wie mit Blitzen und stand in schwarzblauer Wolke, es verzehrte Elefanten und Löwen, die nach allen Seiten herausflohen, und alle anderen Geschöpfe von vielen Arten, die ihr Leben verloren. Als es verzehrend nach vielen Seiten griff, löschte es Indra rings mit Wasser, das er aus Wolken strömen ließ. Da flossen Säfte von vielerlei Art in die Flut, Harze der Riesenbäume und viele Säfte von Kräutern. Und die Milch solcher Säfte, die in sich Kraft des Unsterblichkeitstrankes bargen, schenkte den Göttern Unsterblichkeit, daß ihre Haut wie Gold glänzte. Aber des Meeres Milch, die Flut, die in ihm war, wandelte sich, mit den anderen Säften vermischt, von Milch zu Butter. Da sprachen die Götter zu Brahma, der da saß: »Wir sind gewaltig müde, Brahma, und der Trank der Unsterblichkeit kommt nicht hervor; außer Vischnu sind alle Götter und Dämonen müde, und allzulange währt auch das Quirlen des Weltmeers.«
Da sagte Brahma zu Vischnu: »Gib du ihnen Kraft, du bist die höchste Rettung.« – Und Vischnu sprach: »Kraft schenke ich allen, die sich zu diesem Werke angeschickt haben; rührt den Mandara Schritt um Schritt und laßt ihn kreisen!« – Alle vernahmen sein Wort, da wurden sie stark und regten vereint die Flut des Weltmeers gewaltig auf.
Da erhob sich klaren Glanzes, weißgewandet und leuchtend wie hundert Sonnen, der Mond aus dem Meere. Ihm nach erstand Schri – Glück und Schönheit –, sie trug ein Gewand licht wie zerlassene Butter; und die Göttin des Rauschtranks erstand und ein lichtes Pferd. Und es erstand das Juwel Kaustubha, das im Trank der Unsterblichkeit seinen Ursprung hat, in Strahlen aufblühend, und der Parijatawunderbaum mit Büscheln geöffneter Blüten, von dessen Zweigen die Seligen Erfüllung aller Wünsche pflücken.
Aber alsbald gewahrten die Götter einen himmelfarbenen Rauch, der füllte alle Weltgegenden, und kein himmlisches Wesen mochte ihn ertragen. Als die Götter ihn atmeten, sanken sie hin in Ohnmacht und Erschlaffen. Sie saßen nieder am Gestade des Meeres und umfaßten sich das Haupt mit der Hand; dann ward mählich das unbezwingliche Feuer von neuem sichtbar, von Flammen umkränzt drohte es Glut ringsum, und Götter und Widergötter waren schier rings von ihm umleckt. Verbrannt und angesengt liefen sie irr nach allen Seiten. Alsbald entquollen dem Feuer schwarze Schlangen mit gewaltigen Zähnen und rote windfressende, weiße, gelbe und kuhschnäuzige Mücken und Bienen, Bremsen, Schmeißfliegen und Heuschrecken, Ohrwürmer und Eidechsen – zahllos wimmelten zahnbewehrte schreckliche Wesen von giftigen Arten, und Gifte quollen zu Hunderten, von deren bloßem Geruch und Hauch auch Gipfel von Bergen schnell versengt sind.
Und in Meeres Mitten sahen sie einen leibhaft stehen, der war eine Stätte des Schreckens für alle lebenden Wesen. Er glänzte dunkel wie Augensalbe, vermengt mit blauschwarzen Fliegen und Fluten schwarzer Farbe, er war grauenhaft und blies seinen Atem. Mit seinem Leibe füllte er den Raum zwischen den Welten, und seine Haare flammten wie Feuer. Er war mit Gold und Perlen geziert, trug ein Diadem und war in gelbe Seide gewandet, er schimmerte wie ein dunkelblauer Lotos und war mit Blumengaben geschmückt. Er dröhnte, und sein Sturm war wie Meeresbrandung.
Alle Wesen erzitterten, als sie den Schrecklichen mit seinen furchtbaren Augen gewahrten, manche schwanden in Nichts dahin, als sie seiner ansichtig wurden, anderen schwanden die Sinne, andere spien Schaum aus dem Munde, wieder anderen ward schlimm zumut. Sein Atem versengte Vischnu und Indra und die Dämonen; die Wesen mit himmlischen Gestalten sahen aus wie verbrannte Kohlen. Aber erschauernd redete Vischnu das göttliche Wesen an – der herrlich Erhabene sprach: »Wer bist du, Großer, dem Tode gleich? Was willst du? Und woher kommst du? Was kann dir zu Gefallen geschehen?«
Als er diese Worte Vischnus vernahm, sprach Kalakuta, der dem Feuer des Weltunterganges glich, und seine Stimme klang dumpf wie das Dröhnen einer geplatzten Pauke: »O Vischnu, ich heiße Kalakuta – dem Weltmeer entstamme ich. Als Götter und Widergötter in heißem Zorn das gewaltige Weltmeer quirlten, wünschten sie dabei einander den Tod – da entstand ich, um alle Götter zu töten samt den Dämonen. Alles was Leib hat, werde ich in einem Augenblick töten. Schlingt mich hinunter allesamt, oder geht zum Gotte, der auf dem Berge wohnt!«
Götter und Widergötter vernahmen sein Wort und gingen allesamt voll Angst zu Schiva. Die »Herren der Scharen Schivas«, die an seiner Tür Dienst taten, meldeten sie an, und, von Schiva entboten, traten sie hinein zum Gott, der auf dem Berge wohnt – in eine goldene Höhe des Mandaraberges, die mit Perlen und Juwelen geziert war, ihre Treppenstufen waren aus klarem Bergkristall, und ihre Säulen aus Beryll. Dort sanken sie alle in die Knie und erhoben unter Brahmas Anführung einen Preisgesang:
»Anbetung dir, Dreiäugiger, Himmelsäugiger, du hältst Bogen und Donnerkeil in Händen, du Bogenschütze! – Anbetung dir, du hältst Dreispieß und Stab in Händen, geflochtenes Haar krönt deine Stirn, Beschirmer der drei Welten, die Scharen der Wesen bilden deinen Leib. Du schlägst die Feinde der Götter; Sonne, Feuer und Mond sind die drei edelsten unter deinen Augen. – Anbetung dir, du bist Brahma und Rudra und erscheinst als Vischnu! Du bist Brahma und erscheinst als die heiligen Veden, du erscheinst als die Götter und schenkst den Geschöpfen Frieden! Anbetung dir, du hast den Leib des Liebesgottes vernichtet, du führst den Weltuntergang herauf, du bist der gewaltsame Gott über Götter – Anbetung dir: dein Same ist Gold!
Held ohnegleichen, mit den rötlichen Haarflechten, Anbetung dir! – Gatte der Uma, der das Opfer der Götter zerstört hat, der die drei Burgen der Dämonen in den drei Welten zerstört – du bist wachend in reinem Geist, du erscheinst als Alleinsamkeit des Erlösten, du erschaffst die drei Welten, du bist der Veda der Hymnen und der Sprüche und der Melodien Urwesen und Herr, Erster und Schrecklicher, Weiser du, dein Auge ist die heilige Offenbarung! Du bist wirbelnd dunkelnde Bewegung und lichte stille Klarheit und dumpfe starre Schwere, die Drei, aus denen alles Wesen besteht. Dunkelheit ist dein Wesen, Vergängliches und Unvergängliches dein Sein, Anbetung dir! – Ständiges und Wandelndes sind dein Wesen, entfaltet bist du unentfaltet – Anbetung dir, dem Entfaltet-Unentfalteten!
Wer sich dir ergibt, des Leiden machst du zunichte, du bist Vischnu hold. Geliebter der Uma, dein Zeichen ist das Haupt deines Stieres Nandin. Du bist die Jahreszeiten, die Zeitalter, die Weltalter – die halben und die ganzen Monde und die Tage sind dein Wesen! Vielfältig ist deine Erscheinung: du bist der kahlgeschorene Asket, mit dem Stabe breit wie ein Schild und trägst die Schädelschale als Bettelnapf in der Hand, und Luft ist deiner Blöße Kleid. Du fährst im Wagen daher und bist der Asket, der in Entsagung wandelt. In solchen und anderen Gestalten preisen wir dich – Anbetung dir!«
Mit solchen Worten, die das unausschöpfliche Wesen des Gottes in immer anderen Erscheinungen berührten, zu denen er sein Unentfaltetes entfaltet, priesen die Götter den Unbeweglichen. Er war es zufrieden, und lächelnd sprach er zu den Furchtsamen die glückverheißenden Worte: »Zu welchem Ende seid ihr hergekommen? Eure Lotosgesichter sind welk vor Angst – welchen Wunsch gewähre ich euch?«
Da klagten ihm Götter und Widergötter: »Großer Gott, wir quirlten das Weltmeer, um den Trank der Unsterblichkeit zu gewinnen, da entstand ein gewaltiger Gifttrank, der die Welt zu vernichten droht. Allen Göttern schuf er Angst, als er zu uns sprach: ›Euch alle verzehr' ich, oder ihr trinkt mich jetzt auf!‹ – Wir haben nicht die Kraft, ihn zu verschlingen, aber er uns, trunken von seiner Kraft. Von seinem bloßen Atem ist Vischnu hier, der wie hundert Vollmondnächte strahlt, schwarz gefärbt, und Yama, der Todesgott, ist verstört. Andere sanken ohnmächtig zu Boden und verendeten. Wie Gewinn Unseligen zum Schaden ausschlägt, und Schwachen im Unglück ein Entschluß Verderben bringt, so erstand uns aus dem Wunsche nach dem Tranke der Unsterblichkeit dieses Gift. Erlöse uns aus dieser Not – du bist unsere Hilfe, unsere höchste Zuflucht! Wer sich dir ergibt, hat dein Erbarmen, du kennst die Herzen, uranfänglicher Herr der Welten! Rette uns vor dem Fieberbrand des Giftes, Dreiäugiger! Entschließe dich, es zu verschlingen!«
Als der Gott über Götter ihre Rede vernahm, sprach er, der den Liebesgott, den Quirlstrick aller Lusterregung, zu Asche verbrannte: »Ich werde Kalakuta, das grausige Riesengift, verzehren. Und was sonst noch zu tun ist und schlimm zu vollbringen ist, auch das will ich vollenden. Befreit euch vom Fieber der Furcht!«
Als er so sprach, sträubten sich Göttern und Widergöttern vor Freude die Haare am Leibe, und ihre Kehle stammelte tränenerstickt, ihre Augen füllten sich mit Freudentränen, und sie kamen sich wie geborgen vor. Brahma und alle Götter wurden getrost und wohlgemut.
Da zog Schiva, der Herr der Welt, auf schnell ausschreitendem Buckelstier über den Himmel hin auf dem Pfade des Windes, die Fürsten und Führer der Götter und Widergötter eilten ihm auf ihren Reittieren mit flatternden weißen Jakschweifwedeln vorauf. Er aber überstrahlte die glänzenden Götter, die ihm voraneilten, rötlich schimmerte ihm das Haar von der Feuerlohe seines Stirnauges.
Am Milchmeer angelangt, sah sich der Große Gott nach Kalakuta, dem großen Gifte, um. Er trat an einen schattigen Fleck und trank es aus der linken Hand. Indra und alle Götter, »Goldauge« und die Widergötter sangen und tanzten, als er das Gift trank; sie erhoben gewaltige Löwenschreie und priesen den Herrn der Götter und waren froh. Als das Gift die Kehle des schlürfenden Gottes erreichte, sprach der weltentfaltende Brahma samt den Göttern, sprach Bali samt den Widergöttern zu Schiva: »Der Hals deines Leibes schimmert weiß in lichtem Schein wie Blüten von Jasmin – laß dazu das schwarze Gift in deiner Kehle wie einen Schwarm dunkelblauer Bienen glänzen!«
So sprachen sie, und der »Friedebringer« gab ihnen zur Antwort: »So sei es!« – Er hielt das Gift in seiner Kehle fest, davon ward sie blauschwarz, und davon heißt er Nilakantha, »Blauhals«. – Als Hara das Gift getrunken und die Scharen der Götter errettet hatte, ging er von dannen, zur Höhle des Weltberges Mandara.
Als er gegangen war, quirlten die Götter das Meer von neuem auf vielerlei Art. Da ward in ihm Dhanvantari sichtbar, der Urvater des Heilwissens vom langen Leben, und die Göttin des Rauschtrankes stieg herauf mit langgeschnittenen Augen, die den Sinn der Welt berauschend quirlt, danach kam der Trank der Unsterblichkeit, mit seinem Dufte erlöste er alle Geschöpfe von Furcht. Ihm vorauf erhob sich die Göttin »Lotos« aus der Flut, die Spenderin von Glück und Schönheit, die »Schri« und »Lakschmi« genannt wird, und Vischnu nahm sie sich zur Gemahlin; dazu kam Kaustubha, das große Juwel, das Vischnu auf der Brust trägt. Ein weißer Elefantenkönig stieg herauf, den nahm sich der tausendäugige Indra zum Reittier, und ein Juwel von weißem Pferd nahm sich der Sonnengott. Einen leuchtend weißen Sonnenschirm nahm sich Varuna, der Herr der Wasser, als Zeichen seiner Königswürde, und zwei Ohrringe nahm sich Indra. So nahm sich der Windgott freudig den Parijatabaum, dessen Zweige Erfüllung aller Wünsche tragen.
Danach aber stieg der Gott Dhanvantari, der Arzt der Götter, der aller Welt Freisein von Krankheit schafft, leibhaftig herauf und hielt eine weiße Schale in Händen, in ihr war der Trank der Unsterblichkeit.
Als die Dämonen das große Wunder sahen, erhob sich ein gewaltiger Lärm. »Mein!« »Mein!« brüllten sie wild durcheinander um den Trank der Unsterblichkeit. Da gebrauchte Vischnu seine betörende Maya und schuf sich eine unvergleichlich schöne Frauengestalt und näherte sich mit ihr den Dämonen. Da reichten die Dämonen, alle von ihr in Bann geschlagen, verblendeten Sinnes der schönen Frau den Trank der Unsterblichkeit. Dann stürmten sie vereint gegen die Götter an, gewaltige Wurfgeschosse und Waffen in Händen schwingend.
Vischnu aber, der heldenhafte Gott, nahm den Trank der Unsterblichkeit und trug ihn von den Dämonen fort; da kosteten alle Götter in Scharen vom Tranke der Unsterblichkeit, sie erhielten ihn aus Vischnus Händen, während wildes Kampfgetümmel sie umtobte. Aber während sie den ersehnten Trank schlürften, trank auch der Dämon Rahu davon, der göttliche Gestalt angenommen hatte. Schon war der Trunk ihm bis in den Hals hinabgelangt, da zeigten Sonne und Mond, die den Göttern Heil wünschten, es ihnen an. Und Vischnu, der die Wurfscheibe in Händen hält, schlug ihm voller Kraft mit der Wurfscheibe das schöngeschmückte Haupt ab, indes er trank – wie ein Berggipfel fiel es krachend zur Erde, daß sie erbebte. Seither hegt Rahus Haupt, unsterblich durch den Trank, unauslöschliche Feindschaft gegen Sonne und Mond und verfolgt sie, es schnappt nach ihnen in Verfinsterungen und verschlingt sie, aber es muß sie wieder freigeben, denn es hat keinen Leib, sie darin zu bergen.
Da legte Vischnu die Gestalt der unvergleichlich schönen Frau ab, und die Dämonen erzitterten vor seinen vielfältigen Waffen. Da sausten großmächtige scharfe Speere zu Tausenden und, von seiner Wurfscheibe zerspalten, spien die Widergötter Blut in Strömen aus vielen Wunden; von Schwert, Spieß und Keule zerhauen, stürzten sie zu Boden. Von Speeren zerspalten sank Kopf um Kopf, mit Kränzen von geglühtem Gold geschmückt, in der Schlacht zur Erde. Da lagen die großen Dämonen: die Leiber mit Blut gesalbt, wie Berge vom Zinnober rot, der aus ihrem Gestein sintert. Rings erhob sich wildes Geschrei, wie sie einander mit Schwertern zerhieben, und die Sonne ward rot von Blut. Wie sie mit Eisenkeulen aufeinander einschlugen und sich mit Fäusten zu Leibe gingen, rührte der Schall bis an den Himmel.
So toste die gewaltige Schlacht, da trat die uranfängliche Gestalt Vischnus, der Urmann, der die Stätte der Wasser ist, mit doppelter Erscheinung, als Nara und Narayana, in den Kampf. Als aber Vischnu Naras göttlichen Bogen sah, gedachte er seiner Wurfscheibe – und, kaum gedacht, kam sie schon großen Glanzes am Himmel dahergefahren: Untergang der Feinde. »Sudarschana« mit Namen, »schön anzuschauen«, der Sonne gleich kam das scharfe Rund, feuerflammend, furchterregend, unwiderstehlich in seiner Kraft. Mit seinen Armen wie Elefantenrüsseln schleuderte der Unerschütterliche sie gewaltigen Schwunges; immer wieder sauste sie, wie Weltuntergangsfeuer lohend, voll Wucht hernieder und zerriß Dämonen zu Tausenden. Wie ein Feuer, das irgendwo brennt und der Wind fährt hinein, packte sie mit Gewalt die Widergötter und zerschnitt sie, immer aufs neue durch die Luft gewirbelt, trank sie ihr Blut wie ein menschenfressender Unhold.
Aber unverzagten Sinnes bedrängten die Dämonen die Götter mit Bergen, die sie dunkel schimmernd wie zerrinnende Wolken zu Tausenden durch die Luft wirbelten, daß die Sterne vom Himmel stürzten. Bergriesen sausten, Schrecken verbreitend, samt ihren Bäumen wie vielgestaltige Wolken hernieder und flogen, mit den Gipfeln voran, krachend einer auf den anderen. Rings von den fallenden Bergen getroffen, erzitterte die Erde mit Gebirg und Wald, wie die Schlacht hin und her wogte unterm Gebrüll der Feinde, die einander herausforderten.
Da waren die Götter in großer Not. Aber Nara, die Urmannsgestalt Vischnus, umhüllte rings den Luftraum mit seinen großen Pfeilen, die Spitzen von lauterem Golde trugen, und zerfetzte mit den befiederten die Gipfel der Berge, die auf dem Pfade des Windes heranstürzten. Da ließen die Widergötter vom Kampfe ab, als die Götter sie aufs neue bedrängten; sie schlüpften in die weite Erde und bargen sich im Salzwassermeer.
So erkämpften die Götter den vollen Sieg. Dem flammenden Sudarschana, der wie das opferverzehrende Altarfeuer lohend, zornmächtig durch den Luftraum sauste, ward Ruhe geboten, und den Berg Mandara hießen sie unter hohen Ehren wieder an seine Stätte gehen.
Über Himmelshöhle und Himmelszelt allerwärts sich breitend, zogen die Wolken wassertragend auf alten Pfaden einher. Da bargen die Götter den Trank der Unsterblichkeit gut: voll höchster Freude gaben sie diesen Schatz dem diademgeschmückten Vischnu und anderen starken Göttern zu hüten.«
Gewaltiger als Vischnu und gar Brahma wirft Schiva seinen großen Schatten über das Geschehen dieses Mythos. Er ist wie Vischnu dem Spiele dieser Welt entrückt; als der andere Aspekt des überweltlich Göttlichen neben ihm webt er, über Glanz und Elend der übrigen Götter erhaben, im Jenseits einsamer Askese. Er ist der höchste Herr der Todesmächte, wie Vischnu Inbegriff der welterhaltenden ist und Brahmas weltentfaltende sich zugeeignet hat. Darum preist ihn Brahma: »Du hast den Liebesgott vernichtet, du führst den Weltuntergang herauf.« Er ist Maha-Kala, die »Große Zeit«, die alle Zeiten in sich aufhebt, wie sie gestaltenwimmelnd nacheinander heraufkommen, und sie in sich, der stehenden Ewigkeit, verschlingt. Als Maha-Kala ist er der Gebieter der alles sprossenden, alles in sich schluckenden Zeit (kala); so ist er auch der Endebringer für den Allbezwinger Tod (Yama) und heißt der »Ender des Todes« (Yama-antaka) – als »Friedewesender« und »Friedebringer« (Schambhu, Schankara) enthebt er, wer sich ihm ergibt, erbarmend dem Kreislauf von Geburt und Tod.
Der Preisgesang, den Brahma an ihn richtet, ist, wie alle Anrufungen seinesgleichen im indischen Mythos, aus dem zeitlosen Bewußtsein des Göttlichen geboren, an das er gerichtet ist. Ihm ist alles Künftige, zu dem das Weltgeschehen erst hinrollen wird, zeitlos gegenwärtig. Der Kreatur, dem Menschensinn erstreckt sich als vergangen und kommend durch die Zeit, was für das göttliche Wesen zu einem reinen Bestande gehört. Was dem Menschen Ereignis und Bewegung in der Zeit bedeutet, ist für das Göttliche wie Schmuck und Kleid an seiner Erscheinung; ihm liegt die Zeit zu Füßen wie einem hohen Berge die Wolke, die er, im klaren Äther gipfelnd, unter seiner Entrücktheit wie einen Gürtel trägt. Seine mythischen Taten und die Gebärden seines Wesens und die Namen, die er von diesen beiden empfing, hängen wie Waffen, Schmuck und Blumen an seiner Erscheinung. Wenn der Gott eine dieser Taten vollbringt im notwendigen Vollzuge des immer gleich sich wiederholenden mythischen Weltentages, wenn er Feinde der Götter vernichtet oder den Liebesgott mit einem Zornesblick zu Asche verbrennt, da er kam, seine asketische Selbstversunkenheit zu stören, dann ist, was für die Welt Geschehen und Ablauf bedeutet, für seine unbewegte Überweltlichkeit nur wie das Aufblitzen eines starren Juwels an seinem Schmuck, das vom darüberhuschenden Lichtstrahl Zeit aus seinem schimmernden Dämmer wachgeküßt wird und auf einen Augenblick sein Strahlenauge aufschlägt.
Er, der »Große Herr«, besitzt das »geheime Wissen, das Tote belebt«. Er schenkt es dem Zauberpriester der Widergötter (asura), und so werden sie wahrhaft, was ihr Name »Asura« besagt, sie werden zu denen, »die Leben haben« – denn »asu« meint »Leben«. Diese Titanen oder Riesen Indiens besitzen, wie ihr Name sagt, Leben schlechthin und grenzenlos, das macht ihre Göttlichkeit aus. Sind sie, ihrem Namen nach, unbändige Kraft des Lebens und bewähren es in furchtloser Freude an Gewalttätigkeit, so sind ihre feindlichen Halbbrüder, die Götter, die vom Himmel »div« (dyaus, zu griechisch Zeus und dios, zu lateinisch deus, divus, Diespiter gehörig) den Namen »deva« tragen, die »himmlisch Strahlenden« und »Lichten«. Ihr Wesen ist dem lebenspendenden Himmelslichte so verwandt, wie ihr Widerpart der animalischen Lebenskraft. Ihr Teil ist Witz und Geist, List und Ordnung, wie der Teil der Asuras Trieb, Wut und unbändige Kraft ist.
Beiden Heeren, Göttern wie Dämonen, sind zauberkundige Menschen zur Seite als Priester ihres Stammes. Schukra aus dem Geschlecht der Bhrigus dient Bali, dem Könige der Widergötter als Zauberpriester, wie Brihaspati aus dem Geschlechte der Angiras der Hauspriester und Zauberer des Götterkönigs Indra ist. Beide sind Ahnen der Familien wissens- und zaubermächtiger Brahmanen, die seit verdämmernden Zeiten der Veden den Königen der Menschen mit Sprüchen und Bräuchen gegen feindliche Gewalten beistehen. Das ganze Selbstgefühl brahmanischer Zauberpriester und eingeweihter Wissender leuchtet in dem Umstand auf, daß schon Götter und Dämonen in frühesten Zeiten beim Kampfe um die Macht ihrer sowenig entraten konnten, wie nachmals die sterblichen Fürsten und Heere.
Die Götter bedienen sich in ihrer Ohnmacht mit List der überlegenen Leibeskraft der Titanen, um mit ihnen vereint das Gewaltige zu vollbringen. Aber auch so noch bedarf es höherer Hilfe: das »Entfaltet-Unentfaltete« muß in immer anderen Erscheinungen, als Vischnu und Schiva und als doppelgestaltiger Urmann der Wasser (Nara und Narayana), eingreifen.
Die Quirlung des Milchmeers ist im Grunde ein alchymistischer Mythos. Wie diese Götter will ja auch der Alchymist die Kräfte im vielfältigen Stoff des Weltalls aufs höchste verdichten und läutern, bis er ihre innigste Essenz gewonnen hat. Der »Lapis Philosophorum«, der Stein der Weisen, flüssig als Tinktur, trocken als ein rotes Pulver, kann alles in alles verwandeln, denn er ist selbst aus allem als ihm innewohnende höchste Essenz herausverwandelt, er stellt in höchster Konzentration das göttliche Urelement dar, das die Kräfte aller anderen Aggregatformen des Weltstoffs in sich vereint. Aus ihm sind alle anderen Stoffe der Welt in einseitiger Artung und minderer Kraft zu wirken abgespalten zu der Reihe immer dumpferer, matterer, unedler Elemente. Wer den Lapis gewönne, trüge die Kraft, die rings um ihre Fülle verarmt, dünn und trübe zirkuliert, zur Quintessenz gesteigert und geklärt bei sich, er wäre im Besitz des allesverwandelnden Unwandelbaren. Er wäre gegen alles gefeit, zur Herrschaft über alles berufen und dem Tode entrückt.
Aber wie es in jedem Mysterium der Wiedergeburt und Verwandlung zugeht, das den Menschen dem Kreatürlichen und seinem Lose, sterben zu müssen, entheben will, um ihm ein unzerstörbares Sein zu erschließen, so steht es auch in diesem Mythos: der Weg zur Unsterblichkeit geht nur durch den Tod. Alle Zeichen göttlicher Unsterblichkeit, Pracht und Wunscherfüllung, die der indische Mythos kennt: der weiße Elefant, das weiße Pferd, Juwel, Sonnenschirm und Ohrringe, der wunschgewährende Wunderbaum, der Rauschtrank, der ein Vorgeschmack des Göttertrankes »Todlos« ist und das Gefühl unüberwindlicher Kraft verleiht, der milchige Trank der Unsterblichkeit selbst in milchweißer Schale, und sein Ebenbild und Doppelgänger: die volle Schale des nektartriefenden Mondes, dessen Strahlenmilch alles, was wächst, erquickt, dazu die Göttin »Lotos« – alles das wird im Milchmeer sichtbar, aber ehe es sich den Göttern zu eigen gibt, erhebt sich aus der Tiefe der flammende Glutatem gesammelten Todes. Und keiner vermag ihn aus sich zu bestehen, auch nicht Brahma, der Lebenentfaltende, nicht Vischnu, der Lebenerhaltende. Einzig Schiva ist imstand, das Todesgift zu trinken. Es war im kreisenden Meere des Lebens rings verteilt, so verteilt wie sein Gegenteil, denn Leben ist Sterben und Sterben Leben, mit jedem Pulsschlag ineinander fließend – es war verteilt, aber quirlend haben Götter und Dämonen seine Quintessenz zusammengebracht. Quirlt man gesteigertes Leben, so quirlt man sich auch gesteigerten Tod – wie könnte das anders sein? Denn Gleichgewicht, das sich bei allem Schwanken der Schalen und im Wechsel ihrer Gewichte immer wieder einstellt, und der Übergang von Gegensätzen, die sich aufgerissen haben, zu ihrer völligen Einebnung bezeichnen den Wandelgang des Alls.
Kalakuta, »Spitze« oder »Gipfel« (Kuta) des Todes (kala), die Quintessenz des Todesgifts der Welt, entstand – der Dämon sagt es selbst –, »als Götter und Widergötter einander den Tod wünschten«. Dieses Gift ist der gestaltgewordene Todeswunsch aller Geschöpfe gegeneinander, die immer leben, nur ja leben wollen und also, wissend oder unbewußt, immerfort bereit sind, einander den Garaus zu machen, um einander lustvoll zu verzehren. Die Götter sagen es selbst und wissen nicht, was sie damit sagen, »aus dem Wunsche nach Unsterblichkeit entstand uns dieses Gift«. Aus diesem Wunsche zerquirlten sie all das Leben, das vom wirbelnden Berge ins Meer stob und ertrank, zerrissen und zerquetschten sie die Geschöpfe des Meeres mit ihrem Quirlen. Der Saft, den viele Kreatur sterbend ins Milchmeer strömte, fermentierte den Trank der Unsterblichkeit. Der Trieb, mit dem alle Lebensgestalt sich grenzenlos fristen will, indem sie einander erbarmungslos verschlingt, wird mit seinem dunklen Antlitz in Kalakuta sichtbar. Er ist das tödliche Prinzip des Naturlebens, das den zeitlosen Gestaltentausch des lebendigen Weltstoffs im All regiert, der nachtgesichtige Regent des Lebensmeeres, der schwarze, rauchfarbene Schatten, den die Lust des Lebens zu sich selber ihrer Verdichtung zur Unsterblichkeit vorauswirft. Jetzt gilt es, diesen Schatten an sich zu nehmen und in sich zu trinken, sonst wird er selbst die Götter verschlingen. Aber wer vermag den Schatten, den er wirft, in sich hineinzunehmen und das gesammelte Gegenteil des innersten Triebes, das ihm höllisches Gift dünken muß, statt ersehnten Nektars sich einzuverleiben? Darauf käme es jetzt aber an.
Die Götter kommen um den Schrecken herum, sie erlangen den Trank der Unsterblichkeit und listen ihn den Widergöttern ab. Aber keine der beiden streitenden und quirlenden Scharen besteht den Schrecken aus eigener Kraft, durch einen Gang der Läuterung und des Erkennens, wie ihn Mysterien weisen, die den Menschen durch den Tod zur Unsterblichkeit führen. Götter und Dämonen streifen den kreatürlichen Schauer nicht ab, sie fliehen in Todesangst zum Herrn des Todes, aber sie wagen nicht, sich selbst in den entsetzlichen Rachen zu stürzen – er würde sich vielleicht verwandeln in sein Gegenteil und sie zugleich verwandeln. Sich selbst mit seinem ganzen natürlichen Sein als Opfer darzubringen, als krönendes Opfer aller Mühsal, die sich nur als Vorbereitung entschleiert zu dieser hohen Möglichkeit: Opferbereitschaft, die den Tod in sich hinabschlingt, um die Verwandlung zu erfahren, dieses hohe Mysterium der Schivagläubigen blitzt nicht auf an diesen leben- und ichversessenen Göttern und Dämonen. »Raube das Licht aus dem Rachen der Schlange«, lautete das Orakel, das Carossa aus seinem dunklen Inneren in einer Lebensnot entgegenscholl, und er folgte diesem Wort auf die Schlachtfelder des Krieges.
Der Gott, der jenseits von Tod und Leben ist, der über alle Kräfte der Vernichtung gebietet, wie er das Symbol der Zeugung, das Lingam, als sein Zeichen führt, rettet Götter und Dämonen aus dem Abenteuer, dem sie schließlich nicht gewachsen sind. Durch den Wundertrank werden die Götter gegen den Tod gefeit, aber sie sind unverwandelt. Sie bleiben die listig-hellen und großartigen, indes die Dämonen die leiblich stärkeren und unbändigen sind und erst der vervielfachten Gestalt und Wirkung Vischnus weichen; sie bleiben die ichgebundenen personhaften Weltallkräfte, die ganz in sich und in der Welt befangen sind, die sie durchwalten sollen. Unsterblich zwar, sind sie nicht welt- und kampfenthoben und über die Welt erhaben. Sie bleiben ein Teil der Maya. Durch seine rettende Tat stellt Schiva nur das Gleichgewicht zwischen Göttern und Dämonen wieder her, wie es anfangs bestand, als beide sterblich waren – jetzt sind beide unsterblich. Er selbst hatte dieses Gleichgewicht gestört und den Dämonen das geheime Wissen geschenkt, das den Namen trägt »Tote belebend«, damit waren die chaotisch-weltbewegenden Mächte, ohne die es keinen Weltlauf gäbe, unsterblich; da er jetzt auch den Göttern zur Unsterblichkeit half, kann das Ringen um die Herrschaft der Welt unter den gleichermaßen Todgefeiten erst seinen wahrhaft zeitlosen Gang anheben. Wie er selbst den Anlaß gab, daß die widerstreitenden Mächte aus dem Gleichgewicht ihrer Kräfte fielen und das dämonische Element völlig die Oberhand zu gewinnen drohte, stellt der höchste Gott, ohne mit einem Wort daran zu rühren, als außerweltlicher Herr des Ganzen mit einem Zuge das Gleichgewicht im Spiel wieder her. Nun kann das Ringen ewig weitergehen. Daß es je enden könnte, dieses Ringen geklärter Natur- und Menschenordnung, die sich in Hingabe und Opfer des Ichs erfüllt, mit ichversessener Machtlust, dumpfer Fühllosigkeit und elementarer Gewalt, vermag Indien nicht zu glauben. Die erfüllte Ordnung kann immer nur ein glückhaft hoher Augenblick sein im wirbelnden Spiel, ein Gipfel der göttlichen Kräfte im Umschwung, kaum vollbracht und schon vorüber. Und noch dazu bedarf es des hohen Wunders, daß, in irgendeine Gestalt verlarvt, das Göttliche leibhaft aus seiner überweltlichen Ruhe Mal um Mal schlichtend in den Wirbel der Welt greife.
Ein ewiges Schwanken der Schalen: das ist das Spiel der Welt; die ewige Ruhe in Gott ist Gottes überweltlicher Stand, zu dem der einzelne in Läuterung und Erkenntnis eingehen kann, aber der Weltleib Gottes wird immer alles in sich bergen, den lichten Geist wie die Dämonie des Blutes und die Dumpfheit der Triebe. Daß es eine Ordnung geben könne, deren volle Erfülltheit länger als einen Augenblick idealer Schwebe währen und als Zustand dauern könne, daß die Sonne im Zenit stillhalten könne, statt ihn nur zu durchgleiten, ist dem Inder nie beigekommen, zu wähnen. In Zarathustras Weltvision überwindet das Göttliche mit den reinen Mächten am Ende das Reich der Lüge und Finsternis ganz und verbrennt es, und die »triumphierende Kirche« der Christenheit soll das Ringen der hienieden »streitenden« glorreich auf ewig enden – aber der Inder weiß um den Rhythmus des Reigens, und aller westliche Glaube an die Vervollkommnungsfähigkeit der Welt, an eine Harmonie als Endzustand der Ausgewogenheit, die sich durch Wandlungen herbeiführen ließe, verliert den Atem vor Indiens welträumiger Gelassenheit.
Dieses zeitlose Spiel nicht begreifen wollen, nicht hinsterben wollen in ihm, gilt dem indischen Mythos als das schlechthin Dämonische: die Selbstbehauptung des machtvollen Ich in erreichter Herrlichkeit, um die das Spiel der Welt die tanzenden Füße anhalten soll. Es hat Sinn, daß am Ende der großen Quirlung des Weltleibs unter Beihilfe aller göttlichen und dämonischen Kräfte eigentlich nichts geschehen ist; nur das Gleichgewicht ist auf einer neuen Ebene wiederhergestellt, die wechselseitige Bedrohung der Götter und Dämonen gilt wieder mit gleicher Stärke. Wer darf mehr vom Leben fordern? Sicherheit in der Preisgegebenheit des Lebens kann es nicht geben, wohl aber die Chance, nicht nur bedroht zu sein, einseitig bedroht zu sein, vielmehr zugleich selbst auch Drohung zu sein, und das vielleicht auf die merkwürdigste, unerwartetste Art, wenn die geläufigen Formen der Selbstbehauptung versagt sind – das ist das Gleichgewicht des Lebensspieles.
Aber ein Trieb, sich grenzenlos zu sichern, stellt sich der tieferen Einsicht, wie brüchig alle Möglichkeit der Sicherung sei, mit kreaturhafter Kraft entgegen. Er führt zum Sicherungskomplex, der alles Lebendige weithin beherrscht. Die Lebensklugheit steht in seinem Dienst, und die Moral enthält seine Anleitungen, die Alten lehren die Jungen, sich zurückhalten oder zugreifen, auftrumpfen oder sich durchwinden, je nachdem Gewinn und Vorsicht es heischen. Erfahrungsweisheit und Erziehung, das ganze Reich des Bewußtseins und des kausalen Denkens dient dieser Selbstbehauptung, diesem Dauernwollen durch Sicherungen. Aber der Mythos als Organ des Unbewußten steht diesem Zug zur Sicherung, sosehr das Unbewußte ihn auch kennt und fördert, mit tiefer Ironie gegenüber, denn was liegt der Wassertiefe unten an der Sicherung und grenzenlosen Dauer der aus ihr aufgeblühten Ichgestalt? Was kümmert es Vischnu, daß die Lotosblüte, die seinem Nabel entsprießt, ewig währe?
Den titanischen Versuch, ein machtvolles Ich in erreichter Herrlichkeit zu behaupten und seine Willkür dem Weltlauf aufzuzwingen, stellt der Mythos in immer anderen großen dämonischen Gestalten dar; ihre Reihe eröffnet der Dämon »Goldgewand«, den Vischnu in seiner Gebärde als Löwenmann zerreißt.