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Mehrere Tage vergingen, und als nichts von Haneys Rückkehr verlautete, begann Frank Yardley sich zu beunruhigen. Nicht, weil er fürchtete, dem Inspektor könne etwas zugestoßen sein – der stand seinen Mann – sondern, weil seine lange Abwesenheit darauf schließen ließ, daß er endlich auf der Spur sei.
Vielleicht war es Haney – wenn auch etwas spät – eingefallen, daß es Alphonse de Roget vielleicht in bezug auf die Paßangelegenheit leichter gewesen sein konnte, in seiner kurzen Freizeit aus England zurückzukehren, als von Frankreich aus hinüberzugelangen. Die englische und die französische Regierung hatten sich kürzlich dahin geeinigt, daß bei kurzem Aufenthalt keine Paßschwierigkeiten gemacht werden sollten. Roget konnte also ohne große Mühe nach Frankreich zurückgekehrt sein, und daß er in England gewesen war, stand jetzt für Yardley fest.
Anfangs hatte er gedacht: »Wie dumm von dem Kerl, überhaupt zurückzukehren!« Aber bei näherer Ueberlegung wurde ihm klar, daß Alphonse de Roget überaus klug war. Sich in Frankreich einfangen zu lassen, um den Rest seiner Strafzeit abzusitzen, war ein feiner Schachzug. Wer konnte unter solchen Umständen auch nur im Traum daran denken, ihn mit Seminows Ermordung in Verbindung zu bringen?
In der menschenfreundlichen Absicht, Sir Edwin von seinem Trübsinn abzulenken, zog Yardley den Freund ins Vertrauen. Frau Cornish war, unter Davids Schutz, aus acht Tage mit Kathleen nach London gefahren, um Besorgungen zu machen, und da ihr Bruder nicht zu bewegen gewesen war, sie zu begleiten, hatte Yardley ihr versprochen, ihn zu betreuen. Sir Edwin befand sich jedoch in einer so düsteren Stimmung, daß es kaum möglich schien, ihn von der unter seinem Dache begangenen Mordtat abzulenken.
»Mir ist die Sache ganz einerlei«, erklärte er, als Yardley davon begann.
»Das weiß ich«, erwiderte der Freund ungerührt, »aber mich interessiert sie, und ich brauche einen Zuhörer. Wenn Haney doch nur wiederkäme!«
»Gott sei gelobt, daß er fort ist!« rief Edwin aus. »Der Mann hat weit mehr zudringliche Fragen gestellt, als ich mir in meinem ganzen Leben habe gefallen lassen.«
Yardley lachte und steckte seine Pfeife an. »Natürlich, eine Zeitlang war er sich nicht ganz einig darüber, ob nicht etwa du Seminow ermordet hättest. Meiner Ansicht nach sind Kathleen und ich die einzigen, die er nicht in Verdacht gehabt hat. Kann ich gar keinen Funken von Interesse in dir erwecken, Edwin?«
»O doch, das könntest du, wenn du mir sagtest, wie der Mörder aus dem Zimmer herausgelangt ist.«
»Woher weißt du, daß ich das herausgebracht habe?« rief Yardley höchlichst überrascht aus.
»Herrgott, ich weiß es ja gar nicht!« versetzte Sir Edwin ungeduldig. »Und ich glaube auch nicht, daß du es weißt«, setzte er herausfordernd hinzu.
»Schön«, sagte Yardley. »Komm mit nach oben! Dann will ich es dir durch den Augenschein nachweisen.«
Endlich hatte er Sir Edwins Interesse erweckt. »Ich will fünfhundert Pfund dagegen wetten!« rief er.
»Die Wette kann ich nicht annehmen, denn ich habe die Sache bereits aufgeklärt«, erwiderte sein Freund.
»Du bist durch die verschlossene und verriegelte Tür!«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich behaupte nur, daß ich durch die Tür aus dem Zimmer hinausgehen kann, und daß sie trotzdem verschlossen und verriegelt ist.«
»Oho! Vergiß nicht, daß der Schlüssel drinnen lag!«
»Das ist das Leichteste an der Sache. Ich gestehe, daß der Riegel mir Schwierigkeiten gemacht hat. Aber der Schlüssel nicht.«
»Ach so! Du nimmst an, daß zwei Schlüssel vorhanden waren?«
»Nein, das tue ich nicht. Kommst du mit?«
Edwin setzte eine gelangweilte Miene auf, aber im Grunde interessierte ihn die Sache.
Sie gingen zusammen hinauf. Die Tür zu den drei Räumen war verschlossen; aber Sir Edwin hatte den Schlüssel in der Tasche.
Als sie im Begriffe waren, die Tür aufzuschließen, deutete Yardley auf das am Ende des Ganges gelegene Fenster.
»Einen Augenblick, Edwin! Blick erst einmal aus dem Fenster hier. Hier ist der Kerl herein- und auch wieder hinausgekommen. Siehst du, wie leicht das gewesen ist – zumal, wenn jemand hier stand und ihm behilflich war? Ich bin kein Athlet; aber das hätte ich leicht fertiggebracht.«
Edwin blickte gehorsam hinaus. Gerade unter dem Fenster befand sich ein steinerner Sockel mit einer alten kupfernen Schale, einem sogenannten »Vogelbay«, und die Hauswand war an dieser Stelle ganz dicht mit Glyzinen berankt, die mit starken eisernen Stangen und Klammern gestützt waren.
»Haney und ich sind beide überzeugt, daß Seminows Mörder durch dieses Fenster herein- und wieder hinausgelangt ist«, sagte Yardley.
»Das kann ein Kind einsehen«, erklärte Sir Edwin spöttisch. »Ich dachte –«
»Nicht so vorschnell, Edwin!« fiel Yardley ihm ins Wort. »Es ist sehr wichtig. Ich möchte dir alles von Anfang an auseinandersetzen und zuerst zeigen, wie der Kerl hereingekommen ist. Du mußt wissen, daß sowohl Haney wie ich fest glauben, daß Seminow den Betreffenden erwartete – nennen wir ihn meinetwegen X. Seminow wird also das Fenster geöffnet und X. hereingelassen haben. Dann haben sie sich nach seinem Zimmer begeben, wie du und ich es jetzt tun werden, und der Schlüssel ist im Schloß stecken geblieben – vielleicht, nachdem sie die Tür zugeschoben hatten. Vermutlich hatte Seminow kurz zuvor sein Gespräch mit Fräulein Givens beendet und sie fortgeschickt. X. wird zu der verabredeten Zeit eingetroffen sein und unter dem Fenster gewartet haben. So, nun sind wir also drin! Du bist Seminow, und ich bin Herr X. Gib den Schlüssel her, Edwin!«
Sir Edwin zog den Schlüssel aus der Tasche, öffnete und betrat, gefolgt von Yardley, das dumpfige Zimmer, wo alles noch so stand und lag wie zur Zeit der Entdeckung des Verbrechens. Das herausgesägte Türschloß war unter Haneys Leitung aufs peinlichste wiederhergerichtet worden.
»Nun vergiß nicht, daß du Seminow bist, und ich Herr X. bin«, sagte Yardley. »Setze dich auf diesen Lehnstuhl. Ich nehme hier Platz. So! Nun müßtest du eigentlich eine Zigarre rauchen; aber das ist wohl nicht nötig.«
Die beiden Männer saßen einander jetzt in einer Entfernung von etwa neunzig Zentimetern gegenüber.
»Also ich habe nun die Absicht, dich zu ermorden«, fuhr Yardley fort. »Nein, du darfst nicht zurückzucken, Edwin! Du weißt ja nicht, daß ich dich ermorden will. Für dich ist das die größte Ueberraschung in deinem ganzen Leben, weißt du – auf diese Weise: Wupp! So, nun bist du tot! Aber sicherheitshalber steche ich noch zweimal zu – so – und so!«
Ein Papiermesser aus Elfenbein, das blitzschnell aus Yardleys Tasche hervorzuckte, wirkte so realistisch, daß Sir Edwin unwillkürlich leise aufschrie.
»Das wäre also besorgt«, fuhr Yardley fort. »Du bist tot, und ich schicke mich an, zu entfliehen. Aber ich bin ein schlauer Kerl. Damit meine Tat nicht zu früh entdeckt wird, schließe ich die Tür hinter mir zu.«
»Und auch zuriegeln!« warf der »Tote« ein.
»Nein, das wird jemand anderes besorgen«, erwiderte Yardley lächelnd.
»Aber nicht ich«, versicherte der »Tote«.
»Natürlich nicht, du Schlaukopf! Du bist tot und rührst dich nicht vom Fleck, bis die Vorstellung zu Ende ist.«
Yardley schloß die Tür auf, ging hinaus und drehte den Schlüssel draußen im Schloß um.
»Siehst du, nun bin ich draußen«, rief er vom Gang aus.
»Jawohl! Aber wo ist der Schlüssel und wie willst du es fertig kriegen, den Riegel vorzuschieben?«
Doch schon glitt der kleine Schlüssel über das Parkett und blieb am Rande des Teppichs liegen. Bestürzt starrte Edwin auf ihn nieder.
»Wie hast du das fertiggebracht?« rief er laut.
»Unter der Tür durch, mein Freund!« erklärte Yardley. »Dir ist der Lichtstreifen unter ihr wahrscheinlich nicht aufgefallen; aber X. hat ihn bemerkt und kam dabei auf den Gedanken, den Schlüssel darunter durchzuschieben, so daß der Eindruck erweckt wurde, als ob er sich drinnen versteckt habe.«
»Das mag stimmen; aber wie willst du jetzt den Riegel vorschieben?«
»Ist gar nicht meine Absicht! Das überlasse ich Sir Edwin, Thomson, Wung Lu und Frank Yardley. X. schlüpft jetzt zum Fenster hinaus. Sitze ganz still, Ed! Rühre dich nicht vom Fleck. Jetzt kommen wir alle an und schlagen gegen die Tür. Denke daran, daß sogar die Vase dabei vom Kamin herabfiel. Das brachte mich auf den Gedanken. Achte auf den Riegel, Ed!«
Der »Tote« gehorchte und bemerkte, daß die Tür ein klein wenig schief hing und der Riegel sehr locker aussah.
Draußen entstand nun ein dröhnender Lärm, als ob Dutzende von Fäusten die Tür bearbeiteten.
Und langsam – ganz allmählich – glitt der Riegel an der zitternden Tür in die Fassung hinein, während sämtliche Gegenstände auf dem Kaminsims bebten und tanzten.
»Nun, geht er zu, Ed?« schrie Yardley und ließ seine Fäuste ruhen.
»Er ist zu«, sagte Edwin. »Du hast gewonnen, du heller Junge.«
»Nun, dann kehr ins Leben zurück, und laß mich ein!«
Sir Edwin gehorchte, und als sie nach unten zurückkehrten, sagte er: »Die fünfhundert Pfund gehören also dir.«
»Davon kann gar keine Rede sein –«
»Höre zu, Frank!« fiel Sir Edwin ihm ins Wort. »Die fünfhundert sind mein Hochzeitsgeschenk. Macht damit, was ihr wollt – am besten eine schöne Hochzeitsreise – und genießt euer Zusammensein. Du hast lange genug darauf gewartet.«
Yardley drückte ihm warm die Hand. »Du bist ein treuer Freund«, sagte er bewegt. »Ich wollte, ich könnte auch etwas für dich tun.«
»Vielleicht könntest du das«, murmelte Sir Edwin sinnend. »Höre! Wie du weißt, will Dora mich nicht heiraten, weil sie jemand anders lieber hat als mich. Ich glaube ihr das nicht. Deshalb schrieb ich an sie; aber der Brief kehrte zurück mit dem Vermerk: »Unbestellbar. Adressat unbekannt.« – Freilich – ich kannte nur ihre Hoteladresse! Glaubst du, daß du herausfinden könntest, wo sie ist, Frank? Du – oder vielleicht Haney?«
Yardley war ratlos. Er brauchte nur zu sagen: »Dein einziger Nebenbuhler ist das kleine Zirkusmädchen, und Dora Givens lebt jetzt mit ihr in Maidstone.« Aber das durfte er nicht.
Yardley nahm an, daß sie alles verschwiegen habe, und seiner Ansicht nach war es gut, wenn Edwin an einen anderen Liebhaber glaubte, mit dem sie auf und davon gegangen sei. Es ging doch wirklich nicht an, daß er Dora heiratete.
Aber das betrübte Gesicht des Freundes tat ihm weh. Edwin war ein einsamer Mensch und litt unter seiner Einsamkeit.
Plötzlich packte Edwin ihn am Arm.
»Frank, du weißt, wo sie ist! Ich möchte darauf schwören, daß du es weißt. Sage es mir, um Himmelswillen!«
Yardley holte tief Atem.
»Sie ist nahe bei dem Zirkus«, sagte er. »Haney hat sie in Maidstone gesehen.«
»Beim – Zirkus?« erwiderte Edwin ungläubig.
»Ja, sie hängt wohl sehr an dem kleinen Mädchen, das sie hier gepflegt hat.«
Edwin antwortete nicht, sondern starrte nur vor sich hin. Dann schellte er und rief dem herbeieilenden Thomson zu:
»Das Auto soll sofort vorfahren. Ich nehme nur einen Handkoffer mit. Packen Sie mir ein paar Sachen ein, und sagen Sie unten, daß ich heute abend wohl nicht zurück sein werde.«
»Sehr wohl, Sir!«
»Du willst nach Maidstone, alter Junge?« fragte Yardley.
»Ja.«
»Soll ich mitkommen?«
»Danke mein Freund. Lieber nicht!«
»Aber ich habe Helen versprochen –«
Edwin lächelte ingrimmig. »Kann ich mir denken – die Kinderfrau! Aber meinst du nicht, daß ich allmählich lernen muß, ohne Kinderfrau fertig zu werden?«
Sie drückten einander warm die Hand.
»Glück auf den Weg, Edwin!«