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Frau Cornish sah ihrem Wochenende mit fast romantisch gefärbter Freude entgegen.
Es war lange her, seit sie in Larke Minnis gewesen war, jenem abgelegenen Ort, wo sie ihre Ferien so oft mit ihrem Bruder Edwin verbracht hatte. Madder Grange hatte nach Onkel Harrys Tode mehrere Jahre lang leergestanden, aber jetzt war Edwin – oder vielmehr Sir Edwin Mathers – dort eingezogen, hatte die Köchin und den alten bewährten Diener seines Onkels wieder in seinen Dienst genommen und seiner Schwester mitgeteilt, daß er sich ein für allemal in Madder Grange niedergelassen habe.
»Ob er sich nun wohl endlich verheiraten wird?« dachte Frau Cornish, indem sie von ihrem Kupeefenster aus in die wohlbekannte Gegend hinausschaute. Sie kam sich ungeachtet ihrer achtunddreißig Jahre noch ganz jugendlich vor, trotzdem ihre achtzehnjährige und bereits verlobte Tochter ihr gegenübersaß.
Frau Cornish gehörte zu jenen hübschen und zierlichen blonden Frauen, die stets den Eindruck erwecken, als ob sie behütet und umsorgt werden müßten, obwohl sie durchaus imstande sind, mit sich und sogar mit anderen Menschen fertig zu werden. Kathleen, die sich ganz in einen modernen »intellektuellen« Roman vertieft hatte, war ebenfalls blond, doch größer als ihre Mutter.
An der anderen Seite des Abteils thronte Dunkan, die ältliche Kammerjungfer Frau Cornishs, inmitten eines ganzen Stapels von Handgepäck.
Wieder holte Frau Cornish den Brief ihres Bruders hervor und las ihn zum dritten Male durch.
Madder Grange (Larke Minnis),
20. Oktober.
Liebste Helen!
Nun bin ich also hier und möchte meinen Einzug, wenn auch noch nicht alles endgültig geordnet ist, mit ein paar lieben Gästen feiern. Thomson und die Köchin haben es mir schon ganz behaglich gemacht und mir auch ein paar nette Mädchen verschafft. Ich werde Dich und Kathleen Freitag in Ashford abholen. Es wird Kathleen interessieren, daß ich auch David Mackenzie eingeladen habe, der aber erst mit einem späteren Zuge kommen kann. Außerdem erwarte ich noch jenes Fräulein Givens, das ich im vergangenen Jahre auf der Heimfahrt aus Kalkutta kennenlernte und neulich ganz zufällig in London wiedertraf. Sie wird mit demselben Zug wie David anlangen, und ein anderer Gast, Herr Seminow, kommt mit Auto von Folkestone herüber, um mich auf dem Wege von Paris nach London zu besuchen. Einige von unseren Finanzgrößen würden wahrscheinlich sehr erstaunt sein, wenn sie wüßten, daß Mathers, Mackenzie u. Co. mit Peter Seminow zu tun haben …«
Das war Frau Cornish auch; denn wenngleich die Teefirma Mathers alt und angesehen war und Edwin die indische Filiale jahrelang geleitet hatte, begriff sie doch nicht, was ein schlichter Geschäftsmann wie ihr Bruder mit jenem fast sagenhaft mysteriösen Peter Seminow gemein haben konnte, der nicht nur als reichster, sondern auch als geheimnisvollster Mann der Welt galt.
»… Am meisten hat mich bei meiner Heimkehr nach Madder Grange gefreut, daß ich Frank Yardley hier noch vorfand. Er ist immer noch derselbe liebe Kerl, und in seinem etwas baufälligen Häuschen ist alles unverändert bis auf eine bedeutende Vergrößerung seiner Bibliothek. Seit dem Tode seiner Mutter fühlt er sich etwas einsam und hat sich neuerdings eifrig auf Kriminalistik geworfen. Was für nette Zeiten haben wir doch mit dem braven, alten Frank verlebt, liebe Helen! Es hat mich oft gewundert, daß Ihr Euch nicht geheiratet habt.«
Frau Cornish seufzte und las nicht weiter. Da sie seit fünf Jahren Witwe war, machte sie sich keinen Vorwurf daraus, wenn sie selbst mit Bedauern an jenen unerfüllten romantischen Jugendtraum zurückdachte. Sie würde sich einsam fühlen, wenn Kathleen erst mit David Mackenzie verheiratet war. Das Brautpaar sah der Ankündigung der Verlobung schon mit Ungeduld entgegen und würde gewiß auf baldige Hochzeit dringen, sobald einmal die Anzeige erfolgt war. Und doch hegte Frau Cornish in bezug darauf leise Bedenken, obwohl sie selbst früh geheiratet hatte. Es kam ihr oft vor, als sei Kathleen sich noch nicht ganz klar über ihre Gefühle für den braven David.
Nun, es war jedenfalls gut, daß er kam, und da Frank Yardley kaum einen Steinwurf entfernt von Madder Grange wohnte, war ja auch für ihre eigene und ihres Bruders Unterhaltung gesorgt.
Ob aber die beiden Fremden nicht störend wirken würden? Einen Peter Seminow kennenzulernen, war natürlich interessant. Doch jenes Fräulein Givens gab der besorgten Schwester zu denken.
Mit einem Male ließ Kathleen ihr Buch sinken und fragte nachdenklich: »Mutti, findest du es nicht auch sonderbar, daß ein Mann wie Seminow Onkel Edwin besucht? Ich bin ganz aufgeregt darüber. Der ›reichste Mann der Welt‹ in dem abgelegenen ländlichen Madder Grange!«
»O, selbst der reichste Mann der Welt kann schließlich doch auch nur in einem Bett schlafen«, versetzte Frau Cornish trocken. »Und das können wir uns ebenfalls leisten.«
Als sie in Ashford ausstiegen, fanden sie nur das Auto Sir Edwins vor, und der Chauffeur meldete, daß sein Herr nicht mitgekommen sei, weil Herr Seminow jeden Augenblick erwartet werde.
Dagegen eilte von der Dorfstraße eine hohe, bekannte Gestalt herbei, die mit knabenhaftem Uebermut den Hut schwenkte.
»Es ist Herr Yardley«, sagte Frau Cornish, indem sie lächelnd mit der Hand winkte. »Du wirst dich seiner kaum erinnern, Kathleen.«
Der liebe, alte Frank! Nicht im geringsten verändert war dieser große Mann mit dem sandfarbenen Bart und der Brille vor den milden, blauen Gelehrtenaugen. Es tat wohl, ihre Hände von ihm in seiner alten, lebhaften Manier ergriffen zu fühlen und zu hören, daß auch sie sich gar nicht verändert habe, und daß kein Mensch die große, schöne Kathleen für ihre Tochter halten würde! Ueberdies sei er den ganzen Weg von Larke Minnis gelaufen, um sie zu empfangen.
»Aber warum haben Sie das Auto nicht benutzt?« fragte Frau Cornish mit strählendem Lächeln.
Autos seien nicht sein Geschmack; aber wenn sie ihn mitnehmen wolle, werde er gern mit zurückfahren. So stiegen sie denn alle ein, und Frau Cornish fragte nach dem Befinden ihres Bruders.
»O, ganz gesund würde ich ihn nicht nennen«, erwiderte ihr Jugendfreund. »Aber er behauptet, sich wohl zu fühlen. Er wird sich wohl erst an unser verwünschtes Klima gewöhnen müssen.«
Die knappe Meile bis Larke Minnis wurde unter lebhaften Fragen und Antworten rasch zurückgelegt. Das Gespräch drehte sich zuerst um den vor sechs Jahren ganz plötzlich verstorbenen Sir Harry Mathers; und Frau Cornish, die damals mit ihrem kranken Gatten auf dem Kontinent gewesen war, erfuhr zu ihrem Staunen, daß sein Ende eigentlich nie ganz aufgeklärt worden sei. Man hatte ihn als Leiche in einer alten unbenutzten Scheune gefunden, und niemand wußte, weshalb er sich eigentlich dorthin begeben hatte.
»Er hat sie möglicherweise besichtigen wollen«, meinte Frau Cornish. »Vielleicht, um festzustellen, ob sie nicht doch noch irgendwie zu benutzen ginge. Und daß er seit seiner letzten Reise nach Indien herzkrank war, wissen wir doch. Doktor Garvice hatte ihn gewarnt, und er starb ja schon fünf Wochen nach seiner Heimkehr.«
»Ja, ja, aber es lag noch etwas anderes vor«, entgegnete Yardley, »eine Sache, die ich mir durchaus nicht erklären kann. Er hatte mich an dem Tage zum Frühstück eingeladen, und ich war der erste, der ihn zu sehen bekam.«
»Sie standen einander ja immer sehr nahe«, warf Frau Cornish ein.
»Freilich, und als ich mich dem Hause näherte, kam Thomson mir entgegengestürzt. Sie hatten den armen, alten Kerl eben gefunden und gleich nach dem Arzt telephoniert. Ich rannte natürlich sofort nach der Scheune – aber er war wirklich tot. Doch als ich neben ihm kniete, um zu sehen, ob ich noch irgend etwas tun könnte, fiel mir etwas Sonderbares auf – ein bräunlicher Fleck an seiner Stirn, der etwa so groß wie ein Sixpencestück war und ungefähr so aussah.«
Yardley zog einen alten Briefumschlag aus der Tasche und bemühte sich trotz des Rüttelns des Autos eine flüchtige Skizze herzustellen.
»Ein Kreis mit drei einander in der Mitte begegnenden Strichen. Sehen Sie wohl? Ganz deutlich und symmetrisch. Ich kann mich nicht geirrt haben, obwohl –« er stockte.
»Wieso obwohl?« fragte Frau Cornish gespannt.
»O, als der Arzt kam, war das Ding vollkommen verschwunden und ich wurde natürlich ausgelacht. Garvice behauptete, ich hätte es mir eingebildet.«
»Unmöglich wäre das ja nicht – bei Ihrer lebhaften Phantasie!« bemerkte Frau Cornish, brach das Thema aber rasch ab, als sie seinen ärgerlichen Gesichtsausdruck gewahrte, und rief aus:
»O, da sind wir ja schon am Dorfanger, und hier ist Ihr liebes, altes Haus! Hier müssen wir Sie wohl absetzen, nicht wahr? Aber Sie kommen doch zu Tisch – und, solange wir hier sind, zu jeder Mahlzeit?«
Er lächelte besänftigt, indem er sich hinausschwang.
»Zum ersten Frühstück nicht«, erwiderte er. »Sieben Uhr morgens würde für Sie doch zu früh sein.«
»Du hast Herrn Yardley wohl sehr gern, Mutti?« fragte Kathleen, als sie weiterfuhren. Sie war es nicht gewohnt, so wenig beachtet zu werden.
»Natürlich! Er ist ja der liebste Mensch der Welt!« lautete die Antwort.
»Hm! Frühstück um sieben? Da möchte ich nicht seine Frau sein.«
»Hoffen wir – um seinetwillen –, daß er dir keinen Antrag macht, mein Herz«, erwiderte ihre Mutter und blickte mit feuchten Augen um sich.
Denn nun kam Madder Grange in Sicht und erweckte liebe Erinnerungen in ihrem Herzen.
Lang und niedrig schmiegte sich das alte Haus mit seinem normannischen Turm, dem Tudor-Backsteinbau und dem weiß und schwarzen Fachwerkflügel in den köstlich behaglichen, altertümlichen Garten hinein.
Als sie sich der Auffahrt näherten, kamen zwei große, äußerst elegante Autos jenseits des Rasens in Sicht.
Kathleen richtete sich staunend auf.
»O, Mutti, sieh nur! Ob sie Herrn Seminow gehören?« rief sie aus.
»Wundern würde es mich nicht«, sagte Frau Cornish, machte dann aber selbst große Augen, als ein hochgewachsener, äußerst muskulöser Chinese aus dem Hause trat; eine fabelhafte Erscheinung in schwerseidenem, blauem Gewand, mit einer schwarzen Kappe auf dem Kopf. Wie es schien, wollte er nur Gepäckstücke hereinholen; denn, ohne die Damen zu beachten, ging er auf das eine Auto zu und hob einige Taschen und Handkoffer heraus.
»Ob er zu Seminow gehört?« flüsterte Kathleen.
»Hoffentlich nicht!« Frau Cornish lachte nervös. »O! Da sind wir also, Edwin.«
Ganz erregt kam ihr Bruder aus dem Hause herbeigeeilt.
»Seminow ist angekommen!« sagte er. »Ich weiß nicht, wo wir die Autos unterbringen sollen. In der Garage ist nicht Raum genug. – Der Chinese? Das ist sein Diener. Ich wollte, ich hätte dich gebeten, schon gestern zu kommen, Helen. Ich weiß nicht ein und aus! Ich bat Seminow, seine Zimmer nach Gefallen zu wählen, und da gefielen ihm die von Onkel Harry am besten. Darauf hatte ich nicht gerechnet; und nun müssen die dumpfigen, alten Räume erst hergerichtet werden.«
»Du scheinst ja unerhörte Umstände mit diesem Manne zu machen, Edwin!« bemerkte seine Schwester. »Weshalb weist du ihm nicht einfach Zimmer an, ohne viel zu fragen?«
Sie hatte ihren Bruder noch nie so erregt gesehen. Und er sah überdies gar nicht wohl aus – war verfallen und gealtert, seit sie ihn zuletzt in London erblickt hatte.
»O, er wollte sich gern das ganze Haus ansehen, weil es ihm so riesig gefiel, und als ich ihm von Onkel Harrys Zimmern erzählte, fragte er, ob er diese nicht bewohnen dürfte.«
»Nun, warum schließlich auch nicht? Aber werde darüber nicht nervös!« sagte Helen. »Und könnten wir jetzt allmählich frühstücken? Wir sind ganz ausgehungert.«
Es war eine Erleichterung, als Thomson erschien, der sich wenig verändert hatte. Er rief nach einem Hausmädchen, unter dessen Leitung sie sich in die für die Damen hergerichteten Zimmer im westlichen Flügel hinaufbegaben.
»Dein Onkel macht wirklich den Eindruck, als hätte er überraschend Besuch von Mitgliedern der königlichen Familie bekommen«, sagte Helen zu ihrer Tochter, nachdem sie sich ein wenig vom Reisestaub gesäubert hatten. »Aber warum verwendest du deinen Lippenstift so ausgiebig, Kind? Es sieht geradezu – ich möchte fast sagen – gewöhnlich aus.«
»O, ich reibe das meiste wieder ab!« entgegnete Kathleen unmutig.
»Das ist recht, mein Herz! In deinen Jahren ist derartiges wirklich unnötig, und du weißt, daß David es haßt.«
»Er ist ja noch nicht hier«, murmelte ihre Tochter und entfernte verstimmt ein wenig Rot von ihren Lippen.
Frau Cornish unterdrückte ein Lächeln. War das Kind darauf aus, auf den »reichsten Mann der Welt« Eindruck zu machen? Nun, das war wohl ganz natürlich für ein junges Mädchen.
Der berühmte Gast erschien nicht zum Frühstück. Er hatte in Folkestone etwas zu sich genommen, während seine Autos ausgeladen wurden, und mußte wichtige Briefe erledigen.
Kathleen war sichtlich enttäuscht darüber. Nach dem Frühstück zog ihre Mutter sich zurück, um ein wenig von der Reise auszuruhen.
»Es ist geradezu ungemütlich, einen Asiaten im Hause zu haben, gnädige Frau«, bemerkte ihre Jungfer, die es ihrer Herrin auf der Chaiselongue behaglich machte.
»Meinen Sie Herrn Seminows Kammerdiener, Dunkan?«
»Ja, das soll er doch wohl sein. Mir läuft es kalt über'n Rücken, wenn ich ihn herumlungern sehe. Wie 'ne Schildwache geht er im Westflügel auf und ab. Wung Lu heißt er.«
Helen schmiegte ihr Gesicht in die Kissen. »O, das ist wohl nur so seine Art. Ziehen Sie doch, bitte, die Stores vor, Dunkan!«
Die Jungfer gehorchte, konnte sich aber nicht enthalten, hinzuzufügen: »Thomson sagt, daß es seit Sir Harrys Tod im Westflügel spukt.«
»Nun, das wird Sie doch wohl nicht beunruhigen«, murmelte Helen schläfrig.
»Nein, gnädige Frau, natürlich nicht«, erwiderte die Jungfer, die stets betonte, daß jeder Aberglaube unter ihrer Würde sei, und verließ leise das Zimmer.
Helen schlummerte eine Weile und dachte dann gerade, daß sie doch wohl anfangen müsse, ihren Hausfrauenpflichten gerecht zu werden, als Kathleen mit leuchtenden Augen hereinkam.
»O, Mutti, du mußt durchaus herunterkommen!« rief sie aus. »Ist das aber ein interessanter Mann! Onkel Edwin und ich sind überall mit ihm herumgegangen. Er sagt, schlichte, einfache Dinge wären ihm sehr sympathisch, und ist ganz entzückt von Madder Grange. Und dabei besitzt er einen fabelhaften Palast in Tibet. – Stell' dir das vor! Es klingt wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Lauter Kuppeln und Säulenhallen! – Und solche Gärten! Aber er sagt, er möchte dort nicht mehr sein, seit seine Frau gestorben ist. Es wäre zu einsam. – Da drüben ist das Leben so ganz anders, sagt er. Gar kein Dienstbotenärger. Man klatscht in die Hände, und gleich kommt eine Menge Diener angelaufen. Und wenn sie sich nicht gut betragen, läßt man sie köpfen.«
Kathleen lachte hell auf. »Das war natürlich nur Scherz. Aber man möchte derartiges Herrn Seminow fast zutrauen. Er reißt einen geradezu hin!« Ihre Wangen brannten, und ihre Augen leuchteten wie Sterne.
»Dich scheint er allerdings hingerissen zu haben«, bemerkte Frau Cornish trocken. »Wann kommt denn Davids Zug an?«
»Ich glaube, ich werd' mich zum Tee umziehen«, murmelte Kathleen versonnen. »Ach, David? – Der Freund Onkel Edwins kommt mit demselben Zug, vier Uhr dreißig, aus London. Vor halb sechs werden sie nicht hier sein.«
»Zieh' doch das herzige kleine graue Ninonkleid an, mein Kind! Das hat David so gern.«
Helen empfand einen leisen Anflug von Besorgnis. Hatte Kathleen etwa ein wenig den Kopf verloren? Sie ließ sich doch sonst nicht so leicht fortreißen. Viele Männer hatten es versucht, ohne Erfolg zu haben, denn seit ihrem zehnten Jahr war sie hartnäckig und gründlich in David verliebt gewesen. Damals hätte sie den zwanzigjährigen jungen Mann ganz unverfroren ersucht, mit dem Heiraten zu warten, bis sie erwachsen sei. Und tatsächlich hatte er gewartet.
»Ich glaube, ich werde lieber das grüne anziehen!« rief Kathleen aus. »Es ist lebhafter. Und zu Tisch muß ich mich ja ohnehin wieder umziehen, so daß es für David keinen Unterschied macht.«
Ihre Mutter folgte ihr bis an die Tür zwischen ihren Zimmern.
»Wie sieht dieser Seminow denn aus?« fragte sie.
»O, Mutti, das ist schwer zu sagen. Du wirst ihn ja selbst sehen. Er ist sehr groß.«
»Und alt?«
Kathleen drehte sich um und blickte sie verwirrt an. »Alt? O, ich glaube nicht. Das ist nicht leicht zu entscheiden. Sonderbar – über sein Alter hab' ich gar nicht nachgedacht. Er könnte vierzig sein – oder auch älter. Er sieht ziemlich ausländisch aus.«
»Hm!« machte Helen. Aber auch ihre Neugier war erregt, und sie beschloß, nicht auf Kathleen zu warten, sondern gleich hinunterzugehen. Elektrisches Licht gab es nicht im Hause, und die oberen, mit Eichenholz getäfelten Gänge wurden durch Kerzen in alten flämischen Wandleuchtern erhellt.
Frau Cornish, die trotz der achtzehnjährigen Tochter noch sehr jung und hübsch aussah, klopfte im Vorübergehen erfolglos an der Tür ihres Bruders an und ging dann weiter auf die Treppe zu. Dort fiel ihr plötzlich ein am Boden liegender kleiner Gegenstand in die Augen, und sie bückte sich unwillkürlich, um ihn aufzuheben. Es war ein zierlich gearbeitetes Schmuckstück aus weißgelbem Metall – Gold? –, ein dünner, ringartiger Kreis mit drei dünnen Balken, die sich in der Mitte trafen. Sie betrachtete es aufmerksam:
Von welcher Seite sie es auch ansah, immer bildeten die drei dünnen kleinen Balken den Buchstaben »Y«. Es lag auf ihrer Handfläche, und indem sie es anstarrte, fiel ihr ein, was Frank Yardley ihr als sonderbaren Umstand bei Onkel Harrys Tode erzählt hatte. Dabei fühlte sie einen brennenden Schmerz in ihrer Hand und fuhr heftig zusammen, als plötzlich lautlos, dicht neben ihr, aus dem Schatten Seminows chinesischer Diener auftauchte
»Entschuldigen Sie, gnädige Frau.« Er streckte die Hand aus. »Es ist das Amulett von Mylord, was Madame da gefunden hat. Ich habe schon überall danach gesucht. Mylord trägt es an der Uhrkette; aber das Schloß ist ein bißchen lose, und er verlor es heute nachmittag.«
Frau Cornish betrachtete ihn und dann seine ausgestreckte, breite, gelbe Handfläche. Mitten darauf gewahrte sie etwas wie ein tätowiertes Mal – oder war es die Narbe einer Brandwunde? – und Wung Lu hielt ihr die Hand hin, als ob er es ihr absichtlich zeigen wollte. Es war ein genaues Abbild des kleinen, gelben Gegenstandes, den sie in der Hand hielt.
»Nehmen Sie's!« rief sie aus und lief hastig die Treppe hinunter.
Das war wirklich seltsam. Sie mußte es mit Frank Yardley besprechen und ihn eingehend über Onkel Harrys Tod ausfragen. Sie selbst hatte sich diesen sonderbaren Vorfall jedenfalls nicht eingebildet.
Durch die halb offene Bibliothekstür drang Licht ein. Thomson brachte wohl gerade das Teegeschirr.
Helen rieb ihre Handfläche an ihrem Kleide. Sie hatte noch immer eine prickelnde Empfindung darin, wie von Elektrizität.
Als sie die Bibliothek betrat, fand sie dort nur eine Person vor, von der sie annahm, daß es Peter Seminow sein müsse. Er war ein großer, muskulöser Mann, sah weder alt noch jung aus und machte den Eindruck, als ob er nie jung gewesen wäre und niemals altern werde: blond und glattrasiert, mit viereckigem, slawischem Gesicht und schrägstehenden Augenbrauen – tadellos herausgebracht und abstoßend durch den Ausdruck unerträglich starker Willenskraft.
War Helen schon durch den kleinen Zwischenfall auf dem Gange erregt worden, so kam sie jetzt vollständig aus der Fassung.
Es gab einen bedenklichen Vorfall in ihrem sonst tadellosen Leben, und dieser stieg nun plötzlich drohend vor ihr auf, nachdem sie ihn längst für begraben gehalten hatte. Den Namen des Mannes hatte sie damals ebensowenig gekannt, wie er den ihren; aber der Vorfall war für sie eine harte Lehre gewesen.
Ein einziges Mal vor sieben Jahren war sie Peter Seminow begegnet, und nun, als sie totenbleich, aber äußerlich gefaßt, in der Tür stand, erwartete sie ein Anzeichen der Rache, die er ihr damals geschworen hatte. Sie wartete – und der Mann wartete ebenfalls. Er stand ihr mit höflichem Lächeln gegenüber und schien bereit, sich auf feine ironische Weise zu verbeugen. Wie gut erinnerte sie sich seiner! Schon damals hatte sie durchgefühlt, daß er nicht nur ein steinreicher, sondern auch ein bedeutender und leidenschaftlicher Mann war.
»Madame, ich glaube, ich würde Sie erkannt haben –«
Sie fuhr sich mit bebenden Fingern an die Kehle.
»Ja, ich würde Sie, wo es auch sei, wiedererkannt haben. Ihre wunderhübsche Tochter gleicht Ihnen so sehr. Sie sind das Gemälde, und sie ist das zierliche Miniaturbild. Sie sind ohne Zweifel Frau Cornish.«
Er verbeugte sich tief und erwartete offenbar, daß sie ihm die Hand reichen würde.
Als er damals ihre Hand berührt hatte – –! Aber war es möglich, daß er sie vergessen hatte? Und plötzlich hielt sie das nicht nur für möglich, sondern sogar für höchst wahrscheinlich. In seinem Leben hatte es sicher viele Frauen gegeben, und Helens Begegnung mit ihm hatte kaum zwei Stunden gewährt. Etwa eine Stunde lang hatten sie einander im Riviera-D-Zug gegenübergesessen – als zufällige Reisebekanntschaft, dabei über das Wetter geredet – und dann folgte jene Stunde!
Wie war sie nur dazu gekommen? Wie hatte sie – eine treue und brave Gattin – sich in einem solchen Grade von einem wildfremden Menschen betören und hinreißen lassen können?
Sie erwiderte Seminows Gruß. Sie reichte ihm die Hand. Sie sagte, sie freue sich, ihn zu sehen. Ihre Tochter habe ihr bereits von seinem Märchenpalast in Tibet erzählt. Es klänge ja geradezu romantisch.
»Madame, ich habe tatsächlich mein Leben zu einem Roman gestaltet«, erwiderte er ernst.
Er hatte recht! Er war eine romantische Gestalt, und das war es, was sie damals hingerissen hatte. Sein eigener Salonwagen war an den D-Zug angehängt worden; aber er setzte seiner hübschen Tischnachbarin auseinander, daß er ein sehr einsamer Mann sei und sich ganz unglücklich fühle, wenn er allein säße. Deshalb hatte er den Speisewagen betreten: er hatte Gesellschaft gesucht – und gefunden.
»Aber den Kaffee nehmen wir in meinem kleinen Salon«, hatte er gesagt, als das Mittagsmahl beendet war. »Ich habe eine besondere Likörsorte, die Sie versuchen müssen.«
Und das war der Augenblick, in dem jener unerklärliche Wahnsinn Helen befallen hatte. Sie war mit ihm nach seinem unglaublich luxuriös eingerichteten Salonwagen gegangen, hatte sich über die geräumigen, weißen Sessel, die gedämpften Lichter und duftenden Blumen gefreut und Kaffee und Likör genossen. Seminow war der unterhaltendste Mann, der ihr je vorgekommen war – er plauderte – – und dann!
Er hatte versucht, sie zu küssen – das war tatsächlich alles gewesen – und sie hatte ihn mitten ins Gesicht geschlagen; so heftig, daß seine Lippe blutete und der große Mann ins Taumeln geriet. Darauf folgte ein widerlicher Ringkampf, wobei Seminow sie umschlang und ihr mit brutaler Gewalt den Trauring vom Finger riß.
»Den werde ich behalten«, hatte er mit häßlichem Auflachen gesagt. »Als kleines Andenken an unsern wonnigen Abend! Vielleicht werden wir uns noch einmal im Leben begegnen, chère madame, und dann werde ich Gelegenheit haben, Ihnen den Ring zurückzugeben.«
Im nächsten Augenblick schlich sie mit wankenden Knien durch den schaukelnden Zug nach ihrem Schlafwagenabteil als zu Tode erschrockene, aber ernüchterte Frau.
Sie hätte sich natürlich an das Zugpersonal wenden können; aber das wäre sehr gewagt gewesen. Sie reiste allein – zufällig sogar ohne ihre Jungfer; denn sie mußte nach Cannes, um ihren kränklichen Gatten zu pflegen, und hatte die Dunkan damit betraut, Kathleen zu behüten.
So schloß sie sich denn in ihr Schlafabteil ein und grämte sich die ganze Nacht durch bitter über ihre Torheit. Am nächsten Morgen sah sie jenen Salonwagen beim Rangieren in Marseille auf einem Nebengleise stehen. Ihr Gastgeber von gestern abend hatte erwähnt, daß er nur nach Marseille wollte.
Und nun war er hier, als Edwins Gast – aber Gott sei Dank, er hatte sie nicht erkannt!
Scheu und fast schuldbewußt betrachtete sie den abgenutzten Trauring, den sie bei einem Pfandleiher in Cannes erstanden hatte. Ihr Mann hätte es ja vielleicht bemerkt, wenn sie den gestohlenen durch einen neuen Ring ersetzt hätte.
Sie hatte nie gedacht, daß jenes törichte kleine Abenteuer irgendwelche Folgen haben könnte. Doch jetzt bebte sie bei dem Gedanken, daß es irgendwie ans Licht kommen könne. Ihr Mann war tot; aber sie hatte ein Gefühl, als ob sie – wenn es nötig gewesen wäre, viel lieber ihm als Kathleen – oder gar Frank Yardley gebeichtet haben würde. Sie hatte einen so starken Trieb zum Konventionellen, daß es fast an Zimperlichkeit grenzte, und wäre lieber gestorben, als daß ihr Erlebnis bekanntgeworden wäre.
Seminow plauderte lebhaft und heiter – ganz wie an jenem Abend im D-Zug, und zu ihrem Schrecken sprach er hauptsächlich über Kathleen. Nie habe er ein so schönes englisches Mädchen gesehen. Ihr entzückendes blaßgelbes Haar erinnere an das der Skandinavierinnen; es komme sonst so selten in England vor. Und dabei dieses sprühende Feuer! Er verglich sie mit geeistem Champagner.
In diesem Augenblick kam Kathleen, gefolgt von Thomson mit dem Teetisch, herein, und gleich darauf erschien auch Sir Edwin.
Während sie Tee einschenkte, dachte Helen: »Ich muß Edwin eine Andeutung machen. Ich kann den Menschen nicht hier im Hause dulden, ohne eine gewisse Vorsicht zu üben.«
*
Sie verbrachte eine schlaflose Nacht. Vor Schreck über ihre Begegnung mit Seminow hatte sie ganz vergessen, mit Frank Yardley über jenes seltsame kleine Amulett zu sprechen, und nun war jener von ihm erwähnte rötliche Abdruck auch bei ihr nach wenigen Stunden verschwunden. Ueberdies hatte sie gesehen, daß das angebliche Amulett nicht an Seminows dünner Uhrkette hing.
Auch andere Dinge gaben ihr zu denken. Fräulein Givens hatte sehr überraschend auf sie gewirkt. Gouvernante bei reichen Leuten in Indien, die wegen Krankheit entlassen worden war, hatte Edwin gesagt, und da er von jeher eine Vorliebe für wenig hübsche Mädchen gefaßt hatte, war Helen auf eine schlichte, ältliche Erscheinung gefaßt gewesen.
Aber Fräulein Givens war eine Schönheit von jenem dunklen hinreißenden Typ, den man heutzutage als Vampyr zu bezeichnen pflegt. Eine Erzieherin mit so glattem Bubikopf würde wohl wenig Glück gemacht haben.
Gleich auf den ersten Blick war Helen sich darüber klar, daß dieses Mädchen eine »Vergangenheit« habe. Doch schon beim zweiten geriet diese Ueberzeugung ins Wanken. War es nicht wahrscheinlicher, daß Fräulein Givens auf der Suche nach einer »Zukunft« war? Und Edwin war offenbar sehr von ihr eingenommen!
Unruhig warf Helen sich im Bett herum. War sie etwa von schwesterlicher Eifersucht befallen?
Bald nach Mitternacht begann eine Katze zu schreien. Es lief der armen gequälten Frau kalt über den Rücken. War es denn eine Katze? Es klang wie das Klagen eines bösen Geistes.
Nebenan hüstelte Kathleen. Ach, das Kind hatte ihre Mutter heute abend ganz besorgt gemacht! Seminow – dieser hassenswerte Mensch! – hatte dem Kind mit seinen Märchengeschichten ganz den Kopf verdreht.
O, diese grauenhafte Katze!
Klagend – unbeschreiblich klagend erscholl Schrei auf Schrei.
Irgend jemand im anderen Teil des Hauses öffnete ein Fenster, zischte ärgerlich und schleuderte irgend etwas hinaus – den üblichen Stiefel vermutlich.
Eine Weile blieb es still. Helen machte Licht, stand auf und legte im Kamin nach. Dunkan hatte erzählt, daß Thomson behauptet, es spuke im Hause. Lächerlich! Das helle, freundliche Madder Grange! Ihre Gedanken kehrten wieder zu Seminow zurück. Und dann dachte sie an David Mackenzie – den großen, hübschen David, der heute abend etwas traurig gewesen war, was man ihm nicht verdenken konnte. Frau Cornish kam ganz plötzlich zu dem Entschluß, die Hochzeit ihrer Tochter nicht länger hinauszuschieben.
»Nein, die Verlobungsanzeigen können jetzt. herumgeschickt werden, und im Februar sollen sie dann heiraten«, sann die besorgte Mutter und begann schon über die Aussteuer nachzudenken, als die teuflische Katze wieder irgendwo im Gebüsch ihr urvorzeitliches Sehnsuchtslied anstimmte.
Sie stand auf und ging zu ihrer Tochter hinein, die ebenfalls ein Licht angezündet hatte und aufrecht in die Kissen gelehnt Gedichte las. Sie sah entzückend jung und hübsch aus.
»Ist es nicht fürchterlich, Mutti?« rief sie aus. »Ich dachte schon, ob du wohl schliefest. Und der Arzt sagt doch, Schlaf sei für dich so nötig. Es war so egoistisch von mir, dich Abend für Abend mit herumzuhetzen.«
»Mein Herzblatt, wozu wären Mütter denn da? Weißt du, wir wollen uns die Ohren mit Watte zustopfen! Und ich bin auch selbstsüchtig gewesen, Kathy! Diese Nacht habe ich über dich und David nachgedacht – ganz gründlich, weißt du. Wir wollen eure Verlobung gleich anzeigen, und im Februar soll die Hochzeit sein.«
Kathleen richtete sich auf. »Aber du sagtest doch –«
»Freilich, ich wollte es hinausschieben, bis du zwanzig Jahre alt bist. Aber du bist ein so verständiges kleines Frauenzimmer und hast David ja von Kindesbeinen an lieb gehabt. Erinnerst du dich –«
»Ach, mahne mich nicht wieder daran!« rief Kathleen atemlos. »Natürlich hab' ich David lieb. Aber liebe ich ihn auch genug, Mutti?«
»Daran hast du doch bisher noch nie gezweifelt!«
»Nein, das ist richtig.«
»Weshalb also jetzt, mein Herz?«
»Ich weiß es nicht. Ich – weiß es wirklich nicht.«
Als Helen wieder zu Bett ging, hatte sie das Gefühl, als habe ein Dämon alle Vernunft vernichtet. Aber ob dieser Dämon Peter Seminow oder jene Katze im Gebüsch war, wußte sie nicht.
Klein, blaß und regungslos lag sie da, bis der Tag anbrach. Dann wurde es endlich still, und sie schlief ein.