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Neuntes Kapitel.

Am nächsten Morgen stieß Frank Yardley auf eine kurze Notiz in einer kleinen Zeitung, die seinen gestrigen Ausspruch zu bestätigen schien.

Sie bezog sich auf das Entweichen des Sträflings Alphonse de Roget aus dem Gefängnis in Antierres. Man vermutete Bestechung und Beamten-Korruption und hatte eine Untersuchung eingeleitet. Der Gouverneur war vorläufig zur Disposition gestellt worden.

Yardley nahm an, daß diese Nachricht Haney nicht entgangen sei; denn als er im »Stern« nach dem Inspektor fragte, erhielt er den Bescheid, daß dieser mit dem Frühzug nach London abgereist sei und erst in einigen Tagen zurückerwartet werde.

Helen Cornish pflegte bei gutem Wetter gegen elf Uhr jeden Morgen in Yardleys Häuschen vorzusprechen. Sie liebte es, das bald ihre Heimat werden sollte, und das Brautpaar verlebte dort stille und glückliche Stunden. Helen war fest entschlossen, ihr Glück diesmal mit beiden Händen festzuhalten. Ihre Gefühle für Yardley waren noch frisch und jung – vielleicht nicht so blind, wie vor achtzehn Jahren, aber rein und selbstlos.

Heute war es warm und sonnig, und als Frank Yardley vom Gasthof zurückkehrte, fand er Helen schon in seinem Garten vor. Sie saß unter dem alten Apfelbaum, und ihn dünkte, als ob ihre Augen ihn vorwurfsvoll anblickten.

»Es tut mir leid, Helen! Meine Uhr muß verkehrt gehen. Nach ihr ist es erst halb elf. Verzeih' mir.«

»Deine Uhr geht ganz richtig. Ich bin nur früher als gewöhnlich gekommen.«

»Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« fragte er.

Dabei bückte er sich und küßte sie, indem er ihr Gesicht mit beiden Händen umfaßte.

»Kathleen hat mir von dem Rubin erzählt«, sagte sie, »und du weißt es schon eine ganze Weile. O, Frank, weshalb hast du's mir nicht gesagt?«

»Ach – ist es das? Wie konnte ich das, mein Herz? Ich hatte das Gefühl, als ob ich kein Recht hätte, darüber zu sprechen – nicht einmal mit dir.«

Helen Cornish seufzte. Keine Frau will, daß ihr Liebhaber Geheimnisse vor ihr hat.

»Frank – ich will dir keine Vorwürfe machen – aber findest du nicht, daß die Sache aufgeklärt werden müßte? Ich meine der Diebstahl. Kathleen sagte, du hättest versprochen, es zu tun. Sonst müßte ich es Haney sagen. Ich glaube, der Rubin war mehrere tausend Pfund wert.«

»Wahrscheinlich mehr«, erwiderte Yardley gelassen, schlang einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. »Ich dachte, du wolltest nicht, daß Kathleen ein Geschenk von Seminow annähme?«

»Nein, ich wollte es nicht«, erwiderte sie fast heftig. »Wenn ich gewußt hätte, daß sie den Stein angenommen hatte und ihn heimlich trug, würde ich ihn ihr selbst entrissen und ihn in den Teich geschleudert haben.«

In Yardleys Augen blitzte es schelmisch auf. »Bist du dann jetzt nicht zufrieden?« fragte er.

»Es kommt mir so unheimlich vor, Frank. Ich möchte wissen, wer ihn gestohlen hat.«

»Nun, ich weiß, wo er ist: in Sicherheit! Wo er hingehört! Da, wo du ihn selbst wissen möchtest!«

»O, Frank, du weißt es also?«

»Ja, leider! Und noch mehr tut mir leid, daß ich es dir nicht sagen kann. Ich möchte es so gern – aber die Leute vertrauen mir nun 'mal ihre Geheimnisse an! Siehst du, Helen, es ist nicht mein Geheimnis. Ich muß eine Frage an dich richten. Hat es in deinem Leben niemals etwas gegeben, irgendeine Kleinigkeit – vielleicht das dir anvertraute Geheimnis einer Freundin – oder einen kleinen Vorfall in deinem eigenen Leben, von dem du nicht zu sprechen wagst – nicht einmal mit mir?«

Helen holte tief Atem; ihre Wangen röteten sich. Yardley fühlte sie in seinem Arm erbeben. Er hatte irgend etwas berührt, was sie erregte, und ihm wurde unbehaglich zumute. In seinem Herzen regte sich Eifersucht.

»Ich verstehe, was du meinst, Frank«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Nein, ich werde dich nicht weiter ausfragen. Du willst irgend jemand schützen – wahrscheinlich Fräulein Givens. Wie gut, daß sie fort ist! Aber, daß sie Edwins Antrag abgelehnt hat, begreife ich nicht. Ich werde mir den Rubin aus dem Sinne schlagen – ich hätte dich gar nicht danach fragen sollen.

Ich habe so grenzenloses Vertrauen zu dir, Frank«, fuhr sie fort. »Manchmal möchte ich vor dir niederknien. Ich verdiene nicht, daß du mir so lange treu geblieben bist! Ich schäme mich! – Nur der Gedanke an Kathleen tröstet mich. Sie hätte deine Tochter sein sollen!«

Dieser Gefühlserguß täuschte den klugen Mann vollkommen. Sie hatte also nie ein Geheimnis besessen! Beschämt stammelte er eine Bitte um Verzeihung.

Er brachte Helen kurz vor dem zweiten Frühstück nach dem Herrenhaus zurück. So sehr er auch darauf erpicht war, seine kriminalistische Begabung endlich auf die Probe stellen zu können, beschloß er doch, sich den »Fall Seminow« heute einmal aus dem Sinne zu schlagen und sich ganz den innigen Freuden seiner Liebesangelegenheit zu widmen.

Sir Edwin saß wie ein Häufchen Unglück am Frühstückstisch, und auch Kathleen war wieder in ihre bedrückte Stimmung verfallen. Yardley und Helen wechselten über den Tisch hinweg besorgte Blicke. Beide waren froh, als sie die trübselige Mahlzeit überstanden hatten und beschlossen, sich durch einen Spaziergang zu entschädigen.

Yardley marschierte seiner Gewohnheit nach im Geschwindschritt los, merkte aber bald, daß Helen ganz außer Atem geriet, und bat sie, sich unter einem alten Baume auszuruhen, woraus er sich zu ihren Füßen niederließ.

»Verzeih, daß ich so rücksichtslos war!« sagte er beschämt. »Aber ich war in Gedanken. Edwins Trauermiene begreife ich ja; aber was Kathleen bedrückt, mußt du mir sagen. Eine erwachsene Tochter bedeutet eine schwere Verantwortung! Immerfort wechseln ihre Stimmungen.«

»Natürlich!« erwiderte Helen gelassen. »Sie hat entdeckt, daß sie dennoch in David verliebt ist.«

»Weshalb hat sie ihm da nicht geschrieben?«

Helen lächelte und fuhr mit den Fingern durch sein dichtes Haar.

»Das hat sie schon getan, aber er hat nicht darauf geantwortet. Dann hat sie ihn überall antelephoniert, in seiner Wohnung, in seinem Büro und im Klub, aber immer umsonst – –«

Währenddessen wanderte Kathleen mit ihrem Onkel im Garten auf und ab und schüttete dem zerstreut zuhörenden Manne ihr Herz aus. Für das verwöhnte Geschöpf war es bitter hart, daß sie umsonst versucht hatte, David entgegenzukommen. Er hatte sich seit zwei Tagen nirgends sehen lassen, im Klub sogar noch viel länger nicht.

»Wenn ihm nur nichts zugestoßen ist!« klagte sie und rüttelte den Arm ihres Onkels. »Hörst du, Onkel Edwin? Wenn ihm nur nichts zugestoßen ist!«

»Ja, ich höre«, versetzte Edwin matt. »Nein, ihm fehlt nichts. Ich habe heute morgen einen Brief von ihm erhalten.«

Natürlich verlangte sie zu wissen, was David geschrieben hatte.

»Nichts Besonderes. Er hat sich für einige Tage freigemacht und fährt jeden Morgen nach Richmond, um Golf zu spielen.«

Kathleen atmete schwer. In Richmond wohnte eine hübsche junge Frau, eine leidenschaftliche Golfspielerin, die ihre Augen auf David Mackenzie geworfen hatte. Darüber hatte es zwischen Kathleen und ihm schon manchen kleinen Wortwechsel gegeben. Und jetzt spielte er jeden Tag Golf mit dieser Frau Somers, die noch dazu von ihrem Manne getrennt lebte!

Was hatte sie denn getan, um das zu verdienen?

»Mein Himmel, du hast ihn ja selbst fortgeschickt!« sagte Sir Edwin verdrießlich. »Hast du denn erwartet, daß er sich ertränken sollte?«

»Fortgeschickt?« wiederholte Kathleen erstaunt. »Habe ich das wirklich getan?«

»Natürlich hast du's getan, und es geschieht dir ganz recht, daß er nicht auf den ersten Pfiff zu dir zurückkehrt.«

Edwin Mathers empfand eine fast grimmige Freude über Kathleens Kummer. Er hoffte, daß David sich als widerstandsfähig erweisen werde.

»Ihr Frauen macht uns Männern das Leben unmöglich«, sagte er bitter. »Ihr lockt die Männer nur an, um sie zu vernichten. Mich wundert, daß ihr dabei nachts schlafen könnt.«

»Ich schlafe nicht – nur sehr wenig«, sagte eine Stimme neben ihm.

»Geschieht dir recht! Du verdienst überhaupt keinen Schlaf, nachdem du David so behandelt hast.«

»Aber, Onkel Edwin, ich war doch krank! Ich weiß kaum, was ich eigentlich getan oder gesagt habe. Herrn Seminows Tod hat mich so erschüttert, wie du es dir gar nicht vorstellen kannst!«

»Dummes Zeug! Jedenfalls benimmt sich David wie ein ganzer Mann.«

»Ach, ein Mann muß sich also nach dem geringsten Mißverständnis auf der Stelle mit einem anderen Frauenzimmer einlassen? Danke, Onkel Edwin, du hast mich etwas gelehrt, was ich noch nicht wußte!«

Sir Edwin befreite sich von ihrem Arm und starrte sie an. »Ist mir gar nicht eingefallen, so etwas zu sagen!« schnaubte er. »Was für ein anderes Frauenzimmer meinst du –?«

»O, eine Frau, die in Richmond wohnt und sich um nichts anderes als Golfspiel und Männer bekümmert. Sie hat ein Haus mit Aussicht auf die Themse und behauptet, daß sie die Kuchen, die sie ihren armen Opfern vorsetzt, selbst bäckt.«

Aber Sir Edwin grinste nur ironisch. »Du bist selbst schuld daran, wenn da ein anderes Frauenzimmer ist. David ist klüger, als ich gedacht hätte.« Er war ganz stolz darauf, daß er so hart und grausam sein konnte.

Dann aber entbrannte plötzlich Mitleid in seinem Herzen, und er war im Begriffe zu erklären, daß er David am Kragen aus Richmond fortschleppen wolle, als Kathleen einen Jubelruf ausstieß.

»O, Onkel Edwin, sieh doch nur! Darum hat er nicht auf meinen Brief geantwortet! O, Onkel Edwin, da kommt er! – David! – Er selbst! – Na, ich werde ihm aber die Leviten lesen!«

Die kleine kokette Kröte! Onkel Edwin hätte sie am liebsten geohrfeigt. Eben noch hatte sie über die Hartherzigkeit ihres Liebhabers gejammert, und jetzt lehnte sie, statt ihm entgegenzustürzen, nachlässig am Terrassengeländer und starrte in die blaue Ferne.

Rasselnd nahte David in einem kleinen Fordwagen aus der Garage von Ashford. Es war unmöglich zu überhören – aber Kathleen träumte weiter.

Statt ihrer begab sich ihr empörter Onkel zur Haustür.

»Hallo!«

»Hallo! Schön, daß du wieder da bist! Bleibst doch über Samstag?« begrüßte Sir Edwin seinen Gast. Dabei betrachtete er ihn prüfend und entnahm seinem Gesichtsausdruck, daß Kathleen doch wohl keinen so leichten Sieg davontragen würde, wie sie meinte.

Erst jetzt schien sie Davids Anwesenheit zu bemerken.

»Mein Himmel, woher kommst du denn bloß?« fragte sie kühl.

»Aus London«, erwiderte David.

»O – du meinst natürlich Richmond!« verbesserte Kathleen. »Hoffentlich geht es der lieben Frau Somers recht gut?«

»Ich hoffe es! – Kathleen, heute morgen erhielt ich einen Brief von dir. Du schreibst, daß du mich zu sehen wünschst.«

»So?« Kathleen gähnte leicht. »Ich schreibe immer so alberne Sachen. Verzeih', daß ich dich bewog, dich von – von deinem geliebten Golf loszureißen.«

Der junge Mann trat zu ihr und schaute ihr ins Gesicht – seine Augen blitzten.

»Du hast recht«, sagte er, und seine Stimme klang ebenso kalt und gespannt wie die ihre. »Du bist sehr albern – nicht nur beim Briefschreiben, sondern auch beim Sprechen. Als ich deinen Brief las, dachte ich – aber es ist ja einerlei, was ich dachte. Es macht gar nichts aus. Ich habe genug von dir. Ich bin nicht hergekommen, um mich wieder von dir zum Narren halten zu lassen – das versichere ich dir!«

Kathleens Atem flog. David Mackenzie wagte – –?

»Es ist wohl kaum anzunehmen, daß deine Freundin, Frau Somers, sich wieder mit ihrem Manne versöhnt hat?« fragte sie.

David lachte grimmig.

»Ich wüßte nicht, was das dich oder mich angeht«, erwiderte er. »Aber da es dich so interessiert – nein, sie hat sich nicht mit ihm versöhnt, sondern sich scheiden lassen.«

In diesem Augenblick schien eine ganze Welt zwischen diesen beiden jungen Menschenkindern zu liegen.

Dann lachte er plötzlich.

»Diese Unterhaltung könnte leicht in einen Streit ausarten, aber das soll sie nicht. Zwischen uns beiden ist niemals ein bitteres Wort gefallen, bis jener verfluchte Seminow dich mit seinem Reichtum blendete. Du armes, kleines Fischlein! Wie rasch bist du ihm ins Netz gegangen!«

Kathleen wurde leichenblaß und taumelte gegen die Balustrade, als ob er sie geschlagen hätte.

»Es war nicht Herrn Seminows Geld«, flüsterte sie tonlos. »Und es war eigentlich auch nicht er selbst. Herr Yardley begreift es. Er sagt, es wäre irgend etwas »Chemisches« gewesen – etwas, wogegen ich machtlos war.«

»Eine feine Erklärung! Und nur der Umstand, daß der Kerl umkam, verhinderte – Gott weiß, was! Ich möchte wohl wissen, ob du ahnst, was ich durchgemacht habe! Aber wenn du es wüßtest, würde es dir doch nur Vergnügen bereiten. Es belustigt dich. Frauen sind ja nun wohl einmal so.«

Der Boden unter Kathleens Füßen begann zu weichen. Ganz sachte gab er unter ihr nach. Alles dies war ja ganz anders, als das, was David ihrem Plane gemäß hätte sagen müssen. Die Frau in Richmond hatte als Waffe gegen ihn versagt. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gegeben, sich zu verteidigen.

»David, beantworte mir nur eine Frage! Ich habe das Recht, sie zu stellen. Die Antwort würde – würde mir vielleicht angenehm sein, weißt du – da wir Frauen nun einmal »so sind« – Machst du dir noch irgend etwas aus mit?«

Sie war bleich und atemlos. David jedoch bemerkte es nicht, weil er sie nicht anblickte.

»Ich verliebte mich in dich, als du zwölf Jahre alt warst«, sagte er. »Es mag ja sonderbar klingen; aber damals war ich wahnsinnig verliebt in dich. Deshalb ging ich nach Kalkutta und arbeitete in unserer Filiale. Ich wollte, weiß Gott, daß ich dortgeblieben wäre! Natürlich mache ich mir etwas aus dir, wie du es ausdrückst. Würde ich mir sonst die Mühe geben, dich so bitter zu hassen?«

Da trafen sich beider Blicke.

»David, ich wollte dir nicht wehtun! Ich würde fast mein Seelenheil darum geben, könnte ich ungeschehen machen, was ich getan habe. Nicht ich tat es, David. Willst du nicht versuchen, das zu glauben und mich wieder liebhaben – nur ein wenig?«

Was David darauf erwiderte, tut nichts zur Sache.

In diesem Augenblick zerrte die Neugier so heftig an Edwin Mathers, daß er sich gezwungen fühlte, aufzustehen und aus dem Fenster zu blicken. Er zog sich rasch wieder zurück – schuldbewußt, aber heiter.

Er kehrte zum Schreibtisch zurück und fuhr in seinem Brief an Dora Givens fort:

 

»David und Kathleen haben sich wieder versöhnt. Das freut mich sehr. Ich fing an, mir Sorge um sie zu machen.

Dora – liebste Dora, sind Sie sicher, daß Sie mich nicht lieb genug haben, um mich zu heiraten? Ich denke an Ihren Kuß, denke daran, daß ich Sie in meinen Armen hielt, und kann es nicht glauben, daß Sie damals unaufrichtig waren.«

 

Er seufzte und legte die Feder einen Augenblick aus der Hand.

Wer war der »Jemand«, den sie mehr liebte als ihn? War es möglich, daß dieser »Jemand« gar nicht vorhanden war? Wenn er ihr doch nur begreiflich machen könnte, daß seine Liebe stark genug war, um jede Vergangenheit zuzudecken!


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