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Wie Jenny auf die rauchende Klippe kam. Endlich ein Schiff. Neu-Schweizerland!
Fritz, der Wilde, der wieder sein Kajak bestiegen hatte, diente uns als Lotse, und nachdem wir mit seiner Hilfe glücklich durch die Riffe und Klippen gekommen waren, die den Eingang der Bai bilden, gelangten wir bald ans Land, wo wir unser Fahrzeug vor Anker legten. Am Ufer fanden wir alles unverrückt, wie wir es verlassen hatten; Tisch und Bänke standen aufrecht, und die otaheitische Bratgrube war noch nicht zusammengefallen, auch der Luftkreis hatte sich inzwischen gereinigt, die Perlmuscheln lagen geruchlos und die Salzkräuter trocken; die Gerippe des Löwenpaares und des afrikanischen oder äthiopischen Ebers endlich zeigten sich schon beinahe gebleicht sowie von allem Fleische rein genagt.
Das erste, was wir vornahmen, war die Aufrichtung unseres Wachtzeltes, um an dem offenen Strande des Tages vor der Sonne, des Nachts gegen den kalten Luftzug geschützt zu sein. Dann aber ging es eifrig, hastig und gierig an das Öffnen der Perlmuscheln; nichts wurde übersehen, nichts zurückgelassen. Welch ein Freudengeschrei erhob sich, wenn jetzt die Menge, jetzt die Größe und zierliche Rundung oder die regelmäßige Form der Perlen unsere Mühe belohnte! – Indes was nützt uns im Grunde der unvergleichliche Schatz? – Auch schien Miß Jenny klüger als wir zu verfahren, indem sie mehr die feinen Fasern oder Fäden an den Muschelschalen beachtete und sammelte als die glänzenden Kügelchen; als die Mutter zur Bereitung des Mittagessens abseits nach der alten Feuerstelle ging, lief sie ihr nach. »Heute mittag gibt's ein schönes Gericht Fische«, rief sie uns lächelnd, über die Schulter zurückgewandt, zu, »und heute abend gebratenes Federwild!«
Die Mutter lächelte zwar ziemlich ungläubig über den ersteren Punkt und meinte, mit einer Schüssel Fische für sieben Personen würde es in so kurzer Zeit wohl Schwierigkeit absetzen; Jenny kehrte sich jedoch daran nicht, lief eilig fort, warf sich in das Kajak, nahm ihren Kormoran zur Hand und ruderte ein paar Steinwürfe weit in die Bai hinaus. Hier legte sie dem geschickten Fischfänger einen Ring an den Hals, damit er seinen Fang nicht verschlingen könne, ließ ihn dann frei auf den Rand des Schiffleins stehen und hielt mit dem Ruderschlag inne. Da war es denn allerliebst zu sehen, wie der geübte Vogel von Zeit zu Zeit in das Wasser hinabschoß und bald wieder mit irgendeinem silberglänzenden Fisch auftauchte, sei es ein Hering, sei es ein junger Lachs oder Kabeljau, den er seiner Meisterin brachte, um sogleich wieder nach einem anderen hinabzutauchen.
In kurzer Frist hatte Miß Jenny mehr als überflüssig ihr Wort gelöst und wenigstens zu zwei reichlichen Mahlzeiten Fische genug beieinander, worauf sie den gefiederten, bestverdienten Fischerjungen von seinem Halsring wieder befreite und ihm zur Belohnung einige der kleinsten Fischlein seiner Ausbeute vorwarf, die sofort mit Heißhunger verschlungen wurden.
»Wahrhaftig«, rief die Mutter aus, als die reichliche Bescherung ihr jetzt lächelnd zu Füßen gelegt wurde, »wir haben in unserer lieben Freundin eine wahre Fee zur Gefährtin bekommen!«
Nach dem Nachtessen kamen wir endlich dazu, Fritzens Erzählung anzuhören. Jenny begab sich zu Bett, ihr bot die Erzählung nichts Neues; wir andern aber saßen am Tisch und hörten unserm jungen Helden zu, der nun begann:
»Ihr erinnert euch, wie ich das große Fahrzeug verließ und auf meinem armseligen Kajak in den großen Ozean ausfuhr. Die See war ruhig, in meinem Innern aber gab es sozusagen Sturm und Wellen; denn einerseits fuhren mir allerlei seltsame Gedanken und Erwartungen durch den Kopf, wenn es mir gelingen sollte, die rauchende Klippe und die schiffbrüchige Engländerin zu entdecken; andererseits regten sich Besorgnisse genug, daß ich hundert Gefahren entgegenliefe und daß ich vielleicht, von euch allen verschlagen, in traurige Einsamkeit geraten, keinen Rückweg finden und euch in den tiefsten Kummer stürzen könnte.
Anfangs ruderte ich kräftig in die offene See hinaus, aber ein leichter Windzug ließ mich bald ahnen, wie gefahrvoll die Richtung sein würde, wenn ein stärkerer Wind vom Lande her sich erhöbe. Ich hatte auch kaum die Perlbai zurückgelegt, als ein heftiger Sturm begann. Jeden Augenblick drohte die Brandung mein schwaches Fahrzeug an den Klippen zu zerschellen; in das weite Meer wagte ich mich aber noch weniger, da ich von den gewaltigen Wogen wohl ebensoschnell verschlungen worden wäre. Gegen Abend schien jedoch der Wind wieder nachzulassen, und ich atmete auf. Freilich fand ich mich, weil ich allen Biegungen und Krümmungen des Ufers hatte folgen müssen, nur wenig gefördert, als die Nacht einbrach, und da ich nicht wagte, am Strande zu übernachten, indem ich eben keine Lust spürte, einem Löwenpaar Trotz zu bieten, so steuerte ich einer Kuppe im Meere zu, die wohl eine Viertelstunde vom Lande als ein hoher, unförmlicher Steinhaufen aus dem Wasser hervorragte. Ich fand zwischen dem Gestein einen ziemlich geborgenen Winkel und schlief trotz aller Unbequemlichkeit in meine Decke gewickelt ganz herrlich. Das Abendessen sowie das Frühstück am folgenden Tag bestand aus kalter Küche, Nüssen und dergleichen, weil ich mir nicht getraute, ein Feuer anzumachen und mich dadurch einem möglichen Überfall von Wilden auszusetzen.
Am folgenden Morgen fuhr ich schon mit ruhigerem Mute als tags zuvor in meinen Forschungen nach der rauchenden Klippe fort, und ob ich gleich im ganzen wieder hart am Ufer dahinzog, so fuhr ich doch zu jedem Felsen hinaus, der nur etwas bedeutend aus dem Meeresspiegel ragte. Die Küste war jetzt durchgehends flach und sandig; aber in mäßigem Abstande davon sah man dichte Wälder mit vielem Unterholz und zahlreichen Schlingpflanzen, die an Stämmen und Ästen üppig nach der Höhe stiegen. Ich hielt sie meist für Pfefferstauden, weil eine Menge Tukane oder Pfeffervögel sie beständig umflatterten.
Später sah ich bald gar keine Klippe mehr in der offenen See, hingegen eine tiefe Bucht am Ufer, die mich eine Zeitlang glauben ließ, es gehe hier ein schmaler Meeresarm hindurch, auf dem ich kürzer und gefahrloser als im offenen Gewässer nach den weiter entlegenen Gegenden hingelangen könnte. Wohlgemut fuhr ich hinein und bemerkte gar keine Flußströmung, weil gerade Flutzeit war und ich so fast ohne Ruderschlag vorwärts gelangte. Nach einem Stündchen ungefähr ward ich aber enttäuscht und merkte wohl, daß ich auf einem Fluß einherfahre. Die Gegend war aber so hübsch, daß ich's nicht lassen konnte, weiter zu rudern. Besonders reizend waren die zarten bunten Gewinde von Lianen, Pfefferranken und dergleichen, die sich an starken Ästen oder schräg geneigten Bäumen quer übers Wasser zogen. Allerlei kleines Getier, Baumratten, kleine Affen und Meerkatzen turnten auf den fliegenden Brücken hin und her. Auch Vögel hüpften darauf herum. Besonders komisch aber war eine Art großer Wasservögel, die sich gemächlich schaukelten, wie auf einem Schwebeseile, und dann plötzlich bei meiner Annäherung wie tot auf das Wasser plumpsten; kaum berührten sie es aber, so schossen sie jählings auflebend drunter weg und streckten nur von Zeit zu Zeit den Kopf auf einem langen und sehr dünnen Hals in die Höhe, um zu sehen, ob ich ihnen etwas tun wolle.
Nach einer Weile gelangte ich in eine kleine Bucht des Flusses und beschloß, da die Gegend hier offener war und nicht leicht aus nahem Gebüsch mich eine Gefahr beschleichen konnte, für ein Viertelstündchen ans Land zu steigen und wenigstens irgendeinen Vogel zur Atzung meines Adlers herunterzupirschen. Es geschah; ich schoß einen Tukan hart an meinem Landungsplatze und sprang aus dem Kajak, um den Gefallenen aufzuheben. Aber, hilf Himmel! Welch ein entsetzliches Konzert von Schreien, Pfeifen, Krächzen, Schnattern und Quäken entstand da auf meinen Schuß! Ich hätte glauben sollen, alles würde über mich herfallen und mich in Stücke zerreißen, so daß ich nur hastig meinen Tukan aufraffte und dann wieder nach meinem Kajak sprang. Aber bekanntermaßen sind unter den Tieren, wie unter den Menschen, die voreiligen und lauten Schreier selten auch tapfere Kämpfer, und ich blieb ganz unangefochten. Plötzlich aber hob sich ganz in meiner Nähe aus dem Röhricht unter Schnauben und Stöhnen eine riesige dunkle Masse. Entsetzt faßte ich mein Ruder und jagte nur so davon. Mein Boot schoß dahin wie ein Pfeil. Was war es? Ein greuliches Nilpferd mitsamt seinem Jungen. Eine nette Bekanntschaft! Sie schwammen quer über den Strom. Zum Glück waren aber die beiden Scheusale offenbar ebenso erschreckt durch meinen Schuß wie ich durch ihr plötzliches Auftauchen. Und so rissen wir also gleichzeitig voneinander aus. Ich wagte auch nicht, weiter hinaufzudringen, sondern sputete mich stromabwärts in die offene Bucht und zog mich auf den einzigen Felsen zurück, den ich dort inselartig aus dem Wasser emporstarren sah. Ein Abendessen von einigen Austern, die ich mühsam zusammenfand, nebst einer Kleinigkeit von meinem Mundvorrat beschloß dann den Tag, wiewohl ich mehr aus Besorgnis, keine sichere Schlafstätte zu finden, als wegen zu weit vorgerückter Abendzeit dort mein Nachtlager nahm.
War ich indessen ungewöhnlich früh zur Ruhe gegangen, so war ich auch desto frühzeitiger mit Anbruch des folgenden Tages wieder auf der Fahrt, näherte mich wie gewöhnlich der Küste, fuhr westwärts und hatte bald einen Landstrich zur Seite, der allen bisher von mir gesehenen durch Schönheit und Fruchtbarkeit den Rang ablief. Mehrere Wasserfälle stürzten im Hintergrunde der Aussicht von mächtigen Felswänden herab und schlängelten sich dann als Bäche durch ein wechselreiches Hügelland, wo mir auf verschiedenen Anhöhen kleine Tierherden zu Gesicht kamen, die der Größe nach Lamas oder Vicunnas sein konnten und einst vielleicht eine köstliche Erwerbung für uns abgeben dürften. Gern landete ich an dieser lieblichen Küste, und da ich eben ein paar entenartige Vögel auf dem Wasser erlegt hatte, so stieg ich aus, machte mir von abgefallenem Reisig ein Feuerchen und wollte mit aller Muße für mich und für den Adler eine längere Tischzeit feiern. Kaum aber waren meine zwei Vögel an einem hölzernen Spieß über dem Feuer, so bemerkte ich bei zufälligem Umherblicken hinter einigen Büschen in der Nachbarschaft etliche höchst verdächtige Köpfe, die bald auf-, bald niederduckten und mich sehr genau zu beobachten schienen. Ich konnte nichts deutlich unterscheiden, fühlte mich aber, das gesteh ich, sehr unheimlich und verzog mich eiligst in mein Schiffchen, um vom Wasser aus in sicherer Entfernung die unbekannten Feinde zu beobachten. Kaum war ich davon, so kamen auch zwei haarige, rotbraune Gesellen von ansehnlicher Größe aus dem Gebüsch herausgehumpelt. Im selben Augenblick erkannte ich, daß es ein paar mächtige Affen waren, ich glaube sicher Orang-Utans. Sie untersuchten neugierig, was ich da wohl gemacht haben könnte, rührten unter den ausgerupften Vogelfedern herum, beschnüffelten mein Messer, das am Boden lag, fingerten an meiner Armbrust, setzten sich endlich in einiger Entfernung vom Feuer nieder und betrachteten andächtig meine zwei britzelnden Enten. Das dauerte so ein gutes Viertelstündchen. Angst hatte ich natürlich gar nicht, denn die Herrschaften kümmerten sich nicht um mich, konnten mir auch nicht zu Leibe. Aber um meine Enten wurde mir bang und bänger. Wenn die zwei Onkel da noch lange Gevatter standen, konnte ich meiner ersehnten Mahlzeit ade sagen. Endlich war das Feuer aus, die Sache wurde ihnen selber langweilig und sie wischten davon. Ich wartete noch ein Weilchen, ruderte dann langsam heran, die Luft blieb rein, und so begab ich mich schleunigst an meinen Lagerplatz zurück. Mein armer Braten! Auf der einen Seite verkohlt, auf der andern halb roh. Ungenießbar!
Ich mußte schon zufrieden sein, daß wenigstens mein Adler mit dem verpfuschten Leckergericht vorliebnehmen wollte. Da indessen meine mitgenommenen Vorräte aller Schonung bedurften, so mußte ich anderes Geflügel schießen, das zwar bald und ganz in der Nähe gefunden war, jedoch ebenfalls wieder gerupft und gebraten sein wollte, worüber der größte Teil des Nachmittags verstrich, so daß mein früher Aufbruch am Morgen für mein Weiterkommen so gut als fruchtlos wurde und ich nur mit genauer Not vor dem Eintreten der Finsternis ein Felseninselchen erreichen konnte, um wie gewöhnlich mein Nachtlager in sicherer Entfernung von der Küste aufzuschlagen.
Nicht sonderlich erquickt erhob ich mich am frühen Morgen und schätzte mich glücklich, nur unverletzt von der dummen Affenküste auf und davon zu rudern; doch mußten mich erst ein paar Schlucke Kanariensekt für die vielen Unterbrechungen des Schlafes, die mich ermüdet hatten, schadlos halten.
Das Ufer, an dem entlang ich heute den Strich zu nehmen hatte, war ganz auffallend unfruchtbarer und einförmiger, als ich vorher irgendeines gesehen hatte; es zogen sich zwar wohl ein paar Flüßchen hindurch, aber auf dem öden Sandboden schien nichts Rechtes wachsen zu können. Es war mir daher nicht wenig überraschend, nach Umfahrung einer kleinen Landspitze plötzlich etwa drei oder vier Büchsenschüsse weit ein kleines Rudel Elefanten an einer breitern und morastigen Stelle des dortigen Flüßchens sich im Schlamme herumwälzen zu sehen. Ein Gebüsch von Mimosen belebte in der Nachbarschaft die Einöde, wie bestellt als Futter für die Riesenviecher. Aus größerer Entfernung glaubte ich auch das Geschrei und Schnauben der Nilpferde zu vernehmen, und im fernsten Hintergrunde kam es mir vor, als flöge in einer Staubwolke ein Trupp Antilopen oder Zebras den Gebirgen zu.
Trotz meiner Sehnsucht nach der rauchenden Klippe ward ich doch neugierig, diesen für mich so neuen Landstrich etwas näher zu besehen, und ich entschloß mich um so eher dazu, als gerade jetzt die Elefanten, ihres Treibens um Ufer satt, mit unerwarteter Schnelligkeit über die breiteste Stelle des Flüßchens setzten, das tiefer war als ich geglaubt hatte. Sie benahmen sich übrigens dabei auf eine merkwürdige Art, denn sie schritten oder schwammen in einer langen Reihe hintereinander über das Wasser, und zur Erleichterung des Atmens legte jeweilen der Hintermann seinen Rüssel auf den Rücken des Vordermanns. Auf dem jenseitigen Ufer aber zerstreuten sie sich wieder, zausten mit den Rüsseln in den Mimosen herum, rissen Zweige davon ab und stopften sie geschickt in ihr großes Maul.
Als sie sich indessen seitwärts weit genug verloren zu haben schienen, fuhr ich noch weiter den kleinen Fluß hinauf, der meist nur zwanzig bis dreißig Fuß breit war und kaum ein anderes Fahrzeug als ein leichtes ohne häufigen Anstoß getragen hätte.
Die Gegend wurde allmählich sandiger, und es schien sich ein Teil des Flußwassers in dem lockern Grunde, durch den es lief, zu verlieren.
Die merkwürdigste Entdeckung im Fortrücken waren mir einige Rhinozerosse, die sich in beträchtlicher Entfernung von mir hinter gewaltigen Kaktusstauden lustig machten, indem sie gleichsam spielend einzelne Schäfte mit dem Horn auf der Nase zerschlitzten und die auseinanderfallenden dann mit der beweglichen und starken Oberlippe nach dem großmächtigen Schlunde führten, ohne der vielen und ansehnlichen Stacheln der Pflanze im geringsten zu achten. Es befiel mich zuerst Lust, die Wirkung eines Flintenschusses auf die Riesengeschöpfe zu versuchen; aber der Himmel bewahrte mich vor der Ausführung des kindischen Einfalls, denn ich hätte mein Leben gefährdet, wenn die Kolosse, aufmerksam und ärgerlich gemacht, auf mich eingestürmt wären.
Die Sache kam mir immer bedenklicher vor; mein Schifflein war so leicht, daß eine solche Bestie es nur zu bequem umreißen konnte, und dann ging ich ohne alle Rettung verloren. Somit traute ich dem Landfrieden keinen Augenblick mehr, machte rechtsumkehrt und fuhr – was hast du, was kannst du – aus der Twingherrlichkeit der Wassertyrannen hinab zur offenen See; auch glaubte ich, noch unterhalb im Strome ein paar Kaimane oder Alligatoren im Schilfe bemerkt zu haben, die wahrscheinlich auf Fische lauerten, bei denen ich jedoch nicht Lust hatte, mich zu Gaste zu laden. Im freien Fahrwasser hingegen, als ich mich wieder in Sicherheit sah, gelüstete mich's nach einem Fischgericht, und da ich bemerkte, daß ganze Züge einer Art Salmen oder anderen solchen Kameraden in den Fluß einliefen, nahm ich meinen Vorteil wahr, harpunierte mir ein paar und führte sie mit nach einem unfern liegenden kleinen Felsenriffe, wo ich für diesmal auf einer über das Wasser mäßig emporragenden Felsenbank mein Nachtlager nahm und die Fische mir als einen schmackhaften Braten angedeihen ließ.
Auch diese Nacht verstrich indessen nicht viel ruhiger als die frühere; denn das kalte und harte Lager abgerechnet, hatte ich auch im Traum unablässig mit baumlangen Alligatoren zu kämpfen und weckte mich mehrmals selbst durch die Heftigkeit meiner Bewegungen. Ich war daher froh, als das Morgenlicht mir die Weiterreise gestattete, und verschob diese auch keinen Augenblick. Abermals fuhr ich in der Entfernung eines Steinwurfes am Strande hin und wünschte nur eine freundliche Stelle zum Aussteigen zu finden, um meinem Adler einige Bissen zum Frühstück gewähren zu können. Endlich landete ich unfern einer kleinen, wenig belaubten Baumgruppe, wo ich irgendeinen Vogel vermutete und zugleich einen schwärzlichen Sand entdeckte, der, mit gelblich schimmernden Blättchen durchmengt, mich ungewiß ließ, ob ein gemeiner Glimmer oder ob köstliches Gold da vorhanden sei. Auf das letztere indessen nicht erpicht, ließ ich den Entscheid bis auf eine spätere Forschungsreise dahingestellt. Hingegen schritt ich nach den paar Bäumen hin, entdeckte glücklich einige Papageien darauf und schoß den ersten besten unverzüglich herunter. Allein mit einer entsetzlichen Gefahr und einem Schrecken, wie ich noch keinen empfunden zu haben glaube, mußte ich den kleinen Gewinn bezahlen; denn indem ich dem Adler harmlos zusah, wie er den Papagei verzehrte, blieb ich ein Weilchen untätig stehen und versäumte, mein Gewehr wieder zu laden, was ich freilich in diesem unbekannten Revier keinen Augenblick hätte verschieben sollen.
Auf einmal hörte ich ein Knistern im Sand hinter mir, dachte, ein Seekrebs oder eine Schildkröte käme dahergeschlichen, wendete mich ziemlich gleichgültig um und sank vor überwältigendem Entsetzen fast nieder, denn ich sah einen großen gestreiften Tiger, der nur etwa zehn oder fünfzehn Schritte noch von mir stand und vielleicht eine Sekunde später mit einem einzigen Gewaltsprung mich erreicht, niedergeworfen und zerfleischt haben würde.
Einen Augenblick muß ich starr und so gut als bewußtlos gestanden haben; dann fühlte ich, wie ich mich schwer auf mein Jagdrohr stützte, und gleichzeitig hörte ich die Flügel meines Adlers rauschen. Es war mir dunkel vor den Augen gewesen; aber jetzt gewahrte ich jählings den Adler, der mit unsäglicher Wut das Haupt des Tigers umflatterte und unablässig gegen seine Augen loshackte, so daß das Ungetüm, indem es diese wütenden Angriffe abwehren mußte, mich entweder nicht mehr beachtete oder doch nicht anzugreifen wagte. Ich warf die Flinte jetzt von mir und zog eine Pistole aus dem Gürtel. Da plötzlich schoß der Tiger mit Oberleib und Vordertatzen in die Höhe, packte den Adler mit beiden Pranken zugleich, quetschte ihn furchtbar zusammen und warf ihn tot auf den Boden. Es zerschnitt mir das Herz, diesen gewaltsamen Tod meines armen Jagdgefährten anzusehen. Aber es galt jetzt, keinen Augenblick zu zaudern. Ich feuerte meine Pistole gegen den Tiger ab. Der brach erst zusammen, und schon war ich im Begriff, mich über ihn herzumachen. Aber da raffte er sich schon wieder auf und sprang mit ein paar mächtigen Sätzen davon. Klopfenden Herzens blieb ich mit der anderen schnell herausgezogenen Pistole auf der Walstatt lauernd stehen; es hätte doch noch ein Gefährte in der Nähe sein können. Aber nichts rührte sich. Langsam schritt ich dann rückwärts meinem Kajak zu, um mich auf die See hinaus retten zu können, wenn die Art des neuen Angriffs es gestatten würde.
Glücklicherweise blieb ich ungefährdet, hob endlich mein Gewehr wieder auf, lud es mit einer Kugel und war dann unmittelbar auf meinen gänzlichen Rückzug bedacht. Daß ich aber meinen Adler, den getreuesten aller Malabaren, nicht schmählich auf dem Kampfplatze vermodern ließ, das wird man mir auch unversichert zutrauen. Ich band ihn vorn auf das Kajak und nahm mir vor, ihn entweder auszubalgen oder ehrenvoll zu bestatten, sobald ich einen passenden und friedlichen Landungsplatz erreicht haben würde; war er doch mein Schutzengel gewesen bei dem toddrohenden Überfall!
Bald indessen sollte mir ganz anders zumute werden! Um ein paar nahe Klippen herumschiffend, erblickte ich plötzlich eine kleine Felseninsel in größerer Weite und sah – und sah – eine Rauchsäule davon emporsteigen! Ich schrie laut auf und schlug vor Entzücken mit dem Ruder aufs Wasser. Das mußte die ›rauchende Klippe‹ sein! Dort mußte die ›schiffbrüchige Engländerin‹ wohnen. Fast atemlos vor Aufregung und Anstrengung ruderte ich drauflos. Das Herz schlug mir bis zum Hals hinauf. Nicht einen Augenblick kam mir der Gedanke, es könnten ebensogut Seeräuber oder Wilde dort hausen. Aber wenn ich's nachträglich überlege, so muß ich zugeben, heißspornig und unüberlegt gehandelt zu haben, indem ich so einfach drauf zufuhr, ohne mich im mindesten zu sichern.
Endlich kam ich der rauchenden Klippe so nahe, daß ich einen Menschen genau hätte erkennen können; allein der Rauch stieg hinterwärts, von der mir abgekehrten Seite des Felsens, empor, und ich glaubte schon, einen Umweg nehmen zu müssen, als ich ein wenig seitwärts eine Steinplatte gewahr wurde, bei der ich anfahren konnte. So flink wie weiland Wilhelm Tell sprang ich auf festen Grund. Ein paar von Menschenhand aufeinandergeschichtete Steine leiteten mich wie ein schmales Treppchen empor, und im Nu war ich oben um eine Ausbeugung des Felsens herum, da – weiter unten – am hochrauchenden Feuer saß jemand, eine schlanke junge Gestalt in Männerkleidern. Hätte sie nicht in diesem Augenblick eine lange blonde Flechte, die bei der gebückten Stellung vornübergeglitten war, über die Schultern zurückgeworfen, so wäre ich am Ende irre geworden. Ich drückte die Fäuste auf den Mund – am liebsten hätte ich laut aufgeheult vor Freude – aber ich nahm mich zusammen. Schnell sagte ich mir: erschreck sie nicht! Sie ist nicht mehr an Menschen gewöhnt! Langsam! Langsam! So stieß ich denn mit dem Fuß an ein Steinchen, daß es ins Rollen kam und eilig den Berg hinunterkollerte. Auf dieses Geräusch wandte sie den Kopf, sah das Steinchen liegen und blickte den Weg hinauf, den es gekommen sein mußte. Da entdeckte sie mich, der absichtlich noch stehengeblieben war. Sie wurde totenblaß, sprang auf und blieb dann regungslos stehen, den starren Blick unverwandt auf mich geheftet. In tiefster Ergriffenheit näherte ich mich langsam und blieb dann einige Schritte von ihr entfernt stehen. Kaum konnte ich vor Beklommenheit sprechen. ›Ich bin der Retter‹, sagte ich. Die Stimme zitterte mir, ihr könnt mir's glauben. ›Ich habe den Albatros gefangen‹, fuhr ich fort, ›ich habe den Brief an seinem Bein gefunden. Ich habe jetzt auch die rauchende Klippe gefunden –‹ Da streckte sie mir, von Glut übergossen, beide Hände hin.›Willkommen‹, rief sie, in einem Atem lachend und weinend. – Mein Englisch ist doch gewiß das beste nicht, aber in dem Augenblick hat sie mich verstanden, wiewohl sie später manch liebes Mal nicht leicht aus meinem Radebrechen klug werden konnte. Den Bericht über die nächste halbe Stunde erlaßt ihr mir wohl. Ich könnte doch nicht beschreiben, wie mir zumute war, wie wir uns langsam faßten und zum Bewußtsein der Wirklichkeit zurückkehrten.
Anfangs dachten wir nicht an Essen und Trinken, nicht an Schiff oder Obdach, nicht an Menschen und Rückkehr zu Menschen. Jedes ergoß sich in Erzählungen, Fragen und Ausrufungen; dennoch achtete keines recht auf die des anderen. Jenny war indessen doch lange vor mir gefaßt und machte stillschweigend Anstalten zum Abendessen, während ich des Plauderns und Fragens immer noch kein Ende finden konnte und vom Hundertsten ins Tausendste geriet.
Kurz, die Mahlzeit kam zustande, ward in guter Eintracht verzehrt und gab Gelegenheit, uns einander bei etwas gefaßterer Stimmung ungleich besser als bisher zu verstehen.
Auf die Nacht zog sich Miß Jenny in den Hintergrund der Grotte zurück, den sie mit einer Art Vorhang, aus Schilf und Grashalmen geflochten, von dem vorderen Teil abgesondert hatte, während ich in diesem Vorderteil meine Schlafstätte bekam, wo ich indessen eher wie ein wachender Paladin vor dem Zelte seiner Prinzessin, als wie ein müder und schlafbedürftiger Ruderer die Nacht zubrachte.
Am Morgen schlüpfte Jenny gerade hervor, als mich endlich der Schlummer überwältigt hatte, und erst ihre Einladung zum Frühstück unter Scherzen und Lachen weckte mich aus der eingerissenen Schlaftrunkenheit.
Da die See diesen Tag etwas unruhig war und ich Jenny überzeugt hatte, daß es am ratsamsten sei, wenn sie sogleich mit all ihrem Eigentum die Fahrt zu den Meinigen mit mir anträte, so veranstalteten wir den Tag hindurch alles Nötige, um ihr Gepäck und die seltsamen Gerätschaften von der Arbeit ihrer geschickten Hände in mein Kajak zu laden. Ich fand dabei jeden Augenblick Veranlassung, in Verwunderung und Lob über den großen Kunstfleiß auszubrechen, mit dem innerhalb zwei oder dritthalb Jahren das erfinderische Mädchen so vieles zustande gebracht hatte. Sie hingegen meinte, in Europa, mit europäischen Hilfsmitteln und Werkzeugen, würde selbst ein gewöhnliches Mädchen in einem so langen Zeitraum und bei solchen Entbehrungen das Doppelte oder Dreifache von Arbeit geliefert haben.
Was mir Jenny am vorigen und an diesem Tag und auf der Heimreise von ihrem Aufenthalt in Ostindien erzählt hat, wohin sie noch ganz jung gekommen ist, von der begonnenen Heimreise nach Europa, ihrem Schiffbruch, ihrer Rettung und der Robinsonade auf der rauchenden Klippe, das gäbe fürwahr ein hübsches und langes Buch, wenn der Vater in der Regenzeit sich an die Aufzeichnung machen wollte.
Genug, am dritten Tag war alles zur Abreise bereit; wir ließen nur ein Kistchen voll Muscheln und ein Faß mit geräuchertem Fleisch zurück, das, vom Sturm an die Klippe getrieben, mit einem Teil seines Inhalts zu Jennys Ernährung viel beigetragen hatte. Die See war für mein schwaches Schifflein wieder fahrbar geworden, und die Heimfahrt wäre ziemlich rasch zu Ende gekommen, wenn nicht eine starke Beschädigung des Kajaks, wie ich schon früherhin berichtete, uns auf der kleinen Insel Freudenau aufgehalten hätte, wo ich übrigens von unserer Fahrt schon manches zum besten gegeben habe, was ich jetzt wohl nicht zu wiederholen brauche!«
Fritzens Erzählung hatte wenigstens bis Mitternacht gedauert, und alle seine Zuhörer, auch ich nicht ausgenommen, waren recht wach und munter geblieben. Ich befahl indessen, endlich zur Ruhe zu gehen. Freilich schien niemand einen rechten Schlaf finden zu können, und in der Tat, auch mir öffneten sich so viele Aussichten in eine neue Zukunft durch die Vermehrung meines lieben Hausvolks und durch Fritzens vielversprechende Entdeckung, daß mein Geist in steter Bewegung blieb und mir kein ordentlicher Schlummer zuteil werden wollte.
Noch ein paar Tage mußten in der Perlbai zugebracht werden, das war bei mir ausgemacht; aber dann zeigten sich der anlockenden Unternehmungen so viele, daß ich zu keinem Entschluß darüber zu kommen vermochte. Unterdessen ward einstweilen jedermann wieder geweckt, ein Frühstück eingenommen und in trautem Gespräch ein Morgenstündchen verplaudert; denn, durch Fritzens Erzählung aufgeregt, war alles Volk auf die Geschichte der kleinen, liebenswürdigen Miß so neugierig geworden, daß man ihr nicht Ruhe ließ, bis sie wenigstens das Wesentlichste davon zum besten gegeben hatte.
Aus ihrem oftmals unterbrochenen Bericht ergab sich folgendes:
Jenny war die einzige Tochter eines englischen Obersten, der in Indien Kriegsdienste geleistet hatte. Der Oberst hatte seiner Tochter eine sorgfältige Erziehung angedeihen lassen; sie lernte nicht nur alle weiblichen Handfertigkeiten, sondern auch Reiten, Fechten, Schießen und Jagen. Vor einigen Jahren hatte nun der Oberst den Befehl erhalten, eine Anzahl ausgedienter Soldaten auf einem Kriegsschiff nach England zu begleiten. Er hatte selbst seinen Abschied genommen und dachte nun daran, Jenny ebenfalls nach England zu bringen. Auf dem Kriegsschiff, das den Obersten nach England trug, konnte Jenny aber nicht aufgenommen werden; so mußte sie, nur von einer vertrauten Kammerfrau begleitet, mit der Bark Dorcas reisen, die ebenfalls nach England in die See stach. Die Bark geriet aber in eine Reihe von Stürmen und wurde ganz von ihrem Kurse abgetrieben, so daß der Kapitän sich nicht mehr zurechtfinden konnte. In einer finstern, schweren Sturmnacht scheiterte das Schiff, die Mannschaft sprang in die Boote, die aber sogleich vom Sturm verschlungen wurden. Eine wohltätige Welle spielte Jenny ans Land, wo sie besinnungslos liegenblieb; sie hatte nicht die geringsten Lebenszeichen weder von der Mannschaft noch von der Kammerfrau bemerkt. Zwei Tage lang blieb sie, von Angst und Schrecken fast tot, auf der Insel, ohne etwas zu unternehmen; sie nährte sich kümmerlich von einigen Eiern, die sie den brütenden Strandvögeln aus den Nestern nahm.
Am dritten Tage hatten sich endlich milde Witterung und Sonnenschein wieder eingestellt. Das heitere Wetter hatte ihr sogleich die Hoffnung eingeflößt, die wahrscheinlich gerettete Schaluppe des Schiffes würde von der stillen See alsbald Vorteil ziehen und die kleinere oder die allfällig an das Ufer geworfene Bemannung des Bootes aufsuchen. In dieser tröstlichen Erwartung hatte die Schiffbrüchige an nichts Angelegentlicheres als an ein anzufachendes Feuer zu denken. Und da sie auf dem Schiffe in der Kleidung eines Seekadetten gelebt und als solcher Messer und Feuerzeug und dergleichen mit sich geführt hatte, so fand sie sich ungleich weniger hilflos, als sie ohne diese Rolle gewesen wäre, die sie freilich aus einem kleinen Mutwillen angenommen hatte, die ihr aber doch von ihrem Vater selbst gestattet worden war.
Ein fortwährend erhaltenes Feuer, teils zu Ersparung ihres wenigen Zunders und zu Schonung von Stahl und Feuerstein, teils zu steter Einladung vorbeisegelnder Schiffe, war lange mit allerlei Holzwerk von der gescheiterten Korvette und später mit getrocknetem Gras oder Seetang unterhalten worden. Eine Matrosenkiste oder sonst ein nützliches Gerät von der Korvette war dem unglücklichen Mädchen nicht zuteil geworden, und sie hatte sich kaum ein paar Nägel aus Brettern verschaffen können; einige Lebensmittel jedoch, ein Fäßchen Bier und namentlich ein Faß mit Fleisch waren ihr in die Hände gefallen. Aber mit reicher, glücklicher Erfindungskraft hatte sie bald angefangen, alles Mögliche zu bereiten, zu verfertigen und zu unternehmen, was ihr das Leben erhalten und ihren öden Wohnort erträglich machen konnte.
Nie war das glückliche Geschöpf darüber im Zweifel gewesen, daß Gott es dereinst von dem einsamen Felsen wieder abberufen würde. Alle Robinsone – das war drolligerweise ihr Trostgrund gewesen – von denen man liest, sind ja doch glücklich heimgekommen, oder es sind Menschen zu ihnen gelangt, und der liebe Gott wird es wohl noch viel besser machen als so ein Romanschreiber.
Viele Beschäftigung und Unterhaltung hatte die Miß in der Erziehung und Zähmung einiger Vögel gefunden, die an zugänglichen Orten der rauchenden Klippe von den Alten ausgebrütet und von ihr aus den Nestern genommen worden waren. Immer jedoch hatte ihr ein Unfall die Tiere wieder entrissen, oder sie waren unversehens ausgeblieben; dies war auch mit dem Albatros geschehen, den Fritz verwundet und dann mit seiner Antwort auf die so folgenreiche Einladung der Miß entlassen hatte.
»Wo mag der wohl jetzt herumfliegen?« sagte sie lächelnd. »Am Ende hat ihn schon wieder jemand gefangen und liest nun die beiden Briefe viele hundert Meilen von hier. Wie hätte ich gejubelt, wenn er mit der Antwort zu mir zurückgekehrt wäre! Aber schließlich war es wunderschön, wie es dann gekommen ist.« Damit streckte sie dem glücklich lächelnden Fritz die Hand hin und umarmte dann zärtlich die Mutter.
»Ich heiße dich nochmals bei uns willkommen, mein liebes Kind«, sagte ich ernst und gerührt. »Der liebe Gott hat es gut mit uns gemeint. Er hat uns füreinander gerettet. Leben wir nun füreinander in Liebe und Treue.«
Am nächsten Tag aber wurde unser Schiff wohl ausgerüstet, und dann wendeten wir den Kiel heimwärts.
Jenny brannte vor Neugier auf das von den Brüdern so viel gepriesene »Felsenhaus«, das »luftige, duftige Baumschloß«, die »ländlichen Villen« bei der Klus, auf Hohentwiel und bei Waldegg. Die Jünglinge aber erschöpften sich in Erzählungen und Verheißungen alles dessen, was sie vorzeigen, einrichten, verbessern, ja schenken und verehren wollten, wenn Miß Jenny nur es zu sehen und anzunehmen würdigte.
Schon auf der Heimfahrt, die den glücklichsten und schnellsten Fortgang hatte, war das junge Volk unersättlich in Winken, Angaben und Auseinandersetzungen. Ein fast komischer Wettstreit erhob sich unter den Brüdern, wer am frühesten, bündigsten und anziehendsten jeden neuen Gegenstand bezeichnen und beschreiben könnte. Wir fuhren in offener See um die Vorgebirge der Kirchfluh und der Stumpfnase hin und erreichten früh am Nachmittag Hohentwiel, wo ich mannigfaltiger Vorkehrungen wegen das Nachtlager aufzuschlagen beschloß. Fritz und Franz aber mußten sogleich im Kajak bis Felsenheim weiterrudern, um alles dort zu unserm Empfang in Bereitschaft zu setzen, und es freute mich, daß Fritz nur mit einer leisen Äußerung, wie gern er geblieben wäre – sich alsbald ermannte, sein Fahrzeug bestieg und die holde Miß Jenny verließ, bei der er sonst so unzertrennlich und so gern zu verharren schien.
Als wir in die Rettungsbucht einfuhren, da donnerten von der Haifischinsel die Kanonen zu festlichem Gruß; dann sahen wir unsere kriegerischen Jünglinge in das Kajak springen und blitzschnell gegen das Ufer hinrudern, wo sie vor uns anlangten. Dort hießen uns alle ebenso ernsthaft als freundlich willkommen und standen uns bei der Ausschiffung bei.
Als wir damit zustande gekommen waren, schritten wir langsam unserer hübschen, dicht umrankten Wohnung zu. – Jenny konnte des Wunderns und Freuens an dem reizvollen Landschaftsbild kein Ende finden, und uns selber schien unser geliebtes Plätzchen gleichsam neu geschenkt und frisch verklärt, und als nun von allen Seiten lebendiges Gezwitscher und Geflatter in den Sträuchern sich kundgab, als die schönen und seltenen Geschöpfe unseres Geflügelbestandes bald neugierig, bald zahm sich anschmiegten, herbeihüpften oder niederflatterten, da wurden dem guten Mädchen ordentlich die Augen feucht. Sie lehnte sich zärtlich an meinen Arm und rief: »Nein, wie schön ist es hier bei euch!«
In der luftigen, kühl beschatteten Galerie unserer Wohnung, vor der Mitte des Haupteingangs, bemerkten wir jetzt mit froher Überraschung einen gedeckten Tisch, und wunderlich bunt stand drauf alles beisammen, was wir von alten oder neuen, europäischen oder selbstverfertigten Gerätschaften nur irgend besitzen mochten. Felsenheimer Porzellan, Bambusgeschirr, Kokosschalen, Becher von Straußeneiern hatten sich den Gläsern, Flaschen und Tellern aus dem gestrandeten Schiffe beigesellt, und das Abenteuerliche des Anblicks war in hohem Grade vermehrt durch aufgestellte oder an Schnüren frei schwebende Vögel aus unserem Museum, die eine liebliche Täuschung von paradiesischem Zusammenleben mit aller Kreatur gewährten. Eine große mit Papier überzogene Tafel endlich, umkränzt mit vielfarbigen Blüten und Blumen, hing über der ganzen Festanstalt, und in hohen, rotgemalten Buchstaben war darauf zu lesen: »Hoch lebe Miß Jenny Montrose! Gesegnet sei ihr Eingang in die Klause des schweizerischen Robinsons!« –
Die Gefäße aller Art stellten übrigens kein leeres Gepränge vor. Was nur in der Eile aufzutreiben gewesen war, war aufgetischt. Met und Kanariensekt und fette Milch luden ein, den Durst zu stillen; Früchte jeder Art boten eine willkommene Erfrischung dar. Die Feige, die Goldorange, die würzige Ananas lachten aus frischem Blättergrün, und andere Früchte zeigten sich aufgestapelt in kleinen Pyramiden; ja selbst ein warmes Fischgericht und ein ansehnlicher Braten auf einer wärmenden Kohlenpfanne verherrlichten den Schmaus, und ich sagte lächelnd zu Franz: »Es hat ein Zauberer euch beigestanden und hat sein Tischlein deck dich! für euch ausgesprochen.« Er aber rieb mit bedeutsamer Miene die Augen, und ich begriff, daß die wackeren zwei Jungen selbst die Nacht zu Hilfe genommen und sich den Schlaf abgebrochen hatten, um den festlichen Empfang zu veranstalten, der uns so angenehm überraschte.
Miß Jenny, zwischen mir und der Mutter, erhielt den Ehrenplatz an der stattlich besetzten Tafel; Ernst und Jack setzten sich ebenfalls; Fritz und Franz ließen es sich aber nicht nehmen, in aller Form die Aufwartung zu besorgen, wobei sie mit Handtüchern unter dem Arme als Kellner herumsprangen, das Fleisch zerlegten, die Teller wechselten und überhaupt mit einer Fertigkeit ihr Amt versahen, daß wir oft Essen und Trinken vergaßen, nur um ihnen zuzusehen, doch ohne daß wir die Rolle vornehmer und einer solchen Bedienung gewohnter Gäste zu spielen unterlassen hätten.
Der Nachmittag war ein neues, immer wechselndes Fest, wobei Jenny fast nicht zu Atem kommen konnte, denn rechts, links, vorn und hinten ertönte Schlag auf Schlag: »Ach, liebe Jenny, kommen Sie hierher! Steigen Sie da hinauf! Sehen Sie dies! Untersuchen Sie erst das!« und wie die Einladungen der viere noch weiter lauteten. Es bedurfte der Gewandtheit des Mädchens, um allen genugzutun und jedes erwünschte Zeichen des Beifalls, der Teilnahme und der Verwunderung gehörig anzubringen. In Haus und Höhle, Vorplatz und Garten blieb kein Winkel ungezeigt und unbeschaut als die arme Küche, der doch so wesentliche Mittelpunkt des häuslichen und gedeihlichen Daseins. Auch lachte Miß Jenny zuletzt alle vier Jünglinge aus, sprang an die Seite der Mutter und bat, nun endlich auch hingeführt zu werden, wohin sie gehöre. Die Mutter nahm diese Bitte mit großem Wohlgefallen auf, richtete ihren Gang nach der Küche und ließ die vier diensttuenden Herrlein ein wenig verblüfft zur Seite stehen, so daß Jack mit ausgespreizten Händen und Fingern sich das Zeichen einer langen Nase machte und linksumkehrt hinten wegsprang, um sich anderswo ein Geschäft zu suchen.
Am folgenden Tage war alles frühzeitig rege, um einen Ausflug nach Falkenhorst zu bereiten, und ich fand in der Tat ratsam, daß wir insgesamt hinzögen, um den lange versäumten Wohnsitz wieder einmal von Grund aus zu besichtigen und nach Bedürfnis herzustellen. Wir fanden denn auch alles ziemlich verwahrlost und hatten saure Tage genug, bis alles wieder einigermaßen instand gestellt worden war. Aber nie wurde wohl so eifrig und so fröhlich das Schwierigste bewältigt, wie es jetzt geschah, wo Jenny mithalf und durch ein helles, frohes Lachen unsern Mut hob; die Brüder wetteiferten, ihr Lob zu hören. Kaum aber waren wir hier einigermaßen zurecht gekommen, da riefen Waldegg und Hohentwiel nach unserer Arbeit. So vergingen die Tage; Jenny war immer mit uns, und wir hatten uns alle so an das liebe Mädchen gewöhnt, daß wir uns gar nicht mehr denken konnten, wie wir einst ohne sie auskommen mußten. Und als vollends nun die Regenzeit kam, wieviel schöner war nun diese trübe Zeit für uns! Wir lernten nicht nur mancherlei von Jenny; sie lernte auch vieles von uns. Da war es denn auch lustig zu sehen, wie meine Jungen sich bestrebten, ihr täppisches, oft fast grobes Wesen abzulegen und feinere Manieren anzunehmen.
So ging die Regenzeit diesmal viel schneller vorüber als früher; wir wurden von der schönen Jahreszeit gleichsam überrascht. Doch empfanden wir nicht geringere Freude über ihr Erscheinen; wir schlüpften wie Tauben aus ihrem Schlage wohlgemut hinaus in die freie Luft, renkten und schwenkten die Glieder, besahen den lichtblauen Himmel, zerstreuten uns in unsern Garten, zu den Pflanzungen, an den Strand, oder wo sonst das erste Gelüsten frei gewordener Bewegung uns hinrief, und fingen an, für die nächstfolgende Zeit allerlei Geschäfte festzusetzen. Da geriet Fritz auf den natürlichen Gedanken, sogleich nach der Haifischinsel hinüberzurudern und auf unserer Warte sich umzusehen, ob die stürmische See der winterlichen Jahreszeit nichts herbeigeführt habe, das unserer Aufmerksamkeit wert sein könnte.
Jack begleitete ihn. Ich war am Strande beschäftigt, tat zuweilen einen Blick zu ihnen hinüber und freute mich an der affenartigen Gewandtheit, mit der sie den Felsen auf der Strickleiter erklommen. Wir hatten ausgemacht, daß sie zwei Schüsse tun sollten, wie dies all die Jahre hindurch von Zeit zu Zeit geschehen war, um entweder vorbeikommende Schiffe anzurufen oder Notleidenden die Richtung anzugeben. Ich hielt in der Arbeit inne, schützte die Augen mit der Hand und schaute zu ihnen hinüber, innerlich lachend über die jungenhafte Vergnügtheit, mit der sie der altgewohnten Lustbarkeit, ihre Feuerschlünde speien zu lassen, oblagen. Noch standen sie regungslos nach dem zweiten Schuß. Ihre Gestalten zeichneten sich scharf gegen den klaren Himmel ab. Da machte einer von ihnen – ich konnte nicht genau unterscheiden, welcher – eine heftige Bewegung mit den Armen, der andere tat einen Sprung, noch einen – das mußte Jack sein – dann stürzten sie aufeinander los, umschlangen sich und standen so wohl eine Minute. »Was haben sie denn nur?« dachte ich. Jetzt kam schon wieder Bewegung in die stumme Gruppe. Sie rannten zum Abhang, schossen mit geradezu bedenklicher Hast die Strickleiter hinunter ins Boot hinein und jagten gegen das Ufer hin, just auf mich zu. Schnurr! sausten sie auf den Sand. Fritz sprang zuerst heraus; er war bleich, trotz der Anstrengung des Ruderns.
»Was gibt's?« rief ich bestürzt.
»Vater!« keuchte er heiser, »hast du nichts gehört?«
»Hast du denn nichts gehört?« schrie Jack, dem die Tränen übers Gesicht liefen.
»Was soll ich denn gehört haben außer eurem Geknalle?«
»Es hat ja geantwortet! Es hat wieder geschossen!«
»Unsinn!« rief ich, »ich habe nichts gehört. Es war der Widerhall eurer eigenen Schüsse.«
»Aber Vater! Wir werden doch noch das Echo von einem Antwortschuß unterscheiden können. Wir haben ja wohl schon fünfzigmal von der Warte aus geschossen. Der Knall kam viel zu spät für einen Widerhall, und endlich – drei auf zwei – das wäre doch wunderlich!«
»Habt ihr denn nichts gesehen? Kein Schiff! Kein Boot! Keinen Rauch?«
»Nichts, gar nichts! Das ist es ja eben! Es schien westwärts von unsrer Bucht zu sein. Aber der Schall täuscht ja. O Vater, was tun wir?«
Wahrhaftig, ich wußte nicht, was ich da sagen sollte. Die Sache überraschte und erschütterte mich ungleich mehr, als ich je gedacht hätte, da ich doch stets darauf aus gewesen war, durch Lärmzeichen die Nähe von Menschen zu ermitteln. Nie aber hatte ich es mir recht deutlich gemacht, wie im Fall einer menschlichen Annäherung mein Verhalten sein sollte, und so geriet ich jetzt in hundert Besorgnisse und trieb auf einer See von Zweifeln herum. Waren es Europäer? Waren es seeräuberische Malayen, die vielleicht in der Umgegend gelandet hatten? Waren es arme Verschlagene? Waren es glückliche Entdecker? – Sollten wir uns unverhohlen zu erkennen geben? Oder sollten wir im Hinterhalte bleiben und listig spähen, bevor wir unsre Gegenwart verrieten? Ich versammelte mein Hausvolk und hielt großen Rat; denn ich fand die Sache viel zu wichtig, als daß ich sie mit Fritz und Jack unter der Hand hätte abtun mögen.
Mittlerweile kam die Nacht herbei; wir beschlossen, die Entscheidung bis auf den folgenden Tag zu verschieben, und ich beorderte die drei Ältern, abwechselnd mit mir Stunde um Stunde vor unserm Höhlenhaus in der Galerie Wache zu halten, um genau zu horchen, ob in der stillern Nacht wieder ein Zeichen von Menschennähe sich vernehmen lasse.
Allein die Nacht war nicht so schweigsam, als wir sie erwartet hatten; vielmehr machten sich Sturm und Regen von neuem auf und gaben ein so tosendes Nachspiel zu der anscheinend verstrichenen Regenzeit, daß es nicht möglich war, irgend etwas anderes zu hören als die heulende Windsbraut, das rastlose Tropfengeplätscher und das Brausen des Ozeans. Zwei Tage und zwei Nächte hindurch wütete dieser Nachwinter dergestalt fort, und in den wenigen Pausen der Unterbrechung fanden wir alle Hände voll zu tun, um nur dem Ungestüm des Wetters entgegenzuarbeiten, so daß an ein Aufhorchen und Ausspähen gar nicht zu denken war. Erst am dritten Tage, obwohl die See noch hoch ging und am Himmel sich eine stetige Wolkenjagd trieb, zeigte sich eine Möglichkeit, auf Forschung auszugehen, und man wird leicht denken, daß ich nicht verfehlte, mich selbst nach unserer Warte zu verfügen, wobei ich Jack zur Begleitung nahm und einen Wimpel mitführte, der meinen Zurückgebliebenen nach Verabredung entweder ein Zeichen guter Neuigkeit oder drohender Gefahr sein sollte. Schwang ich den Wimpel dreimal und warf ihn darauf in die Tiefe, so sollten Frau, Kinder und Jenny mit Eilfertigkeit sich nach Falkenhorst zurückziehen und alles Vieh dorthin treiben, bis ich nachkommen würde; schwang ich aber den Wimpel nur zweimal, pflanzte ich ihn dann fest neben dem Wachthäuschen, und zog ich auch die dortige Flagge auf, so war der Anschein günstig oder wenigstens nicht entscheidend bis auf weiteres.
Mit ungeheurer Spannung lauschten und lauerten die Zurückgebliebenen auf unsere Bewegungen; wir aber landeten mit Herzklopfen an dem Haifischinselchen, wo wir eiligst die Höhe des Felsens erstiegen und uns mit Falkenblicken umsahen, ohne jedoch das mindeste Neue gewahr zu werden. Ich entschloß mich denn endlich, drei Kanonenschüsse loszubrennen, um zu erfahren, ob irgend etwas darauf erfolgen würde; denn schon regten sich wieder Zweifel in mir, ob sich die beiden nicht überhaupt geirrt oder bloß etwas Natürliches, vielleicht das unterirdische Tosen eines nahen Erdbebens vernommen hätten. Ich lud tüchtig, Jack brannte los, und wir ließen eine Frist von zwei Minuten zwischen den einzelnen Schüssen, damit wir gerade Zeit hätten, wieder zu laden zwischen dem zweiten und dem dritten. Jetzt aber spitzten wir die Ohren gewaltig, und horch! – es brummte dumpf. Einmal! – Pause von ein paar Minuten. – Zweimal! – Dreimal! – Sieben Schüsse hintereinander folgten sich vernehmbar, ich jubelte, Jack tanzte wie voll süßen Weines, schnell zog ich die Flagge an dem großen Flaggenstock auf und schwang zweimal den mitgebrachten Wimpel. Aber wie zu mir selbst kommend aus einem Fiebertraum schlug ich jetzt mit der Faust an meine Stirne und rief: »Was für ein Tor bin ich, so blindlings den Freudenlärm anzuheben, und weiß doch nicht, ob Freund oder Feind in der Nähe ist!«
Alsbald half ich unsere Geschosse wieder laden, befahl Jack, mit brennender Lunte ein Stündchen bereitzustehen, Wache zu halten, loszubrennen, sobald er ein fremdes Fahrzeug erblicke, und verfügte mich dann ungesäumt zu den Meinigen nach Felsenheim zurück, um zweckmäßige Anstalten zu treffen.
Ich fand mein Hausvolk in außerordentlicher Bewegung. Fritz sprang mit einem gewaltigen Satze zu mir in das Boot, als ich nur erst im Begriffe war, anzulegen, und alles rief in verworrener Hast entgegen: »Wo sind sie? Wo sind sie? Was ist's für ein Schiff? Sind es Europäer? Sind es Engländer?« – Zwar hatte man die sieben Antwortschüsse so wenig als vor drei Tagen die drei gehört, und es ergab sich, daß die Felsen links von unserer Wohnung vermutlich den Ton aufhielten, der jenseits gefallen war; aber unsere Freudenzeichen hatten hingereicht, um meine Leute vor ungeduldiger Erwartung fast außer sich zu bringen.
Indessen, ich mußte einmal die Wahrheit sagen und die prickelnde Neugierde unbefriedigt lassen; doch war alles mit mir zufrieden, als ich sofort den Entschluß ankündigte, auf Erkundigung zu fahren und, in Fritzens Gesellschaft am Ufer hinrudernd, womöglich den Standort des mutmaßlichen, nahe liegenden Schiffes ausfindig zu machen. Jenny schien ganz das sonst so besonnene Köpfchen verloren zu haben; sie lief geschäftig herum, sang zwanzigerlei Liederverse und versicherte alle Augenblicke, gewiß sei ihr lieber Vater gekommen, um sie abzuholen.
Ich machte mir jetzt Fritzens Einfall mit seiner Mummerei vom letzten Jahr zunutze, indem ich allerlei Felle und Federn, oder was sonst zur Verkleidung dienen konnte, herbeibringen ließ. »Als Wilde wird man uns viel weniger beachten«, sagte ich, »und in unserm Wohnsitz viel weniger aufsuchen. Auch wird unser Lauschen aus der Ferne, unsre Schüchternheit und unser Verschwinden, wenn wir sehen, daß nichts zu holen ist, wofern wir nämlich zu den Ankömmlingen kein Vertrauen zu fassen vermögen ungleich weniger Aufsehen erwecken, als wenn man Europäer in uns erkennt. Wir aber gewinnen dadurch Zeit, neue Vorkehrungen zu treffen, und obwohl ich das Beste hoffe, so verlange ich doch, daß ihr andern alles zum Rückzug nach Falkenhorst in Bereitschaft haltet, wohin Jack und Franz vorläufig das Hausvieh treiben mögen. Übrigens wünsche ich, daß die Mutter und Jenny sich als Seekadetten anziehen und daß jedermann sich bewaffne. Seeräubern, wenn sie nicht allzu zahlreich sind, können wir auf irgendeinem günstigen Standpunkte wohl noch die Spitze bieten.«
Es war ungefähr Mittag, als ich endlich mit Fritz im Kajak vom Ufer stieß. Die Mutter sah uns mit überströmenden Augen nach. Jenny hielt sie umschlungen, redete ihr lustig zu und lachte über »die zwei wilden Männer«. Jack und Franz waren schon mit dem Vieh und einigen unsrer Kostbarkeiten aufgebrochen. Wir waren wegen unsrer Rolle ganz einverstanden, und wenn man uns zufällig entdecken, anrufen, einfangen würde, so wollten wir im rauhsten Schweizerdeutsch sprechen, voll guter Zuversicht, daß keine seefahrende Nation es verstehen würde. Im übrigen waren wir bewaffnet, nur hielten wir die Säbel, Flinten und Pistolen auf den äußersten Notfall im Verstecke, während wir unsre Harpunen als Lanzen führten.
Stillschweigend, in einer Art froher Bangigkeit, ruderten wir aus der Rettungsbucht und hielten uns links an das felsige Vorgebirge, das vom Entensumpf in die See hinauslief, wo es ein wenig abgerundet endigte.
Wir legten fünf Viertelstunden glücklich zurück und würden in gerader Linie kaum fünfundzwanzig Minuten zu dieser Fahrt gebraucht haben, wenn wir nicht, unsres gebrechlichen Fahrzeugs wegen, so nahe am Ufer hingesteuert hätten. Jetzt aber führte uns die Richtung der unfreundlichen Küste wieder seewärts, und ein Vorgebirge zwang uns, eine Umschiffung zu versuchen; denn allem Vermuten nach mußte das gesuchte Fahrzeug gleich jenseits anzutreffen sein, da wir sonst seine Kanonenschüsse schwerlich vernommen hätten.
Zuvor indessen hielten wir noch einen Augenblick an, musterten unsre Vermummung, genossen eine nötige Herzstärkung und ruderten dann mit erneuter Anstrengung dem Felsenkap zu, das zum Glück doch keine bedeutende Brandung an seinem Fuße bemerken ließ, weil außerhalb im Meer verschiedene Felsenriffe die Wellen schon hinreichend brechen mochten.
Endlich waren wir am äußersten Punkte, und zufällig boten sich hier einige Steinklippen dar, hinter denen wir verborgen genug allmählich vorwärts spähen konnten. Wie ward uns aber zumute, wie löste sich alle Beklemmung, als wir jetzt in der kleinen Bucht vor einem bebuschten, nicht allzu steilen, doch hinterwärts gleich Felsenheim mit Flühen umgrenzten Ufer ein europäisches Schiff erblickten, das zwar teilweise abgetakelt zu sein schien, aber am Flaggenstock die teure englische Flagge erkennen ließ und zum Zeichen, daß es nicht unbevölkert sei, gerade von einer Schaluppe verlassen ward, die nach dem Strand zu steuerte!
Fritz war kaum zu halten, daß er nicht ins Wasser sprang, um mir nichts, dir nichts hinüberzuschwimmen; allein die Besonnenheit kam mir eben zu rechter Zeit wieder und hielt ihn sowohl als mich selbst zurück mit dem Gedanken, es sei ja doch nichts gewonnen als die Sicherheit, ein europäisches Schiff zu sehen. Leicht aber könnten asiatische Seeräuber ein solches gekapert haben und zur Lockspeise oder im Übermut die englische Flagge wehen lassen. Auch sei möglich, was nicht ganz selten begegne, daß eine aufrührerische englische Schiffsmannschaft ihre Offiziere ermordet habe und sich nun geflissentlich in diesem unbekannten, von den gewöhnlichen Schifferstraßen abseits liegenden Gewässer herumtreibe.
Wir hielten demnach hinter einem großen Felsenstück, und es gelang uns, daran so weit emporzuklettern, daß wir durch Ferngläser den Gegenstand unsrer gespannten, brennenden Neugier mit Bequemlichkeit beobachten konnten. Es schien mir eine Jacht, die leicht ausgerüstet, aber doch mit acht oder zehn mittelmäßigen Kanonen bewaffnet sei; Segel und Takelwerk samt den Oberstangen der Maste war niedergelassen. Das Schiff lag vor Anker und mochte im Begriffe stehen, ausgebessert zu werden. Am Lande sah man drei Zelte, und ein gastlicher Rauch stieg auf, der die Bereitung einer Mahlzeit verkündigte. Allem Ansehen nach aber war die Mannschaft nicht eben zahlreich und auch nicht in einer bedrohlichen Verfassung; doch glaubten wir auf dem Schiffe zwei Schildwachen zu erkennen, die Stückpforten waren geöffnet, und die Stücke sahen heraus zu allfälligem Empfange.
Mir schien zuletzt, es sollte nicht allzu gewagt sein, wenn wir uns erblicken ließen; doch versprachen wir uns, auf keinen Fall unser Kajak zu verlassen und uns einstweilen durchaus nicht zu erkennen zu geben.
Die Komödie war drollig genug, wie wir nun hinter den Steinklippen sachte nach der Bucht hineinruderten, uns als Verwunderte und Zagende gebärdeten, bald innehielten, bald wieder mit einigen Ruderschlägen vorwärts drangen und dann allerlei hampelmannartige Gebärden nach dem Schiffe hin machten.
Der Kapitän und einige neben ihm erscheinende Personen betrachteten uns jetzt mit Aufmerksamkeit und winkten uns mit Schnupftüchern heran, indem sie abwechselnd die leeren Hände erhoben, als wollten sie uns zeigen, daß sie unbewaffnet seien. Mir war am liebsten, daß die Schaluppe mittlerweile den Strand erreicht hatte und nicht das Ansehen nahm, auf uns losrudern zu wollen; denn ich hätte solch eine Zusammenkunft sehr gescheut. Wir fuhren daher dem Schiffe näher und bemerkten jetzt auf seiner andern Seite, die wir durch Umkreisen des Hinterteils zu Gesicht bekamen, alle Anstalten zu einer großen Ausbesserung, was auf jeden Fall gewährleistete, daß wir nicht so bald einen Besuch von dem großen Fahrzeug zu befürchten hätten.
Endlich rief uns der Kapitän durch ein Sprachrohr an und fragte, wer wir seien, woher wir kämen und wie die Küste genannt würde. Ich aber antwortete wiederholt, so laut ich vermochte, die drei Worte: »Englishmen, good men!« ohne mich auf etwas anderes einzulassen. Doch hielten wir stets näher dem Schiffe zu, um alles wohl ins Auge zu fassen. Die umstehenden Leute schienen den Kapitän mit allem Anstand zu behandeln, und keine Spur von Unordnung, Trunkenheit oder Ungehorsam verriet eine aufrührerische Schiffsmannschaft. Man zeigte uns rotes Tuch, Beile, Nägel und andere Kostbarkeiten des Tauschhandels mit den Wilden; allein ich wies unsre Harpunen und stellte mich an, gar nichts zum Tausche anbieten zu können, die Waffen aber mit nichten ablassen zu wollen. Zuletzt verlangten die Schiffsoffiziere Pataten, Kokosnüsse, Feigen und andere Früchte, worauf ich endlich ein englisches »Ja, ja! viel, viel!« herauswürgte. Fritz konnte das Lachen kaum noch verbeißen. »Schnell zurück jetzt«, raunte ich ihm zu. Wir machten nun einen wahren Hokuspokus von zärtlichen Abschiedsgebärden, krächzten ein über das andre Mal »Englishmen! Englishmen!« und ruderten dann mit aller Hast, um aus der Bucht heraus wieder auf den Heimweg zu gelangen. Kaum waren wir um das große Felsenriff herum und außer Sehweite, so fielen wir mit jubelndem Lachen einander um den Hals.
»Ist es denn möglich!« rief ich. »Menschen! Ein Schiff! Europäer, Freunde! Erlösung! Vaterland!«
»Vater, du weinst!« sagte Fritz ergriffen. Ihm selber standen aber auch die Augen voller Tränen.
»Komm nach Hause«, sagte ich, mich fassend, »so schnell wie möglich. Die Mutter! Was wird die Mutter sagen?!«
Aus allen Kräften ruderten wir nun heimwärts. Sowie die Rettungsbucht in Sicht kam, schossen wir, nach vorher getroffener Verabredung, als ein Zeichen glücklicher Verrichtung unsre Pistolen los. Die Antwort kam unmittelbar zurück in gleicher Münze, und jubelnd, Tücher schwenkend, sammelte sich mein aufgeregtes Hausvolk am Landungsplatz.
Mit meiner Erzählung war nun zwar Miß Jenny nicht sonderlich zufrieden; denn in der Zuversicht, ihr Vater selbst müsse angekommen sein, verargte sie uns das Hinaustreiben des Maskenspiels bis an das Ende der Zusammenkunft nicht wenig, indem sie meinte, wir hätten nur ihr Hiersein zu melden gebraucht, so wäre alles auf das Beste abgelaufen; die Mutter hingegen lobte unsre Vorsicht und bemerkte, daß ein stattlicher Aufzug in Masse uns besser empfehlen würde, als wenn zwei abenteuerliche Figuren in einem armseligen Kajak sich als Schiffbrüchige kundgegeben hätten. Auch willigte sie gerne ein, zutrauensvoll in unserm großen Fahrzeuge zu den Ankömmlingen hinüberzuschiffen und uns in möglichst anständiger Gestalt bei ihnen einzuführen.
Dies fand denn bald den allgemeinen Beifall, und es wurde beschlossen, vorderhand unsre Lage nicht zu verraten, bis eine vollständige Mitteilung aus freien Stücken mir zulässig scheinen würde.
Unmöglich kann ich das Leben und Treiben unter alt und jung in Felsenheim schildern, als mehr und mehr die neue Begebenheit nach allen Seiten und in allen ihren mutmaßlichen Folgen zur Sprache kam. Die possierlichsten Pläne wurden im Hui geschmiedet und wieder verworfen; man wollte dies, hoffte jenes, wünschte das, besorgte anderes, und jedermann schien vorauszusetzen, daß wir stracks unter vollen Segeln mit Mann und Rind, Weib und Kind nach Europa zusteuern würden. Doch sah die Mutter mich jeweilen forschend an, wenn solcherlei Redensarten umherflogen, und schien zu warten, ob ich durch irgendeine Äußerung sie bestätigen oder ablehnen würde.
Es fiel mir indessen nach meiner Stellung eines Hausvaters und wohlregierenden Patriarchen schwer aufs Herz, einen Beschluß zu fassen. Zog uns einerseits die Liebe zum Vaterland sehnend nach Europa, so fesselten uns demgegenüber starke Bande an diese liebliche neue Heimat, die uns im Lauf der langen Jahre teuer geworden war; wie teuer, das empfand ich jetzt zum erstenmal mit voller Deutlichkeit, da die Frage des Scheidens lebendige Gestalt angenommen hatte. Mußte ich auch wünschen, meine Söhne in das Getriebe der großen Welt versetzt zu sehen, damit sie lernten, mit und in der Allgemeinheit zu leben, so beherrschte mich gleichwohl eine seltsame Ängstlichkeit, sie dann Einflüssen ausgesetzt zu wissen, die hier in der verschwiegenen Einsamkeit unsrer geliebten, schönen Einöde niemals Gewalt über sie bekommen konnten. Das Törichte dieses Gedankens war mir nichtsdestoweniger klar. Der Mensch ist zum Zusammenleben mit seinesgleichen bestimmt. Wie soll ein Stein seine Ecken und Kanten verlieren, wenn er nicht geschliffen wird? – Übrigens entschlug ich mich mit einem raschen Entschluß aller quälenden Grübeleien, indem ich mir sagte, daß ich ja noch gar nicht wisse, wie sich die fernere Bekanntschaft mit den Fremden gestalten, ob es uns gelüsten würde, mit ihnen davonzusegeln, wenn sie, was ja auch noch festgestellt werden mußte, überhaupt gesonnen und imstande wären, uns mitzunehmen.
Der ganze folgende Tag verlief mit Ausrüstung unserer Pinasse, mit dem Zurechtmachen unserer Kleidung und Waffen, endlich mit dem Einpacken frischer Baumfrüchte oder Gemüse, damit wir auf jeden Fall den dringenden Wunsch des Kapitäns der Jacht befriedigen könnten, den er gegen uns »Wilde« geäußert hatte. Ja, noch der andere Morgen verfloß unter Zurüstungen, und erst nach dem Mittagessen bestiegen wir unser im Verhältnis der obwaltenden Eile recht ansehnlich zugestutztes Fahrzeug, dem aber Fritz als Lotse wieder in seinem Kajak voranfuhr, doch für diesmal in der Uniform eines wohlausgerüsteten Seeoffiziers.
Also stach ich nun mit fünf matrosenmäßig gekleideten und leicht bewaffneten Personen, unsere kleinen Stücke scharfgeladen und den Schiffsraum zum Teil mit Gewehr, zum Teil mit Erfrischungen tüchtig befrachtet, in See, und getrost begannen wir eine Fahrt, die wahrscheinlich für immer entscheiden mußte, was uns die Zukunft bringen würde, ob Glück und Weltverkehr, ob Verderben oder Gram einer neu verlorenen Hoffnung auf Menschengemeinschaft.
Behutsam durchfuhren wir mit halb eingerafften Segeln die Bucht hinter der Entenspitze und nahmen den Lauf mehr seewärts in offnerem Fahrwasser, bis wir auf die Höhe des äußern Vorgebirges kamen und nun nach der Ankerstelle der englischen Jacht einlenken konnten. Es war ein bedeutungsschwerer Augenblick für mich, als wir diese wieder zu Gesicht bekamen, Fritz zu uns an Bord stieg und mein ganzes Schiffsvolk mit tief ergreifendem Staunen die hoffnungsvolle oder besorgnisbringende Erscheinung anzustarren begann. Ich ließ jedoch keinem müßigen Hinbrüten Raum, sondern kommandierte mit Stentorstimme, ließ die englische Flagge aufhissen und regierte das Steuer dergestalt, daß wir uns in sicherem Abstande von der Jacht behaupten, aber doch bequem mit ihr in Verbindung treten konnten.
Ganz unsäglich war das Erstaunen der Mannschaft auf der Jacht und am Ufer, als wir so stolz in die Bucht einzogen. Wenn wir verkappte Seeräuber gewesen wären, ich glaube, das Fahrzeug wäre uns in der ersten Überraschung eine leichte Beute geworden; denn es war jetzt noch schwächer besetzt als das erste Mal. Aber Friede, Freude, Teilnahme traten bald an die Stelle der bänglichen Verwunderung. Wir legten uns etwa zwei Büchsenschüsse weit von der Jacht vor Anker und begrüßten sie mit einem lauten Hurrageschrei, das von ihrem Verdeck und noch kräftiger vom nahen Ufer her zurückgegeben ward. Sodann bestieg ich mit Fritz das kleine Boot, das wir im Schlepptau nachgezogen hatten, und so ruderten wir – eine weiße Flagge aufsteckend – nach der Jacht hin, um dem Kapitän in seinem eigentlichen Amtskreis unsern Ehrenbesuch abzustatten.
Er befand sich an Bord, empfing uns mit einfacher, seemännischer Geradheit, lud uns in seine Kajüte ein, ließ alten Kapwein auftragen und fragte dann mit Verbindlichkeit, welchem Zufall er das Glück verdanke, die englische Flagge an einem unwirtlichen, ganz unbekannten Ufer begrüßen zu können, wo er kaum einige ratlose Wilde zu vermuten Ursache gehabt hätte.
Ich erzählte so viel, als ich vorläufig für gut erachtete, und hob besonders die Anwesenheit der Miß Jenny heraus, weil ich vermuten konnte, daß die Nennung ihres Vaters, des Obersten Montrose, bei einem englischen Schiffskapitän ungleich größere Teilnahme erwecken dürfte als eine Schweizerfamilie, die stets unbedeutend und sehr wenig bekannt gewesen war. Auch hatte ich mich nicht getäuscht; der Kapitän fragte angelegentlich nach der jungen Miß und versicherte, bei seiner letzten Anwesenheit in England den Befehlshaber eines Schiffes gesprochen zu haben, auf dem Oberst Montrose glücklich aus Ostindien in Portsmouth eingetroffen sei. Übrigens nannte er sich selbst Littlestone, war Oberleutnant in der königlichen Marine, kommandierte die Jacht Unicorn und war auf einer Fahrt nach dem Vorgebirge der guten Hoffnung begriffen, wohin er Depeschen aus Sidney-Cove in Neusüdwales zu überbringen hatte. Zuletzt ergab sich's, daß ihm sogar der Auftrag geworden war, sich auf der Hinfahrt nach dem Kap ostwärts zu halten und sich nach den Küsten umzusehen, an denen vor ungefähr drei Jahren die Korvette Dorcas verunglückt sei. Es hatten sich nämlich, nach seltsamen Schicksalen und unsäglichen Leiden, drei Matrosen und ein Bootsmann von der Mannschaft dieses Schiffes nach Sidney-Cove durchgearbeitet, und aus ihren Angaben war einige Hoffnung hervorgegangen, noch einen Rest dieser Mannschaft in den Gegenden des erlittenen Schiffbruchs aufzufinden.
Kapitän Littlestone pries sich glücklich, in Miß Jenny einen Gegenstand seiner Sendung zu finden, und erzählte, wie wenig gefehlt hätte, daß er von diesem unlustigen, klippenreichen Ufer für immer geschieden wäre. Vier Tage lang hatte ihn der Sturm unter drohenden Gefahren gleichsam an diese Küsten festgebannt, und kein freundlicher Hafen hatte ihm eine Freistätte gezeigt, bis er endlich die Bucht gefunden hatte, in der er noch jetzt vor Anker lag. Hier hatte er frisches Wasser und etwas Holz eingenommen, als unerwartet zwei Kanonenschüsse gehört wurden, die er freudig mit dreien erwiderte, indem er daraus schließen zu können glaubte, daß die Mannschaft des Dorcas größtenteils gerettet sein und sich noch an diesem Gestade aufhalten müsse.
Sofort war alles veranstaltet worden, die Schiffbrüchigen aufzusuchen. Der Unicorn fuhr aus seiner Bucht, allein das plötzliche abermalige Losbrechen des Sturmwetters überfiel ihn so nahe am Ufer, daß er mit der Seite an ein scharfes, vorragendes Felsenriff geriet und nur unter den furchtbarsten Anstrengungen seiner Besatzung wieder in die Bucht zurückgebracht werden konnte, wo er nun zu seiner Ausbesserung lag.
Auch die spätern drei Kanonenschüsse waren mit freudiger Teilnahme vernommen und beantwortet worden. Kapitän Littlestone hatte sich fest vorgesetzt, die Küste ferner nach dem mutmaßlichen Überreste der Schiffbrüchigen auszukundschaften; allein die harte Arbeit war für seine Leute so erschöpfend gewesen, daß einige an Krankheitsanfällen schwer darniederlagen und deshalb in Zelte ans Ufer geschafft worden waren. Darunter befand sich Master Wolston, ein sehr geschickter Mechaniker, der sich samt seiner Gattin und zwei Töchtern als Fahrgast auf dem Unicorn befunden hatte und jetzt dergestalt litt, daß binnen acht Tagen an kein Weiterreisen für ihn zu denken war.
In aller Kürze hatte ich das Wesentliche dieser Nachrichten vernommen und lud jetzt den Kapitän mit gebührender Ehrerbietung ein, sich an Bord meiner Pinasse zu verfügen und mein liebes Hausvolk in Augenschein zu nehmen, was er denn gleich mit höflicher Zusage verhieß, und mich zugleich aufs artigste bat, die Ankündigung seines Besuches bei den Damen auf meinem Fahrzeuge selbst übernehmen zu wollen. Dies geschah natürlich in froher Eilfertigkeit. Fritz und ich ruderten zurück. Meine Leute waren etwas unruhig und zaghaft gewesen; aber sofort lebten sie wieder auf, setzten sich zu einem anständigen Empfang in Bereitschaft und änderten stracks die Ladung unsres Geschützes, um die schicklichen Bewillkommnungsschüsse abfeuern zu können, sobald der Kapitän erscheinen würde.
Dies geschah jedoch erst nach einer halben Stunde, weil dessen Schaluppe zuvor mit einiger Mannschaft durch Signale vom Ufer her einberufen werden mußte; sodann aber betrat er samt seinem Steuermann, Master Willis, und dem Seekadetten Dunsley unser nach Vermögen aufgeputztes Fahrzeug, wo ihnen meine Frau und Miß Jenny auf sehr zuvorkommende Weise mit dem Besten aus dem Vorrat unserer Erfrischungen entgegeneilten. Kurz, es knüpfte sich ein Band des Wohlwollens und des Vertrauens, das mich nichts als Ersprießliches hoffen ließ; und bald war der Entschluß gefaßt, den Abend vollends in der Bucht zuzubringen, ans Land zu fahren, die Kranken in den Gezelten zu besuchen und selbst die Nacht hindurch auf dem Ufer zu verweilen, wo Kapitän Littlestone sogleich drei neue Zelte aufzuschlagen und mit Hängematten zu versehen befahl.
Die Bekanntschaft mit dem armen Wolston und seiner liebenswürdigen Familie ward uns hier ganz besonders anziehend. Eine sanfte, verständige Mutter und zwei hübsche Töchter, eine von vierzehn und eine andere von zwölf Jahren, eigneten sich aber auch in hohem Grade, die Teilnahme bei uns allen hervorzurufen. Besonders Jenny und die beiden lieblichen Mädchen schlossen sich in kürzester Frist zärtlich aneinander. Zu dritt wetteiferten sie in der Bereitung eines ganz vorzüglichen und leckerhaften kleinen Festschmauses, zu dem unsre mitgebrachten Früchte und sonstigen guten Dinge das meiste beitrugen.
Unaussprechlich wohltätig ward uns allen dieser gesellige Abend. Der Freudenrausch mäßigte sich bei den einen, jede Besorgnis schwand bei den anderen; der Blick in die Zukunft klärte sich auf bei allen, und das edle Vertrauen gutartiger Menschen stellte sich ungezwungen in einem für die Kürze der Zeit seltenen Grade ein.
Spät begaben wir uns zur Ruhe. Aber noch viel später in die Nacht hinein dauerten die stillen Beratungen zwischen meiner Frau und mir. Kapitän Littlestone schien als besonnener Mann schweigend unsere Vorschläge oder Bitten abwarten zu wollen. Wir hingegen wollten uns ihm auch nicht gleich unbescheiden aufdrängen. Je länger aber wir hin und her sprachen, desto deutlicher ward es uns beiden Alten klar, daß wir keinen lieberen Wunsch hatten, als hier in unserer neuen Heimat, in unserer friedlichen, schönen Einsamkeit zu bleiben, und daß wir eigentlich nicht die geringste Sehnsucht nach dem unruhigen Treiben der europäischen Welt empfanden. Was sollten wir, auf unsere alten Tage, noch da draußen? Hier hatte in den langen Jahren unseres glücklichen Einsiedlerlebens jeder Stein sein Gesicht, jeder Baum seine Sprache bekommen. Meine Frau zumal erklärte sich endlich fest entschlossen, ihre Tage hier in Frieden zu beschließen, nur wünsche sie natürlich mich und wenigstens zwei der Söhne bei sich zu behalten; zwei andere wollte sie gleichsam dem heimatlichen Weltteil Europa zurückgeben, wenn sie hingegen dafür sorgten, daß einige rechtschaffene Menschen zu uns herschifften und sich mit uns verbänden, um eine glückliche Kolonie zu stiften, die nach ihrem Sinne den Namen Neu-Schweizerland erhalten sollte.
Aus voller Seele pflichtete ich diesen Gedanken bei, und wir beschlossen, mit Kapitän Littlestone hierüber Rücksprache zu nehmen sowie ihm zugleich das Land von nun an als freiwillige Übergabe an England zur schutzherrlichen Besitznahme anheimzustellen. Große Sorge und Verlegenheit aber bereitete uns der Gedanke an die Auswahl, die wir unter unsern Söhnen zu treffen hatten. Welche sollten wir hergeben? Welche behalten? Herz und Kopf taten uns weh beim Abwägen der Gründe.
Eigentlich konnten wir ja keinen einzigen entbehren von unsern lieben, großen, breiten, wilden Schlingeln! Und doch mußten wir uns entscheiden; denn wie sollte es schon allein mit Jenny werden? Wie schwer würde sie sich von Fritz trennen! Und er? Würde er sie allein fortlassen?
Endlich nahmen wir uns vor, noch zwei oder drei Tage zuzuwarten und dann womöglich die Sache so zu führen, daß zwei von den Söhnen freiwillig mit uns auf der Insel blieben, die beiden übrigen aber unwiderruflich nach Europa reisten, wenn Kapitän Littlestone sie mit sich nehmen wollte. Und siehe da, schon der folgende Tag führte die Entscheidung herbei! Es wurde nämlich beim Frühstück ausgemacht, der Kapitän sollte uns in Begleitung seines Steuermannes und des schon erwähnten Seekadetten in Felsenheim besuchen und zugleich auch der leidende Mechaniker samt seiner Familie dorthin übergeführt werden, damit ihm alle Bequemlichkeit einer sorgfältigen Pflege zuteil werden möchte, wozu besonders eine freie, balsamische Luft zu gehören schien, die wir ihm in den gartenähnlichen Umgebungen unseres Felsenhauses mit allem Fuge versprechen konnten.
Die Fahrt war eine Lustfahrt für uns insgesamt, denn Hoffnungen und Erwartungen der heitersten Art, jedem Herzen auf eigene Weise sich anschmiegend, begleiteten uns in erquickender Fülle. Fritz und Jack erhielten die Erlaubnis, voranzueilen, und fröhlich jauchzend fuhren sie auf dem schnellen Kajak dahin.
Aber welch ein Erstaunen bemächtigte sich unserer Gäste, als wir nun die Entenspitze umsegelten und im Schoße mächtiger Felsen unsere Bucht, unser Felsenheim, bestrahlt von lichtem Morgenglanz, in all seinem lieblichen Reize sichtbar wurde! – Vollends steigerte sich die Verwunderung aufs höchste, als nach und nach elf Kanonenschüsse vom Haifischinselchen herabknallten und die große englische Flagge sich droben im Morgenwinde majestätisch entfaltete.
»Hier ist gut wohnen; hier laßt uns Hütten bauen!« rief der kranke Wolston und schien wahrhaft aufzuleben im Vorgefühle baldiger Herstellung. »Glückliche, glückliche Menschen!« rief uns seine Gemahlin einmal über das andere zu. »Mutter, war hier nicht das Paradies?« fragte strahlend die jüngere Tochter. »Nein, es war nicht; es ist, es ist!« erwiderte die Mutter wie begeistert. Kurz, es walteten Überraschung, Freude, Rührung, Seligkeit in allen Herzen und auf allen Gesichtern.
Die Landung erneuerte das Entzücken. Alles wimmelte bald durcheinander von Tieren und Menschen; tausenderlei wurde gezeigt, besehen, angefaßt, weggelegt und in einemfort besprochen. Ich jedoch und der gelassene Steuermann sorgten für die Überführung des armen Wolstons nach meinem Zimmer, wo sogleich meine Frau alle Bequemlichkeiten herbeischaffte und der guten Lady Wolston ein Feldbett aufrichtete, damit sie sich ununterbrochen der Pflege ihres Gatten widmen könnte.
Die Mittagsmahlzeit war kurz; denn noch sollte Falkenhorst besucht werden, und überhaupt hatte niemand die nötige Seelenruhe, die von den Feinzünglern zum Schmausen gefordert wird; es ging wie auf einem Dorfjahrmarkt, und die gesamte Jugend tummelte sich so rastlos herum, daß man die dreifache Menschenzahl zu erblicken glaubte. Wenn auch die Sprache und das Verständnis der Worte hundertmal haperten – hier redeten die Gebärden, die Blicke, die Gegenstände selbst, die bald mit Lachen, bald mit ernsthafter Wichtigkeit vorgelegt wurden.
Erst am Abend stellte sich wieder etwas Ruhe in der lärmenden kleinen Gesellschaft ein, und nun bat mich der gute Wolston in seinem und seiner Gattin Namen, seine volle Genesung hier abwarten und auch die für den Augenblick etwas schwächliche ältere Tochter bei sich behalten zu dürfen. Die jüngere solle zu ihrem in Kapstadt angesiedelten Bruder reisen, mit dem sie seinerzeit wieder zurückkehren könnte, um den Vater abzuholen. Es gefiele ihm gar zu gut bei uns, und er hoffe, mir meine Gastfreundschaft nach wiedererlangter Gesundheit durch manchen Ratschlag noch heimzahlen zu können. »Es ist doch ein Glück«, fügte er lächelnd hinzu, »daß ich Mechaniker und nicht Klavierspieler geworden bin. So können Sie mich doch hier nochmal prächtig brauchen.«
Mit frohem Herzen willigte ich ein und fing hierauf an, von meinem und meiner Gattin lebhaftem Wunsche zu sprechen, Neu-Schweizerland nie wieder zu verlassen. – »Neu-Schweizerland! Neu-Schweizerland!« jubelte auf einmal die ganze Gesellschaft, und die Gläser wurden tüchtig angestoßen: »Es blühe hoch Neu-Schweizerland, auf immer, immer, immer!« – »Und blühe hoch, wer darin leben will, bleiben will, sterben will!« setzte zu meiner Überraschung Ernst hinzu und streckte sein Glas erst mir, dann der Mutter, dann dem redlichen Wolston, der, bequem gelagert, sich dem kleinen Feste nicht entzogen hatte, ja zuletzt, in raschem Überwallen seines Herzens, der jungen Miß Betty Wolston entgegen, die sanft errötend sich hinter die Mutter zurückzog und doch auf den vorlauten Jüngling nicht unfreundlich hinblickte.
»Und wie blühen denn die, die abreisen wollen aus Neu-Schweizerland?« fragte hier schalkhaft Miß Jenny. »Wir Mädchen blühen gar zu gern«, fuhr sie fort, »und da mich's anzieht, hierzubleiben, und fortzieht, abzureisen, so werde ich mich an die blühendere Partei halten müssen!«
Rasch nahm Fritz das Wort: »Es blühe schön, was von hinnen geht! Es blühe reich und wandellos!« Da ward ihm ein Blick von Jenny, der mir wohl verriet, daß das gute Kind von ihm durchschaut worden war und trotz aller Anhänglichkeit an mein Haus doch allmählich sich heim und zu dem geliebten Vater zurücksehnte.
»Also«, fiel ich jetzt ein, »es zieht Fritz von hinnen. Gebührend ist es auch allerdings, daß er an meiner Stelle die gefundene Tochter dem betrübten Vater wieder zuführe und auf der Reise mit ritterlichem Pflichtgefühl sie schütze vor jeder Gefahr, der sein froher Mut gewachsen ist. Ernst dagegen wird uns bleiben und die Stelle des ersten naturwissenschaftlichen Professors in Neu-Schweizerland versehen. Was beschließt aber Jack, da es doch nur in Europa Komödie gibt, die seinen Gaben angemessen ist?« – »Jack bleibt hier«, war die drollige Antwort. »Hier ist er der beste Reiter, der beste Kletterer, der beste Schütz, wenn Fritz einmal fort ist. Ich habe Ehrgeiz, beim Tausend! Und es ist lustig hier. Von Europa mag ich gar nichts hören; schmeck ich hinüber, so sind sie imstande, sie jagen mich noch in eine Schule hinein. Brr!«
»Just aber in eine tüchtige Schule möcht ich noch«, bemerkte hier Franz. »In einer größeren Gesellschaft kann man doch etwas Größeres werden als unter einem Halbdutzend Robinsonen. Ich hoffe, einst der Vorschule von Neu-Schweizerland in Alt-Schweizerland Ehre zu machen. Es wäre vielleicht geraten, wenn ein Glied der Familie sich in der Heimat ansiedelte; ich bin der jüngste und gewöhne mich am leichtesten. Doch wünschte ich, ganz nach dem Rate des Vaters zu verfahren.«
»Klug und wohlgewünscht!« fiel ich ihm bei. »Du magst ziehen, mein Sohn! Segne Gott unsere sämtlichen Ratschlüsse und Vorsätze! Wo ihr gut seid und nützlich, da ist eure Heimat. Und allen Ernstes, meine lieben Söhne, halte ich euch jetzt fest bei dieser ersten unwillkürlichen Äußerung eurer Wünsche und Ansichten. Nur eine große, gewichtige Vorfrage wird noch sein, ob Kapitän Littlestone es mit seinen Pflichten und Neigungen vereinigen kann, die Wünsche fremder Jünglinge und Mädchen großmütig zu erfüllen.«
Alles schwieg. Auf einigen Gesichtern las man große Verlegenheit, auf allen übrigen gespannte Erwartung. Da nahm der Kapitän mit höflichem Anstande das Wort. »Mir ist es ein Wink des Himmels«, sprach er, »daß alles so wundersam ineinandergreift, was sich hier ereignet oder vorbereitet. Ich hatte den Befehl, Schiffbrüchige zu suchen, und finde auch Schiffbrüchige, wenngleich andere, als ich erwartet hatte. Ich soll drei Personen von meinem Schiffe zurücklassen, die es begehren und frei sind; da stellen sich drei andere ein, die mitzufahren wünschen und ebenfalls frei sind. Mein Schiff könnte nicht zu viele Menschen aufnehmen, ist auch nicht mit Lebensmitteln dazu versehen, und siehe da, vier Menschen, die es verlangen könnten, verlangen es nicht, von mir aufgenommen zu werden. Alles fügt sich so prächtig als nur möglich. Genug, ich bin bereit, mitzunehmen, wen der brave Schweizerprediger mir dazu empfiehlt, und freue mich innig, das Werkzeug der göttlichen Vorsehung zu werden, eine gute Familie wieder an die Menschheit anzuknüpfen, ja vielleicht für England die Grundlage zu einer glücklichen Ansiedlung gewonnen zu haben. Noch einmal, es lebe Neu-Schweizerland! Es leben die neuen Schweizer!«
In tiefster Gemütsbewegung erhoben wir uns von unseren Sitzen. Die Mutter umarmte mit inniger Zärtlichkeit besonders die beiden Söhne, die zum Flug in die große Ferne die Schwingen zu rühren begannen. Mir jedoch war ein Berg von der Seele gewälzt, und ich dankte dem Himmel für die leichte Entwirrung eines Knotens, den ich mit so großer Bangigkeit sich schürzen gesehen hatte.
Nun aber, was will man weiter? Wer malt es sich nicht mit Leichtigkeit selbst aus, wie die Tage der Vorbereitung zur nahen und langen Trennung hingebracht wurden? Der gute Kapitän trieb zur Eile, denn die Ausbesserung seines Schiffes hatte ihn schon mehrere Tage verlieren lassen. Auch konnte er nicht gewiß sein, daß ihn nicht Stürme abermals aufhalten würden, und den festgesetzten Zeitraum zur Abgabe seiner Papiere wollte er durchaus nicht verfehlen; dennoch ließ er uns so viel Muße zuteil werden, als er nur irgend verantworten konnte, und führte sogar seine ausgebesserte Jacht in die Rettungsbucht herbei, um alles bequemer einschiffen zu können. Dabei hatte er die wohltuende Aufmerksamkeit für uns, dem gemeinen Schiffsvolke jeden Aufenthalt am Lande zu verbieten, damit wir durch keine Neugierigen und Müßigen gestört werden möchten; nur gab er uns den Steuermann, den Schiffszimmermann und den Seekadetten zur Hilfe, wo wir es verlangen würden. Es bedurfte deren aber wenig, denn der Geist der Tätigkeit hatte sich in hohem Grade meines Hausvolkes bemächtigt, und jedermann bemühte sich redlich, sich bei den Abreisenden ein freundliches Angedenken zu sichern. Ja, es erhob sich ein Streit der Großmut über eine Menge von Dingen, die die Zurückbleibenden anboten, die Reisefertigen ablehnten und beide doch sehr wohl gebrauchen konnten.
Zuletzt entschied ich denn auch hier. Es versteht sich, daß unserer lieben Jenny durchaus alles mitgegeben ward, was sie von der rauchenden Klippe zu uns gebracht hatte; und nicht ohne Tränen der Rührung übersah sie diese stummen Zeugen der langen, bitteren Einsamkeit. Für Fritz und Franz sorgte ich mit allem Bedacht, dessen ich fähig war; doch überließ ich Kleidung und Geräte den Veranstaltungen der treuen Mutter, die mit Stolz diese Söhne für Europa ausstattete. Hingegen übergab ich beiden ihren wohlgemessenen Anteil an unseren besten Besitztümern für den Welthandel, namentlich Perlen, Korallen, Muskatnüsse, Vanille, seltene Naturmerkwürdigkeiten und was sonst von höherem Geldwerte zu sein schien. Auch wurde ihnen ein Teil solcher Waren und Kleinodien auf Rechnung übergeben, um uns seinerzeit europäische Erzeugnisse dafür zu bringen oder heimzusenden. Vorderhand aber tauschte ich von Kapitän Littlestone einige so gut als neue Schießgewehre und soviel Pulver ein, als er nur irgend entbehren konnte. Natürlich machte ich ihm hingegen mit allem ein Geschenk, was sich an unserem gestrandeten Schiffe an Sachen vorgefunden hatte, die einem Seemanne dienen mochten. Auch einige Papiere und einen Kasten mit Barschaften und Kostbarkeiten übergab ich ihm für die allfälligen Erben des ertrunkenen Befehlshabers unseres vormaligen Schiffes und bat ihn, sich zu erkundigen, ob noch jemand lebe, der mit den Gefährten unseres Schiffbruches in näherer Verwandtschaft gestanden habe. Ein kurzer Bericht von dem Schiffbruche und ein Verzeichnis der Mannschaft, welches letztere ich in der Kajüte aufgefunden hatte, wurde ebenfalls dem redlichen Littlestone übergeben.
Im übrigen versahen wir den Unicorn mit allem, was nur irgend in unseren Kräften stand. Einiges Vieh, gesalzenes Fleisch, Fische, Gemüse, Feld- und Baumfrüchte, kurz, was wir nur den Leuten heilsam oder angenehm glaubten, das schleppten wir herbei. Die Freude ist jederzeit freigebig.
Am meisten lag mir am Herzen, meine Söhne mit all der Liebe und all dem Ernste zu entlassen, die ich nur auszusprechen imstande war. Auch drang ich darauf, daß Fritz sich unverweilt bei dem Obersten Montrose einstellen und sein letztes entscheidendes Glück, Jenny zur Frau zu bekommen, nur von dessen väterlicher Genehmigung erwarten solle.
Oh, jede Stunde, jeder Augenblick brachte wieder eine Sorge, einen Rat, eine Veranlassung, ein Wort der Liebe und der innigsten Mitteilung, die wir den teuren Reisefertigen widmeten! Wir waren alle wehmütig auf den nahen Abschied hin und gleichwohl alle voll Zuversicht auf eine segensreiche Zukunft, die sich ja so schön zu entschleiern begann. Wenn doch die Menschen sich nur recht oft mit solchem Bedachte trennten und recht oft nach wahrer Entbehrung sich wiedersähen! Die edelsten Seiten des Herzens treten rührend und beglückend hervor in solchen Augenblicken. Und warum halten wir zurück damit im ruhigen Zusammenleben? Sollte sich denn unser Herz erschöpfen, wenn wir freigebiger wären mit seinen Liebesbeweisen? – Gewiß nicht! Die wirkliche, treue Liebe ist unergründlich, unerschöpflich. Ihre Quelle versiegt nicht; je frischer sie ausströmt, desto frischer, reichlicher, erquickender quillt sie nach. Wissen wir denn, ob die Sonne morgen dem noch scheint, den wir heute abend geküßt haben? Im Angesicht des schweren Abschieds von meinen lieben Kindern rufe ich euch anderen zu: Liebt euch jeden Tag so, als wenn es der letzte wäre! –
Am letzten freudvollen und leidvollen Abend des Zusammenseins wollte niemand zu weichherzig erscheinen, und so luden wir den Kapitän und alle Schiffsoffiziere zu einem traulichen Abschiedsmahle ein. Dabei übergab ich das Tagebuch unserer Schicksale auf den Küsten Neu-Schweizerlands feierlich meinem Fritz, um es in Europa dem Druck zu übergeben.
»Ich hoffe«, sprach ich, »mein Leben und das Leben der Meinigen auf diesen entlegenen Küsten ist für die Welt nicht verloren gewesen, wenn es in dieser kunstlosen Darstellung wenigstens der Jugend meines lieben Vaterlandes vor Augen kommt. Was ich meist nur aufgezeichnet habe, um die eigenen Söhne zu belehren und zu bessern, das kann leicht auch anderen, besonders den Knaben, nützlich werden; denn Kinder gleichen sich im ganzen doch ziemlich, und meine vier Jungen sind wohl ein Bild unzähliger, die überall leben und aufwachsen. Ich will mich glücklich schätzen, wenn meine Erzählung die einen oder anderen aufmerksam macht auf die gesegneten Folgen alles Rechten und Guten, auf die wohltätigen Früchte des Nachdenkens, der gesammelten Kenntnisse, des beharrenden Fleißes und des friedlichen Zusammenwirkens in häuslicher Eintracht, in kindlichem Gehorsam, in brüderlicher Wechselliebe und Wechselhilfe. – Dann würde mich's auch hoch erfreuen, wenn in der Ferne, zumal im teuren Vaterlande, hin und wieder ein Vaterherz oder ein Mutterherz sich in meine oder in meiner lieben Frau einsame Lage versetzte und irgendein Wort des Trostes oder der nützlichen Belehrung aus meiner anspruchslosen Erzählung zu holen vermöchte. Nicht mit dem Dünkel eines gelehrten Erziehers schrieb ich; unverhohlen gab ich, was gerade bei uns und von uns geschah. Es knüpft sich an keinen bestimmten Lehrgang. Wir waren in einer Lage, auf die man sich nicht schulgerecht vorbereiten kann. Es scheint mir jedoch, dreierlei hat uns vorzüglich geholfen und paßt eigentlich in jede Lebenslage: erstlich ergebene Zuversicht zu dem Vater alles Guten; zweitens rege Tätigkeit; drittens vielfältige, wenn auch manchmal nur zufällig aufgeraffte Kenntnisse, die nicht unter dem kleinlauten Gewinsel eingesammelt worden sind: »Was kann mir das jemals nützen?«
Euch Kindern aber, die ihr mein Buch lesen werdet, möchte ich noch ein paar herzliche Worte sagen:
»Lernt! Lernt, ihr junges Volk! Wissen ist Macht, Wissen ist Freiheit, Können ist Glück. Macht die Augen auf und seht euch um in der schönen Welt. Ihr glaubt gar nicht, was alles durch so ein paar offne, helle Augen in so einen jungen Kopf hineingeht. Aber weit müßt ihr sie aufmachen, nicht nur so blinzeln. Und ich weiß euch auch ein Augenwasser, mit dem ihr morgens früh den alten faulen Schlaf aus den Augen waschen könnt: das ist die Freude am Leben, das ist der gute, frische Wille, ›heute will ich aber ein ganzer Kerl sein!‹ Und so jeden Tag, so jeden lieben Morgen – ich möcht's wissen, ob das nicht Kinder gibt, die das Glück und der Stolz ihrer Eltern werden und ein Segen für alle die, mit denen das Leben sie ferner zusammenführt, sei's in Freude, sei's in Trauer.«
*
Es ist aber späte Nacht. Morgen früh wird auch dieses Kapitel noch meinem Erstgeborenen übergeben. Mit ihm und mit uns allen sei Gott, ohne den wir nichts sind! – Sei gegrüßt, Europa! Sei gegrüßt, Alt-Schweizerland! Möchte Neu-Schweizerland dereinst so kräftig und so glücklich erblühen, wie du geblüht hast in meiner Jugendzeit: fromm, freudig und sein eigen! –