Theodor Wolff
Spaziergänge
Theodor Wolff

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L'esprit du Parthénon

(Athen)

Am 27. September 1687 hat, wie man weiß – oder auch nicht weiß – ein tapferer lüneburgischer Leutnant sein venezianisches Geschoß gegen das Parthenon gerichtet und den perikleischen Bau, in dem die Türken ihr Pulver trocken hielten, kühl und überlegen in die Luft gesprengt. Und man darf annehmen, daß er dafür an keinem der vielen Fichtenstämme seines engeren Vaterlandes gehängt wurde, sondern daß er in Belohnung dienstlicher Pflichterfüllung zum Hauptmann avanciert ist. Aber er hat nur halbe Arbeit getan. Er hat die marmornen Glieder dieses herrlichen Baues zerrissen, aber er hat nicht all diese Schönheit zu töten vermocht. Noch stehen Säulen, welche die Sprache der Sophokleischen Chöre sprechen. Sie haben eine gewaltige Mission. Wie man heute bestuniformierte Mustergrenadiere von einem Hof an den anderen schickt, um die Produktionskraft des Landes zu erweisen, so sind diese Säulen gleichsam von dem klassischen Altertum an den Hof der Gegenwart entsandt. Sie sprechen lauter als die trockenen Konsulatsberichte für das fremde Land, 241 aus dem sie kommen. Und vielleicht dienen sie – wer mag es sagen? – eines Tages wieder als Schießobjekt. Denn die Lüneburger leben noch.

Akropolis – Parthenon – Propyläen – man glaubt lange, daß das nur noch Worte seien – bis man unter diesem blauen Himmel bekehrt wird. Hier nehmen die Worte Gestalt an, alles Vergessene wacht wieder auf, und es ist nicht die Forschung der Gelehrten, die es erweckt, es ist die Schönheit des Landes, diese lebende Sommerpracht des attischen Panoramas. Und man mag gewappnet sein mit dem skeptischen Lächeln des im praktischen Leben hart Gewordenen – das Rüstzeug fällt ab, das Lächeln stirbt, wenn man dort oben auf dieser Akropolis steht, auf dieser Akropolis, die man aus tausend Bildern kennt, und die man doch nicht kennt, wenn man nicht den verwitterten Marmor ihrer Säulen vor dem tiefen, brennenden Blau des griechischen Himmels gesehen hat, wenn man sie nicht in dem Augenblick gesehen, da die sinkende Sonne wie ein scheidender Fürst einen Schatz von Gold über sie ausstreute.

Ich glaube, daß man zwischen diesen Säulen der Akropolis, des Parthenon, mehr als archäologische Kenntnisse erwerben kann und daß es gewissermaßen einen »esprit du Parthénon« gibt, den man sich herauslesen, herausempfinden muß und der dann vieles bisher halb Verstandene verstehen hilft, manches in neuem Lichte schauen läßt. Byron ist ganz erst zu begreifen, wenn man dort oben gestanden hat, die Bewegung, die in den zwanziger Jahren zugunsten Griechenlands durch Europa ging, und all jene Perioden der Geschichte, in denen ein romantisches Philhellenentum die Herzen 242 ergriff, wird man nur auf der Höhe der Akropolis richtig würdigen können. Und darüber hinaus wird man von dem, was man die geistigen Strömungen der Gegenwart nennt, vielleicht diese oder jene neue Anschauung gewinnen; denn der Einfluß, unter dem man hier steht, ist ein so starker, daß er in jedem Einzelstaat der Gedankenwelt seine Spuren hinterlassen muß, überall ein wenig modelnd, neuformend, Saat streuend.

Es waren, wenn man recht zuschaut, gewöhnlich Zeiten einer gewissen politischen Sattheit und Ermüdung, in denen das erfrischungsbedürftige Europa sich in dem Jungquell des Philhellenismus badete. Es waren die Zeiten des fetten römischen Kaisertums und die Zeiten, da die »heilige Allianz« nach der Niederwerfung des korsischen Riesen zärtlich lächelnd ihren Landeskindern die Schlafmütze über die Ohren zog. Den schönfrisierten Hadrian, der in seinem eigenen Lande nichts mehr zu wünschen übrig fand, kitzelte es, die Athener mit korinthischen Säulen zu beschenken und auf den Hadriansbogen im Angesicht der Akropolis zu schreiben: »Dies ist des Hadrian Stadt.« Und aus dem bigotten England der Castlereagh und Wellington wandte sich, in edlerer Begeisterung, Byron nach Griechenland, um mit den Nachkommen der Marathonkämpfer diesen Boden von den Türken zu säubern.

War das nun eine Chimäre, für die das Europa der zwanziger Jahre sich begeisterte, für die der Bayernkönig Ludwig, der Genfer Eynard, der Württemberger Normann, der Engländer Cochrane, der Deutsche Wilhelm Müller sich rastlos mühten, und für die Byron 243 vor Missolunghi starb? Gewiß nicht. . . . Denn einem tapferen, kleinen, gepeinigten und gehetzten Volk, das sich verzweifelt gegen eine barbarische Übermacht wehrt, zu Hilfe eilen wollen, wird niemand eine Chimäre nennen. Aber es handelte sich hier doch um mehr. Es handelte sich um das Hellenentum. Denn sicherlich dachten alle die, welche den Kreuzzug gegen die Türken predigten, dabei mindestens ebensosehr an Themistokles und Salamis, wie an die Niedergemetzelten von Chios. Und war das eine Chimäre?

Wenn man die Sache mit nüchterner Gründlichkeit bei der Studierlampe prüft, wird man in der Tat finden, daß jener Enthusiasmus für den Themistokles einen ziemlich starken romantischen Beigeschmack hatte. Es ist das Malheur der Orientalen, daß sie von jeher die Opfer der periodisch wiederkehrenden romantischen Gefühle Europas waren. Aber wenn man nicht mehr bei der Studierlampe sitzt, wenn man dann wirklich auf diesem Berg steht, zwischen Parthenon und Propyläen und Erechtheion, und die große weltferne, weise Ruhe um sich verspürt, die von diesen uralten Ruinen herkommt, dann sieht man, daß es sich gelohnt hat, für diesen Platz zu kämpfen, daß für ihn gekämpft werden mußte. Denn er ist viel mehr als ein Berg mit historischen Trümmern. Wie jene alten Tempelstätten ist er, die kein hadernder Verfolger betreten durfte. Und es ist doch gut, daß es noch solche Stätten in der Welt gibt, Stätten, die so ganz angefüllt sind von einer überwältigenden Weihe, daß sie gleichsam über allen Grenzen, über allen Zeiten zu stehen scheinen, daß sie inmitten der hadernden Welt eine Freistatt sind, in der 244 aller Zank der Nationen, aller Krieg der Parteien nur noch lächerlich klein erscheint.

Es gibt keine Stunde des Tages, in der es nicht unvergleichlich wäre, dort oben zu sein. Des Morgens singen in den Säulenhallen der Propyläen die Vögel, die sich dort angesiedelt haben, und unter den Giebelbalken des Parthenon antworten die Nachbarn. Über den Gräsern und den Wucherblumen zwischen all den Blöcken und Trümmern, mit denen der Bergrücken bedeckt ist, liegt noch die Morgenfrische, und die kleinen Kamillen, die in ganzen Scharen wachsen, geben einen starken Duft. Unten in der Ebene liegt das moderne Athen. Es breitet sich weit aus, und die gelbliche Tönung der Häuser ist ein wenig unmalerisch. Man sieht die einzelnen langen, geraden Straßenzüge, von denen die breitesten unten am Berg in dem quadratischen Konstitutionsplatz sich zusammenfinden.

Aber im Südwesten und Süden das Meer. Blau, mit einem silbernen Milchhauch von Sonnenglanz. Die Bucht von Eleusis schneidet weit ins Land und verschwindet dann hinter der Berghöhe von Skarmanga. Um die blauschattigen Inselfelsen von Salamis legt die Flut zärtlich ihre hütenden Arme. Und in der Ferne fängt das wellenlinige Inselland Aegina den Blick auf.

Das Land zwischen der Akropolis und dem Meerufer ist von Feldern durchzogen, und dazwischen gehen die graustaubigen Chausseen zu der weißen, am Ufer gebetteten Hafenstadt Piräus. Gerade der Akropolis gegenüber erhebt sich der Hügel, der das Denkmal des Antiochos-Enkels Philopaphos trägt.

Wenn die Sonne höher steigt und es in der Stadt 245 unerträglich heiß wird, bleibt es kühl zwischen den dorischen Säulen des Parthenon. Das Blau des Meeres bekommt dann eine wunderbare Fülle und Kraft. Und in dem Summen der Hitze scheint alles Leben ringsumher erstorben.

Und dann jener so oft besungene Augenblick, wenn die Sonne hinter den Skarmangafelsen verscheidet . . .:

»Schon küßt der Berge Schatten Finsternis
Dein glorreich Meer, unsterblich Salamis!«

Und wenn es auch eine byronische Phantasie (aber eine so schön sich gebende!) ist, daß die Sonne hier einen gewaltigeren Gluttod stirbt als anderswo – hier, wo sie noch in ziemlicher Höhe hinter den Bergen Abschied nimmt – so ist doch der Moment ganz köstlich, wenn sie den letzten vergoldenden Blick auf die Säulen des Parthenon gerichtet hat, während der Marmor ringsumher schon blauweiß daliegt und unten im Tal der Prunkbau des gelockten Hadrian längst kaltgestellt ist, und wenn sie dann bis zur Sekunde des Versinkens nicht müde wird, dem zerstörten Festtempel Griechenlands ihre liebkosenden Grüße zu senden. . . .

An solchem Anblick, an den Strahlen der griechischen Sonne entzündete sich die Begeisterung Byrons und der Gleichgesinnten. Es war, wenn man will, der Triumph der schönen Aussicht. Und die Leiden des griechischen Volks kamen erst in zweiter Linie.

Der Gang der Geschichte hat dann leider gelehrt, daß dieses griechische Volk zwar zu kämpfen wußte, wie die Sieger von Marathon und Salamis, daß es aber von der politischen Klugheit und Reife der perikleischen Zeitgenossen kaum allzuviel geerbt hat. Und so ist es 246 gekommen, daß der große philhellenische Rausch der ersten Hälfte des Jahrhunderts in der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts fast in das Gegenteil umgeschlagen ist.

* * *

Man kommt heute nach Griechenland nicht mit den besten Erwartungen. Man sieht nicht mehr in jedem griechischen Staatsbürger einen neuen Themistokles – man wünscht beinahe, der Begegnung mit einem nicht nur finanziell in Mißkredit geratenen Volke nach Möglichkeit auszuweichen.

Es ist sehr schwer – vielleicht unmöglich – in verhältnismäßig kurzem Aufenthalt selbständige Ansichten über ein Volk zu gewinnen. Aber es gibt gewisse Beobachtungen, die auch der Fremde machen kann und die zu notieren doch vielleicht nicht ganz zwecklos ist. Und ich will sie nebeneinander hinstellen, achtlos und absichtslos, und ohne im übrigen meinen Kopf dafür zu verwetten, daß sie in jedem Punkte das Rechte treffen.

Was, wie ich denke, zuerst jedem Fremden in Athen auffallen muß, das ist – im Gegensatz zu anderen südlichen, und besonders den italienischen Städten – das Fehlen alles äußerlichen Luxus. Jene große Schaustellung von Karossen, Pferden und Toiletten, die man in Neapel, Palermo, Rom und Florenz auf dem täglichen Korso anstaunen darf, gibt es in Athen nicht. Man sieht nur wenige Privatwagen, und diese wenigen sind von einer Einfachheit, daß sie an unsere Berliner Doktorwagen erinnern; selbst der königliche Wagenpark macht darin keine Ausnahme.

247 In den Toiletten der Frauen erscheint alles Auffällige, alles »Knallige« sorgfältig vermieden. Man sieht viele »soignierte« Frauen – fast keine, die das Bedürfnis zu haben scheint, durch einen Kostümeffekt die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Viele haben in der Art, wie sie sich geben und tragen, wie sie das Kleid schürzen und den Schirm halten, wie sie das Hütchen zwischen die Locken gebettet haben und wie sie im Wagen sitzen, etwas von der freien Vornehmheit der Weltdame – nur mit einem kleinen Hauch von Spießbürgertum darüber. Die große Mehrzahl der Frauen hat etwas Welkes, Abgespanntes, Kränkliches. Es ist im allgemeinen kein guter Schlag, und doch gibt es dazwischen Schönheiten mit feinen, schmalen, blassen Gesichtchen und großen, schwarzen Augen. Aber sie alle vermeiden es, aufzufallen, und selbst, als im Beisein des ganzen Hofes die Osterfeier auf der Tribüne vor der Kathedrale festlich begangen wurde, war von einer reicheren Toiletteneleganz nichts zu sehen.

Dieses Osterfest feierten die meisten Familien bei Essen und Trinken, Kaffee und Kuchen in ihren Wohnungen. Abends gingen sie auf den Promenaden spazieren, vom Schloß bis zur Akropolis und von der Akropolis bis zum Schloß. Das Volk von Athen, der »Demos«, füllte die Wein- oder Kaffeegärten vor der Stadt, wo in zahlreichen Sommertheatern jämmerliche Pantomimen aufgeführt wurden und wo alles an die Berliner Hasenheide erinnerte. Einzelne Trupps junger Männer tanzten gegen Abend auf den Wiesenplätzen vor der Akropolis ihren nationalen Ostertanz. Sie bildeten eine lange Kette, der ein Vortänzer 248 vorausschritt. Dieser Vortänzer machte im Schweiße seines Angesichts die verzwicktesten Pas und Sprünge, während der ganze Chorus dazu eine eintönige Melodei mit immer wiederkehrenden Textworten sang.

Die eigentliche Stadt der Ostertänze aber ist nicht Athen, sondern Megara. Halb Athen fuhr am dritten Osterfeiertag zu der einstigen Nebenbuhlerin der Periklesstadt, die heute ein Dorf mit flachgedeckten weißen Häusern ist. Man fährt zwei Stunden von Athen bis Megara. In der Nacht vorher hatten wir in Athen einen Erdstoß zu spüren bekommen, von dem im wahrsten Sinne des Worts alle Wände wackelten. Da aber nichts Böses geschehen war, nahmen die Athener die ganze Affäre von der heitersten Seite, und es gab viele Witzbolde im Zug, die »Erdbeben« spielten, plötzlich aufsprangen und hin und her wackelten – ein Scherz, den das dankbare Publikum immer wieder belachte.

Und wie nett sah es aus in dem kleinen Megara! Alle Männer und alle Frauen aus dem Dorf und aus der Umgegend in dem pittoresken Kostüm dieses Landes – die Männer in blauen, gestickten, offenen Jacken, Fustanella, bauschigen Pumphosen, weißen, weiten Hemdsärmeln, blauen Gamaschen, Schnabelschuhen, deren Spitzen mit einer roten Quaste geschmückt sind, rotem Fez mit langwehender blauer Troddel – die Frauen in Kostümen, ähnlich jenen, die das italienische Weibsvolk im Spind – gewöhnlich nur noch im Spind – hängen hat – die breite bunte Schürze vor den rotgerandeten Rock gebunden – auf dem Kopf eine Haube von kleinen, aneinandergereihten Münzen, die wie eine mittelalterliche Helmkappe aussieht – darüber das gelbe 249 Kopftuch, zweimal unter dem Kinn verschlungen und im Nacken geknotet; einige trugen lange, mattgelbe Seidenschleier, die ihnen etwas verblüffend Orientalisches gaben; mit dem Schmuck hielten sie's verschieden, denn während die einen sich mit Korallenketten behängt hatten, trugen die andern einen richtigen Brustpanzer von Goldmünzen.

Auf dem Hauptplatz des Dorfes tanzten sie ihren merkwürdigen Tanz – aber erst nach langem Zaudern und Zieren, und nachdem ein großer Teil der Fremden schon das Feld geräumt hatte. Sie bildeten eine lange Reihe, faßten sich überkreuz bei den Händen, und diese lange Reihe, die erst von zwanzig, dann mindestens von fünfzig Tänzerinnen gebildet wurde, ging vor und zurück, wie wenn im Kotillon die Grande Ronde avanciert und retiriert. Und zwar bewegte sich immer nur ein Teil der Reihe, während der andere stand, so daß das Ganze ein wenig an die Windungen der Schlange erinnerte. Das war der Tanz. . . . Und dazu sangen sie eine eintönige, an unsere alten Schlummerlieder erinnernde Weise.

Auch die Leibgardisten des Königs, diese in das ländliche Kostüm gesteckten Nationalgriechen, tanzten schwitzend im Schloßhof den Ostertanz der Männer. Und es war einigermaßen befremdlich, diese langen Burschen, denen die weißen Fustanellas, diese kurzen, vom Gürtel niederfallenden, drei- und vierfach übereinandergelegten Röckchen, ohnehin das Aussehen von Ballettänzerinnen gaben, die mit roten Schnabelschuhen geschmückten Füße in zierlichen Pas bewegen zu sehen.

Das Militär spielt hier, obgleich es ja wenig 250 zahlreich ist, überhaupt eine ziemliche Rolle, und man sieht Offiziere, die eifrig bestrebt sind, den preußischen Kameraden in tadelloser Schneidigkeit nicht nachzustehen, und die das Monokel ins Auge klemmen wie ein Schlittgenscher Gardeulan. Es ist sehr möglich, daß sie damit den von den Bergen herabgestiegenen Rekruten sehr imponieren, denn unter den Blinden ist, wie man weiß, der Einäugige König.

Soviel ich gesehen habe, wird in Griechenland – und auch das unterscheidet dies Land von der Nachbarhalbinsel – weit weniger gebettelt als gearbeitet. Überall sieht man fleißige Leute. Aber was zu fehlen scheint, das ist der Erfindungsgeist, das ingeniöse Element. In dem Süden findet man nichts, was originell, besonders national wäre – und das ist doppelt verwunderlich und doppelt schlimm in einer Stadt, wo die kauflustigen Fremden ein- und ausgehen. In den Werkstätten und auf dem Felde wird mit dem ältesten, verbrauchtesten Werkzeug gearbeitet. Man möchte sagen, der Grieche der unteren Klassen scheint schwer von Begriff. Fast niemals trifft man einen Kutscher, der auch nur ein paar Brocken einer fremden Sprache weiß. Selbst diejenigen Leute aus dem Volk, die viel mit Ausländern zusammenkommen, behalten ihre hölzerne Unbeholfenheit. Die leichte Fassungsgabe der Italiener scheint ihnen zu fehlen. Und bei aller Freundlichkeit scheinen sie zurückhaltend – sie sind weder so zudringlich noch so dankbar wie die Italiener.

Mußten nicht auch erst die Fremden, die Deutschen und Engländer, diese Griechen lehren, welchen Schatz sie in den marmornen Überbleibseln der großen 251 Vergangenheit besäßen? Einen Schatz, der, von allem anderm abgesehen, doch auch goldene Zinsen einträgt?

Dann freilich hat der reichlich vorhandene griechische Nationalsinn sich auch in der Sorge für diese Heiligtümer betätigt. Reiche Privatleute haben nicht gezögert, Museen und Ausstellungsgebäude zu errichten. Nur hat diese Sorge um das Gemeinwohl manchmal einen Stich ins Deklamatorische, und wenn sich die Wohltäter in Marmor vor den Ausstellungspalast, der ihren Namen trägt, hinstellen lassen, drapieren sie sich malerisch wirkungsvoll mit dem Faltenmantel des Heldenspielers.

Aber im großen ganzen schmeckt doch alles nach guter Bürgertugend, nach Familiensinn und reiner Sitte. Damit steht die an und für sich bedauerliche Tatsache noch nicht im Widerspruch, daß der Fremde mit Hilfe des zwiefachen Geldes, der billigen Drachmen und der teuren Frankenstücke, nach Noten geprellt wird. Er wird nur ein Opfer der grandiosen finanziellen Zerrüttung des Landes.

Diese finanzielle Kalamität wird mit dazu beitragen, daß die Sympathien für die Themistoklessöhne sobald nicht wieder aus ihrem Schlummer erwachen werden und daß der byronische Enthusiasmus einstweilen ein Romantikerstreich von gestern bleiben wird. Europa hat ja inzwischen eine neue Periode des Philhellenismus durchlebt – nach den Ausgrabungen Heinrich Schliemanns in den siebziger und achtziger Jahren. Aber von dieser erneuten Begeisterung galt auch kein Tüpfelchen und kein Atomchen dem modernen Griechentum. Es war ein wissenschaftlicher Eifer, an dem auch der nicht 252 wissenschaftliche simple Bürgersmann – vielleicht aufgestachelt durch das Dramatische dieses Forschertriumphs – seinen Anteil haben wollte.

* * *

Das alte Europa lebt jugendlich schnell, und so hat es – bei allem Respekt für Kunst und Wissenschaft – auch den Philhellenismus der siebziger Jahre schon wieder vergessen. Es spielten da allerlei Faktoren mit: das Aufkommen des Realismus, die Bewegung gegen das klassische Gymnasium und manches andere. Und so sind wir – wie gesagt, immer bei allem Respekt für Kunst und Wissenschaft – von einer Griechenschwärmerei weiter entfernt denn je.

Aber wenn man dort oben steht, auf der Akropolis, zwischen den Säulen des Parthenon, dann spürt man, daß auch dieses Griechenland oder besser dieses Hellenentum für Europa noch nicht tot ist und daß die geistige Entwicklung noch einmal hierher zurückkehren wird. Jedes Zeitalter hat dieses Hellenentum mit anderen Augen betrachtet; jedes Geschlecht hat geglaubt, seine eigenen Empfindungen und Wünsche in ihm verkörpert zu sehen. Auch das Geschlecht von heute und morgen wird hier den Ausdruck seiner Gedanken suchen.

Es geht unbefriedigt herum, dieses Geschlecht, alt schon in der Jugend, müde am Anfang des Weges, weil es zu sehr die Zwecklosigkeit des Weiterschreitens eingesehen hat. Es glaubt das Erreichbare erreicht, verzweifelt daran, den ewig rückrollenden Stein vorwärts zu rollen. Es ist gesättigt und hungrig zugleich, wie nur je ein römischer Imperator. Es nennt seine Zeit 253 eine Verfallzeit und schreibt in Selbstironie über seine Werke: »Decadence«.

Für diese Stimmung der Zeit muß eines Tages die Poesie den gewaltigen Ausdruck suchen. Wenn sie sich befreit haben wird aus den engen Verhältnissen, in denen die Phantasie erstickt, wird sie, auf der Suche nach der großen tragischen Stimmung, immer wieder zur Akropolis kommen. Und wenn sie dann den »esprit du Parthénon« sich richtig zu deuten weiß, so wird sie finden, was sie braucht: den überwältigenden und rührenden Hintergrund für die gigantische Tragödie des Menschengeschlechts. 254

 


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