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Pistoja liegt zu Florenz etwa wie Jüterbog zu Berlin. Die meisten Menschen, auch die, welche zwar Jüterbog, nicht aber Pistoja kennen, werden sagen, Pistoja sei ihnen lieber. Aber Jüterbog hat auch seine Reize: ein originelles Tor, ein paar alte Kirchen und sehr viele Offiziere.
Wie man es in Jüterbog merkt, wenn in Berlin Unter den Linden jemand hustet, so haben die Pistojaner jedes Husten der Florentiner gespürt. Es ist sehr lohnend, diese alten kleinen Städte, die als Sterntrabanten die Sonne Florenz umgeben, zu durchsuchen. Man findet fast immer wieder das Bild der großen Stadt im Duodez. Und man bekommt erst recht einen Begriff davon, wie für ganz Toskana Florenz in künstlerischen und gewiß auch in Modedingen tonangebend war. In Florenz wurde sozusagen das Journal des guten Geschmacks redigiert. Nur die Pisaner, die einen eigenen Baustil und einen Kanzelstil erkunden hatten, und die Sienesen konnten es wagen, daneben als Lehrmeister aufzutreten.
Pistoja erscheint die Sauberkeit selber, was es der 60 Breite seiner Straßen und dem schönen Pflaster zu verdanken hat. Man sieht überall die Renaissancepaläste, wuchtig, wehrhaft, wenn auch nicht ganz so grandios und gebieterisch, wie die Riesenpaläste in Florenz. Überall noch die alten Steinwappen, und fast überall wohl neue Bewohner, für die das Wappen nur wie ein anderer Mauervorsprung ist, an dem man eine Waschleine anknüpfen kann. Doch, der Wahrheit die Ehre, die Waschleinen sind gerade in Pistoja nur in den engen Nebengassen gebräuchlich. In den breiten, vornehmen Hauptstraßen hängt man die gereinigte Wäsche nicht zur allgemeinen Ansicht unter die Fenster – man hat das nicht nötig, denn die reine Wäsche versteht sich hier von selbst.
In der unvermeidlichen Via Cavour gibt es ein sehr zivilisiertes Café, wo man des Abends vor der Tür sitzen kann, wenn die Herren und Damen von Pistoja in der breiten Via auf und ab promenieren. Man wird dabei beobachten, was man im ganzen Toskanischen – und im Lombardischen nicht minder – sehen kann: fast alle diese Menschen, und besonders die Frauen, haben ein natürliches Talent, sich gut anzuziehen, besitzen jenes angeborene Feingefühl für Eleganz und Grazie, entwickeln in der Art, wie sie eine Schleife anbringen oder eine Blume in den Gürtel stecken, einen sehr feinen Charme. Hier wie in Florenz – und Florenz besonders ist die Stadt der notdürftig über Wasser gehaltenen Existenzen – sieht man eine Unzahl junger Mädchen, die keinen Heller Vermögen haben. Sie alle warten, kühl, leidenschaftslos, jede Chance in Rechnung ziehend, auf den Mann, der ihnen ein bequemes Leben 61 garantieren kann. Jeden andern Wunsch, der vielleicht doch dann und wann an sie herantritt und dessen Erfüllung sie nur von dem vorgezeichneten Wege abdrängen könnte, schieben sie schnell zurück. Sie haben kein anderes Mittel, um den Mann zu erobern, als den Liebreiz ihrer Figur und ihrer Züge. Und welche Fähigkeit besitzen sie, diesen Liebreiz auf die einfachste, scheinbar unabsichtlichste Art zu steigern! . . .
Es ist auffällig, wie wenig gute Bilder man in den alten, pisanisch mit Säulenfronten oder italienisch-gotisch gebauten Kirchen von Pistoja findet. Und doch waren die Pistojaner wohlhabende Leute, die sich's hätten leisten können. Und sie hatten Florenz vor der Tür, die besten Meister in nächster Nähe. Fast alles, was sie angeschafft haben, ist zweiten und dritten Ranges. Ihr bestes Bild hängt im Dom: eine Madonna mit Heiligen von jenem Lorenzo di Credi, der ein Schüler des Leonardo da Vinci war und ein paar sehr feine Porträts gemalt hat. . . . Alles mit einem gewollten mystischen Duft und in dem deutlichen Bestreben gemalt, die undefinierbare, sinnliche und übersinnliche Zartheit da Vincis nachzuahmen. Das Bild im Dom ist gewiß sehr gut, aber wenn man ihm den Rücken dreht, so hat man eben nur eine Madonna und zwei Heilige mehr gesehen.
Die Bilder, die man sonst noch zu sehen bekommt, sind in der Manier Peruginos und anderer Cinquecentisten gemalt. Besonders Perugino, bei allen Italienreisenden so sehr beliebt, weil man seine Art – er hat eben immer dasselbe gemalt – so leicht erkennt, und berühmt als Lehrer Raffaels, wirkt in der Nachahmung 62 doppelt unleidlich. Schon in seinen eigenen Bildern langweilt er auf die Dauer beispiellos. Die Menschen, die er in seinen besten Bildern malte, waren jene ersten Christen, die ganz Demut waren, mit Blicken, in denen Tränen zu schwimmen scheinen, mit ewig geschlossenem Mund, ein wenig blaß, einfach von Sitten, in schmucklosem Gewand. Die Menschen, die der fleißige Mann dann später auf die Leinwand setzte, leben nicht mehr von Wasser und Brot, sie sind nicht von Natur fromm und erdenabgewandt, wie die Menschen Angelicos, sie sind fromm von Erziehung, weil sich's so schickt und weil's die Mutter will. Die Phantasielosigkeit einer Pastorenkonferenz lebt in diesen Bildern, die sich zu denen Raffaels verhalten wie ein kleines Landmädchen, das furchtlos seine Lämmer treibt, zu jener Jeanne d'Arc, in die der heilige Geist gefahren ist.
Je öfter und je länger man durch all diese alten Kirchen und durch all diese Galerien wandert, desto schärfer empfindet man, wie doch recht vielen jener Quattro- und Cinquecentisten, die heute als große Lichter gelten, der »eigenste Gesang« gemangelt hat. Je mehr die Schulen florieren, desto matter pflegen die Naturen zu sein. Die italienische Malerei hatte das Malheur – vielleicht freilich war's ein Glück –, nach dem jahrhundertelangen Zwang, den die Kirche auf sie ausgeübt, nun in den Zwang der Schulen zu kommen. Nicht jeder war eine Individualität, stark genug, ein solches Joch abzuwerfen. Selbst ein Meister wie Ghirlandajo . . . »er führte die Schule zur höchsten Vollendung«, wird von ihm gesagt. Ist das ein Lob? Ja, ein Lob, das man einem Handwerker zollt! Wer eine künstlerische 63 Individualität hat, macht selbst Schule, aber noch besser, ist ein so besonderer Geist, daß alle »Schule« ganz ausgeschlossen bleibt. Im Palazzo Pitti hängt ein Selbstporträt von Rembrandt. Prachtvoll, wie dieser große Niederländer mit der harten Stirn aus der Leinwand herauszustoßen scheint! Diese harte niederländische Stirn wird hier manchem italienischen Kollegen gefährlich . . .
»En amour, aujourd'hui, c'est comme dans les autres arts: l'inspiration fait défaut, beaucoup d'érudits, mais des créateurs, pas un!« . . . Was Catulle Mendès hier über die Liebe von heute sagt, paßt auf eine große Gruppe von Bildern der Renaissance. . . .
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Das etwa bedachte ich, als ich durch ein langes, fruchtbares, von einem Spalier feinliniierter Berge begleitetes Tal von Pistoja nach Prato fuhr. Und dann noch dies: wieviel Schaden hat das kirchliche Regime der italienischen Kunst zugefügt, indem es den Künstlern den denkbar engsten Kreis der Aufgaben stellte? Freilich ist es ja ganz egal, was gemalt und gemeißelt wird. Die Kunst ist nicht dazu da, Witze vorzutragen oder philosophische Ideen zu entwickeln. Michelangelo schuf ein nacktes Weib, nannte es »Die Nacht«, und von diesem Weib scheint eine Überfülle von Ideen und Gedanken auszugehen. Jedes große Kunstwerk ist ein Gedankenerreger, nicht durch sein »Thema«, sondern durch seine Größe. Also ist es wirklich ganz gleichgültig, ob ein Kuhtreiber, ein Apollo oder eine Madonna gemalt wird. Nur daß die Kirche nicht allein den Stoffkreis beschränkte, sondern auch in die Ausführung, in die 64 geistige Auffassung hineinsprach. Aus vielen Stellen in Vasaris Werk kann man ersehen, wie eng sie die Schranken zog. Und da mag sie dann wirklich manche schwächere Individualität entmutigt und unterdrückt haben. . . .
Prato liegt in jenem schönen, fruchtreichen Tal, nahe an der östlichen Bergwand. Der Charakter der nur bis zur Mitte bewaldeten Berge hat etwas Nordisches. Die Stadt soll eigentlich an dem Flusse Bisenzio liegen; man sieht aber nur das breite Flußbett, das leer ist wie das italienische Portemonnaie.
Obgleich Prato ungefähr ebensoviel Einwohner wie Pistoja hat – nämlich etwa fünfzehntausend – erscheint es bei weitem nicht so groß und vor allem nicht so wohlhabend. Man sieht nicht wie in Pistoja saubere, wohlversorgte Läden mit schön geordneten Schaufenstern, es gibt nur die hausflurartigen Gewölbe, die dunkel und schmutzig sind. Wenn man hier unter den Fenstern der alten Paläste selten die Wäsche flattern sieht, so ist das nur, weil hier selten gewaschen wird. Es ist eine kleine, nicht allzu appetitliche Stadt mit winkligen Straßen, aber mit sehr vielen Marmortafeln und Gedenksteinen, auf denen die Ruhmestaten berühmter Mitbürger verherrlicht werden.
Und doch hat diese kleine, schmutzige, winklige Stadt ihre Reize, und ich ziehe sie mancher großen, elektrisch erleuchteten Palaststadt vor. Welch ein köstlicher alter viereckiger Steinkasten ist dieses Rathaus! Der Putz ist längst abgebröckelt, und niemand hat daran gedacht, ihn zu erneuern. Die Fenster sind ganz unregelmäßig 65 ins Gemäuer geschnitten, das eine groß und das andere klein, das eine hier und das andere dort. Überall kleben Reste alter Herrlichkeit . . . hier ein Stückchen eines gotischen Spitzbogens, dort ein Ornament, dort ein Wappen. Dazwischen verrostete Haken und ein langes Stück Regenrinne. Neben dem Rathaus ein Café von unglaublicher Schmierigkeit. Auf den Bänken und Tischen vor dem Kaffeehaus liegen, lang hingeflegelt, die müden Seelen von Prato und schnarchen zum Himmel hinauf. An einem anderen Tisch sitzen die Nichtschläfer . . . Jeder in Hemdsärmeln, die Jacke über die Schulter gehängt . . . Jeder ein großer Herr, mit dem Selbstbewußtsein eines Kavaliers . . . Jeder ein Staatsmann, für oder gegen Crispi. Wenn vier zusammen sind, machen sie einen Lärm, daß bei uns die Polizei mit Gummischläuchen käme.
An einer Ecke eine große Versammlung. Dort hält ein Stoffhändler mit seinem Karren, und ein Giovane kauft sich graues Tuch zu neuen Hosen. Halb Prato nimmt an dem Handel teil.
Auf dem Platz vor dem Dom ist gerade Markt. Um einen zierlichen Brunnen herum haben die Leinewand- und die Tuchhändler ihre Buden. Die Hutverkäufer haben ihre Hüte auf der Erde ausgebreitet, die Eisenhändler ihre Zangen und Plätteisen. Dahinter dieser schwarzweiße Dom, welch ein altes Prachtmöbel! An der rechten Ecke der schmalen Fassade ist in doppelter Manneshöhe eine runde, von einem Steinbaldachin überdachte Kanzel angebracht; Donatello schuf die figürlichen Reliefs. Von dieser Kanzel herab zeigt man einmal im Jahr la sacra cintola, den heiligen Gürtel der 66 Jungfrau, der in einer blitzblanken Kapelle im Dom verwahrt wird.
An einem solchen Festtag war es, ungefähr im Heilsjahre 1460. Da schritt aus der engen Via S. Margherita heraus, die nicht weit vom Domplatz zu finden ist, ein zierliches Jungfräulein. Sie war nicht groß von Figur, und alles an ihr war fein und nett. Sie hatte ein rundes Kindergesicht mit einem ganz kleinen Näschen, mit forschenden Augen und einem weichen Kinn. Das blondbraune Haar kam in vollen Locken bis zum Nackenansatz. Dieses Fräulein, das dort zu der Gürtelverehrung schritt, war Lucrezia Buti, die ihr Vater, der Florentiner Francesco Buti, den Nonnen in Prato zur Erziehung gebracht hatte.
Man kann annehmen, daß die ganze Stadt unterwegs war und daß es auf dem Domplatz ein arges Gedränge und Gewühl gab; denn jeder wollte den heiligen Gürtel der Jungfrau sehen. In dem Gewühl aber stand auch ein junger Maler mit Namen Fra Filippo Lippi. Er war von seinem Vater in jüngeren Jahren zum Mönch bestimmt worden, aber mit seinem siebzehnten Jahre aus dem Orden ausgeschieden. Er paßte auch sehr wenig zum Mönch, liebte sehr den Wein und besonders die Frauen und hatte so viele dumme Streiche gemacht, daß Cosimo Medici ihn einsperren mußte, wenn er arbeiten sollte. Was aber auch sehr wenig half. Jetzt war Filippo Lippi nach Prato gekommen, wo er im Dom malen sollte.
In jeder Kunstgeschichte steht die Geschichte vom Nonnenraub Filippo Lippis. Ja, er holte sich die kleine Lucrezia, die gar nichts Römisch-Heroinenhaftes hatte, 67 aus dem Kloster heraus. An jenem Tage der Gürtelverehrung hatten sie sich zuerst gesehen. Gewiß paßte die kleine Lucrezia schon auf, als ihr eine Freundin den Namen des Fremden zuraunte. Ich kann mir denken, wie sich das Gerücht wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet hatte: »Es ist ein Fremder da, der sich nach jedem hübschen Mädchen umsieht!« Es ist wahrscheinlich auch heute noch so. . . .
Diese ganze Künstlergeschichte wäre vielleicht nicht interessanter als andere Künstlergeschichten, wenn nicht dieser Fra Filippo Lippi wirklich eine Vollnatur gewesen wäre . . . eine von den wenigen. Er war eine Poetennatur, und eine ganz besondere. In dem Dom zu Prato hat er figurenreiche Fresken gemalt – aber das war nicht seine Sache. Man muß seine »Krönung der Maria« in der Akademie zu Florenz und ein paar Handzeichnungen in den Uffizien gesehen haben, wenn man von ihm sprechen will. Er behandelte die heiligen Vorgänge wie Märchen und erzählte sie, wie man Märchen erzählt. Er liebte nicht den Typ der römischen Jungfrau, des klassischen Weibes, er liebte den Typ des kleinen Mädchens, und wenn er es malte, schien er ihm Küsse auf die Lippen zu setzen. Er zeichnete dieses kleine, zaghafte, von Furcht und Wünschen erfüllte Mädchen in Linien, von denen jede als ein Beweis seiner Zärtlichkeit erscheint. Viele andere haben in jenen Tagen technisch soviel geleistet wie er – nur wenige behaupteten so die eigene Natur – besaßen eine solche Natur. Aber Filippo Lippi hätte vielleicht um zwei oder drei Jahrhunderte später, in dem Frankreich Ludwigs des Vierzehnten leben müssen.
68 In der Via S. Margherita, wo die zierliche Lucrezia gewohnt, hat er an die Wand eines Hauses eine Madonna gemalt. Man hat sie unter Glas und Rahmen gebracht, und es ist schwer, sie zu sehen. Als ich hinkam, saßen unter der Madonna sieben oder acht junge Mädchen und Frauen, flochten mit flinken Fingern Strohkörbchen und schwatzten mit ebenso flinken Zungen. Mit vielem Gelächter zeigten sie mir, wie man einen Schirm über das Bild gegen die Sonne halten müsse, wenn man etwas sehen wolle, und während die eine den Schirm hielt, stand die halbe weibliche Bewohnerschaft der Via S. Margherita hinter mir auf den Fußspitzen und wollte die junge blonde Madonna sehen, die der Mädchenräuber Lippi da mit sorgloser Leichtigkeit auf die Mauer gemalt hatte, und die ganz sicherlich eine der ihrigen gewesen war. . . . 69