Theodor Wolff
Spaziergänge
Theodor Wolff

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Cigarrera

(Sevilla)

Wer von Granada nach Sevilla fahren will, braucht Geduld und Zeit. Grundgütiger Himmel, welch ein Zug! Das Stückchen Andalusien, über das ein anständiger Schnellzug in vier Stunden hinweghopsen würde, durchschleift er in zwölf. Überall, wo drei elende weiße Lehmbuden ein Dorf bilden, wird angehalten und ausgestiegen. Der Schaffner löscht seinen Durst. Die beiden flintenbewaffneten Gendarmen, die in jedem Zuge mitfahren und von den Reisenden aus den mitgenommenen Eß- und Trinkvorräten bewirtet werden, benützen die Gelegenheit, um das Coupé zu wechseln. Sie trinken sich allmählich durch den ganzen Zug durch, und wenn sie bei der Abfahrt in den hintersten Wagen nüchtern eingestiegen sind, so steigen sie bei der Ankunft aus dem vordersten Wagen angesäuselt heraus. Keinem dieser Edlen fällt es ein, die frechen, schmierigen Betteljungen fortzutreiben, die an jeder Station den Zug überfallen, die Trittbretter ersteigen, die Fenster von außen herunterlassen und ihr »Señorito, Señorito« plärren. Und man sitzt da, zwischen Betteljungen und 220 Fliegen, in dem mit Eierschalen, Brotkrusten, Zigarettenstummeln appetitlich garnierten Coupé und flucht unwillkürlich so laut, daß der mitreisende Spanier erschrocken den Zahnstocher, den er als Reiseunterhaltung von der Frühstückstafel mitgeführt hat, aus dem Munde nimmt. Aber auch diese Freude ist nur kurz, und der Zahnstocher kehrt bald an seinen natürlichen Bestimmungsort zurück.

Man hat wenigstens Zeit, an dieses Granada zurückzudenken, das man so ungern verlassen hat. Der breite Hügel mit seinen grünen Abhängen tritt wieder hervor. Man wandert wieder durch die kühlen, schattigen Alleen mit ihren breit sich brüstenden Riesenbäumen zu den zerbröckelnden grauen Burgmauern der Alhambra. Man tritt wieder durch das maurische Bogentor in den Hof und aus dem Hof in diesen unvergleichlichen Feenpalast, wo die Wände wie Spitzengewebe, die Säulen wie Blumenstengel sind, wo der Schritt eines Mannes fast zu schwer auf dem steinernen Boden hallt, und wo nur die Prinzessinnen des Orients mit langen, tieffarbigen Schleppgewändern und bunten Pantöffelchen als Herrinnen hausen dürften. Man genießt wieder die heitere Harmonie des Löwenhofes und blickt durch zackige, von Arabeskenkränzen umschlungene Fenster in kleine Gärten hinab, in denen die dunklen Orangenkronen mit ihren rotgoldenen Früchten sich eng gegeneinander pressen, Palmen sich an blühende Mandelbäume drängen und mattviolette Glyzinien und kugelrunde, glutrote Rosen auf grünen Blätterteppichen die Wände überranken. Spanien ist so arm an wirklicher südlicher Vegetation – aber sie scheint dorthin 221 zusammengedrängt, in diese kleinen Höfe der Alhambra, in denen jede Handbreit Raum die warme Fruchtbarkeit atmet und in denen die schweren Düfte des Südens gefangen sind wie das Rosenöl in seinen Kristallfläschchen. . . .

Man muß nicht Granada, muß nicht die Alhambra gesehen haben, darf nicht die Moschee in Cordova kennen, welche barbarische Pfaffenhände nicht ganz zu zerstören vermochten, man muß auch nicht den normännisch-maurischen Zauber Palermos verspürt haben, wenn man das späte, von Karl dem Fünften nachgeäffte Maurentum des Alkazars zu Sevilla noch gelten lassen soll. Alles, was einstmals frei und natürlich war, erscheint hier gekünstelt und überladen, was klar und harmonisch war, ist wirr und kraus geworden; man sieht, daß die Kunst sich nicht mehr aus der inneren Natur der Bewohner ergeben hat, und es ist, als sei man bei Kommerzienrats, die sich maurisch eingerichtet haben.

Die einzige wirkliche »Sehenswürdigkeit« Sevillas ist die Kathedrale. Aber zum Glück wird sie gerade renoviert, so daß man, der vielen Gerüste wegen, nicht in alle Kapellen und Kapitelsäle hinein kann. Baedeker nennt freilich noch eine ganze Anzahl interessanter Kirchen, Museen und Paläste, aber man soll den Becher niemals bis auf die Neige leeren. Statt von Baedeker, habe ich mich von Mérimée und Bizet führen lassen.

* * *

Damals, als Carmen in der Zigarettenmanufaktur 222 arbeitete, saßen nur vier- oder fünfhundert Frauen und Mädchen in dieser Fabrik. Heute sind es vier- bis fünftausend. »Sie drehen die Zigarren in einem großen Saale, wo die Männer nicht ohne besondere Erlaubnis eintreten dürfen, weil die Arbeiterinnen, und besonders die jungen, es sich bequem machen, wenn es heiß wird.« Solche Erlaubnis braucht man noch heute. Sie ist nicht allzu schwer zu erlangen – ein wenig schwerer freilich seit einem Vorfall, der sich jüngsthin abgespielt und mit manchen anderen ähnlichen Vorfällen ein Beweis dafür ist, daß die alte Kampfeslust in den Cigarreras noch fortlebt. Zwei Herren, welche die Manufaktur besuchten, waren von den Cigarreras für Amerikaner gehalten und mit Gejohle und Geschrei aus den Sälen hinausgetrieben worden.

Man würde das mächtige Gebäude von außen eher für ein Ministerium oder eine Universität als für ein Fabrikhaus halten. Es hat nichts Fabrikartiges, nichts Unfreundliches. Auch nicht im Innern, nicht in den großen Bogengewölben. Das alles gleicht wenig jenen rauchgeschwärzten Fabriken, die wie die Gefängnisse der Arbeit sind.

Erinnern die Säle (denn statt des einen, der zu Carmens Zeiten existierte, gibt es heute sieben oder acht) an irgendeinen Fabrikraum des Nordens? Ich glaube nicht. Es fehlt auch hier nicht an den bleichen, ermüdeten Gesichtern – sie sind gewaltig in der Mehrzahl! – und an allen Zeichen der Überarbeitung und des Elends. Aber das Elend noch macht sich hier kokett, und auf jedem Kopf scheint ein kleiner, leichtsinniger bunter Vogel zu sitzen.

223 Diese bunten Vögel sind in Wahrheit bunte Blumensträußchen, die fast all die schwarzen Zottelfrisuren krönen. Zuerst, wenn man in den Saal tritt und etwas benommen und beklommen von der schweren Welle des Tabakduftes ist, die einem entgegenschlägt, sieht man nur ein helles, durcheinander schwimmendes Geflimmer leuchtender Farben. Es ist das Bunt der Blusen und der kleinen Sträußchen. Weit hinunter, bis zu dem in bläulichen Dunst getauchten Ende des langen Saales, wo ein kleiner Altar mit einem Marienbilde errichtet ist, sieht man unter den von Säulenreihen getragenen Bogengewölben solch ein buntes, immer bewegliches Flimmermeer. Und ein Geschwirr und Gewispere von vielen hundert Stimmen dringt daraus hervor.

Die Cigarreras sitzen an langen Tischen. Die Tische sind eingebogen wie Mulden, und in der Mulde liegt, zu Häuflein aufgeschichtet, der Tabak. Die braunen Finger greifen hinein, werfen ein wenig von dem Tabak in ein weißes Blättchen Papier, kniffen das Blatt, drehen mit flinker Leichtigkeit die Zigarette, werfen sie zur Seite und greifen schon wieder in das Tabakhäuflein. Und die Oberkörper in den bunten Blusen wiegen sich hierhin und dorthin, die Köpfe mit den Blumensträußen beugen sich zueinander, und die Lippen plappern so schnell, wie die Finger arbeiten.

Aber beinahe mehr noch als durch die bunten Farben unterscheiden sich diese Säle durch etwas anderes von jedem Fabrikraum, den wir kennen – nämlich durch die Kinder. Rund um die Tische und auf den Tischen selbst ist es ein Gekribbel und Gekrabbel von kleinen Kindern. Sie liegen in der Wiege neben dem Sitz der Mutter, 224 und die Cigarrera schaukelt mit dem Fuß die Wiege, während die Finger Zigarette auf Zigarrette drehen und der Mund nicht müde wird zu plappern. Sie wackeln im Hemd herum, kriechen auf allen Vieren und stampfen mit den bloßen Füßen den Tabak in den großen Körben, die neben den Tischen stehen. Sie thronen in einem Stühlchen mitten auf dem Tisch, greifen nach den Blumen in all den schwarzen Zottelköpfen und erheitern die ganze Tischgenossenschaft. Hier und da liegt eines gerade bei der Mutter an der Brust. Und abwechselnd saugen sie die Muttermilch und diesen schweren, feuchten Tabaksdunst ein.

Es sind einige sehr schöne Mädchen unter den Cigarreras – Mädchen mit feingeschnittenen Gesichtern, einem Elfenbeinteint und großen, schwarzglänzenden Augen. Aber freilich sind nur einige so schön. Die meisten sind früh gealtert. Viele sind fettig aufgeschwemmt, andere haben den ausgehöhlten Rücken und die herausgedrechselten Schultern der Brustkranken. Eine einzige Blondine unter fünftausend Brünetten. Sehr viele alte Weiber mit unzähligen Falten um den Augen und mit hängenden gelblichen Backen. Dann und wann einige Gitanillas, andalusische Zigeunerinnen, die Stammesschwestern Carmens, die gewöhnlich beieinandersitzen und denen die schwarzen Haarsträhnen lang über die Ohren niederfallen.

Und unter ihnen allen, jung oder alt, kaum eine, die sich nicht kokett in Positur rückte, wenn man vorbeigeht, nicht ihre Zähne zeigte und lachte. Die, welche noch keine Blumen im Haar haben, deuten auf ihre Frisur, und ihr Blinzeln sagt: »Zehn Centesimos für 225 ein Bukett!« Andere rühren gerade ihre Frühstückssuppe zurecht – eine Suppe aus Wasser, Öl, Essig, Brotschnitten und Knoblauch – und halten den Löffel hin mit der etwas peinlichen Aufforderung, zu kosten. Würdig und majestätisch schreitet die korpulente Saalmeisterin durch den Gang, fortwährend mit der fleischigen roten Hand einen kleinen Fächer bewegend. Kaum ist sie vorüber, witzeln die Cigarreras hinter ihr her, und da und dort wird eine Cigarette, die unter dem Tisch verborgen gehalten war, hervorgeholt und weitergeraucht.

Das Zigarettenrauchen ist verboten. Abends, beim Verlassen des Hauses, wird jede Arbeiterin von den Saalmeisterinnen visitiert, um den Schmuggel zu verhindern. Gearbeitet wird bis sechs, bis sieben, bis acht, je nachdem. Bezahlt wird nach der Anzahl der abgelieferten Zigaretten oder Zigarren (die Zigarren werden in zwei besonderen Sälen hergestellt) – eine langsame Arbeiterin verdient eine Peseta und fünfundzwanzig Centesimos, eine hurtige das Doppelte.

Es gibt in der Erzählung Mérimées und in der Oper Bizets einen gewissen Punkt, der nicht ganz mit der heutigen Wirklichkeit übereinstimmt. Carmen zerhackt, wie man sich erinnern wird, ihre Kollegin mit einem Messer, das ihr bei der Arbeit dazu dient, die Spitze der Zigarren »abzuschneiden«. Also saß sie im Zigarrensaal. Dort aber arbeiten heute nur noch ältliche Damen. Saß sie jedoch in den Zigarettensälen, dann würde sie, heute wenigstens, kein Messer mehr haben, denn die Enden der Zigaretten werden nicht mehr abgeschlagen – das Papier wird tütenförmig 226 zusammengedreht, und dem Raucher bleibt es überlassen, es abzureißen.

Aber bewaffnet oder unbewaffnet, mit oder ohne Messer – diese Cigarreras sind noch immer ein schwer zu bändigendes und gefürchtetes Korps. Vor zwei Jahren sperrte man eine Cigarrera ein, die ich weiß nicht was begangen hatte, aber in der Fabrik sehr beliebt war; die übrigen rumorten so lange, bis der Gouverneur von Sevilla Angst bekam und die Eingesperrte frei ließ. Längst sind Zigarettenmaschinen erfunden – aber man wagt es nicht, sie aufzustellen, aus Furcht vor den Cigarreras und ihrem Anhang. Denn die Cigarreras stehen nicht allein – man kann sich denken, daß kaum eine von ihnen allein steht! Diese Frauen und Jungfrauen haben Männer, und diese Kinder haben Väter. Diese Männer und diese Väter empfangen den Wochenlohn der Cigarrera und bringen selbst in den gemeinsamen Hausstand häufig nichts anderes mit als ihre Liebe.

Und während in der Vorstadt Triana der Freund oder Gatte beim Domino und bei den Karten sitzt oder, die Hände in den Hosentaschen, davon träumt, ein Toreador zu werden – der Traum aller Spanier der unteren und mittleren Klassen! – dreht die Cigarrera den braunen Tabak zwischen den braunen Fingern und erzählt ihrer Nachbarin, wie sie am Abend vorher in irgendeinem Weinzelt auf dem Tisch die Sevillana getanzt hat. Hier und da hat ein Mädchen, eingeschläfert von der Hitze und dem Tabaksgeruch, den Kopf auf den Tisch gelegt und schlummert. Ein Stückchen auf die Schläfen geklebtes Kampferpapier soll den 227 Kopfschmerz vertreiben. Und rund herum schwatzen die Kameradinnen, stecken die Köpfe zusammen, während die Hände hurtig arbeiten, und all die bunten Blumen in den schwarzen Frisuren nicken einander zu wie leichtsinnige kleine Vögel.

* * *

In Triana bei Lillas Pastia, »wo man die guten gebackenen Fische ißt«, gab Carmen ihrem José das erste Stelldichein. Gewiß war Lillas Pastia einer der vielen Weinwirte in der Calle San Jacinto, die vom Ufer des Guadalquivir in die schmutzige Vorstadt hineinführt. Man ißt dort noch heute die guten gebackenen Fische, und man trinkt einen klaren, dunkelroten und goldgelben Wein. Und man hat dort überall diese kleinen Extrazimmer, diese abgeschlossenen Nischen, die so geeignet sind zum Stelldichein. Dort wird gesungen und getanzt, dort ist man verliebt und eifersüchtig.

Ich kenne leider von den andalusischen Frauenherzen nur jene blauen und roten, auf Papier gemalten, die man der Mutter Maria auf den Altar legt – aber Leute, die in diesen Labyrinthen Bescheid wissen, sagen mancherlei Gutes von dem Herzen der Cigarrera. Wenn der elegant gekleidete Fremde die Cigarrera schön bittet, mit ihm aufs Land zu fahren und in den Weindörfern draußen die Sevillana oder irgendeinen anderen Tanz zu tanzen, dann sagt sie gewöhnlich nicht nein. Aber wenn er andere Gedanken im Kopf hat, und wenn er aus der Reise eine Hochzeitsreise machen will, geht die schöne Widerspenstige meist lachend auf und davon – zu ihrem José oder ihrem Torero. Das Geld hat für 228 sie nur selten einen verführerischen Reiz, und es scheint, daß diese Andalusierinnen noch die unmoderne Auffassung haben, die Liebe sei um ihrer selbst willen erfunden und sie sei unbezahlbar.

Mindestens zweitausend Cigarreras wohnen in Triana. Auch zahlreiche Zigeunerfamilien wohnen noch dort, aber keineswegs abgesondert, sondern in einem Hause und einem Hof mit den anderen Leuten. Rund um den sehr großen viereckigen Hof läuft gewöhnlich ein zweistöckiger Bau mit einer eisernen Balkongalerie im oberen Stock. Unten und oben sieht man Tür neben Tür, und jede Tür führt zu einer Wohnung. Rechts neben dem Eingang jeder Wohnung steht – unten im Hofe oder oben auf der Galerie – auf einigen Ziegelsteinen ein Kochherd: eine einfache Eisenblechröhre, in der eine Öffnung zur Herausnahme der Asche dient. Ein altes Weib rührt die Knoblauchsuppe. Halbnackte Kinder jagen sich über den Hof. Die Männer sitzen gähnend in der Sonne und warten auf die Frauen und Mädchen, die aus der Fabrik kommen sollen. . . .

Und das Ganze ist ein Gemisch von Schmutz und bunten Blumen, Armut und Sonne, Gutmütigkeit und Egoismus, Naivetät und Leichtsinn. Es wäre, ganz nüchtern betrachtet, gewiß oft recht unerfreulich – aber es ist so viel Musik darüber und ringsherum. Und man weiß ja, daß die schlechtesten Verse und die häßlichsten Banalitäten liebenswürdig erscheinen können, wenn sie in Musik gesetzt sind. 229

 


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