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Das wunderbare Prado-Museum erzählt besser als alle Bücher die Geschichte Spaniens. Die Historiker mögen verzeihen, aber ich glaube nicht, daß ihre gründlichsten Werke uns mehr sagen können als die Porträts des Velasquez und des Sanchez Coello. Und wie diese spanischen Hofmaler verstanden haben, hinter der feierlichen, grandiosen Pose immer die armselige, triste Wahrheit zu zeigen! Es gibt vielleicht nur noch ein einziges Beispiel so intimer und schonungsloser Hofchronik: die Memoiren Saint-Simons über die Epoche Ludwigs XIV. und des Regenten.
Ich kehre immer wieder zu zwei Bildern des Sanchez Coello (warum nennt man diesen Vorgänger des Velasquez so wenig?) zurück: zu einem Porträt des Don Carlos und einem Porträt der Infantin Donna Isabel Clara Eugenia, Schwester des Don Carlos. Prinz und Prinzessin scheinen etwa fünfzehn Jahre alt. Don Carlos ist blaß, mit kranken, unklaren Augen, blutlosen Lippen und eingedrückten Schläfen. Eine arme, verschüchterte Jammergestalt – scheu wie ein geschlagener Hund. Die 230 junge Prinzessin steht im prunkhaften, steifen Staatkleide neben einem Stuhl, auf dessen hohe Rückenlehne sie den rechten Arm gelegt hat. Der linke Arm fällt am Körper nieder, und die linke, mit drei schweren Ringen geschmückte Hand hält ein weißes Spitzentaschentuch. Das starre Staatskleid ist mit großen, prächtigen Juwelenknöpfen besetzt, und ein Gürtel, der den Neid der Modedamen erwecken müßte, fällt über die Hüften schräg nach vorn herab, so daß das große Schloß den Endpunkt eines spitzen Winkels bildet. Und aus der steifen, tulpenförmig geöffneten weißen Halskrause schaut ein kleiner, gelblich bleicher Mädchenkopf hervor . . . ein überzarter Kopf mit zwei ernsten, freudlosen Augen. Diese Augen sind so kränklich, und diese Lippen sind so blaß wie die Augen und die Lippen auf dem Bilde des Don Carlos. Auf dem dunklen, mageren, gekräuselten Haar thront ein schwerer Kopfputz mit Federn und Perlen. Welche Migräne er der kleinen Prinzessin verursacht haben mag!
So sahen die Kinder Philipps des Zweiten aus. Man sieht sie in diesem brutal nüchternen, kalten Klosterlabyrinth des Eskurial durch die unsagbar öden Hallen und Gänge irren, in dieser immensen Steinkirche betend auf den Knien liegen. Diese für die Ewigkeit gefügten Mauern lassen keinen Frühling und keine Sonne herein. Der französische Gesandte Forquevaulx, der in einem Briefe an Catharina von Medici die junge Infantin »belle comme le beau jour« nennt, beklagt, daß sie »keine Landluft« habe.
Und doch liebte Philipp II. seine Kinder, oder vielleicht besser gesagt seine Töchter. Will man ihn und das 231 Leben an seinem Hofe kennen lernen, dann muß man die Briefe lesen, die er in den Jahren 1581–83 – also kurz nach der Niederwerfung des niederländischen Aufstandes – aus Portugal an seine Töchter geschrieben. Der Franzose Gachard hat sie herausgegeben – es ist ein sehr merkwürdiges Buch. Mit tausend Kleinigkeiten beschäftigt sich dieser zärtliche Vater. Isabella leidet an Nasenbluten, und er schreibt mehrere Zeilen darüber. Er will wissen, ob seine Kinder gewachsen sind, und läßt sich die Maße zusenden. Aber dazwischen spricht er fortwährend von den Prozessionen, die er gesehen, von den Klöstern, die er besucht, von den Predigten, die er gehört. In einem der Briefe findet sich folgende Stelle:
»Gestern wohnten mein Neffe und ich einem Autodafé bei. Wir sahen es von einem Fenster aus und hörten alles sehr gut. Man gab jedem ein Papier, wo die Namen derjenigen aufgeschrieben waren, die dabei figurieren sollten; ich sende euch das meinige, damit ihr seht, wer sie waren . . .«
Es scheint, daß das die sogenannte gute Erziehung von damals war, die Erziehung im Eskurial, die Erziehung der frommen Seelen. Es war nicht gerade erstaunlich, wenn diese armen Prinzen und Prinzessinnen an Migräne litten!
* * *
Man kann heute in allen Ländern unnachgiebige Freidenker treffen, die mit Respekt und fast mit einer gewissen Sympathie von den Jesuiten sprechen. Darin 232 liegt sicherlich eine kleine geistige Koketterie, aber doch nicht nur Koketterie. Die Jesuiten sind in mehr als einer Beziehung bewundernswert und in tausend Beziehungen interessant. Was am meisten Bewunderung verdient, ist die große Kunst, mit der sie ihre Tätigkeit fortwährend den Verhältnissen, den Anforderungen und Wünschen der Zeit anpassen. Keine Entwicklung besiegt sie, denn sie ordnen sich ihr scheinbar unter, kein Fortschritt besiegt sie, denn sie machen ihn mit.
Es hat in der Kirche immer zwei Richtungen gegeben – die der Säulenheiligen und die, welche im Jesuitenorden ihren Ausdruck fand. Wer die »Thaïs« des feinen Ironisten Anatole France gelesen, erinnert sich wohl des bärtigen und ungewaschenen Eremiten, der sich aus seiner Wüsteneinsamkeit nach Alexandrien aufmacht, um die Seele der schönen Sünderin Thaïs zu retten. Der Eremit pilgert fürbaß, und wenn er eine Stadt sieht, so macht er einen weiten Umweg. Denn er fürchtet, daß schon der bloße Anblick der Menschen seiner ungewaschenen Unschuld schaden könnte.
Ganz anders der Jesuit. Er lebt in den Städten und studiert ihren Organismus. Er lebt das Leben der anderen Menschen mit und lernt ihre Schwächen, ihre Bedürfnisse kennen. Er ist der Realpolitiker, der Opportunist, der immer mit den vorhandenen Tatsachen rechnet. Ein Geschlecht will Verfolgungen und Hexenverbrennungen; er veranstaltet lustige Autodafés. Ein anderes Geschlecht will Milde und Duldsamkeit; er ist die Duldsamkeit selbst. Und es kommt ein drittes Geschlecht, welches wissenschaftliche Belehrung sucht, durch hundert epochemachende Erfindungen dahin gedrängt wird, sich 233 mit den Rätseln der Natur zu beschäftigen; und der Jesuit wird ganz Mann der Wissenschaft.
Ich habe diese geniale Kunst, die darin besteht, niemals den Fortschritt zu leugnen, sondern immer sich mit dem Fortschritt gleichsam zu identifizieren, nie so sehr bewundert wie vor zwei Tagen bei einem Besuch in dem Jesuitenkolleg zu Chamartin de la Rosa bei Madrid. Welch ein Unterschied zwischen Chamartin und Eskurial – und doch dient das eine dem gleichen Zweck, dem das andere diente! Welch ein äußerer Unterschied zwischen den Jesuitenzöglingen von heute und der kleinen Infantin, die Coello gemalt – und doch sind jene und diese im Hinblick auf das gleiche Ziel erzogen! . . .
Mit guten Pferden kommt man in einer halben Stunde von Madrid nach Chamartin. Der Wagen rollt über eine weiße Landstraße, sanft bergan, zwischen schwächlich bebauten Feldern. Der Boden ist wellig, wie überall in der ganzen Gegend, und das läßt die Landschaft weniger öde erscheinen. Und dann ist links unten, breit vorgelagert vor dem Horizont, noch etwas, das über alle Öde und Leere hinwegtrösten könnte: diese zyklopische, dunkle Bergkette mit ihren im Lichte glitzernden silberweißen Schneestreifen.
Von einem der kleinen Hügel, über welche die Straße wie ein weißes Band sich hinzieht, erblickt man schließlich, auf einem anderen Hügel, die breite, pompöse, halb gotische und halb maurische Fassade von Chamartin de la Rosa. Sie scheint in der Mitte gespalten – man glaubt, zwei große Gebäude zu sehen – aber in Wirklichkeit ist das Ganze ein zusammenhängendes Gebäude, und der vermeintliche Einschnitt ist nur ein Vorhof, 234 der zum ein wenig zurückgelagerten Mittelteil der Kirche führt. Jedes der beiden Seitengebäude ist an der Vorhofsecke von zwei hohen, aus dem Erdboden aufsteigenden, in schlanken Spitzen endenden Türmen flankiert, die wie Schildwachen vor dem Zugang zur Kirche stehen.
Über eine graue Steinmauer blickt das dunkle Metallgrün von Lorbeerbäumen herüber. Die kleinen Häuser eines Dorfes bleiben rechts. Und noch weiter rechts, wiederum auf einem Hügel, zwischen dem Grün alter Bäume und dem weißlichen Grau dicker Mauern, fast wie ein märkischer Gutshof, das Fräuleinpensionat der »Mütter vom heiligen Herzen«.
Vor dem Spitzbogentor des Jesuitenkollegs steht ein kastilianischer Bauer mit seinem Esel. Der kleine Esel trägt auf jeder seiner rundlichen Seiten einen Korb mit Blumenstauden – Stiefmütterchen und Levkojen – und weiße und blaue und rote Blumen. Aus der halbgeöffneten Tür ist ein schwarzröckiger Pater mit der ausgezackten Jesuitenmütze auf dem schon grauen Kopf herausgetreten und unterhandelt mit dem Bauern über den Preis der bunten, in der Sonne leuchtenden Ware. Der kleine Esel steht dabei, zwinkert schläfrig mit den Augen und klappt mit den Ohren.
Als der Wagen vorfährt, unterbricht der schwarzröckige Blumenfreund das Handelsgeschäft, um den Fremdling zu empfangen. Der Besuch war vorher angemeldet worden, und der fremde Gast wird erwartet. Mit fortwährendem freundlichem Lächeln und einer kaum in den musterhaftesten Salons zu findenden Höflichkeit führt mich der alte Pater in den »salon de visitas«. Und 235 mit neunundneunzig höflichen Komplimenten und mit dem ewig freundlichen Lächeln verschwindet er, um den Vorsteher des Hauses zu holen.
Der »salon de visitas« ist ein sehr langer, schmaler Raum – man möchte sagen eine Galerie. An den Wänden, über Polsterbänken und Stühlen, hängen Heiligenbilder, Porträts des Stifters der Anstalt, des Herzogs von Pastruna, und seiner Gattin, bunte Wappenschilder und, hinter Glas, zwei hübsche, zierliche Kunstwerke: eine Landschaft und ein Wappen, zusammengesetzt aus Tausenden von kleinen Federn. Zwei Tische sind mit Büchern und Zeitschriften bedeckt – mit lauter frommen Büchern und lauter frommen Zeitschriften natürlich. Die Lebensgeschichten der Heiligen spielen in diesem Literaturschatz eine große Rolle. Aber sonst hat die lange Galerie nichts Klösterliches, und die bunten Wappenschilder auf dem braunen Getäfel geben ihr etwas von einem Rittersaal.
Die eine Tür öffnet sich unhörbar, und unhörbar – ich vermute auf Filzsohlen – gleiten der Vorsteher und ein jüngeres Mitglied der »Kompagnie« herein. Der pater superior, klein, weißhaarig, mit wohlwollenden blauen Äuglein, streckt die Hand zur Begrüßung aus; sein jüngerer Begleiter, größer, mit einem breitknochigen, aber klugen Gesicht – wie ein Bauernsohn, der sich in die höheren Kultursphären erhoben – beginnt sogleich in sehr gutem Französisch die Unterhaltung.
Und während wir nun die Wanderung durch die Anstalt antreten, fragt der junge Jesuit in jener sanft lächelnden Art, welche alle sichtbare Eindringlichkeit, alle starken Betonungen und Unterstreichungen 236 ausschließt, nach hundert Dingen. Vor allem interessiert es ihn natürlich, ob die Jesuiten nach Deutschland zurückkehren werden. Ich frage ihn, ob sich einige der vertriebenen deutschen Jesuiten nach Spanien gewandt. Er verneint und sagt, sie seien zumeist nach Belgien gegangen. Und er behandelt diese ganze Frage mit einer weltmännischen Liebenswürdigkeit, ohne eine Spur von Schärfe – etwa wie man von einem fernen politischen Problem sprechen würde.
Wir kommen in die Kirche – in eine wunderhübsche, fast kokette kleine Kirche, die in weichem Halbdunkel daliegt. Alles ist reich, ohne Überladung, und alles ist in warme Farbentöne gekleidet. Welch ein Kontrast, wenn man an die kalte, asketische Steinkirche von Eskurial zurückdenkt! Überall, rund um den Hochaltar und an den Wänden, stehen Schalen mit frischen Blumen. Über dem Hochaltar blickt aus der gotischen Nische ein schönes mildes Muttergottesbild nieder – eine der schönsten Holzstatuen, die ich noch gesehen, eine heitere, beglückte und beglückende Maria, im Stile von Murillos Marienbildern. Und sogar Ignatius von Loyola, der rechts in einer Seitennische steht, lächelt. Aber ist es ein Zufall, oder stand der Künstler – ein Mitglied der »Kompagnie« – unter einem inneren Zwang? – Das Lächeln des hölzernen Ignatius hat etwas Gezwungenes, und aus diesen tief in den Höhlen liegenden dunklen Augen spricht weit mehr Menschenverachtung als Menschenliebe.
Der alte Vorsteher geht voraus und führt uns in die Schulklassen. Sie sind das Merkwürdigste. In wenig anderen Lehranstalten dürfte es Physik- und 237 Chemieklassen geben wie diese hier. Zu jeder dieser Klassen gehört ein großer Saal mit hohen Glasschränken, in denen an Flaschen und Instrumenten vorhanden ist, was Chemiker und Physiker nur irgend wünschen können. Das sind nicht Klassen, das sind Laboratorien und Museen. Große Apparate zum Studium der Akustik und alles, was ein Elektrotechniker braucht. Man denke, daß in diesem Physiksaal der Jesuiten ein ganzer Schrank bereits dem Studium der Röntgenstrahlen gewidmet ist! Und dann ist ein naturhistorisches Museum da mit Steinsammlungen, Skeletten von Tieren und Menschen, Schränken voll ausgestopfter Vögel, voll Spiritusflaschen, in denen tote Amphibien aufbewahrt sind, voll riesiger Herbarien. Aber dazwischen, wie herverirrt aus einer anderen Welt, steht auf dem akustischen Apparat oder zwischen den Skeletten dann und wann ein buntes Holzbild der Mutter Maria.
In dem luftigen großen Speisesaal sind die langen Tische für hundert Zöglinge gedeckt. Alles ist freundlich und spiegelblank. Oben im ersten Stock sind die Schlafräume. Sie liegen nebeneinander, Tür neben Tür, wie kleine Badezellen. Ein Fensterchen ist in jeder Tür, so daß der wachhabende Pater von außen den jungen Zellenbewohner beobachten kann. Das Bett und der Waschtisch füllen den kleinen Raum beinahe aus. Über jedem Bett sind farbige Heiligenbilder an die Wand geheftet, und daneben Photographien von Vater, Mutter und Schwester.
Wie wir über den großen Hof zum Garten gehen, tollt gerade, lachend, vergnügt und richtig bubenhaft, eine Bande von etwa vierzig Knaben vorbei. Sie 238 stürmen zum Turnsaal und haben es so eilig, daß die weißleinenen Staubmäntel lang hinter ihnen herflattern. Noch als wir im Garten stehen – einem schönen, terrassenförmig am Hügel niedergehenden Garten mit Goldfisch- und Ententeich, schattigen Lauben und sauber gepflegten Beeten – hören wir das Lärmen und Lachen. Und der junge Jesuitenpater verzieht seinen breiten Mund zu einem Lächeln und nickt mir zu, als wollte er mir zu verstehen geben: »Da sage noch einer, daß wir Duckmäuser und blasse, unfreie Menschenkinder erziehen!«
* * *
Nein, wahrhaftig, von dem Bilde der bleichen kleinen Infantin und der kalten Askese Eskurials ist man in Chamartin de la Rosa weit entfernt! Die Jesuiten wissen, was für ihre Zeit sich schickt.
Sie wissen, daß man heute gesunde, kräftige Kinder sehen will. Und sie haben bemerken können, daß es viel fruchtbarer, viel nützlicher ist, solche Kinder heranzubilden. In Frankreich erziehen sie die Söhne des Adels heute weit mehr mit kriegerischen Spielen, in Reit- und Fechtstunden, als mit Bibelsprüchen und in Gebetstunden. Sie bilden kräftige Menschen heran, durch die sie das öffentliche Leben, und Offiziere, durch die sie die Armee beherrschen. Beinahe all die Generalstäbler, die man im Zolaprozeß aufziehen sah, sind aus Jesuitenkollegien hervorgegangen. In Spanien haben die Jesuiten fast ein freies Feld vor sich gehabt, denn der Laienunterricht ist sehr schlecht – er ist vor allen Dingen rein mechanisch, und die in sehr mittelmäßigen Seminarien ausgebildeten Lehrer begnügen sich zumeist damit, ihre 239 Schüler ganze Bücher auswendig lernen zu lassen. . . . Seit 1880 ist den Jesuiten der Aufenthalt in Spanien gesetzlich wieder gestattet, und heute bereits besteht fast in jeder Stadt ein reich ausgestattetes Jesuitenkollegium.
Ist es ein Wunder, wenn jeder Familienvater, dem seine Mittel es erlauben, seine Söhne lieber zu den reichen Jesuiten schickt als zu den armen Professoren? Wer kann sagen, daß die Kinder in diesen Kollegien schlecht aufgehoben sind? Und die Wissenschaften? Sind die Jesuiten nicht viel weiter in allen Wissenschaften als diese halbgebildeten Laienlehrer – haben sie nicht herrliche Chemieklassen, pompöse Physiksäle, repräsentieren sie nicht den wahren Fortschritt, operieren sie nicht bereits mit Röntgenstrahlen?
Ja, sie operieren heute mit den Röntgenstrahlen, wie sie einst mit den Bannstrahlen operierten, und das Interessante ist, daß sie mit den beiden Methoden zum gleichen Ziele gelangen. Niemand hat es so gut verstanden wie sie, daß unter geschickter Leitung alle Wege nach Rom führen. . . . 240