Theodor Wolff
Der Marsch durch zwei Jahrzehnte
Theodor Wolff

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Das Exil und Sokrates

In dem Giardino Publico von Lugano befindet sich, wenige Schritte vom See, ein marmorner Sokrates, von einem russischen Bildhauer geschaffen und von einer russischen Dame der Stadt geschenkt. Es ist der sterbende oder schon tote Sokrates – er hat den Schierlingsbecher geleert, das Gift hat die Wurzeln des Lebens zerfressen, der starke Körper ruht, nun mit erschlafften und unbeherrschten Muskeln, lang ausgestreckt in einem Lehnsessel, die Arme hängen an den beiden Seiten des Sitzes entkräftet herunter, der merkwürdige Silenskopf, in dem Aristophanes nur eine lächerliche Häßlichkeit sehen wollte, senkt sich leicht nach vorn. Die derbe, schwere Gestalt mit den breiten Lastträgerschultern ist noch die des ehemaligen Soldaten, des Hopliten, dem in Thrazien die Strapazen des Winters und des Sommers nichts anhaben konnten, und der Kopf mit der gewölbten Stirn, der groben, an der Spitze abgeplatteten Nase, den dicken Lippen und dem krausen Bart scheint noch der Wohnsitz des eigenwilligen, störrischen Geistes zu sein. Wenn man vor dem stark wirkenden Bildwerk verweilt, kann man sich mühelos vorstellen, wie dieser hartnäckige Moralprediger, hinter dessen gemauertem Schädel eine sehr begrenzte, aber in sich abgerundete Gedankenwelt lebte, im Schatten der Säulenhallen die geehrtesten athenischen Bürger am Gewandtuch festhielt und ihnen durch dialektisch verzwickte Fragen und ein umständliches Examen beweisen wollte, daß sie in kläglicher Oberflächlichkeit nur übernommene Worte nachsprächen und weder den Unterschied von gut und böse, von schön und häßlich wüßten, noch den Unterschied zwischen Mut und Feigheit, oder den Sinn, den Inhalt der Begriffe Frömmigkeit, Redlichkeit, 353 Gerechtigkeit. Man sieht ihn auch, wie er in seinem Prozeß vor den Dikasten durch seine aggressive ironische Sprache das Todesurteil herausforderte, die Anschuldigung der Gotteslästerung und der Jugendverführung mit anderen Anklagen erwiderte und den Richtern, die nur ungern den strengsten Spruch fällten, gar keine Möglichkeit zur Milde ließ. Sicherlich irrten Xenophon und seine anderen Anhänger nicht, wenn sie annahmen, daß er sich diesen Tod wünschte und ihn suchte, weil er siebzig Jahre alt war, vor den ersten Anzeichen des Verfalls in voller Kraft scheiden wollte, allen ein Beispiel zu geben gedachte und ein Ende, das auf dem Wege der Zeit eine leuchtende Spur zurücklassen müßte, für das schönste und glücklichste hielt. Jetzt waren die dreißig Tage vorüber, in denen der Verurteilte im Gefängnis unablässig mit der ganzen Schar der Freunde und Schüler, mit Phaidon, Kriton, Hermogenes und all den andern über die Moralprobleme und über die Unsterblichkeit der Seele diskutiert hatte, und vor Sonnenuntergang hat der Wächter ihm weinend – wieviel Humanität und Kultur auch noch in den scheinbar unhumansten Momenten Athens! – das Zeichen gegeben, das die philosophischen Reden abbrach und hinüberleitete zur philosophischen Tat. Sokrates hat das Gift getrunken, hat sich niedergelegt und ausgestreckt, die Freunde haben bis zuletzt, ihre Trauer schlecht niederkämpfend, zu ihm gesprochen, Kriton hat ihm die Augen zugedrückt. Heute weiß jeder, daß den unantastbaren und angeblich beleidigten Göttern – und dies ist eine Lehre, die dem Sokrates fern lag – weder die Vernichtung des reinen Moralpädagogen noch diejenige der wirklichen subversiven Elemente sehr viel geholfen hat. Denn bald darauf waren sie nur noch Theaterfiguren, mit denen die wandlungsfähige Menschheit völlig respektlos verfuhr.

 

An dem benachbarten Lago Maggiore ist auf dem Hügelzug über Ascona der Zahl der schnell aufgeschossenen Villen und Landhäuser vor nicht langer Zeit ein kleines Haus hinzugefügt worden, in halber Höhe der Steigung und ein wenig abseits von der Fahrstraße, die hinauf nach Monte Verità 354 führt. Es ist ein einfaches, freundliches Wohnhaus, unbeeinflußt von dem modernen Stil, den die Architekten von Ascona bevorzugen, aber in sehr schöner Lage und in einem Garten mit großen Blumenbeeten und alten Bäumen, die in der hinabgehenden schrägen Hügelwand wurzeln und dort das Grenzbollwerk des hübschen Besitztums sind. An dem Augusttag, an dem ich den Eigentümer besuchte, blühten in den gradlinigen Beeten große rote und lila Dahlien, Astern in vielen Farben und rote Salvien, dickbuschige Massen, jede Blumenart mit gärtnerischer Aufmerksamkeit gezüchtet und von der anderen getrennt. Neben und hinter dem Hause waren die Gemüseanlagen, mit Bohnenranken, Erbsen an Stöcken, Gurken zum Einmachen, Kohl und Salat, und es gab dort sogar, eine Seltenheit in der Umrahmung dieser Villen, ein bescheidenes Kartoffelfeld. Von der behaglichen Balkonterrasse, auf der wir saßen und den hellen Landwein tranken, sah man die malerisch gewundenen Ufer unten, die hier breite, smaragdene Fläche des Lago Maggiore und drüben die Kette der Berge und dicht belaubten Vorhügel, hinter denen, dem Blick verborgen, der See von Lugano liegt. Diese Berge hatten das duftig Ferne, Unwirkliche, mystisch Aufgelöste, den besonders am Morgen und am späten Nachmittag immer neu überraschenden Zauber des Tessin, in dem die herbere Luft der Schweiz, wie zur glücklichen Vereinigung und Verschmelzung, mit dem festlichen Licht des Südens zusammentrifft.

Ministerpräsident Otto Braun

Ministerpräsident Otto Braun

Der Besitzer und Bewohner dieses Hauses ist Otto Braun, der bis zum 20. Juli 1932 preußischer Ministerpräsident und nach allgemeiner Ansicht die stärkste Persönlichkeit der republikanischen Periode war. Seine Gegner hatten ebenso wie seine Freunde eine sehr hohe Meinung von seinen staatsmännischen Fähigkeiten, und wenn sie zornig über seine Tyrannei klagten und ihn den »Zar von Preußen« nannten, so lag darin eigentlich noch mehr Anerkennung als politischer Haß. Die Kraftfülle seiner äußeren Erscheinung, der breitschultrigen großen Gestalt, die immer die Umgebung überragte und sich neben der schwerer beweglichen Figur Hindenburgs behaupten konnte, trug dazu bei, daß er als ein 355 mächtiger, unerschütterlicher Volksregent erschien. Auch der ostpreußische Sprachklang und all das sonstige Ostpreußische in seinem Wesen wirkten bei diesem Eindruck mit. Freilich, die Energie, als deren Verkörperung er dastand, ließ in der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit nach, die innere Mechanik funktionierte nicht mehr so regelmäßig, schließlich war eine gewisse Unlust nicht zu verkennen. Der fortwährende Pflegedienst am Krankenstuhl einer gelähmten Gattin, die seine Anwesenheit nicht lange entbehren wollte, beanspruchte einen Teil seiner Spannkraft und seiner Aufmerksamkeit. Bevor diese Ermattung des Willens eintrat und das Interesse an dem Staatsgeschäft sich abschwächte, konnte er, dessen Intelligenz und Talent ungedrillte Gaben der Natur waren, mit Recht als ein »geborener« Regierungschef gelten, und jedenfalls ging eine ungewöhnliche Autorität von der Persönlichkeit dieses »Tyrannen« aus. Der Vorwurf, daß er zu viele unfähige und taktlose Parteigenossen auf wichtige Verwaltungsposten setzte, war begründet, aber die Schmarotzerpflanzen gedeihen bekanntlich nicht nur auf den Bäumen des Sozialismus, und er selber lebte sehr einfach und sparsam, liebte kein anderes Vergnügen als die Jagd und wurde – so streng urteilten antirepublikanische Sittenrichter – schon dreister Herrenlaune bezichtigt, wenn er einmal in den staatlichen Forsten der Schorfheide einen Hirsch und ein paar Rehe schoß. Übrigens betätigte er seine sozialistischen Grundsätze nur bei mancher Ämterbesetzung, er hatte auf die mitregierenden Koalitionsparteien Rücksicht zu nehmen, begnügte sich mit der Sorge für eine gewissenhafte Finanzwirtschaft und mit allmählichen Verbesserungen, große soziale oder kulturelle Reformen konnte er nicht anbahnen und er verzichtete auch auf den Versuch. Er war der Regierungschef eines demokratischen Staatssystems, dessen bürgerlicher, kapitalistischer Oberbau von den sozialistischen Arbeitermassen, den einzigen soliden Stützen, getragen wurde und auf diesen Karyatidenrücken breit und stattlich in die Höhe wuchs. In Preußen waren, ganz wie im Reich, die Versprechungen der Verfassung sehr bald dem Herzen 356 so fremd und dem Verstand so unverständlich geworden wie die naiven Schwärmereien, die einmal im Töchterpensionat die eine Freundin der anderen in das Album schrieb. Man konnte zur Entschuldigung auch immer sagen, die Uneinigkeit in der Arbeiterschaft, die allerdings weit mehr ein Zank zwischen den rivalisierenden Parteimandarinen war, habe die Verwirklichung der schönsten Absichten unmöglich gemacht. Das Preußen Otto Brauns erschien aber zwischen den anderen deutschen Staaten lange als die sichere, uneinnehmbare republikanische Festung, denn wenn auch sonst vieles vernachlässigt sein mochte, so war doch die Polizeimacht musterhaft aufgebaut, die Ordnung vortrefflich organisiert, und der Kommandant, ebenso wie einige Unterkommandeure, ganz sicherlich zur Verteidigung bereit. Es war die schlimmste Enttäuschung, daß dann diese preußische Festung sich widerstandslos dem Feinde ergab. Otto Braun fuhr ziemlich frühzeitig – allzu frühzeitig, wie man sagen muß – im Auto über die Grenze in die Schweiz. In Erinnerung an manches knorrige Jagdgespräch hielt Herr von Hindenburg, dessen Gedächtnis sonst oft weniger zuverlässig war, über ihn seine schützende Hand. So erreichte der stärkste Mann Preußens unbehelligt und unter erträglichen Umständen hier am Lago Maggiore das Exil. Den Umweg über Waterloo hatte die Republik sich erspart.

Der Ostpreuße Otto Braun, der in früheren Zeiten den Setzerberuf ausübte, hatte immer eine große Liebe für die Landwirtschaft. Er war auch, bevor er Ministerpräsident wurde, Landwirtschaftsminister im preußischen Kabinett, und als er andere Dinge schon recht phlegmatisch behandelte, interessierte er sich noch lebhaft für die Probleme der Siedelung, des Fideikommisses und für alles, was mit agrarischer Produktion, Wertsteigerung und Bodenverteilung zusammenhing. Das Stück Land auf dem Hügel bei Ascona, von dem er den ersten Streifen schon besaß, hat er mit geretteten Ersparnissen erweitern können. Nach seiner Ankunft in diesem Asyl hat er die Erde ausgerodet, von Steinen, verwurzeltem Gestrüpp und anderen Hindernissen gesäubert, anbaufähig gemacht und, nach und nach, planvoll bepflanzt. 357 Er hat das alles fast ganz allein getan, als wäre er niemals etwas anderes als Gärtner und Landarbeiter gewesen, und auf dem ziemlich umfangreichen Terrain wurde aus einer Wildnis ein fruchtbares und blühendes Eremitenparadies. Die Sonnenglut hat bei der Arbeit auf ihm gelastet, einmal hat ihn die Sonne so getroffen, daß er sich niederlegen mußte, aber sein kräftiger Körper hat sich schnell wieder erholt. Ich fand ihn athletischer als je, mit leicht gebogener Rückenlinie, aber gebräunt und frisch. Seine Frau war gestorben, eine sympathische Hausdame hatte die Sorge für die bescheidene Wirtschaft übernommen. Mit begreiflichem und begründetem Stolz zeigte er mir alles, war er geschaffen hatte, von den prachtvoll farbigen Blumenbeeten bis zum Kartoffelfeld. Er regierte nicht mehr Preußen mit seinen dreimalhunderttausend Quadratkilometern und fast vierzig Millionen Bewohnern, aber er verwaltete seinen gesicherten Hügelplatz, zu dem kein Kampflärm hintönte, in heiterer Genügsamkeit. Nach allen seltsamen und oft schlimmen Abenteuern gelangt Candide, der Schüler des optimistischen Philosophen Pangloss, zu der einfachen Weisheit: »Bebauen wir unseren Garten«, »Cultivons notre jardin«. Auch Otto Braun, der vielleicht Voltaire nicht gelesen hat, ist vom Gipfel der Macht mit dieser anspruchslosen Lebensregel zurückgekommen.

Wie der Philosoph Pangloss, der nicht Wächter des Staates und Befehlshaber der Massen gewesen war, hat Otto Braun sich mit dem schlichten Hausgewand dieser Weisheit umhüllt. Sie unterscheidet sich wesentlich von dem Ausklang des Philosophen Sokrates. Viele Menschen haben in dieser Zeit den Schierlingsbecher geleert. Aber es ist nicht korrekt, in dieser Verbindung von einem Schierlingsbecher zu sprechen, denn man nennt da einen Museumsgegenstand, der, verglichen mit den Gebrauchsobjekten späterer Zeiten, eine unbestreitbare Zierlichkeit besaß. In einem Strafverfahren, wie es gegenüber dem Sokrates bis zum Augenblick seines Todes angewendet wurde, hätte man heute nichts anderes gesehen als das törichte Walten einer unmännlichen, weichlichen Justiz. Eine sonderbare Gefängnisordnung, die 358 dem Verurteilten gestattete, bis zuletzt seine Anhänger bei sich zu versammeln und ihnen seine umstürzlerischen Ideen zu predigen, und wie muß das Aufsichtspersonal beschaffen gewesen sein, wenn ein Wächter sich von dem Schicksal eines Gefangenen bis zu Tränen rühren ließ! In der Reihe der vielen Offenbarungen, die man einigen Gelehrten der neuen Zeit verdankt, nimmt einen besonderen Platz die Entdeckung ein, daß hellenische Kultur und Kunst ursprünglich von den alten Germanen stammten, die aus ihren Wäldern niederstiegen, und deren höhere Lebensfeinheit sich auf das Griechentum übertrug. Das sind interessante historische Funde, aber die Zusammenhänge erscheinen nicht ganz klar. Im übrigen mag der Mut, der zahlreiche unglückliche Schiffbrüchige der Republik in Tod oder Gefangenschaft führte, gewiß von sehr verschiedener Art gewesen sein. Er war überlegt in freiem Geist oder unbewußt und fahrlässig, ein Trotz der Überzeugung, der nicht weichen will, oder jener Selbstbetrug, in dem man versichert: »mir wird nichts geschehen«, und dann zu spät die Koffer packt. Es hausen in den Dantischen Bezirken die, von denen wir wissen, deren Worte man in der Vergangenheit vernahm, deren Namen jedem bekannt waren und die wir jetzt, wenn die Gedanken sie aufsuchen, so anders vor uns sehen. Und hinter ihnen die ganz Unberühmten, die Unscheinbaren, die niemals im Vordergrund standen und deren Namen zum ersten Mal in der Zeitung genannt werden, wenn sie mit Zuchthaus bestraft oder zum Verschwinden aus dieser Welt verurteilt worden sind. Sokrates wurde durch die eindrucksvolle Theaterszene seines Todes das Symbol der Standhaftigkeit. Die Standhaftigkeit ist gewiß um so heroischer, je weniger sie sich öffentlich zeigen kann.

 

Als ich auf dem Balkon des kleinen Hauses Otto Braun gegenüber saß und er den hellen Wein in die Gläser goß, hatte ich das Gespräch nicht gewaltsam auf seinen eigenen Fall hinlenken wollen. Aber er hatte ersichtlich das Bedürfnis, sich auszusprechen, seine Sache zu erklären, sich das herunterzureden, was er wie einen Druck in sich trug. 359 Man sah ihm keine Unruhe an. Aber sie war in ihm, und vielleicht arbeitete er nur mit so übermäßiger körperlicher Anstrengung, um sie niederzuzwingen. Seine früheren Parteifreunde hatten ihm ihre Mißbilligung, ihre Enttäuschung deutlich kundgegeben, auch diejenigen, die selber schnell davongefahren waren und in Sicherheit saßen, hatten ihn ausgestrichen, ihn eingeschaufelt, kannten ihn nicht mehr. Es flüsterte im Schilf, »es rauscht in den Schachtelhalmen«, und die Vögelein im Walde zwitscherten es auch. Er könnte sagen, daß Karl Marx, Friedrich Engels und die anderen Großen der Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz Bismarcks sich nicht einsperren ließen, sondern rechtzeitig ins Ausland gingen, und daß Lenin und Trotzki vorsichtig in Zürich weilten, bis die Revolution in Rußland das Zarentum und seine Polizei vertrieb. Wahrscheinlich würde dann geantwortet, Karl Marx, die sozialistischen Führer der alten Generation und Lenin und Trotzki seien nicht Ministerpräsidenten gewesen, und ihnen habe man nicht das höchste Amt und nicht den Schutz der Freiheit anvertraut. Er könnte einwenden, Hannibal, Karthagos oberster Feldherr, sei nach Asien zu Antiochus geflohen. Aber Hannibal floh, um zu handeln, und pflanzte nicht Salat.

Otto Braun berief sich auch nicht pomphaft auf diese historischen Beispiele, versteckte sich nicht hinter diesen Statuen, sondern schilderte die Vorgänge unrhetorisch, ohne Aufputz und ohne etwas von dem zu verschweigen, was sich gegen ihn auswerten ließ. Er erzählte, wie er schon nach dem nationalsozialistischen Wahlerfolg vom 24. April 1932, der nun auch seine Majorität im preußischen Parlament zertrümmerte, zurücktreten wollte, alle Vorbereitungen traf, seinen Schreibtisch ausleerte, und wie er sich immer wieder gezwungen sah, in einer unmöglichen Lage, ohne den Schatten einer Regierungsgewalt, noch auszuharren. Er sagte, wie er nach dem Einzug Hitlers in dem Wagen, den einer seiner Ministerialräte steuerte, ohne bemerkenswerten Zwischenfall nach Ascona kam. Er erzählte, aufrichtig und wahrheitsgetreu, wie ihn dann eine Abordnung der sozialdemokratischen Parteileitung aufgesucht und gedrängt 360 habe, zu der Reichstagssitzung, in der sich das neue Regime akklamieren ließ, in Berlin zu erscheinen, sich noch einmal an der Spitze seiner Genossen zu zeigen, und warum er sich geweigert habe, diesen Wunsch zu erfüllen. Wäre es denn etwas anderes geworden, als eine zwecklose, ohnmächtige, armselige Demonstration? Und nicht einmal eine Demonstration wäre es gewesen, denn man hätte ihn im Reichstag nicht sprechen lassen, hätte ihn niedergebrüllt, die Zeitungen hätten den unerheblichen Störungsversuch mit einer spöttischen Zeile abgetan. Völlig überzeugend waren diese Argumente nicht. Ein tollkühnes Unternehmen wäre die Reise nach Berlin nicht gewesen, denn in jenen Tagen war die Überwachung sozialdemokratischer Parteihäupter noch nicht organisiert, diejenigen Parlamentarier, die aus dem Ausland mit beschwertem Gemüt zu der Sitzung nach Berlin fuhren, wurden dort nicht zurückgehalten, und über Otto Braun hätte, wie über Achill die Göttin Athene, ein ehrwürdiger Protektor gewacht. Die Leute, die ihre eigene Haut nicht gern hergeben und nur die eines anderen zu Markte tragen möchten, sind eine unerfreuliche Spezies des Menschengeschlechts, und viele, die sich tapfer gebärden, haben, genau gesehen, nur diese Tapferkeit. Niemand durfte von Otto Braun verlangen, daß er ein Märtyrer werden solle, und sehr vernünftigerweise haben die ersten christlichen Bischöfe gefunden, daß das sinnlose Martyrium, dem sich hysterische und ehrgeizige Glaubensfanatiker hingaben, nicht verdienstlich und dem Himmel nicht wohlgefällig sei. Jedoch der Ausflug zu der letzten parlamentarisch inszenierten Zeremonie, an der die Gegner der neuen Machthaber teilnehmen konnten, hätte kaum so schwere Folgen gehabt. Die Geste war kindlich, und mit und ohne Trommelwirbel beim Niedergehen der Fahne bleibt eine Kapitulation doch eine Kapitulation? Aber es ist nicht ganz gleichgültig, wie ein solches Ereignis in der Phantasie haftet, und die Völker beurteilen, wenn sie eines Tages zurückblicken, das große Drama nach irgend welchen kleinen Nebenerscheinungen, nach einer Episode im Spiel, und illustrieren sich die Seiten der Weltgeschichte mit einer unwichtigen Einzelheit. Von 361 den Bedürfnissen der Phantasie und ihrer Bedeutung haben die vortrefflichen Aufseher der Republik zu wenig gewußt. Und dann – Otto Braun hatte sich, wie schon gesagt, sehr schnell und sehr frühzeitig ins Ausland begeben, und das hatte einen fatalen Eindruck gemacht. Er hätte nicht gleich so weit zu fahren brauchen, München zum Beispiel war zunächst noch ein ganz angenehmer Ort, man konnte dort am 5. März, bei der Reichstagswahl, noch in der aufrechten Haltung eines freien Bürgers seinen Stimmzettel abgeben, die braunblusigen Gesellen mit den breiten Hakenkreuzbinden und den hohen Stiefeln musterten einstweilen nur in den Vorräumen und auf der Straße, stramm gereckt und wachsam, jeden eintretenden Wähler, und erst vier Tage später, am Abend des 9. März, wurden sie zum Angriff vorgeschickt. Am Morgen des 5. März, an diesem Morgen der Entscheidung, teilte der Rundfunk dem Volke mit, daß der preußische Ministerpräsident im Auto Deutschland verlassen und glücklich die Schweiz erreicht habe, und diese Nachricht wurde sechsmal, zehnmal, immer wieder angesagt. Für die Sozialdemokratie und für alle Gegner des Nationalsozialismus war es kein kleiner Schlag. Der erste im Staat, der erste im Rat, und der erste in der Schweiz? Daß die Parteifreunde mit diesem unfeierlichen und wortlosen Abschied nicht zufrieden waren, ließ sich verstehen.

Otto Braun sagte mir, warum er, in Preußen, die Republik nicht verteidigen konnte, und wie er bei jedem Versuch auf ein Hindernis, auf einen Widerstand stieß. Dabei brachte er mancherlei vor, was eine gerechte Kritik nicht unbeachtet lassen darf. Die zu große Selbständigkeit und die politische Eigenwilligkeit der einzelnen deutschen Staaten vereitelten und durchlöcherten jedes einheitliche Verteidigungssystem. Eine Agitation, die man aus Preußen vertrieb, fand nebenan ihr Betätigungsfeld. Man verfolgte diese umstürzlerische Agitation, klagte sie an. Auf dem benachbarten deutschen Boden war sie straffrei, wurde sie begünstigt und bejubelt, hieß nicht mehr Hochverrat, sondern nationale Tat. Überall Schlupfwinkel, das ganze Land eine Fuchshöhle, aus der es sich, wenn der eine Ausgang versperrt war, so 362 bequem auf zwanzig anderen Wegen entweichen ließ. Und während jeder Staat, der eine verfassungsfeindliche Mehrheit und eine ebensolche Regierung hatte, entzückt war, die von einem verfassungstreuen Nachbarn beschlossenen Maßregeln unwirksam machen zu können, war die Regierung des Reiches jeder energischen Anstrengung abgeneigt. Ein Teil der Beamtenschaft empfing seine Befehle von den Ministern des Staates, und der Staat zahlte ihm sein Gehalt. Andere große Gruppen waren Reichsbeamte und brauchten nur auf das zu hören, was aus den hohen Sphären des Reiches herniederklang. Den preußischen Beamten wurde von ihrer Regierung verboten, sich der nationalsozialistischen Partei anzuschließen, und wenn sie an einer nationalsozialistischen Versammlung teilnahmen, konnte es ihnen schlecht ergehen. Aber die Beamten der Post und der Eisenbahn und die Herrschaften aus den Reichsministerien durften mit der Hakenkreuzfahne durch die Straßen ziehen. Diese grotesken Zustände hatten sich aus einer Verfassung in die andere, aus dem Deutschen Bund in das Kaiserreich, aus dem Kaiserreich in die Republik hinübergeschleppt. In sonnigen und ruhigen Zeiten hielten alle diese Glieder einigermaßen einträchtig zusammen, aber als die trüben Tage kamen, strebten sie selbstsüchtig auseinander, und in der Gewitterstimmung löste sich der ganze Körper schwammig auf. Nur eine rücksichtslose Faust konnte fünfzig verschiedene Herrschaftsgelüste niederzwingen. Daß sie es tat, müssen wir anerkennen. In dem Ausbruch der Gewalt flog das Gerümpel, mit dem das Haus vollgestopft war, in die Luft. Leider flogen auch sehr viele Schmuckstücke des Hauses, die vom Geist in jahrhundertelangen Mühen eroberten Trophäen und andere Schätze der Kultur. Zwischen deutschen Staaten, die schon mit dem Feinde paktierten, und Regierungen des Reiches, die sich auch zu mancher feindlichen Brust hingezogen fühlten, war das republikanische Preußen eingeklemmt. Es gebe, pflegten Männer wie Brüning zu versichern, gut gesinnte Elemente, die sich in ihrem Patriotismus nur auf falsche Wege verirrt hätten, und die man nicht zurückstoßen dürfe, und mit dieser schönen und frommen 363 Begründung verhinderte man, unfähig zum Handeln und zum Entschluß, so ziemlich alles, was vielleicht die übelgesinnten Elemente hätte genieren können.

Der Reichskanzler Brüning wurde von Herrn von Papen erledigt, als der Reichspräsident von Hindenburg ihm, wie schon vorher den eigenen Wählern, entfremdet worden war. Herr Brüning hatte diese Anhänglichkeit für unerschütterlich gehalten wie einen Felsen, aber man glaubt an Felsen und scheitert daran. Herrn von Papen erledigte Herr von Schleicher, den dann wieder Herr von Papen aus dem Reichskanzlerpalais vertrieb. In all diesem Wechsel wurde von der Treue gesprochen, die als Stern mitwandert, wie die Liebe über der Inquisition. Die Persönlichkeit des Herrn von Schleicher hatte Züge, die auch dann angenehm wirken konnten, wenn man hinter ihnen die Mängel und Schwächen sah. Er hatte den nicht übermäßig durchgeistigten Humor eines frischen soldatischen Draufgängers, sprach mit heiterer Verachtung von den Leuten, die immer sagten, dieses und jenes sei unmöglich, und obgleich er die Probleme nicht bis in ihre Tiefen durchdrungen hatte, war er aufrichtig in seinem Ehrgeiz, der »soziale General« zu sein. Er war nicht steif, nicht lebensfremd, ein genußfroher Gesellschafter und ein Optimist, der sich und seine Macht überschätzte und – eine Eigentümlichkeit all dieser Leute, die einander Fallen stellten – die Arglist der Nebenmenschen unterschätzte, ja sogar eine gewisse Anständigkeit für einen unveränderlichen Bestandteil ihrer Seele hielt. Er galt allgemein als ein mit allen Wassern gewaschener Intrigenspinner, und ich glaube, daß er sich bemühte, diesen schlechten Ruf, an dem er Gefallen fand, zu behalten und zu steigern, und ihm zuliebe, oder durch ihn verführt, es an der nötigen Umsicht fehlen ließ. Seine Worte waren nicht unbedingt Goldes wert, und nachdem er den General Gröner zum Verbot der braunen Uniformen gedrängt hatte, brachte er das Verbot und den Kameraden zu Fall. Dergleichen war eben für ihn, wie für seine Rivalen, Realpolitik. Otto Braun meinte, man hätte Herrn von Papen unterstützen sollen. Das haben auch Bankdirektoren und andere Personen gewünscht, denen Grundsätze 364 nicht so wichtig zu sein brauchen wie der Börsenkurs. Ich fragte Otto Braun, ob seiner Meinung nach an dem Tage, als Herr von Papen die preußischen Minister durch Militärgewalt aus ihren Büros herausholen und das Polizeipräsidium besetzen ließ, kein Widerstand möglich gewesen sei. Am Morgen jenes Tages waren diejenigen, die den Streich führten, nicht ganz frei von der Befürchtung, die preußische Regierung könnte einen Gegenschlag riskieren, und es könnte, wie beim Kapp-Putsch, zum Generalstreik kommen. Otto Braun erwiderte, ein Versuch, den Kampf mit der Macht des Gegners aufzunehmen, wäre sofort kläglich mißglückt. Die Mehrheit der preußischen Polizei sei damals gewiß verfassungstreu und zuverlässig gewesen, aber bei einem Generalstreik hätte Herr von Hindenburg den Belagerungszustand proklamiert, und damit wäre der Oberbefehl über die Polizei auf die Reichswehrgeneräle übergegangen. Die Arbeiterschaft, durch die endlose Wirtschaftskrise physisch und moralisch geschwächt, hätte nicht allein gegen alle schwergerüsteten Gewalten, gegen die Kanonen der Reichswehr, gegen die bewaffneten Scharen des Nationalsozialismus und des Stahlhelm kämpfen können. Ein nicht sehr bedeutendes Waffenlager sei wohl als polizeilicher Reservevorrat vorhanden gewesen, wäre aber beim Wechsel der Kommandogewalt den Gegnern in die Hände gefallen. Man habe nur die Wahl zwischen der blutigen Niederlage und der unblutigen Unterwerfung gehabt und habe, um nicht für eine aussichtslose Sache die proletarischen Kämpfer in den Tod gehen zu lassen, die Unterwerfung gewählt. Jede andere Handlungsweise wäre verbrecherisch gewesen, und wenigstens dieses Unglück habe man dem Volke erspart . . . Es ließ sich nichts gegen diese Darstellung einwenden, oder doch nichts gegen die Auffassung, daß an diesem 20. Juli 1932 Generalstreik und Straßenschlachten nur zu einem furchtbaren Morden und Massenelend geführt und die aus Arbeiterleichen aufgetürmten Barrikaden den Feind nicht verhindert hätten, siegreich einzudringen. Am 20. Juli 1932 konnte die preußische Republik nicht mehr Schlachten gewinnen. Früher hätte sie ihre Verteidigungsarmee bilden müssen, 365 und gewiss wäre es möglich gewesen, die jungen und kräftigen Gestalten aus den Millionen der Arbeitslosen anzuwerben und zu formieren, bevor sie der Gegner sammelte, ernährte, einexerzierte und zu braunen Regimentern zusammenschloß. Aber das nötige Geld hatten und fanden immer nur die anderen, diejenigen Reichen, bei denen man anklopfte, wollten für den Schutz des Staates, der ihr eigener Schutz gewesen wäre, nichts hergeben, und eine sparsame Finanzverwaltung hütete mit pedantischer Korrektheit den Kassenschatz. Man schuf aus den Gewerkschaften, dem »Reichsbanner Schwarzrotgold« und radikaleren Bünden die »Eiserne Front«. Ich habe fast all ihre großen Kundgebungen gesehen, die auf dem weiten Platz des Lustgartens, zwischen Schloß und Museum stattfanden, und jedesmal wurden hunderttausend, hundertundfünfzigtausend oder noch mehr Teilnehmer gezählt. Aber wenn die hunderttausend oder hundertundfünfzigtausend die »Internationale« sangen, klang es, als stimmten sie das »Alle Seelen ruhn in Frieden« oder das »Ave Maria« an. Und wenn man sie genau und nahe betrachtete, waren in diesem ungeheuren Heer die jugendlich starken Bataillone, die verwegenen Gesellen mit den stählernen Muskeln und entschlossenen Mienen, doch nur eine Minderheit. So vielen Körpern und Gesichtern war die lange Misere der Wirtschaftskrise aufgezeichnet, Hunger, Kälte, die immer vergebliche Suche nach Arbeit, das nächtliche Elend der Obdachlosigkeit oder der muffigen Schlafstellen und überfüllten Asyle hatten das Lebensmark und den Lebensmut zerstört. Neben den Jungen standen und marschierten die älteren Parteigenossen, anständig und pflichttreu, bekümmert und ohne Hoffnung, schweigsam unter der Last des Steines, der auf ihrer Seele lag. Da fand ich ihn wieder, in vielen Exemplaren, den kleinen Mann, der mich im Januar 1919, mit seinem Gewehr auf dem schmerzenden Rücken, zum Dönhoffplatz begleitet hatte, in jener Nacht, aus der die große Sonne aufsteigen sollte, eine ewige, für alle leuchtende Helligkeit. Ich sah ihn wieder, den anonymen Mitkämpfer, das Kanonenfutter in allen Kriegen und Bürgerkriegen, den ewigen Schlemihl in allen Krisen 366 und Revolutionen, den immer sein Recht suchenden, immer verdonnerten, verständnislos kopfschüttelnden Crainquebille des Anatole France, und abermals marschierte er willig in Reih und Glied vorbei.

Ja, es ist sicherlich gut und richtig gewesen, daß der Zar von Preußen und seine Minister an jenem 20. Juli nicht eine verspätete Kraftanstrengung machten, nicht das Volk zum Widerstand aufriefen, es nicht anspornten, für die verlorene Freiheit durch die Kugeln der Kanonen und Maschinengewehre zu fallen. Es ist auch ebenso richtig, daß ihnen zur rechtzeitigen Organisation der Verteidigung die Mitwirkung der anderen Staaten, die Unterstützung des Reiches und das Geld fehlten, aber es ist auch ebenso wahr, daß ihnen noch etwas anderes fehlte, nämlich die Leidenschaft. Die Leidenschaft, die mitreißt, voranglüht und erhitzt, und die, unnachgiebig und ruhelos, ohne Kriegsschatz Armeen zusammenbringt. Ihre Tätigkeit war in all den Jahren sehr achtungswert gewesen, aber es war die Tätigkeit solider Vormünder, sorgsamer Buchhalter und ordnungsliebender Hausverwalter, und sie glühte nicht und machte nicht erglühen. Nicht einmal in diesem Moment, als man sie aus ihren Amtsstuben hinaustrieb, waren sie leidenschaftlich erregt. Wenn die Schlußszene eines Stückes so schlecht ist, denkt das Publikum nicht mehr daran, daß in den ersten Akten manches erheblich besser war. Sie hatten keines der »historischen Worte«, die noch lange nachklingen, und diese blitzhaften Einfälle, die auch Napoleon in Fontainebleau nicht fand, stellen sich nur selten so plötzlich und ungezwungen ein. Das Schweigen unter einem niederschmetternden Schlage ist manchmal mehr wert als die immer bereite Improvisation, und ein geistvoller Mann, der sich am Grabe eines Freundes höchstens einen platten und hölzernen Ausdruck für seinen Schmerz abringt, kann uns lieber sein als der Redner, dem die Trauer glatt von den Lippen strömt. Aber die vergewaltigten preußischen Minister zeigten auch keine zornige Aufwallung, sie warfen in ihrer Sittsamkeit dem Staatsstreich und seinen Sendboten keine temperamentvolle, derbe, volkstümliche Redensart ins Gesicht. Ihr 367 Benehmen war tadellos, und sie suchten dann hinterher die juristischen Paragraphen zusammen, füllten Aktenbogen mit ihren Beschwerden und führten Prozesse wie ein Mieter, dem vom Hauswirt die Wohnung kontraktwidrig gekündigt worden ist. Als Shakespeares Richard II. sich, nicht ohne Schönheit, dem siegreichen Bolingbroke unterwerfen mußte, sagt der Abt: »Ein kläglich Schauspiel haben wir gesehen.« Aus der Vertreibung der überfallenen preußischen Regierung hätte kein Shakespeare eine Tragödie machen können.

Ob die Republik auf dem deutschen Boden lebensfähig war und ob sie unter günstigeren Verhältnissen wirklich Wurzel geschlagen hätte, ist ein vielverschlungenes Problem. So wie sie entstand und ihre Form gewann, trug sie die Keime aller Übel in sich, an denen Staatseinrichtungen zugrunde gehen. Auch die dritte französische Republik wurde auf den Schlachtfeldern der Niederlage aufgerichtet, und ihre Geburtsanzeige war vom Tage von Sedan datiert. Aber der gestürzte Kaiser war ein »Usurpator«, in den Augen aller freiheitlichen Geister noch Schlimmeres gewesen, und dann war da Gambetta, der noch einmal die Fahne des Widerstandes erhob. Die deutsche Revolution explodierte – denn die entfesselten Elemente rasen bekanntlich blind – im unglücklichsten Moment, und die Republikaner nahmen dem alten Regime und seinen Paladinen allzu gefällig die odiöse Verpflichtung ab und unterzeichneten selber den Friedensvertrag. Soviel die Republik dann auch für die Bezwingung des Chaos tat, und so wohltätig es war, daß sie dem zerrütteten Lande die Ordnung wiederbrachte – die Geburtsfehler hafteten ihr an, und sie behielt ein lahmes Bein. Der reichen Bourgeoisie, der Großindustrie und der wissenschaftlichen Elite, die niemals so angenehm lebten wie unter ihr, war sie zu plebejisch, und mancher meinte, sehr weitherzig zu sein, wenn er zu ihren offiziellen Veranstaltungen ging. Die unteren Beamten, die kleinen Kaufleute im Laden und die Budiker im Keller waren wie immer grämlich, haßten den »Proletarier«, sahen nur den Ärger, der über ihre Türschwelle trat, und jeder, der sich mit seiner Frau zankte, entlud seine Wut auf diese »verfluchte Zeit«. Die Jünglinge aus 368 den »besseren Familien« empfanden die Mitbewerber, die in Arbeiterwohnungen zur Welt gekommen waren, als lästige Konkurrenz. Früher war alles so leicht gewesen, die konservativen Papas waren nach erledigtem Examen in eine repräsentative studentische Verbindung eingetreten und dann ganz regelmäßig im Staatsdienst von einer Sprosse zur nächsten aufgestiegen, und jetzt fand man da auf allen Wegen diese Kerle von ordinärer oder dunkler Herkunft, und während man, wie der Hase in der Fabel, mit dem Igel um die Wette laufen wollte, saß der Igel heimtückisch schon am Ziel. In einer Zeit, in der jeder Beruf überfüllt, der Zudrang zu jeder Karriere enorm war, die wirtschaftliche Not täglich fühlbarer wurde, trug der Gedanke an eine Nebenbuhlerschaft, deren Bedeutung man sich übertrieb, viel zu der Verhärtung der Gemüter bei. Man muß sich immer vorhalten, daß im Friedensschluß das deutsche Gebiet sehr verkleinert worden war, Beamte, Ärzte, Lehrer, Ingenieure, Kaufleute aus den abgetrennten Landesteilen Zuflucht und Erwerb in Deutschland gesucht hatten, und daß sich das alles nun auf dem engen Raum zusammendrängte, einander auf die Füße trat und mit den Ellenbogen stieß. Einer Jugend, der man nicht genügend Platz und Arbeitsmöglichkeit geben konnte, brachte die Republik sehr schöne ideale Begriffe, wie Freiheit und demokratisches Selbstbestimmungsrecht. Aber diese Ideale, denen achtzig oder hundert Jahre früher die deutschen Burschenschaften in prachtvoller Begeisterung anhingen, waren nicht nach dem Geschmack von jungen Leuten, die in den Gymnasien auch jetzt noch einen muskelstählenden Geschichtsunterricht empfingen, und während geschickte politische Zauberer dem Publikum mit den Requisiten von vielerlei Ideologien ein Wunderland glaubhaft machen können, verstanden die republikanischen Regisseure von Inszenierungskünsten nichts. Sehr schnell hatten sich, wie es vorauszusehen war, all diejenigen, die sich in den Novembertagen versteckt hielten, wieder hervorgewagt, und von all den nun geräumten Kriegsschauplätzen waren zahllose entschlossene Gestalten mit Gewaltinstinkten, Racheschwüren und der Absicht, das ihnen zusagende 369 Kriegsgewerbe im Innern fortzusetzen, in die Heimat zurückgeströmt. Sie rissen einen großen Teil der Jugend an sich, sie mischten in das berechtigte nationale Verlangen den Nächstenhaß und die Bürgerkriegswildheit, sie kannten und lehrten den Gebrauch der Handgranaten, Flammenwerfer und Giftgase, sie waren erfahren in der Veranstaltung eines Trommelfeuers, das vor dem Sturmangriff die Reihen zerfetzt und die Gehirne der letzten Verteidiger betäubt. Sie behaupteten, nur ein verräterischer Dolchstoß habe die siegreiche Armee niedergestreckt. Die Ursachen der militärischen Niederlagen waren vollkommen klar, aber Legenden haben mehr Kraft als die Wirklichkeit. Ist man, weil Schiller es so darstellte, nicht fest überzeugt, der Republikaner Verrina habe den Fiesco in die Fluten hinuntergestoßen und dann die berühmten Worte gesprochen: »Wenn der Mantel fällt, muß der Herzog nach«? Und in Wahrheit ist Verrina ganz schuldlos, und Johann Ludwig von Fiesco, Graf von Lavagna, ist, als er während des Kampfes mit der Partei der Doria im Hafen von Genua auf die Admiralsgaleere eilen wollte, mit der morschen, zusammenbrechenden Brückenplanke ins Meer gefallen.

Indessen, die einzelnen Perioden des republikanischen Regimes waren sehr voneinander verschieden, die Stimmung war nicht immer gleich griesgrämig und feindlich, und das Barometer stand nicht immer tief. Besonders in den fetten Jahren nach der Inflation war trotz der Agitation gegen Youngplan und Dawesplan keine Umsturzgefahr in Sicht. Der Zusammenbruch der deutschen Republik begann, als in Amerika die »prosperity« zusammenbrach. Aus dieser amerikanischen »prosperity« waren die Kredite gekommen, die nach der tollen Zeit der Inflation, nach der Vertrauen erweckenden Stabilisierung, der deutschen Wirtschaft zu einer neuen Scheinblüte verholfen, die Kassen der Industrieherren gefüllt, den Unternehmungsgeist abermals ins Abenteuerliche gesteigert und dem Arbeiter guten Verdienst gegeben hatten, und auch diesem Rausch folgten wieder, grausamer als je zuvor und nun selbst für gute Nerven nicht mehr erträglich, der Bankrott, die Friedhofsstille in den Fabriken, die 370 Schrecken der Arbeitslosigkeit. Im Jahre 1925 hatte man nur 200.000 Arbeitslose gezählt, im Sommer 1928, dicht vor dem amerikanischen Donnerschlag, der die Weltwirtschaftskrise einleitete, wenig mehr als eine halbe Million. Nur die Gegner des Staates machten damals schlechte Geschäfte, und bei den Reichstagswahlen im Mai 1928 blieb der Nationalsozialismus mit 800.000 Stimmen ein anscheinend hoffnungsloses Grüppchen, weitab von allen Wegen zur Macht. Anderthalb Jahre später suchten die Enttäuschten, die aus den Arbeitsplätzen Verdrängten, nach verzweifeltem Umherirren, erst zögernd und vereinzelt und dann hastig und in Scharen, Anschluß an den Nationalsozialismus, der sie in seine Organisationen einreihte und ihnen mit seinen Lehren Brot und Stiefel gab. Stresemann war tot, die Regierung Brüning war durch tausend kleinliche Bedenken gehemmt und unfähig zu irgend einer erlösenden Tat. Alle Pläne, die ersonnen wurden, um Arbeit zu schaffen, scheiterten an dieser sterilen Neigung, die Dinge hin und her zu wenden, täglich wieder zu beraten und schließlich nichts zu tun. Ein »Aber« erstickte jeden heilsamen Entschluß. Mir für mein Teil erschien, wenn die Republik gerettet werden sollte, noch etwas anderes notwendig: die Umwandlung der Reichswehr in eine Miliz, oder die Ergänzung des verminderten Heeres durch eine Miliz. Dann konnte man alle bewaffneten Organisationen, staatstreue und staatsfeindliche, auflösen, konnte durch Eingliederung und Aufträge immerhin eine nicht geringe Zahl von Arbeitslosen ernähren und aus der geistigen und moralischen Verwirrung befreien. Berechtigte, nicht extreme und exaltierte nationale Empfindungen fanden eine Befriedigung. Und eine Miliz nach schweizerischem Muster, in der Arbeiter und Bauernsöhne, Studenten und Lehrlinge, junge Menschen aus allen Parteien und Volksschichten zusammentrafen, konnte kein Werkzeug einer politischen Richtung werden und keine Waffe gegen die Republik. Aber wenn ich in Paris den französischen Parlamentariern auseinandersetzen wollte, daß diese Reform, über die ich manchmal mit hohen deutschen Militärs gesprochen hatte, auch für Frankreich annehmbar sein müßte, 371 lehnten sogar die aufgeklärtesten Führer der Linken solche Erörterungen ab. Und wenn ich in Deutschland die Miliz forderte, ihre Vorzüge schilderte, tadelten die deutschen Pazifisten in unfreundlichen Entgegnungen diese Entheiligung ihrer Ideen.

Aber ganz abgesehen vom Verhalten der einen und der anderen, und ganz abgesehen auch von den besonderen Zeitumständen, der Inflation, der Wirtschaftskrise, der zermürbenden Arbeitslosigkeit und allen Plagen, die auf das Volk und seine Regierungen niederfielen – paßte diesem Volke der Rock, der in Weimar zugeschnitten und genäht worden war? Wir müssen zugeben, daß man ihn nicht nach den Maßen des deutschen Durchschnittsmenschen geschneidert hatte, sondern nach jenen Vorlagen in den Journalen, die ein schönes Normalkostüm darbieten, und daß er nicht sehr glücklich auf dem Körper saß. Unbeirrt durch alle Ereignisse können wir der Meinung Mommsens beipflichten, daß selbst der schlechteste Verfassungsstaat dem besten Regime eines unkontrollierbaren Einzelwillens vorzuziehen sei. Die demokratische Republik bedeutet für uns, mag ihre Spitze so oder so organisiert sein, die höchste Stufe staatlicher Entwicklungsmöglichkeit. Es hat sich gezeigt, daß sie in Deutschland, wo sie mehr aus der Not als aus freier Wahl entstand, nicht auf einem vorher gefestigten Fundament gebaut wurde, und daß man in ihrer architektonischen Anlage das deutsche Klima nicht berücksichtigt hatte, das so verschieden von dem Klima in anderen Ländern ist. Das Bedürfnis nach Unterordnung, nach scharfem Kommandoton, nach Marschieren in straff zusammengehaltenen und geleiteten Verbänden gehört zum deutschen Charakter, das Gehorchen ist wie das Befehlen eine befriedigende Tätigkeit, und es ist kein Zufall, daß die schönsten Militärmärsche die deutschen sind. Große, geistig bedeutende und starke Männer bleiben das Unberechenbare, sind notwendig und wünschenswert in jedem staatsrechtlichen System, aber ersetzen nicht ein System. Wer sie ruft, ohne sie in den festen Rahmen der Garantien einzufügen, ohne sie an Verfassungssätze binden zu können, liefert sich ihnen aus. Dem 372 deutschen Liberalismus hat immer die englische Staatsordnung als Muster vorgeschwebt. Auch diese Ordnung hat ihren gegenwärtigen Zustand erst nach mancherlei abschleifenden und ausbalancierenden Erlebnissen erreicht. Sie beruht auf einer das Gefühl beherrschenden Tradition, auf einer merkwürdigen Genügsamkeit der unteren Klassen, die in ihrer insularen Abgeschlossenheit von den Lebensgewohnheiten des kontinentalen Stadtarbeiters nichts wissen, und auf dem politischen Weltmannstum einer Aristokratie, die mit der Mehrzahl der preußischen Junker nicht den geringsten Wesenszug gemeinsam hat. Sie beruht auf einer besonderen Art der Kultur, die jeder von Geburt an in sich trägt, die auch den Besitzlosen zum aufrechten Bürger macht und die nichts anderes ist als die Gewißheit der gesicherten, absolut selbstverständlichen persönlichen Freiheit, als diese Gewißheit, daß jeder Engländer, auch der ärmste und unscheinbarste, innerhalb der gesetzlichen Schranken seine unantastbaren Menschenrechte hat. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Bildung, die ja gewöhnlich mit Kultur und Zivilisation verwechselt wird, im englischen Volke weniger verbreitet ist als beispielsweise im deutschen, und daß, während sogar in den letzten deutschen Dörfern ein paar Balladen von Goethe und Schiller gelernt werden, man in den englischen Massen wenig oder garnichts von Shakespeare weiß. Aber vielleicht ist ein angeborenes Bewußtsein der eigenen Rechte erste Voraussetzung und Grundlage jeder Kultur, und angelernte Bildung oft nur der dünn aufgetragene Fassadenschutz. Von den großen Schöpfungen der Dichtung und der Künste wird jedes banausische Gewimmel nicht stärker berührt als von einem vorübergleitenden Sonnenstrahl. Ein monumentales Kulturwerk wie die im Jahre 1679 geschaffene Habeas-Corpus-Akte, die jedem Engländer die Freiheit und Unantastbarkeit seiner Person, die Sicherheit gegen willkürliche Verhaftung und Einkerkerung verbürgt, hat für die Erziehung, die Kräftigung und das Glück einer Nation mehr als der »Faust« getan.

 

Nachdem Otto Braun mich noch zu seinen Gemüsebeeten 373 geführt und ich mich verabschiedet hatte, ging ich nach Ascona hinunter, an vielen alten und modernen Landhäusern und Blumengärten vorbei. Ascona galt in der ersten Zeit der Emigration als ein beliebter Sammelplatz der deutschen Flüchtlinge, aber das hat sich anscheinend sehr bald geändert, und die jungen Literaten, Künstler und Künstlerinnen, die damals an den Tischen vor den kleinen Cafés saßen, sind, wie ein ruhelos umherirrender Vogelschwarm, weitergezogen, ein jeder dorthin, wo er glaubte, Nest und Nahrung finden zu können. Am nächsten Vormittag fuhr ich mit dem Zug durch Lugano, oder, genauer gesagt, auf dem hochgelegenen westlichen Plateau an dem unten das Tal füllenden Lugano entlang. Das Steinbild des im Sterben sich bereitwillig streckenden Sokrates war weit drüben, von den Bäumen und Büschen der Parkanlagen verdeckt. Er hatte seinen Gegnern und Anklägern nicht den Gefallen getan, zurückzuweichen, und er hinterließ allen dieses Beispiel der Standhaftigkeit. Freilich, er wählte sich, bevor das Alter seine Kräfte annagte und das Unentrinnbare nahe kam, selber den Tod und die Stunde, er hatte, umgeben von den Freunden und beweint sogar von dem Wächter, ein schön geschmücktes, beinahe festliches Ende, das unvermeidliche strenge Urteil wurde in jenen gesitteten Formen vollstreckt, die der hellenischen Achtung vor allem Geistigen entsprang, und auch das Gift, das der Verurteilte trank, während er schon den Nachruhm vor sich sah, wirkte nur wie ein Schlaftrunk und bereitete ihm keinerlei schmerzhaften Krampf. Man braucht nicht erst mit dicken Farben die Schicksale eines Moralisten auszumalen, der heute in den Straßen, in den »Säulenhallen« und auf den öffentlichen Plätzen die Bürger beim Rockzipfel festhalten und befragen würde, »was schön, was schimpflich, was Besonnenheit und Torheit sei, wie ein Staat und ein Staatsmann, wie Regierte und Regent sein müßten und dergleichen«, wovon – Xenophon drückt es in seinen »Erinnerungen an Sokrates« so aus – nur der Knecht nichts weiß. Vermutlich würde nicht sanft mit dem schwatzhaften Menschen verfahren werden, der hohe Staatsbeamte mit der Frage anfallen wollte: »Was versteht Ihr unter Gerechtigkeit?« 374

 


 


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