Theodor Wolff
Der Marsch durch zwei Jahrzehnte
Theodor Wolff

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Der romantische Ritter

Als in der republikanischen Zeit der Zeichner George Groß eine Sammlung jener Studienblätter erscheinen ließ, die mit sarkastischer Hervorhebung aller häßlichen, harten oder gemeinen Züge das Gesicht der herrschenden Klassen festhalten sollten, setzte er auf die Umschlagseite das Bildnis des Grafen Brockdorff-Rantzau, scheinbar so ähnlich dem Original und mit so täuschender Geschicklichkeit überall nur ein wenig retouchiert, daß eine karikaturistische Absicht kaum zu erkennen war. Der Zeichner schien sagen zu wollen, hier brauche man nicht erst durch enthüllenden Spott nachzuhelfen, hier habe die Natur selber mit jenem wundervollen Humor, der bei der Erfindung so vieler Geschöpfe waltete, und vollendeter, als irgendein Künstler es vermöchte, einen Typus, einen typischen Kopf der Epoche, herausgebildet, nichts im Verborgenen gelassen und allen Kennern zur Lust ein satirisches Meisterwerk vollbracht. Könne ein Gemisch von Dekadenz und junkerlichem Hochmut besser dargestellt werden als durch diesen Kopf, durch jeden Zug und jedes Detail dieses blassen, nervösen Gesichtes, die von den Spuren zu langer Vergangenheit durchfurchte und doch gebieterische breite Stirn mit dem dünnen, geglätteten und sorgfältig gescheitelten Haar darüber, die schmale gerade Nase, den kleinen verwegenen Schnurrbart, das vorstoßende Kinn, die verschleierten und doch herausfordernd blickenden Augen, aus denen ebenso die Blasiertheit eines ermüdeten und endenden Geschlechtes wie das trotz alledem fortdauernde befehlssüchtige Selbstbewußtsein sprach? War das nicht der unverkennbare Enkel jener adligen Freibeuter, die sich wegen irgendeiner Lappalie duellierten, auf das reichgewordene Stadtkrämertum mit Verachtung 284 hinuntersahen und sich, wenn sie den Bürger nicht mehr plündern und den Bauern nicht mehr schinden konnten, im Dienste aller fremden Höfe herumschlugen und nicht unterließen, aus jedem Lande ein Tüpflein Modefirnis heimzubringen? Diesen Kopf hielt der Zeichner für »repräsentativ« und darum für geeignet, auf dem Titelblatt der ungöttlichen Komödie zu stehen. So schmücken Kunsthistoriker und ihre Verleger die Außenseite der Bücher, die das goldene Zeitalter antiker Schönheit schildern, mit dem Apoll von Belvedere.

 

Aber das Bild des Grafen Brockdorff-Rantzau war keineswegs charakteristisch für eine Schicht, eine Klasse oder eine Zeit, wie etwa jene Figuren, die bei Daumier und Monnier ihre satten Bäuche, Attribute gefestigter Macht, vor sich hertragen, und wenn hier wirklich der typische Kopf auf das Titelblatt gesetzt werden sollte, so hat der Künstler falsch gewählt. Seine Laune, seine Phantasie, nicht seine Beobachtungsgabe hat ihn bei dieser Wahl gelenkt. Die Erscheinung des Grafen Brockdorff-Rantzau war wahrhaftig keine Durchschnittserscheinung ohne scharf ausgeprägte Persönlichkeitszüge, sie hatte ihre »eigene Note«, sie hatte, wie nur wenige zeitgenössische Gestalten, ihre sehr auffallende Eigenart. Das Charakteristische der herrschenden Gesellschaft in all ihren verschiedenen Gruppen war der Mangel an Charakterköpfen, an hervorstechenden persönlichen oder gar pittoresken Erscheinungen, die uninteressante Gleichförmigkeit, die immer wiederholte Formung, und bezeichnend für sie konnte also nicht der einzelne sein, der sich von ihr unterschied, sondern nur einer aus der allgemeinen Kiste, einer vom Massenfabrikat. Und wenn gesagt werden sollte, Graf Brockdorff-Rantzau habe in seinem Äußeren die Kaste, zu der er gehörte, verkörpert, so war das für die Kaste ein nicht geringes Kompliment, das aber nicht mehr bedeutete als jede andere oberflächliche Schmeichelei. Er schien in einem ganz anderen Erdteil gewachsen zu sein als die robusten, derbknochigen, rotwangigen, von des Gedankens Blässe nicht angekränkelten 285 Junker Ostelbiens, und in der höheren Aristokratie, die infolge ihrer internationalen verwandtschaftlichen Vermischung bisweilen interessantere, vom Schema abweichende Bildungen aufweist, blieb seine äußere Persönlichkeit doch immer die eines Vereinzelten, eines Outsiders, und keiner eines anderen vergleichbar, von dem man vielleicht sagen konnte, er »sehe nach etwas aus«. Er war freilich auch nicht »von rein deutschem Blut«, und die Ahnenforschung, der die Stammbäume des deutschen Adels so viel Verlegenheit bereiten, findet nichts Tröstliches, wenn sie sich in die Familiengeschichte derer von Rantzau und derer von Brockdorff versenkt. Die Rantzau, die ihre Ahnenreihe bis ins 12. Jahrhundert zurückrechnen können, waren ein dänisches Adelsgeschlecht, Feldmarschälle, Statthalter und geheime Räte der dänischen Könige, der glänzende Heinrich Rantzau, Staatsmann, Philosoph, Schriftsteller und Kunstmäzen, verwaltete für drei dieser Herrscher ein Dutzend Provinzen, und der stelzbeinige, einarmige und auch sonst noch zerhackte, von Boileau besungene Ahne Josias Rantzau war sogar französischer Marschall und erwarb an der Seite des großen Condé im Kampf gegen die Deutschen seine Blessuren und seinen Ruhm. Wenn der Graf Brockdorff-Rantzau, der im Jahre 1869 als Sohn des Grafen Hermann zu Rantzau und einer Gräfin Brockdorff-Kletkamp zur Welt kam – mit seinem Zwillingsbruder Ernst –, den Vornamen Ulrich erhielt, so sollte damit sein Großonkel, Baron Ulrich Brockdorff, geehrt werden, ein dänischer Diplomat, der sein Land als Gesandter in Paris, Madrid und Berlin vertrat. Und dieser dänische Großonkel adoptierte den Ulrich Rantzau, vor dessen Familienname der »Brockdorff« gestellt wurde, und der infolge dieser Adoption in den Besitz des Brockdorff'schen Fideikommisses Annettenhöh bei Schleswig kam. Vielleicht ist es eine Illusion, die ohne die Kenntnis dieser Familiengeschichte nicht hätte entstehen können, aber mir schien immer, daß das, was in dem Grafen Brockdorff-Rantzau »junkerlich« wirkte oder doch so empfunden werden konnte, nämlich die Herrengeste, die Kampfneigung, die betont stolze Haltung – meist 286 abgeschwächt, gelockert oder geschmackvoll verborgen bei aristokratischen Grandseigneurs – ausländische Erbschaft sei und garnichts mit dem robusten Draufgängertum zu tun habe, das auf dem Boden preußischer Rittergüter wächst. Wurde da nicht weit eher der Josias Rantzau wieder sichtbar, der mit einem Bein und einem Arm an allen Gefechten teilnahm, und hatte die geistige Verfeinerung, die neben dem scharfen Selbstbewußtsein das sofort greifbare Merkmal war, ihren Ursprungsort in jener von Gesundheit strotzenden Umgebung und nicht eher in den dänischen Buchenwäldern, in denen eine überaus feinnervige Literatur, tastend mit den zartesten Fühlhörnern, gedieh? Wie dem auch sein mochte, George Groß irrte, wenn er den Grafen Brockdorff-Rantzau zum Repräsentanten einer deutschen Junkerkaste machen wollte und wohl glaubte, diesem Gesicht seien der Hochmut und die Arroganz der ganzen Gesellschaftsschicht aufgeprägt. Gewiß war in Haltung und Lebensformen des Grafen Brockdorff-Rantzau, soweit ihn auch seine politischen und sozialen Anschauungen von den Vorurteilen der Nachbarn trennten, die aristokratische Gewöhnung unverkennbar, aber nicht das Gemeinschaftsgefühl des Adels, nicht ein auf Standesprivilegien pochender Dünkel gaben diesem Kopf den Ausdruck, sondern ein individueller Ehrgeiz und ein sehr starkes Ichgefühl.

Der Zeichner hatte nur eine tote einmalige Maske gegeben, in Wahrheit konnte nichts komplizierter sein als diese Persönlichkeit und nichts lebendiger und wandlungsfähiger als dieses Gesicht. Statt einer Maske waren hier wechselnde kleine Maskierungen, eine jede der Situation und dem Thema angepaßt, aber alles hatte doch einen Zusammenhalt in dem Immerwährenden, in der Persönlichkeit, die sich dahinter verbergen wollte, ungefähr wie alle Veränderungen sich nur auf der Seefläche, nicht in den unbewegten Tiefen vollziehen. Sehr oft war, wenn ich dem Grafen Brockdorff-Rantzau gegenübersaß, in der Wohnung, die er in der Viktoriastraße in Berlin mit seinem Bruder teilte, oder bei mir oder an drittem Ort, das Spiel seiner Physiognomie ungeheuer amüsant. Dabei mußte man gelernt haben, zu 287 erfassen, was echt, natürlich, Widerschein des inneren Lebens, und was, selbst vertrauten Freunden und dem Spiegel gegenüber, angenommene, wenn auch keineswegs immer beabsichtigte Pose war. Pose à la Bismarck, à la Talleyrand, à la Mirabeau. Meistens unbeabsichtigt, wie gesagt, und von ihm selber kaum bemerkt. Er saß da, manchmal etwas zermürbt durch einen gerade ausgefochtenen Kampf, sonst zu Scherzen aufgelegt, rauchte eine Zigarette nach der anderen – nicht als Beruhigungsmittel wie Bethmann und nicht als Dilettant, sondern so regulär, wie die Grille zirpt – und goß noch einen Cognac ins Glas. Etwas ganz Ungebundenes, Keckes, das er mit Vorliebe in die Konversation hineinlegte, kontrastierte mit einem gewissen, ihm gleichsam in den Gliedern steckenden Zeremoniell, das, wie durch einen Korsettzwang, seine Bewegungen und Manieren zu regeln, zu umzirkeln schien und ihm oft eine preziöse Gemessenheit verlieh. Die Art, wie er steif und dabei doch mit einer feinen Galanterie – so daß die Steifheit nicht als eine körperliche Eigenschaft sondern als Ausdruck eines vornehm reservierten Wesens wirkte – Gäste begrüßte oder zu Gastgebern kam, hatte nicht das mindeste gemein mit der eingeschnürten Strammheit und der eckigen Grandezza aktiver und ehemaliger Gardeoffiziere, und er hatte, wie man hinzufügen kann, als junger Leutnant in Potsdam mehr als einen Parademarsch in Gefahr gebracht. Er hatte weit eher die graziöse Steifheit, mit der sich in einer Vieux-Saxe-Gruppe die Porzellankavaliere zu ihren Porzellanschäferinnen hinabbeugen – in diesen Gesten war er »Vieux-Saxe«. Man spürte in seiner Höflichkeit die Wirkung einer alten Etikette, die eigentlich auch seiner Generation schon verloren gegangen war. Dann wieder konnte er schlau umschmeicheln, mit übertriebenen Komplimenten und beinahe liebkosend, und dann wieder empfand man in ihm eine ehrliche und ernste Freundschaft, und dann wieder kehrte er den aus seinem Innern nie entschwindenden Stolz hervor, aber ganz und garnicht wie der Pfau, bei dem der Kopf klein ist und nur der Federschmuck groß.

Graf Brockdorff-Rantzau

Graf Brockdorff-Rantzau

Seine dunklen, die schlanke, fleischlose Gestalt 288 umschließenden Anzüge hatten keinen übermäßig modernen Schnitt, und er trug, zum Gehrock und sogar zum Jackett und Veston, absurd hohe, unter dem Kinn sich schräg öffnende Stehkragen, als wäre der Hals zu dünn, um allein den Kopf stützen zu können. Gerade in diesem sehr gepflegten Altmodischen, das zu dem zeremoniösen Zug in seinen Umgangsformen paßte, lag eine besondere, vermutlich ungewollte Koketterie – eine Koketterie, die man seltener in Deutschland als in England und in Frankreich, Ländern mit weit zurückreichender gesellschaftlicher Kultur, findet, wo bisweilen ein Lord, ein Marquis, ein Mitglied der Akademie oder auch ein Bankfürst an einem hundertjährigen Hutmodell festhält und so seinen persönlichen, von der Modeherrschaft unabhängigen Geschmack beweist. Das Absonderlichste, und absonderlicher als der Urväterkragen und doch in irgendeiner romantischen Beziehung zu diesem steifleinenen Symbol und zu der gleichfalls etwas altmodischen Courtoisie, waren die Augen, aus denen der Blick ganz tief herauszukommen und dann hinter einem feinen Dämmerungsschleier zu weilen schien. Manchmal war die Dämmerung weniger dicht, manchmal hatten die verschleierten Augen das nach innen Gewandte, manchmal konnten sie an die Welt E. T. A. Hoffmanns erinnern, und manchmal auch an den Magier, der sich geschickt der ihm verliehenen, scheinbar mystischen Kräfte bedient.

In Stunden des Zornes und des Ärgers wurde das blasse scharfgeschnittene Gesicht des Grafen Brockdorff-Rantzau noch blässer, es verhärtete sich oder erschlaffte, die schmale Nase und die Lippen mit dem Bärtchen darüber schienen zu vibrieren, und obgleich er mit äußerster Anstrengung Selbstbeherrschung übte, sah man das Zittern der Nerven gewissermaßen durch die Haut hindurch. Aber wenn er in guter Laune war, pflegten über das Gesicht die ironischen Lichter zu gehen. Dann, wenn ihn nicht die Erbitterung über Widersacher, die ihm seine Pläne verbauten, gepackt hielt, und er die Entspannung genoß, schwelgte er gern in dieser Ironie. Seine Augen waren dann maliziös, listig und lustig, und der mystische Schleier wich zurück. Ich habe 289 aber niemals gefunden, daß er im wirklichen Sinne witzig war. Seine spöttischen Einfälle waren nicht allzu geistvoll, es waren billige Juwelen darunter, und der Erfolg ging nicht von der Gabe, sondern von der Persönlichkeit des Gebers aus. Damit stimmte überein, daß er eigentlich kein literarisches Talent besaß. Er hatte bei der Abfassung seiner Denkschriften und Manifeste sehr glückliche Eingebungen, und es finden sich da schlagkräftige Sätze, überlegen resümierende Formulierungen, scharf das Ziel treffende Pointen, aber offenbar war, damit der Guß gelingen konnte, das Feuer der Leidenschaft nötig, und sobald die Schriftstellerei nur noch ein Teil des diplomatischen Metiers war, ermattete sie. Hätte man die sprühenden Worte, die Graf Brockdorff-Rantzau in sarkastischer Stimmung abschoß, vom Boden auflesen können, so hätte man gewöhnlich dieselbe Enttäuschung erlebt, die Kinder verspüren, wenn sie eine halb verkohlte Raketenhülse finden und nun erkennen, daß aus ihr das ganze pyrotechnische Schauspiel entstand. Im Schein des reizbaren und reizvollen Temperamentes, begleitet von dem Spottlächeln eines prämiierten Florettfechters, belustigte auch das, was sonst nur ein Gähnen verursacht hätte, und man prüfte den Silbergehalt der Münze nicht, weil der Händler sie mit so fröhlicher Dreistigkeit über den Ladentisch rollen ließ. Da die Person des Schauspielers fesselte, glaubte man, der Text sei mit Esprit getränkt. Ganz wie ein Anbeter aus den ausweichenden Redensarten einer schönen Frau doch ein verstecktes Ja heraushört, weil ein bezauberndes Lächeln scheinbar verheißungsvoll über der Leere schwebt.

Ich empfand nur jedesmal ein Unbehagen, wenn Graf Brockdorff-Rantzau ein Scherzwort oder eine Anekdote aus den mit einem vielversprechenden Vorhang verhüllten Hinterzimmern der Erotik entnahm. Dieser kultivierte Aristokrat, der auf eine selten gewordene Art chevaleresk und gegenüber den Damen vorbildlich respektvoll und artig war, in seinem äußeren Wesen auch einiges von einem vornehmen Dandy hatte, fand offenbar mitunter die derben Zoten des Geschlechtslebens erfrischend, wie ja auch 290 mancher englische Dandy bisweilen aus der oberen Gesellschaft entweichen und Ausflüge in die untersten Sphären unternehmen soll. Es war wahrhaftig nicht Prüderie, wenn mir das mißfiel. Man könnte sich, so langweilig man die allermeisten der im Geheimen verkauften Erotica finden mag, ja auch einbilden, saftiger Spaß mitten im ästhetischen Milieu erfülle ebenso die künstlerische Aufgabe der Kontrastwirkung, wie Dortchen Lakenreißer zwischen den Shakespeareschen Versen und inmitten einer Haupt- und Staatsaktion. In dem Munde des Grafen Brockdorff-Rantzau aber hatten diese Scherze, an denen er Freude zu empfinden schien und für die er Beifall erwartete, einen falschen und etwas peinlichen Klang. Sie waren entweder der Nachhall von Ausflügen zu einem gänzlich unsentimentalen Cythere, oder sie waren Aufschneidereien, mit denen er sich oder anderen etwas vorspiegelte, ungefähr wie ein großer Jurist oder Arzt, der in seinem Fache Bewundernswertes, aber als Alpinist garnichts leistet, renommieren muß, er besteige in jedem Sommer den Mont Blanc.

Das private Leben des Grafen Brockdorff-Rantzau bot, da es ein bißchen bizarr erschien, reichlichen Unterhaltungsstoff. Man wußte, daß der Graf Brockdorff-Rantzau die denkbar höchste Zahl Zigaretten rauchte und viel Cognac trank, was übrigens seinen Geist niemals behinderte, sondern nur zu befeuern und zu schärfen schien. Man wußte, daß er des Nachts aufblieb und arbeitete und dann weit in den Tag hinein schlief, wenn ihn nicht gerade, wie später in Moskau, die amtlichen Pflichten zum Verzicht auch auf diese Tagesruhe zwangen. So sehr ihn, als er Botschafter in Moskau war, seine Mitarbeiter dort verehrten, so sehr stöhnten sie darüber, daß er ihnen die Nachtruhe nahm, sie nach Mitternacht zu sich rief, sie nicht losließ und in den Morgenstunden Berichte und Briefe zu diktieren begann. Man wußte, daß er sich die feinen Eßwaren und Weine aus Berlin nach der Sowjethauptstadt schicken ließ und daß er – dies gehörte zu der traditionellen Einrichtung feudaler Schlösser ebenso selbstverständlich wie die Ahnenbilder – Wert legte auf eine gut stilisierte Dienerschaft. Man wußte 291 auch, daß er, wie sein Ahnherr, der große Statthalter Heinrich Rantzau, wenn auch nicht mit dessen immens reichen Mitteln, alte Kunst und altes Kunstgewerbe sammelte, in Rußland, übrigens mit Zustimmung der ihm wohlgesinnten Sowjetleute, sehr kostbare Entdeckungen machte und dabei nicht nur den Spürsinn des Kenners, sondern auch jene kaufmännische Geschicklichkeit bewies, die, in weniger privaten Wirtschaftsverhandlungen, so sehr der deutschen Industrie und dem deutschen Außenhandel zugute kam. Aber von einer Frau, die einmal in seinem Leben eine Rolle gespielt haben könnte, wußte man nichts. Keine Spur ließ mutmaßen, daß er jemals in eine Liebesaffäre verstrickt gewesen sei. Wie gewöhnlich wurde dann von Leuten, die jedes psychologische Rätsel auf die einfachste und ordinärste Weise lösen und nicht die tausend feinen Fäden gebrauchen können, sondern sich an einem faustdicken Strick halten müssen, die Unauffindbarkeit solcher Beziehungen durch das Vorhandensein andersgearteter Neigungen erklärt. Da ich eines Tages dem Grafen Brockdorff-Rantzau helfen konnte, erpresserische Schufterei, die ihn verfolgte, unschädlich zu machen, kannte ich die Entrüstung, in die er im Kampf gegen diese Widerwärtigkeiten geriet. Vielleicht hatte es doch in seiner Jugend die ferne Prinzessin gegeben, und vielleicht lag in verschlossener Kassette ein Bild, zeitentrückt wegen der verschollenen Damenmode, aber von unzerstörbarer Liebenswürdigkeit. Der Biograph Brockdorff-Rantzaus, Stern-Rubarth, hat offenbar in die Kassette hineingeblickt, denn er weiß wirklich von »einer frühen, außerordentlich tiefgehenden Neigung zu einer verheirateten Frau aus hohen Kreisen« zu berichten, durch die für immer das Gefühlsleben des Grafen beschattet worden sei. Es ist fast zu sehr das Herzensgeheimnis, das man erwartet hat. Weil es eigentlich nicht fehlen konnte, neigt man einem solchen Romankapitel gegenüber ebenso zu einem leichten Skeptizismus, wie gegenüber manchen Attentatsenhüllungen, deren zu pünktliches Eintreffen den Eindruck schwächt. Sichtbar, jedem Auge sichtbarer als die getrockneten Rosen der Vergangenheit, war das starke und innige Gefühl, das 292 den Grafen Brockdorff-Rantzau mit zwei teueren Wesen verband. Mit der alten Mutter auf Annettenhöh und mit seinem Zwillingsbruder, dem Grafen Ernst Rantzau, der bis zum Sturze der Monarchie kaiserlicher Kammerherr und Vortragender Rat im Hausministerium war.

Die beiden, die in derselben Stunde auf die Welt gekommen waren, hielten so zusammen, daß sich das Leben des einen ohne das des anderen kaum denken ließ. Jeder der beiden hatte Freunde, aber jeder hatte nur einen wirklichen Vertrauten, Ernst den Zwillingsbruder Ulrich und Ulrich den Zwillingsbruder Ernst. In dieser Liebe gab es keine Eifersucht. Nicht den stillen Wunsch, den anderen zu überflügeln, und nicht die leiseste neidische Regung, wenn der eine die bedeutenderen, glänzenderen Rollen erhielt. Der Graf Ernst, Rantzau ohne den Namen der Brockdorff, trat politisch niemals in den Vordergrund. In einem bestimmten Augenblick freilich hatte er eine historische Mission zu vollbringen. Er erlangte, zu diesem Zweck nach Holland geschickt, von Wilhelm II. die bis dahin verweigerte Unterzeichnung der Abdankungsurkunde und brachte dieses Dokument nach Berlin. Aber auch davon erfuhr die Öffentlichkeit nichts, der Name des Sendboten wurde nicht genannt. Und auch diejenigen Kreise, die in den Jahren nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs noch eine »Berliner Gesellschaft« bildeten, sahen in dem Grafen Ernst nicht eine politische Persönlichkeit, sondern einen überaus sympathischen, oft amüsanten, für alle Tafelgenüsse und besonders für die trinkbaren Tafelgenüsse empfänglichen Gast, einen der liebenswürdigsten Epikuräer und die treue brüderliche Seele, den Stellvertreter, der gescheit, diskret und umsichtig für den Ruhm und die Position des Bruders sorgte, immer für ihn vermittelte, die Ohren spitzte, auf der Lauer lag. Er machte sich zum Impresario, zur Theatermutter, zum Wachhund, zur Amme Julias, aber zu einer, die ihrem Liebling klüger und vorsichtiger dient. Während Ulrich seine Fähigkeiten in staatsmännischen Aktionen verwendete, setzte der Graf Ernst seine diplomatische Gewandtheit dafür ein, ihm Wege zu ebnen, Hindernisse 293 fortzuräumen, Gegnerschaft abzuwehren, Anhang zu gewinnen. Oft, wenn er mir telephonierte, begann er mit dem Scherz: »Es ist nicht der große Bruder, nur der kleine ist am Apparat.« Und das war nicht ironische Verstellung, nicht Affektation. Man behauptete, die beiden Brüder seien äußerlich einander zum Verwechseln gleich. Es wurde immer wieder erzählt, daß bei allerlei Begegnungen der eine für den anderen gehalten wurde und daraus eine höchst spaßhafte Komödienszene entstanden sei. Dabei übertrieb man ein wenig, oder sogar in recht erheblicher Weise, und ich jedenfalls habe die Ähnlichkeit nie so vollkommen finden können. Sie waren beide weit über das Mittelmaß groß, aber der Graf Ulrich Brockdorff-Rantzau war schmaler, von feinerer Gestalt, auch »dekadenter«, das Gesicht war blasser nervöser, die Nase spitzer, der Haarwuchs schwächlicher, und der Graf Ernst hatte in der Talmulde zwischen Unterlippe und Kinn eine »Fliege«, einen kleinen Ansatz von Bart. Die Augen des Grafen Ernst waren nicht seltsam verschleiert, sondern zwinkerten nur manchmal feucht, und die Kehle des Grafen Ernst war von allem, was hindurchgeströmt war, allmählich rauh, die Sprache war etwas heiser geworden, während bei dem großen Bruder die Flüssigkeit die Sprachorgane eher geglättet zu haben schien. Aber beide stimmten auch in anderen Geschmacksfragen überein, sie betrieben wie zwei Associés, mit der gleichen Passion und mit dem gleichen Verständnis für den Wert der Dinge, das Sammeln der alten Kunstobjekte, und wenn der Botschafter in Moskau etwas Besonderes entdeckte, wurde es gewöhnlich nach Berlin, in die gemeinsame Wohnung in der Viktoriastraße geschickt. Als im September 1928 Graf Brockdorff-Rantzau mit wunderbar bewahrter Klarheit und Festigkeit Abschied vom Leben, von seinen Aufgaben und vom Bruder genommen hatte und in dem Hügelgrab bei Annettenhöh ruhte, blieb Graf Ernst nur noch eine Weile auf der Erde, um die Hinterlassenschaft zu ordnen und das Denkmal des Toten auf einen sicheren Grund zu stellen. Er suchte nach dem geeigneten Biographen, fand in Herrn Edgar Stern-Rubarth einen 294 Mann, der mit herzlicher Hingabe und mit mehr Takt und Feinempfinden als die meisten Lebensbildermaler den Auftrag ausführte, und sorgte dafür, daß bei jedem Freunde die Photographie des Unvergeßlichen ihren Ehrenplatz erhielt. Seine Existenz setzte sich noch mechanisch fort, er saß wie früher fast an jedem Abend als Gast an einer Tafel und sann, wie der König von Thule, bei jedem hinuntergleitenden Tropfen still der Vergangenheit nach, bis er dann eines Tages nur noch in der Begleitung eines Arztes ausgehen konnte und, ein wenig später, einem letzten Streiche erlag. In Wahrheit war er an dem Tage gestorben, an dem sein Zwillingsbruder mit dem feierlichen Zeremoniell aristokratischer Begräbnisse durch die Schloßtür zur Gruftstätte hinausgetragen worden war. Frédéric Cuvier, der Bruder des berühmten Naturforschers, wählte für seinen Grabstein die Inschrift: »Frédéric Cuvier, frère de George.« Wäre es auf einer adligen Gruft nicht so gegen alle Regel gewesen, so hätte gewiß auch Ernst Rantzau auf seinem Stein der »Bruder Ulrichs« heißen wollen.

Wie diese Bruderliebe, diese brüderliche Gemeinschaft, gleich einem Doppelporträt jedem vor Augen war, so war aller Welt – und wenn man von »aller Welt« spricht, meint man ja gewöhnlich eine sehr kleine Welt – die Freundschaft zwischen dem Grafen Brockdorff-Rantzau und dem Sowjetrussen Tschitscherin bekannt. Der Botschafter und der Volkskommissar für Außenpolitik fanden sich in Moskau, und es muß – so gut paßten sie trotz der nationalen Verschiedenheit zueinander und so schnell mußte der eine im anderen das Verwandte spüren – eine Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Wesentlich war nicht, und doch vielleicht unempfunden mitwirkend, daß auch Tschitscherin ein Abkömmling alten Adels und, selbstverständlich weit radikaler, konsequenter und ungehemmter als der niemals den Zusammenhang mit seinem Ursprung verlierende deutsche Graf, ein Akteur in der gewaltigen Umwälzung geworden war. In Tschitscherin fand Brockdorff-Rantzau das, was er brauchte: den staatsmännischen Politiker, mit dem er die Pläne für den Ausbau des deutsch-russischen 295 Verhältnisses besprechen, die vielen ärgerlichen und gefährlichen Zwischenfälle überwinden konnte, und den geistreichen gebildeten Bohème mit dem Gemisch von revolutionärer Gläubigkeit und skeptischer Philosophie, den scharf diskutierenden Tatmenschen und den Diogenes vor einem nicht leeren Faß, den schlauen Fuchs des diplomatischen Gewerbes und den nonchalanten Kompagnon, der gleichfalls die gerauchten Zigaretten nicht zählte und keine Abneigung gegen die kleinen Gläser besaß. Ich weiß nicht, ob die beiden oft über die deutsche Literatur, über die romantische Periode sprachen, von der dieser russische Außenkommissar mehr wußte, als die meisten Zöglinge deutscher Gymnasien und Universitäten, und vermutlich war für den kunstsammelnden Botschafter noch interessanter Tschitscherins Kenntnis europäischer Museen. Ich erinnere mich an eine andere Unterhaltung, in die ich mich eines Tages mit Tschitscherin vertiefte und die sich auf die russische Psychologie bezog. »Glauben Sie«, hatte ich Tschitscherin gefragt, »daß die Revolution wirklich den russischen Menschen in seiner seelischen Struktur umgewandelt hat?« Er erwiderte bestimmt und ohne eine Sekunde zu zögern, ja, die Revolution habe »einen Schnitt gemacht«. Ich warf ein, daß die alten Ideen und Anschauungen einer neuen Gedankenrichtung hätten weichen können, aber die Gefühlsquellen, die tiefsten Grundlagen und Grundzüge der Natur schwerlich ausgetilgt wären, die Menschen Tolstois und Dostojewskis doch wohl noch immer in ihren letzten verborgenen Trieben die Menschen Tolstois und Dostojewskis geblieben seien. Mit einer Entschiedenheit, die mich ein wenig verblüffte, behauptete er, der Russe von damals, die russische Seele von damals, sei mit allen Wurzeln ausgerottet, existiere nicht mehr. Wehrte er sich mit voller Aufrichtigkeit? Auch in ihm war doch noch der alte russische Mensch.

Und war der Graf Brockdorff-Rantzau, der dort saß, in Moskau dem russischen Außenkommissar oder in Berlin einem Freunde oder einem gelegentlichen Besucher gegenüber, nun der wahre und, wenn man so sagen darf, der 296 ganze Ulrich Brockdorff-Rantzau, oder war man, selbst im freundschaftlichen Verkehr, doch nur bis zu den Außenmauern und Außenforts seiner Persönlichkeit vorgedrungen? Man hatte, je näher man ihm gelangt war, das Bewußtsein, daß die letzten und innersten Bezirke seines Wesens verschlossen und verschanzt waren wie eine schwer einnehmbare Festung und gegen Neugierde geschützt wie in unbetretbaren Gegenden Arabiens ein fanatisch bewachtes Heiligtum. Wer an einem nüchtern glanzlosen, grauen Tage zum ersten Male eine vielgepriesene Landschaft vor sich liegen sieht, kann nichts feststellen als die Form der Berge, die Linien der Hügel, die Umrisse und die fahle Fläche der Seen. Dann, am nächsten Morgen betrachtet, ist das alles umwoben von den schwebenden, zittrigen Spinnennetzen der schimmrigen Luft, lebendig, immer wieder überraschend, und hundertfältig im wechselnden Licht. Aber seine tiefsten Geheimnisse gibt der Boden auch dem aufmerksamsten Reisenden nicht her. Was Generationen in diese Erde von ihrer Seele versenkt, in sie hineingearbeitet haben, ist auch dem ahnenden Sinn entrückt, der die Existenz des Unsichtbaren empfindet, und die Gräber öffnen sich nicht. Die Zeichnung des Grafen Brockdorff-Rantzau, die George Groß auf einen Buchumschlag setzte, war nur wie der Astralleib der Spiritisten nach dem Austritt der Seele und nur ein Dokument, das irrtümlich für typisch gehalten wurde und von der Individualität nichts verriet. Der Brockdorff-Rantzau, mit dem wir beieinander saßen, im Zigarettendunst ernste und heitere Gespräche führten, Sorgen und Spöttereien austauschten, der Brockdorff-Rantzau, der ein »großer Botschafter« war und eine romantische Romanfigur, mit der delikaten Blässe, dem scharf modellierten Falkenkopf über dem altmodischen Stehkragen, den bald träumerisch verschleierten, bald klar das Ziel fassenden Augen, der zeremoniellen Höflichkeit, der frivolen Ironie, dem empfindsamen Stolz, der umschmeichelnden Süße und der hervorstoßenden Bitterkeit, auch dieser Brockdorff-Rantzau war nur ein Teil, nur der Vordergrund seines Selbst. Der Restaurator, der dieses 297 zweite Porträt von der Leinwand abwaschen wollte, fände dahinter die Spuren einer dritten Gestalt. Hinter der komplizierten Erscheinung voll von Gegensätzen kämen die freilich nicht leicht zu entziffernden Züge eines verborgenen Charakterbildes zum Vorschein, das so streng und so archaistisch schlicht wäre wie die ruhende Steinfigur eines frommen Ritters auf einem alten Sarkophag.

Graf Brockdorff-Rantzau ist am Abend des 8. September 1928 gestorben, in dem alten, warmen, mit seinen gesammelten Kunstsachen vollgepfropften Berliner Heim. In den sechs Jahren, die er in Moskau verbracht hatte, war er der große Botschafter geworden, seine geistige Figur hatte sich in der schweren und verheißungsvollen Aufgabe gefestigt, hatte an Umfang, Tiefe und Sicherheit gewonnen, und wenn er vielleicht zu sehr glaubte, daß Moskau der einzige Punkt sei, von dem aus die Welt sich aus den Angeln heben lasse, und daneben nichts anderes anerkennen wollte, so entsprang doch dieses Beharren auf einer vorgezeichneten Linie einer Überlegung, mit der man sich auseinandersetzen konnte, und dem Streben nach Plan und System und nicht einer diplomatischen Posteneitelkeit. Aber während diese geistige Persönlichkeit außerordentlich wuchs und erstarkte, rieb sich die körperliche auf. Graf Brockdorff-Rantzau steigerte in Moskau seine Arbeitswut mit einer selbstmörderischen Starrköpfigkeit in's Übermäßige, kannte keine Bewegung in freier Luft, hatte, abgesehen von seinen Nachtgesprächen mit Tschitscherin, keine andere Zerstreuung als die Unterhaltung mit immer höflich bewirteten Gästen, – dann und wann mit einem klugen, Anregung bietenden Besucher und oft mit scheelsüchtigen, arroganten Aushorchern von zuhause und unzufriedenen Geschäftsleuten – und täglich war die Fülle von Ärgernissen und Widerwärtigkeiten wegzuräumen, die jeder Kurier aus Berlin bei ihm ablud, jede engherzige Verfügung der sowjetrussischen Verwaltung, jede Willkür der sowjetrussischen Justiz ihm schuf. Wenn man ihn bat, sich zu schonen, so gingen solche Mahnungen an seinem Ohr unbeachtet vorbei. Aber die enorme Energieleistung und die gewaltsam 298 errungenen Siege über die reizbarsten Nerven nützten nichts mehr, als Blutungen eintraten und das geschwächte Herz ihn im Stiche ließ. Graf Brockdorff-Rantzau, der schwer leidend nach Annettenhöh gereist und dann, trotz ärztlichen Verboten, zu amtlichen Besprechungen nach Berlin gekommen war, erlag der Krankheit, der keine Willenskraft gebieten konnte, still zu stehen. Die Tage und Stunden vor seinem Tode aber zeigten den Grafen Brockdorff-Rantzau des dritten Bildes – diese Stunden, in denen er, fast bis zum Eintritt des Verdämmerns, Testamente seines politischen Willens, Abschiedskundgebungen an den deutschen Staatschef und an die Moskauer Regierung diktierte, den Text mit ruhigem Blick prüfte, änderte, verbesserte und mit seinem Namen unterschrieb, bevor er die letzte Zigarette rauchte und dann entschlief. Er starb als einer, der keinen Stammbaum und kein Wappen brauchte, um ein Herr zu sein. Er soll seinem Bruder gesagt haben, er sei schon in Versailles gestorben, aber gern verzichtet man, während man die abgemagerte Hand den Namenszug hinzeichnen sieht, auf jene zweifelhaften letzten historischen Worte, unter denen das Goethesche »Mehr Licht«, vermutlich von einem literarischen Hausbesorger der Nachwelt gewidmet, allen Denkmalskitsch eines Campo Santo übertrifft. In sich geschlossen, im Zerfall gehärtet, frei von allen Empfindsamkeiten, die an ihm gezerrt hatten, und nun in den unzugänglichsten Regionen des einsamen Denkens sich bergend, zog der romantische Ritter, der kein Träumer der Romantik gewesen war, dem dunklen Lande zu. Und ganz so, als ob es sich um eine weniger weite Reise handelte, erledigte er die Grenzformalitäten, bevor er hinüberfuhr.

 

Im Juni 1914, nach der Segelregatta auf der Unterelbe bei Hamburg, dem üblichen Vorspiel der Kieler Woche, drängte sich auf dem Deck des Hapagdampfers »Auguste Viktoria« die geladene Gesellschaft rauchend, plaudernd, animiert in der frischen, über die breite Stromfläche wehenden Abendluft. Man hatte, wie immer bei Albert Ballin und der Hapag, ausgezeichnet diniert und konstatierte erfreut, daß 299 der Kaiser bei der Tafel ungemein heiterer Laune gewesen war. Die gute Verdauung wurde durch keine pessimistischen Anwandlungen gestört, Daß eine Woche später Franz Ferdinand ermordet sein und dann der Weltkrieg ausbrechen würde, war ja allerdings nicht vorherzusehen. Während ich aus einiger Entfernung den Kaiser betrachtete, der in einer bewundernden Gruppe irgendein technisches Problem erläuterte, ging der Gastgeber Albert Ballin an mir vorbei. »Im Rauchsalon«, sagte er, »ist Brockdorff-Rantzau, er möchte Sie gern kennen lernen, ich habe versprochen, Sie ihm hinunterzubringen.« Ballin war mit Brockdorff-Rantzau, in dieser Zeit Gesandter in Kopenhagen, befreundet, schätzte ihn ungemein und hatte mir viel von ihm erzählt. Ich stieg also in den Rauchsalon hinunter, wo der Graf Brockdorff-Rantzau ziemlich einsam zurückgeblieben war.

Bis dahin hatte ich ihn nur gelegentlich von Weitem gesehen, und jetzt kam er mir noch jugendlicher vor. Fünfundvierzig Jahre sind ja freilich für einen Gesandten nicht viel und für alle ein sogenanntes schönes Mannesalter, aber man konnte ihn auch für jünger halten und dann höchstens meinen, er habe wohl etwas zu hastig gelebt. Als wir Bekanntschaft geschlossen hatten, fragte ich ihn, gegen die Kajütendecke deutend, warum er hier wie ein Eremit in der Einöde bleibe, während rings um die Majestät das höfische Fest in vollem Gange sei. Er antwortete mit der Gegenfrage, ob ich das sehr lustig fände, und machte irgendwelche boshaften Bemerkungen über das, was sich dort oben begab. Wenn er Respekt vor der Krone empfand, so war seine Sympathie für ihren Träger ersichtlich gering. Wie man zu diesem Kaiser stand, war ja nicht nur eine Frage der politischen Intelligenz, sondern auch eine Geschmacksfrage, und es gab da nun einmal vieles, was der Geschmack des Grafen Brockdorff-Rantzau nicht vertrug. Wir sprachen noch ein wenig von Rußland und von der internationalen Situation. So weit ich mich erinnere, zeigte Graf Brockdorff-Rantzau an diesem Juni-Abend nicht mehr Sehergabe als ein anderer – eine Kassandra war nicht an Bord.

300 Während des Krieges sah ich ihn von Zeit zu Zeit, nicht allzu oft. Er leistete in Kopenhagen sehr wichtige Arbeit für die Versorgung Deutschlands mit Lebensmitteln und Rohstoffen und bewies schon bei dieser Tätigkeit, daß er ganz realpolitisch nur auf die Resultate hinzielte und sich um Vorurteile, Schlagworte, Prinzipien und Schablonen so wenig kümmerte, wie ein Seeadler, der auf den Fisch hinunterstößt, sich für den malerischen Sonnenuntergang interessiert. Mit der sozialistischen Regierung Dänemarks stand er ausgezeichnet und seine Helfer und Vertrauensleute fand er hauptsächlich unter den deutschen Sozialdemokraten, deren Verbindung mit den dänischen Parteigenossen ihm wertvoll war. Er schreckte auch nicht vor dem Verkehr mit Geschäftspolitikern zurück, wenn sie klug, geschickt und nützlich waren wie der reiche und genußfrohe Parvus Helphand, der Mäzen angeblicher Staatsfeinde, die in Wirklichkeit nur sehr bürgerliche Ideen hatten, und glaubte nicht, wie eine alte Jungfer, daß seine Seele Schaden erleide, wenn sie mit einer nicht ganz unbefleckten Moral in Berührung kam. Er mißbilligte den unbeschränkten U-Bootkrieg, aber ob er wirklich zu denen gehört hat, die energisch warnten, ist nicht einwandfrei festzustellen. Es hat ja hinterher fast nur noch Leute gegeben, die vor allen Fehlern gewarnt haben wollten, ganz wie in Paris während der ersten Jahre der großen Revolution die Zahl derjenigen, die am Sturm auf die Bastille teilgenommen hatten, in's Unermeßliche stieg. Dagegen ist es eine bewiesene und bezeugte Tatsache, daß Graf Brockdorff-Rantzau zu Anfang des Jahres 1918 ein Anerbieten des Königs von Dänemark, mit England über die Möglichkeit eines Friedensschlusses zu sprechen, nach Berlin brachte und dem wohlmeinenden König dann nur die Antwort zutragen durfte, »Deutschland habe an sich nichts gegen einen solchen vom König beabsichtigten Schritt«. Worauf der König selbstverständlich keine Neigung mehr hatte, sich einzumischen, und der Krieg bis zu dem unvermeidlichen Endergebnis weiterging. In Berlin wurde viel gegen den Gesandten in Kopenhagen intrigiert, erstens weil er den echt nationalen Kreisen zu 301 dänenfreundlich erschien, und zweitens weil er schon so lange auf einem begehrenswerten und auch von anderen begehrten Posten saß. Wie ihn Kreaturen niederen Genres mit Geschichten aus dem Sexualgebiet umzubringen versuchten, habe ich erwähnt. Seinen ersten Besuch in der Kriegszeit machte er mir, um mir dafür zu danken, daß ich ihn von einem Verfolger dieser Sorte hatte befreien können. Später einmal, am 4. November 1917 – unmittelbar nachdem der Freiherr von Hertling sich bereit erklärt hatte, Reichskanzler und Nachfolger des unglücklichen Michaelis zu werden – fand ich ihn, als er bei mir eintrat, ungewöhnlich deprimiert. Sogar sein Sarkasmus funktionierte nicht, der sonst wie ein kräftiger Luftstoß erlösend durch seine Verstimmungen fuhr. Er hatte beim Ausbruch dieser Krise erwartet, daß man ihm, wenn nicht den Kanzlerposten, so doch zum mindesten das Amt des Staatssekretärs für das Auswärtige anbieten werde, und man hatte ihn völlig übergangen. Ich sagte ihm, daß ich gern, im geringen Maß meiner Möglichkeiten, für seine Kandidatur eintreten wollte, aber nur, wenn Kühlmann – der dann Staatssekretär wurde – keine Aussicht hätte oder ablehnte, und er erwiderte, er sei mit Kühlmann befreundet, sei sogar sein Trauzeuge gewesen und träte selbstverständlich hinter ihn zurück. Ich machte ihn noch darauf aufmerksam, daß er gerade denjenigen Parteien, die jetzt mitzusprechen hätten, zu wenig bekannt sei, und tatsächlich hatten ihn außer einigen konservativen Parlamentariern, die seine Standesgenossen waren, eigentlich nur ein paar Sozialdemokraten, durch den Verkehr in Kopenhagen, näher kennen gelernt. Er gab das zu, aber gewisse Beziehungen zu den Freisinnigen habe er bereits angeknüpft. Übrigens habe er soeben, im Vorzimmer Hertlings, Ebert getroffen und ein sehr angenehmes Gespräch mit ihm gehabt. Sein beinahe naiv geäußerter Ehrgeiz, für den der abgedroschene Vergleich mit der Ungeduld eines am Start festgehaltenen Rennpferdes wirklich am besten paßte, konnte mißfallen, wenn man darin nichts als ein subalternes Drängen nach Beförderung sah. Aber es war ein Hindrängen zur Tat, der Wunsch einer 302 selbstbewußten und heftigen Natur, in der gefährlichsten Stunde auf den Kampfplatz zu treten, und es fiel sehr viel helleres Licht auf diesen Ehrgeiz, wenn man an all die Beamten, die bieder und gemütsruhig, aus »Pflichtgefühl« emporklommen, und an den müden Greis Hertling dachte, der zu all seinen bereits gesammelten Auszeichnungen und Ehrenstellen, als handelte es sich einfach um die Krönung seiner Karriere, noch den Reichskanzlerposten fügte, noch einen Stern oder eine Kette zum Schwarzen Adlerorden, noch einen Schmuck für den Sarg.

Genau einen Monat nach dem Ausbruch der Revolution fragte die republikanische Regierung den Grafen Brockdorff-Rantzau, ob er bereit sei, die Leitung des Auswärtigen Amtes zu übernehmen und zu Besprechungen von Kopenhagen nach Berlin zu kommen. Er verfaßte eine Denkschrift, in der er die Bedingungen aufzeichnete, deren Bewilligung und Verwirklichung ihm für die Führung der Außenpolitik unerläßlich erschienen – energische Bekämpfung des Bolschewismus, Aufrichtung und Verteidigung der Staatsautorität, schnelle Einberufung der Nationalversammlung und ein soziales Programm, das die Hoffnungen der heimgekehrten proletarischen Krieger erfüllen sollte, ohne den notwendigen Kredit der Wirtschaft in Gefahr zu bringen. Wie diese sozialen Forderungen und die Interessen der Unternehmer vereinigt werden könnten, wußte natürlich der Verfasser der Denkschrift ebensowenig wie alle anderen, die das Omelette einrühren und kein Ei zerschlagen wollen. Die im Augenblick – und für einen Minister des Äußeren – wichtigste Forderung lautete: falls die Friedensbedingungen unerträglich sein sollten, Ablehnung, Verweigerung der Unterschrift. Da die sozialdemokratischen Volksbeauftragten erklärten, mit alledem einverstanden zu sein, nahm Brockdorff-Rantzau das Anerbieten an. Sicherlich hatte er fiebernd, mit zuckenden Nerven, diese Antwort erhofft, die ihm gestattete, die große historische Aufgabe zu übernehmen, und sie in stolzer Haltung zu übernehmen, und er wäre sehr unglücklich gewesen, wenn man in Berlin gefunden hätte, ein weniger 303 anspruchsvoller Kandidat sei doch wohl vorzuziehen. Am 29. November hatte ich Solf, an diesem Tage noch Minister – oder, da der alte Titel beibehalten war, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes – in seiner Wohnung besucht. Er hatte mich gebeten, zu ihm zu kommen, da er mir erzählen wollte, wie es bei der höchst bewegten Konferenz der Reichsminister, die soeben stattgefunden hatte, zugegangen war. Ich wußte, daß dort Eisner, mit der Rhetorik der großen Ankläger in der französischen Revolution, die sofortige Absetzung Solf's gefordert und dabei natürlich die Unterstützung des Obersten Vollzugsrates gefunden hatte, der noch gefürchtet war und, wie die meisten Götter, sich für ewig hielt. Solf war indessen sehr vergnügt und glaubte, fest zu stehen, was ich, angesichts so deutlich drohender Anzeichen, nicht recht begriff. Er lobte Ebert, der gerade bei ihm gewesen sei, während er den Führer der Unabhängigen im Kabinett der Volksbeauftragten, Hugo Haase, »speieklig« fand. In der Konferenzsitzung habe ihn während seiner Rede Kurt Eisner, der neben ihm saß, fortwährend durch Zwischenrufe gestört. Solf befürchtete, wie ich, einen Diktatfrieden und sehr schwere Bedingungen, wollte nicht für die ganze Dauer der Verhandlungen nach Versailles gehen, sondern nur zur Eröffnungssitzung, und sagte mir, er habe für die Führung der Delegation an den Grafen Bernstorff gedacht. Das alles äußerte er mit einem Optimismus, den er sich bis zur letzten Minute umsomehr bewahren konnte, da man ihn auch dann noch nicht von seiner Ausbootung unterrichtete, als sie bereits beschlossen war und sein Nachfolger, Graf Brockdorff-Rantzau, sich schon auf der Reise nach Berlin befand. In guter Stimmung zeigte mir Solf, bevor ich ihn verließ, noch die Abdankungsurkunde, die der Graf Ernst Rantzau gerade aus Holland gebracht hatte, mit der kaiserlichen Unterschrift. Es war ein großes Blatt mit dem ausgeprägten Adler, der Wortlaut der Abdankung war mit der Schreibmaschine geschrieben, die Urkunde unterschied sich durch diese moderne Schrift sehr von all den alten Dokumenten fürstlicher Entsagung, die in europäischen Archiven ruhen. Wilhelm II. hatte 304 seinen Namen etwas absichtlich kraftvoll hingesetzt. Mit großen Buchstaben, dick gemalten Grundstrichen und mit breiten Schnörkeln darunter, die so dekorativ waren wie ein Tafelaufsatz bei einem Galadiner.

Nun, drei Wochen später, am 18. Dezember, telephonierte mir der Graf Ernst, der »große Bruder« sei eben eingetroffen und wünsche mich zu sehen. In der Wohnung in der Viktoriastraße fand ich Brockdorff-Rantzau, erfüllt von der Bedeutung der Stunde, aber bemüht, kühl und ruhig zu erscheinen, mit einer dieser Kraftanstrengungen, die ihm gestatteten, sich diese freilich kaum täuschende Maske aufzuzwingen. Er nannte mir die Bedingungen, von deren Annahme er sein Jawort abhängig gemacht habe, und angeblich interessierte es ihn, meine Meinung darüber zu hören, obgleich er doch bereits völlig entschlossen war. Er betonte, daß er nicht nur absolute Selbständigkeit in der Führung des Amtes gefordert habe, sondern auch das Recht, die Friedensdelegation nach seinem eigenen Willen zusammenzustellen. Ich sagte ihm, das sei alles ganz schön, aber ich hielte die Regierung für sehr schwach, und auf ihre gewiß ehrlich gemeinten Zusagen sei deshalb nicht unbedingt zu bauen. Ihn selber werde man im Ausland ohne Zweifel für einen Mann des alten Regimes erklären, für einen Junker, einen Imperialisten, und auf eine besonders freundliche Aufnahme – die freilich wohl auch keinem anderen bereitet werde würde – werde er nicht rechnen können. Er fand mich gewiß weniger enthusiastisch, als er erwartet hatte, nahm die Einwendungen aber nicht übel und entgegnete, sie seien sehr richtig, nur könne er nicht mehr zurück, er habe sich Ebert und Haase gegenüber schon verpflichtet, und seine Bedingungen, deren Ablehnung allein ihm noch den Rückzug ermöglicht hätte, habe man angenommen. Ich sei übrigens ziemlich der einzige Mensch hier, der nicht auf dem Standpunkt stehe, man müsse die Flinte ins Korn werfen und es sei doch alles umsonst. Ich entgegnete, Leute, die sofort die Flinte ins Korn werfen, wenn die Dinge schlecht stehen, blieben wohl am besten von allen politischen Kampfplätzen fort. 305 Dann sprachen wir von den bevorstehenden Friedensverhandlungen und waren völlig einig in der Meinung, daß man die Unterzeichnung ablehnen müsse, wenn die Forderungen maßlos seien. Man werde dann ja sehen, ob die Alliierten in Deutschland einmarschieren und wie lange die Ententeregierungen es ratsam finden würden, ihre kriegsmüden Truppen mit einer halb bolschewistischen Bevölkerung in Berührung zu bringen. Von der Straße drang das Geräusch von rollenden Wagen und von Massenschritt herauf – ein Bagagetrain mit Truppen kam, Frauen und Kinder saßen auf den Wagen, Guirlanden und Fähnchen sollten Zeichen der Heimkehrfreude sein, und das Ganze war einigermaßen jämmerlich. Brockdorff-Rantzau wollte es nicht sehen, und wir beeilten uns, den Fenstervorhang vorzuziehen. Am übernächsten Tage bat mich Graf Bernstorff um eine Unterredung, ich traf ihn im Hotel Adlon und er teilte mir mit, daß er auf eine Kandidatur für die Nationalversammlung verzichte, denn er übernehme die Führung der Friedensdelegation. Solf habe ihm diese Aufgabe übertragen und Graf Brockdorff-Rantzau habe ihm erklärt, er selber wolle die Dinge von Berlin aus dirigieren und werde nicht zu den Verhandlungen gehen. Bernstorff, der ohnehin wußte, daß ich ihn – obgleich er unzweifelhaft ein außerordentlich kluger und fähiger Diplomat war – seiner unangenehmen Erlebnisse in Amerika wegen nicht für den geeigneten Delegationsführer hielt, bemerkte offenbar, daß ich seine Mitteilungen mit einiger Überraschung entgegennahm. Er sagte etwas zögernd: »Wir betreiben im Auswärtigen Amt ja seit langem die Vorbereitungen, wir arbeiten täglich viele Stunden daran.«

Graf Brockdorff-Rantzau hatte gesagt, er habe sich gegenüber Ebert und Haase gebunden, und daraus ging schon hervor, daß nicht nur die Mehrheitssozialisten sich mit seiner Berufung einverstanden erklärt hatten, sondern auch die Unabhängigen, deren Chef Hugo Haase war. Wäre bei ihm das Sonderbare nicht manchmal gerade das Naheliegende gewesen, so hätte man sich darüber wundern können, daß er dann auch weiter, von seiner persönlichen 306 Neigung für Ebert abgesehen, eigentlich besonders gut mit diesen Radikalen stand. Es hieß immer, sie hielten alle Stühle in seinem Vorzimmer besetzt. Ganz so war es ja nicht, aber die Beziehungen wurden von beiden Seiten eifrig gepflegt, bis schließlich die Unabhängigen den Minister in der entscheidenden Stunde im Stich ließen und seine Nähe mieden, als hätten sie plötzlich die bösesten Eigenschaften an ihm entdeckt. Wahrscheinlich hatte er geglaubt, sie durch liebevolle Behandlung gewinnen zu können, während sie, in ihrem Haß gegen die Mehrheitssozialisten, sich zu diesem neuen Ankömmling hingezogen fühlten, der zwar ein Aristokrat war, aber kein Konkurrent, keiner, der mit ihnen um die Proletarierseele rang. Und bei Brockdorff-Rantzau, der in seiner ganzen Denkweise doch nicht über die Linie einer gemäßigten und geordneten Demokratie hinausgehen konnte und nur als ein von den besten Absichten beseelter Dilettant sich für Sozialisierungsprojekte erwärmte, war diese Umtändelung der radikaleren Geister auch wieder eine jener kleinen Koketterien, in denen er sich gern erging. Obgleich ihn im Kreise der Volksbeauftragten eine ziemlich allgemeine Sympathie und eine gewisse Dankbarkeit empfingen, muß das erste Zusammentreffen doch eigenartig gewesen sein, denn fremdartiger kann nicht der letzte, übriggebliebene Zentaur in den Straßen einer Stadt wirken, als der Kavalier des ancien régime durch Gesicht, Gestalt, Auftreten und Manieren inmitten der Bürgerlichkeit, der braven Kleinbürgerlichkeit wirken mußte, die ihn hier umgab. Den alten Führern der deutschen Sozialdemokratie, den Bebel, Auer, von Vollmar, Wilhelm Liebknecht, Singer, hatten geistige Arbeit oder lange Handhabung des Parteikommandos auch äußerlich etwas Imponierendes gegeben, das der neuen Generation nicht verliehen war, und in so bescheidenen Verhältnissen war sicherlich schon die Perle an der Krawattennadel des merkwürdigen Kollegen ein auffälliger Gegenstand. Er selber fand sich mit Leichtigkeit zurecht oder zeigte doch nichts Gezwungenes, widersprach durch sein ganzes Verhalten jedem Zweifel an seiner demokratischen Gesinnung und an seiner engen Verbundenheit 307 mit den Arbeitermassen, ließ all seine großen und kleinen Künste spielen, hatte abwechselnd die ernste Würde, die scharfe Entschiedenheit, das heitere Scherzwort, die amüsante Konversation, die kameradschaftliche Herzlichkeit, bewies während der Straßenkämpfe den eingeschlossenen Volksbeauftragten seine Solidarität unter anderm auch durch ein frohes Trinkopfer, eine aus der Viktoriastraße herbeigeschaffte ehrwürdige Cognacflasche, und betonte sein Herrentum, ohne es preiszugeben, nur in Augenblicken, wo es nicht als Standeserbteil, sondern als staatsmännische Willenskraft erschien. Mit einiger Bestimmtheit darf man annehmen, daß er vor seinem Debut sich die Einzelheiten, Ton, Miene und Geste, sorgfältig zurechtlegte, wobei sein Zwillingsbruder Ernst gewissermaßen die Rolle der Theatermutter innehatte, die in der Garderobe noch einen letzten prüfenden und nichts versäumenden Blick auf ihren Liebling wirft. Niemand aber ist unkomödiantischer, gewissenhafter und mit mehr selbstverständlicher Korrektheit ein republikanischer Minister und dann ein republikanischer Botschafter gewesen als er. Nachdem er einmal den entscheidenden Schritt getan hatte, schielte er nicht mehr rückwärts, sah er sich nicht mehr, wie so viele andere, für alle Fälle nach Hintertüren und versteckten Schmugglerpfaden um.

Absolut aufrichtig war auch die Sympathie, die Graf Brockdorff-Rantzau sehr bald für Ebert empfand. Auch im intimsten Gespräch, wo er sich nicht genierte, kam eine echte Wärme in seine Stimme, war sein Urteil mehr als nur Anerkennung, wenn er von Ebert sprach. Ebenso, in gleichem Gefühl, war Ebert über die Mitwirkung Brockdorff-Rantzaus erfreut. Er war in seiner Personenwahl nicht immer glücklich, eine weltmännische, elegante Sicherheit, Äußerlichkeiten einer sich höher glaubenden Gesellschaftsschicht konnten ihn mitunter zu sehr beeinflussen, oder er hielt sie doch allzu schnell für verwendbar, wollte auch den Anschein ängstlicher und enger Parteilichkeit vermeiden, und so vertraute er eines Tages, nachdem seine Frage, ob man den Hapagdirektor Cuno für einen geeigneten 308 Außenminister, für den richtigen Nachfolger des ermordeten Rathenau halte, wohl von allen, auch von mir, verneinend beantwortet war, diesem liebenswürdigen und ehrbaren Hamburger, dem hochgewachsenen Repräsentanten der konservativen Großbourgeoisie, sogar ohne Zwischenstation das Reichskanzleramt an. Die Neigung für Brockdorff-Rantzau wird man zu diesen Irrtümern nicht zählen können. Hier empfand er nicht nur den äußeren Zauber, sondern auch einen inneren Wert. Und dann, er hatte allerlei gelesen und gelernt und kannte die Geschichte der französischen Revolution. War es nicht immerhin ein interessantes Zusammentreffen, daß die deutsche Volksregierung einen Grafen Brockdorff-Rantzau hatte, wie die Konstituierende Versammlung den Comte de Mirabeau?

Graf Brockdorff-Rantzau war freilich kein Mirabeau, und da er, bei allem Selbstbewußtsein, genügend strenge Selbstkritik übte, hätte er Schmeichlern, die diesen Namen neben den seinigen gestellt hätten, die treffende Antwort erteilt. So wenig wie er die cyklopische Statur, die Pockennarben, die Haarmähne und die »Laster« Mirabeaus hatte, so wenig hatte er die ungeheure Saftfülle, die in keinem Gefängnis verkümmernde Fruchtbarkeit dieses eruptiven Genies. Die Rednergabe, so stürmend und hinreißend bei Mirabeau, fehlte ihm ganz. Auch wenn man berücksichtigt, daß im Nebel ferner Vergangenheit die Persönlichkeiten oft größer erscheinen, die Phantasie zu dem wahren Maß der historisch gewordenen Figuren gern noch etwas hinzufügt, sind die zwei kein Paar. Aber dem Grafen Brockdorff-Rantzau fiel auch garnicht, wie dem Grafen Mirabeau, eine starke Rolle in dem revolutionären Schauspiel zu. Ganz abgesehen davon, daß das, was man die deutsche Revolution nannte, kein starkes Schauspiel war. Der Graf Brockdorff-Rantzau kam, wie die anderen, durch die Revolution in den Vordergrund, er nahm ihre Prinzipien an, er stellte sich in ihren Dienst, er verlangte auch, sie mitbeaufsichtigen zu dürfen, aber er vertiefte sich nicht in sie, es war nicht seine Sache, nicht seine Mission, den Staat im Innern zu organisieren und aufzubauen. Den Staat nach außen hin zu verteidigen, gegen 309 die Friedensbedingungen, die drohend heranrückten, das war seine Sache, seine Mission und seine Leidenschaft.

Man hat sich einen seelischen Zwiespalt, der ihm Beklemmungen verursacht haben müsse, vorgestellt. Der Aristokrat und der »Diener und Nutznießer der Revolution«, also im Grunde selber ein »November-Revolutionär«. Aufgewachsen in den alten Traditionen und nun von Herkommen und Umgebung losgelöst. Der Bruder Ernst war noch, wenn auch fern von dem ins Ausland verlegten Hoflager, Berater Wilhelms, die Tante Brockdorff, von den Neffen pietätvoll respektiert, hatte als Oberhofmeisterin der Kaiserin unermüdlich das Haus und die Hausregeln überwacht. Mußte der Graf Brockdorff-Rantzau, Minister der Republik, nicht mit zerrissener Seele umhergehen, ein Werther der Politik? Ich für mein Teil habe nicht den Eindruck gehabt, daß er an solcher Zerrissenheit übermäßig litt. Sein Unabhängigkeitssinn, seine Entschlossenheit, seine Draufgängernatur, sein nach vorwärts gerichteter Wille bewahrten ihn davor. Er hatte in Gemüt und Geist Wilhelm II. immer abgelehnt, und daß mit dem Monarchen die Monarchie gestürzt war, erschien ihm, wenn er von einem höheren Aussichtspunkte hinunterblickte, als eine der vielen Etappen auf dem weltgeschichtlichen Wege und, wenn er es mit dem Herzen wog, weit leichter wiegend als das Schicksal von Land und Volk. Die Bilder seiner Ahnen konnten nicht Rechenschaft von ihm fordern, denn diese Vorfahren hatten für so verschiedene heiligste Dinge gekämpft. Und er kämpfte, indem er von dem Gewesenen zum Gegenwärtigen sich hinwandte, im Lager der Nation, und einzig für seine Nation. Mit den preußischen Junkern hatte er nur sehr wenig Berührung gehabt, sie hatten ihn nur in seltenen Ausnahmen interessiert. Die meisten von ihnen nahmen ihm aber den Übergang zur Republik auch garnicht übel, oder sie verurteilten ihn doch nur unaufrichtig, um vor anderen keine Schwäche zu zeigen, – in Wahrheit waren sie nicht unzufrieden, denn in der Tatsache, daß der Edelmann aus altem Geschlecht, mochte er auch ein entgleister und mit dem Pöbel fraternisierender Edelmann sein, der Regierung angehörte, sahen sie eine Garantie für 310 ihren Besitz. Einmal, als er in der Nationalversammlung in Weimar eine Rede hielt, meinte Graf Brockdorff-Rantzau, argwöhnischen Abgeordneten auf der Linken erklären zu müssen, daß man Graf sein könne und trotzdem Demokrat. Daß er das so vorbrachte, konnte als ein Verstoß gegen den guten Geschmack gelten, denn er brauchte sich garnicht zu verteidigen oder zu entschuldigen, aber er wollte damit keineswegs sein Inneres erleichtern, sich nicht von einer Bedrücktheit, nicht von eigenen Zweifeln befreien, und es war nicht ein Seufzer, sondern ein rhetorischer Mißgriff, ein mißglücktes Aperçu. Nein, er war nicht innerlich zerrissen, wie die Opfer des Zwiespaltes zwischen Gebot und Liebe, oder zwischen altem und neuem Glauben, wie die Liebenden im »Horace«, oder wie Uriel Acosta, und er suchte nicht selbstquälerisch in dem Nachsinnen über dieses Thema seine tägliche Beschäftigung. Um noch einen Grund zu nennen, der freilich als poetisches Motiv nicht verwendbar ist: er hatte keine Zeit dazu.

Der Biograph Stern-Rubarth gebraucht einmal, als er das Ringen und die Arbeitswut des Grafen Brockdorff-Rantzau kennzeichnen will, den Ausdruck »Besessenheit«. Es ist das treffende, das am besten charakterisierende Wort. Brockdorff-Rantzau war bis zur Besessenheit erfüllt vom Gedanken an die politische Aufgabe, die er vor sich sah oder mit deren Durchführung er schon beschäftigt war. Er blickte, wie ein Rennfahrer, auf das Ziel in einer Besessenheit, vor der alles umher verschwand. Dieser rabiate Wille, ans Ziel zu kommen, beherrschte ihn so völlig, daß er seine Kräfte rücksichtslos verbrauchte, seinem Leben, aus dem alles andere fortgestrichen schien, nur diesen einzigen Sinn, diesen einzigen Inhalt ließ. In der Unterhaltung suchte er, sein Gegenüber ausforschend, Anregung oder Material für seine Aufgabe, und ein unerfahrener Besucher, der ausgehöhlt wurde wie ein schwächerer Käfer von einem stärkeren, war obenein überzeugt, das Interesse gelte ihm selber, seiner Person. Diese Anspannung des Geistes und des Willens auf einen bestimmten Punkt hin, ungefähr vergleichbar mit der geistigen Energie eines Gedankenlesers, der auf die von 311 einem Zuschauer versteckte Nadel losgeht, konnte den Erfolg sichern, konnte aber auch zur Einseitigkeit verleiten und dann nachteilig sein. Wenn sich das planvolle Denken zu sehr auf einen bestimmten Weg konzentriert, wird vielleicht ein anderer Weg verfehlt. Man ist nicht immer Columbus, der, während er nach Indien fahren will, Amerika entdeckt. Mit dieser absoluten Konsequenz nicht nur in der Verfolgung einer jener Ideen, die wie Weltanschauungen die leuchtenden Leitsterne sind, sondern auch in der Befolgung der taktischen Mittel, wird man eher ein großer Botschafter als ein Staatsmann, der den ganzen Horizont überblicken und nach allen Seiten hin manövrieren muß. Graf Brockdorff-Rantzau, in Moskau ein großer, ein wirklich großer Botschafter, war bisweilen nicht einverstanden mit der Politik der Berliner Regierung, die von ihrer zentralen Warte aus die außerordentliche Bedeutung des Ostens wohl begriff, aber häufig und rauh daran gemahnt wurde, daß es noch drei andere Himmelsrichtungen gab. Sicherlich hätte er, wäre er länger in dieser Berliner Zentrale und für die gesamte Außenpolitik verantwortlich gewesen, die Fähigkeit erlangt, mit ruhiger Hand viele Fäden gleichzeitig zu halten und die eigene Leidenschaftlichkeit niederzuzwingen, aber ebenso viel, wie der staatsmännische Geist an Reife gewonnen hätte, wäre vielleicht der Persönlichkeit an Eigenart verloren gegangen. Drei Elemente beherrschten die Tiefe seines Wesens, waren das Bleibende, die inneren, unsichtbaren Züge, die Züge des dritten und letzten Bildes, hinter dem Bilde der widerspruchsvollen Erscheinung, der fesselnden Romanfigur. Der Willensfanatismus des »Besessenen«, die vornehme Scheu des Einsamen und der Glaube, der einer stärkenden Zuversicht gleicht und, anders als der politische Wille, sich keine bestimmten Ziele setzt. Mancher fand, der Graf Brockdorff-Rantzau habe eine verführerische Glühwurmnatur, die leicht in die Irre führen könnte und die nicht ganz vertrauenerweckend sei. Andere, das seelische Geheimnis herausfühlend, liebten ihn wegen seiner Gläubigkeit, seiner Einsamkeit und seiner Besessenheit.

In den Monaten, die seiner Fahrt nach Versailles 312 vorausgingen, sah ich ihn oft. Wir waren einig in der Meinung, daß ein Friedensvertrag, der den umherschwirrenden Gerüchten, Andeutungen und Prophezeiungen entspräche, nicht unterzeichnet werden dürfe, und in der gemeinsamen Kampfstimmung kam in die bis dahin nur angenehmen Beziehungen eine freundschaftliche Herzlichkeit. Er bat mich, ihn zu unterstützen, ihm die Gegner vom Halse zu halten, besonders Erzberger, der vom ersten Augenblick an nur darauf wartete, ihm ein Bein stellen zu können. Obgleich mein Beistand ja eigentlich nicht ihm, sondern der Sache galt, war er, und bis zu seinem Tode, voll Dankbarkeit, und hinter den Schmeicheleien, an denen er es nach seiner Gewohnheit nicht fehlen ließ, war, wie ich glaube, ein echtes Gefühl. Daß Friedensbedingungen, die ein Land willkürlich zerreißen, auf lange Zeit hinaus ein großes Volk fesseln, ihm unentbehrliche Lebensquellen nehmen und somit ewig reizbare Wunden erzeugen würden, nicht nur verwerflich seien, sondern auch verworfen werden müßten, schien uns klar. Jede natürliche Empfindung lehnte sich dagegen auf, und ebensosehr jede politische Vernunft. Wenn die deutsche Republik, schon mit dem Waffenstillstand belastet, auch noch den furchtbarsten Friedensvertrag hinnahm, dann brachte sie aus der Geburtsstunde eine unheilbare Krankheit ins Leben mit. Wie der Oswald der »Gespenster«, der für die väterlichen Sünden büßt. Unzählige der Soldaten, die auf beiden Seiten gekämpft hatten, waren in ihren Schützengräben – genug Äußerungen und Briefe bewiesen es – erfüllt von dem Gedanken, diesem entsetzlichen Krieg werde die große Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich folgen, das Opfer werde nicht ganz vergeblich gewesen sein. Nicht der Rächer sollte ex ossibus auferstehen, sondern endlich der Geist der Eintracht und Brüderlichkeit. Dies waren ideale Träume, in den Pausen zwischen den infernalischen Stürmen von schönen Menschenkindern geträumt, die dann gewiß alle von einer Granate oder einem Bajonett oder vom Giftgas erreicht worden sind. Aber auch nüchterne Realpolitiker hatten einen Frieden erhofft, von dem man würde sagen können, in ihm habe, wer immer auf dem 313 Schlachtfelde als Sieger dastehe, die Klugheit gesiegt. Diejenigen, die während der Kriegsjahre selber die Fortnahme fremden Gebietes, die Unterjochung einer abgeneigten Bevölkerung und die Mißachtung der mit den Menschen geborenen Rechte laut und skrupellos gefordert hatten, waren jetzt ungeeignete und schädlich wirkende Anwälte der Gerechtigkeit und der Moral. Der Säufer, dem der Wein entzogen wurde, wird verhöhnt, wenn er Enthaltsamkeit predigt, und der Liebhaber fremder Brieftaschen tut gut, nicht zu schreien, wenn ihm ein glücklicherer Kollege die Uhr aus der Tasche gezogen hat. Diejenigen, deren Rechtssinn sich nicht verrenkt und verbogen hatte, waren zum Protest, zum entrüsteten Widerspruch legitimiert. Aber in allen Ländern waren diejenigen zahlreich, die ihre schlechten Instinkte zu Tugenden umstempeln wollen, indem sie ihnen die Aufschrift »patriotisch, national« geben, ganz wie der Opiumschmuggler seine Ware unter falscher Bezeichnung über die Zollgrenze bringt.

Auch wenn ich mich bemühte, die Dinge vom Standpunkt der Gegner aus zu sehen, mich in die Interessensphäre Frankreichs und der anderen zu versetzen, kam mir ein Friedensvertrag, der tief in das Fleisch und in die Seele des deutschen Volkes hineinschnitt, falsch, grauenhaft unsinnig vor. Für wielange glaubte man denn, mit der Uhr in der Hand, die erhofften Wirkungen eines zerschmetternden Friedens berechnen zu können? Und wenn man, wie mancher es forderte, Deutschland zerstückelte, den Süden vom Norden trennte oder die ganze alte Kleinstaaterei wieder aufrichtete, schuf man sich auf die Dauer keine Ruhe, sondern nur eine immerwährende Unruhe, eine erst unterirdische und schnell wieder aufsteigende Brandgefahr. Die Nation, die nach langem Ringen zur Einheit gelangt war, sie gekannt und genossen hatte, ließ sich nicht so leicht wieder auseinanderreißen, überall müßten, in dunkler Verschwörung oder offenem Aufstand, die Einheitskämpfe wieder beginnen, die Teile einander zustreben, die künstlich abgedämmten Wasser wieder in das gemeinsame Becken rinnen. Wollten die Sieger in jedem der deutschen Staaten ein Heer 314 unterhalten und, wie es einst Österreich in Italien machte, das ganze Land unter polizeiliche Aufsicht stellen? Auch diese Mittel konnten nichts nützen, und je mehr Wachposten und geheime Horcher man hinschickte, desto lebhafter und bewegter mußte es im Lande zugehen, und desto mehr war die europäische Ruhe bedroht. Ich erinnere mich, daß ich in jenen Tagen dem Vertreter einer großen französischen Zeitung sagte: »Es ist doch nur zweierlei denkbar – entweder ihr müßt Deutschland zerhacken, abwürgen und für mindestens hundert Jahre wehrlos machen, oder ihr müßt es durch einen Freundschaftsvertrag an euch binden und euch so die Sicherheit und die Machtstellung verschaffen, die ihr mit Recht beansprucht und die ihr braucht. Und da es nicht möglich ist, Deutschland abzuwürgen – denn es würde immer wieder aufleben – so sollte kühle und klare Überlegung euch davon abhalten, durch irrsinnige Friedensbedingungen den Weg zur Freundschaft, zur Entente, zu versperren.« Es wird hoffentlich keine Kriege mehr geben, aber wenn ein solches Unheil noch einmal hereinbrechen sollte – immer wieder würde der Sieger, wie er nun auch heißen möge, zu wählen haben zwischen der Forderung der Leidenschaften und dem Gebot der Vernunft. Die Leidenschaften würden mit jedem Male gewaltiger anstürmen, aber immer wieder müßte das Resultat einer realistischen und selbst im berechtigten Haß unbeirrten Überlegung die gleiche Warnung sein.

Wir wußten wohl, daß der Versuch, durch eine Ablehnung der Unterschrift Zögern und Zweifel in einem Teil des feindlichen Lagers hervorzurufen und die Einigkeit zu zersetzen und aufzulösen, ein sehr fragwürdiges und gefährliches Unternehmen war. Aber es war ein heroischer Versuch, der gewagt werden mußte, und wahrscheinlich hätte man ihn aussichtsreicher gefunden, hätte man damals schon Informationen über die Vorgänge auf der Pariser Konferenz, die so sehr an den Zwist der Könige vor Troja erinnerten, in Händen gehabt. Zehn Jahre später habe ich Lloyd George bei einer Abendmahlzeit in seinem Landhaus im Surrey gefragt: »Wenn wir nicht unterzeichnet hätten, was wäre 315 geschehen?« Lloyd George lächelte überlegen und antwortete: »Deutschland hätte die Waffenstillstandsbedingungen nicht annehmen sollen.« Dann entwickelte er, indem er dabei über der unbedeckten Mahagoniplatte des Tisches illustrierende Handbewegungen machte, den strategischen Rückzugsplan, den die Deutschen hätten ausführen müssen, bis zum Halt hinter dem Rhein. Er versicherte, daß er in diesem Falle nach England gefahren wäre und dem englischen Volke gesagt hätte, der Krieg habe lange genug gedauert, der Sieg sei errungen, und daß es notwendig und nützlich sein sollte, diesen blutigen und aufreibenden Kampf auch noch auf deutschem Boden fortzusetzen, vermöge er nicht einzusehen. Das englische Volk wäre sicherlich der gleichen Meinung gewesen, es hätte ihm zugestimmt, und Frankreich hätte entweder allein weiterkämpfen müssen, oder es hätte sich mit einem billigeren Frieden begnügt. Das alles klang, von dem lebhaften und gesprächigen Lloyd George mit der Bestimmtheit des unfehlbar Wissenden vorgetragen, außerordentlich einleuchtend, aber den Abschluß des Waffenstillstandes hatte nun einmal die deutsche Oberste Heeresleitung, hatte zuletzt noch Hindenburg durch telegraphische Weisung befohlen, und wenn ich wieder fragte, was nach der Ablehnung des Friedensvertrages erfolgt wäre, zog sich auch der vielwendige Hausherr, wie er es leider den Deutschen nicht rechtzeitig hatte empfehlen können, in eine Abwehrstellung, hinter einen Rhein zurück.

Selbstverständlich konnte die Erklärung, ein unerträglicher Vertrag werde nicht unterschrieben werden, nur dann Eindruck machen, ernstgenommen werden und die Haltung der gegnerischen Mächte beeinflussen, wenn man hinter ihr eine Vereinigung aller Kräfte und den festen Willen aller an einer Entscheidung beteiligten Parteien sah. Wenn die Mauer an einer wichtigen Stelle zerbröckelte und brach, half es wenig, daß sich vor die Bresche, die aller Erfahrung zufolge immer breiter werden mußte, ein Redner stellte und, heilige Schwüre deklamierend, die Arme reckte, als könnten sie die Lücke verbergen oder eine Barriere sein. Die Regierungen der Ententemächte schickten Agenten und 316 Beobachter nach Berlin, die dem Volke und besonders seinen Wortführern, Parlamentariern und Publizisten, wie Ärzte den Puls befühlten und nach Feststellung des Kräftezustandes täglich einen Löffel beruhigender Medizin verabreichten, mit freundlichem Zuspruch und der Versicherung, nach der Annahme der Friedensbedingungen, einer reinen Formalität, werde sich alles zum besten wenden und der Patient, von helfendem Wohlwollen umgeben, werde schnell seine volle Gesundheit zurückerlangen. Diese humanen Sendboten wurden gut aufgenommen in der Umgebung Erzbergers, bei gewissen Sozialisten, die noch etwas radikaler waren als die Parteileitung der Unabhängigen, und bei Personen, deren Überzeugungen auswechselbar waren, wie die Platten auf dem Grammophon. Vor allem diejenigen, die wie Maximilian Harden am eifrigsten zum Kriege getrieben, ihn gepriesen und bejubelt hatten, bemalten sich dick mit der weißen Farbe der Tugend, riefen laut: »wir allein sind die wahren Pazifisten« und forderten die anderen, die nicht so viel wie sie selber abzubüßen hatten, zur Bußfertigkeit auf. Während von solchen neuen, verspätet, aber geräuschvoll eingetroffenen Mitgliedern der Friedensgemeinde die Agenten der Alliiertenfront die Versicherung erhielten, daß Deutschland ganz bestimmt jeden Vertrag unterzeichnen werde, waren alle echten und ernsthaften Vertreter und Vorkämpfer der pazifistischen Organisationen, wie Schücking und Quidde, und auch die dem Nationalismus am meisten fernstehenden Diplomaten, wie Lichnowsky, für entschlossenen Widerstand gegen Bedingungen, die nicht den erhofften Völkerfrieden brächten, sondern fortdauernden giftigen Völkerhaß und Streit. Der geeignete Platz für den Bau eines Friedenspalastes schien ihnen nicht der Gipfel des Vulkans zu sein.

Die Herren, die mit dem Auftrage nach Berlin kamen, Stimmung für die Unterzeichnung zu machen, waren zumeist sehr geschickt ausgewählt. Man nahm fast nur Persönlichkeiten, die schon vor dem Kriege in Berlin gelebt hatten, von jener Zeit her Beziehungen in politischen Kreisen besaßen, immer als Freunde Deutschlands gegolten 317 hatten oder doch als Anhänger der Verständigungsidee. Der gewandteste von allen war der Professor Haguenin, der für das französische Propagandageschäft reiste, seine Sache mit graziöser Überredungsgabe vortrug und für jeden das, was ihn locken konnte, in Bereitschaft hielt. Er war nicht absolut unehrlich, hätte, schon weil er doch wieder mit den Deutschen gut zu stehen wünschte, einen Versöhnungsfrieden vorgezogen, und wenn er bisweilen nicht alles glaubte, was er sagte, so hätte er es doch gern geglaubt. Bei mir machte er Ende März seinen ersten Besuch. Ich sagte ihm sofort, daß er von mir nicht die gleichen zustimmenden Antworten erwarten dürfe, die ihm, wie ich wüßte, andere gegeben hätten, und daß ich geblieben sei, was ich immer gewesen war, nämlich Gegner eines jeden Nationalismus, einer jeden Gewaltpolitik, einer jeden Rechtsbeugung, ganz gleich, ob derartiges von hier komme oder, wie in diesem Augenblick, von dort. Er bedauerte sehr, daß man sich in Paris auf einen falschen Weg verrannt habe, aber man betrachte die Dinge dort noch immer militärisch statt politisch, habe Mißtrauen gegen Deutschland, halte es für sehr stark und für sehr schlau und meine, man habe hier den Bolschewismus, den Hunger und die Republik nur erfunden, um die anderen Mächte zu täuschen, und das alles sei »camouflage«. In Berlin sagten die Amerikaner und die Engländer: »nur die Franzosen haben die Schuld«, und in Paris sagten besonders die Amerikaner, die Regelung mit Deutschland müsse man den Franzosen überlassen, das gehe Amerika nichts an. Er halte die Politik, die Deutschland möglichst verkleinern und ohnmächtig machen wolle, für falsch, und es sei sinnlos, wenn Frankreich glaube, hunderte von Milliarden erhalten zu können. Aber er müsse jetzt einen Bericht an Clémenceau senden und wisse nicht recht, was er schreiben solle – die Dinge seien sehr kompliziert, und Clémenceau wolle immer alles einfach dargestellt, gewissermaßen in einer primitiven Einfachheit sehen. Ich erwiderte, dann brauche er ja nur das ganz Einfache zu berichten, daß Deutschland zur Ablehnung unerträglicher Bedingungen entschlossen sei. Und eine sehr einfache Wahrheit sei es doch 318 auch, daß ein aufgezwungener Gewaltfriede nur das eine Resultat haben würde, die nationalistische Reaktion in Deutschland wieder an die Macht zu bringen. Der Professor Haguenin äußerte sich noch tadelnd über Tardieu, der Europa nicht kenne und weit schlimmer sei als Clémenceau. Haguenin war sehr melancholisch, sehr pessimistisch, sehr betrübt. Bei einem späteren Besuche, Ende Mai, als schon die Friedensbedingungen vorlagen, nahm er aus seiner Rocktasche drei Briefe, die er aus Paris erhalten hatte, las Sätze daraus vor und gestattete mir sogar einen Einblick in einige Teile dieser Korrespondenz. Ein hoher Beamter des Quai d'Orsay, den er mir nannte, schrieb, Frankreich mache eine falsche Politik, viele sähen das ein und begriffen die Notwendigkeit, mit Deutschland wieder in Verkehr zu kommen, aber Clémenceau schiebe alle Bedenken beiseite, und im übrigen: »Was wollen Sie, der Frühling in Paris ist herrlich, die Frauen sind elegant und zeigen ihre hübschen Beine, man will nichts Unangenehmes hören und sagt sich: sie werden schon unterzeichnen, und wenn nicht, so wird Foch schon das Richtige tun.« Ob das so leicht sein werde, überlege man sich nicht. Die anderen zwei Briefe, wie der erste natürlich nicht für den Gebrauch in Berlin geschrieben, waren auf einen ähnlichen Ton gestimmt. »Pour la beauté de la chose«, sagte Haguenin, »würde ich beinahe wünschen, die Leute, die eine so falsche Politik gemacht haben, erhielten einen Denkzettel und Deutschland verweigerte wirklich die Unterzeichnung, aber ich glaube nicht, daß Sie das können. Es erscheint mir unmöglich, Foch würde rücksichtslos vorgehen, die Militärs hätten dann wieder das Wort, Deutschland würde es nicht aushalten, und ich habe auch den Eindruck, daß man hier schwankend geworden ist und sich auf die Unterzeichnung vorzubereiten beginnt.« Ich beteuerte, das sei ein Irrtum, die gegenwärtige Regierung werde einen solchen Vertrag nicht annehmen, bliebe also nur die Unterzeichnung durch ein neues Kabinett, durch ein Kabinett der radikalen Unabhängigen, Erzbergers und einiger Outsider, das allerdings nichts hinter sich haben und wieder verschwinden würde, bevor noch die Tinte der Unterschrift 319 getrocknet sei. Ich versuchte damals, für den Fall, daß der Widerstand zusammenbrechen sollte – was schon wahrscheinlich wurde – die maßgeblichen Personen von der Notwendigkeit einer solchen Taktik zu überzeugen, die mir, weil sie den Alliierten sehr unwillkommen hätte sein müssen, als die empfehlenswerte erschien. Es kam auch vor, daß der Professor Haguenin mir Bruchstücke eines Berichtes zeigte, den er, wie er versicherte, an Clémenceau geschickt hatte, und der hoffentlich unversehrt an seinem Bestimmungsort eingetroffen war. Kurz und gut, der Professor Hagenuin begnügte sich, wie geschickte Komödiendichter, nicht mit der geistvollen Causerie, sondern hatte zur Steigerung der Handlung auch immer einen Überraschungseffekt zur Hand.

Bei weitem kunstloser als der Professor Haguenin entledigte sich der amerikanische Gesandte Dresel, der schon vor dem Kriege der Botschaft in Berlin angehört hatte, seiner Mission. Dieser sonst gleichfalls sehr höfliche Mann äußerte, als er mit einem stumm lächelnden Begleiter in mein Zimmer getreten war, auf etwas aggressive Weise, er begreife nicht, daß ich, ein so alter Bekannter von ihm, das deutsche Volk von der Unterzeichnung zurückhalten wolle, und ob ich meinte, eine solche Verantwortung tragen zu können. Ich antwortete, daß mir meine Verantwortung leichter scheine, als die Verantwortung derjenigen, die uns diesen Vertrag aufzwingen wollten, und so stritten wir eine Weile lang herum. Plötzlich kam aus dem Telephonapparat auf dem Schreibtisch das Klingelzeichen, und als ich den Hörer ans Ohr legte, meldete sich Brockdorff-Rantzau, der mich zu sprechen wünschte und sofort eine Unterhaltung begann. Der Gesandte Dresel und der stumm lächelnde Begleiter blickten ein wenig zu neugierig auf den Apparat, und da ich es für ratsam hielt, sie nicht auf die richtige Spur zu bringen, schrie ich den unsichtbaren Geist in der Telephonleitung an, er möge mich nicht stören, ich hätte jetzt gar keine Zeit. Brockdorff-Rantzau begriff sogleich die Situation und brach ab. Hinterher erzählte er vergnügt renommierend, er sei von mir schimpflich behandelt worden, ich hätte die 320 Gelegenheit ausgenutzt und ihm alle erdenkbaren Grobheiten versetzt. Er hätte sich mit jenem König von Frankreich vergleichen können, der bei einem Maskenfest, um nicht in seiner Verkleidung erkannt zu werden, sich von seinem Hofmarschall prügeln ließ und dem etwas zu kräftig drauflosschlagenden Vertrauten sagte: »Du verkleidest mich zu sehr.«

Anfang Februar hatten die Sitzungen der Nationalversammlung in Weimar begonnen. Weimar war ein beschneites Idyll, der Theatersaal, in dem am 6. Februar die Versammlung eröffnet wurde, war mit Blumen geschmückt wie zu einem bescheidenen bürgerlichen Hochzeitsfest, aber damit waren die idyllischen und die hochzeitlichen Eindrücke erschöpft. In den Hotelhallen und in den Restaurants unterhielten sich die Abgeordneten, Journalisten und Personen, die in der Überzeugung von ihrer Unentbehrlichkeit nach Weimar gekommen waren, und jede Clique und jeder Stammtisch verschanzte sich gegen die Clique und den Stammtisch nebenan. Sehr schnell ließ sich erkennen, daß mit einer einheitlichen Gestaltung des Reiches garnicht zu rechnen wäre, denn die partikularistischen, landsmannschaftlichen Empfindungen überwogen, und ebenso schnell konstatierte man, daß bereits ein ziemlich allgemeines Geraufe um die Regierungsposten im Gange war. Eifersucht der Parteien und persönlicher Ehrgeiz traten manchmal recht ungeniert auf. Es handelte sich um das Amt des Versammlungspräsidenten, das die Sozialdemokraten für den Abgeordneten David und die Zentrumsparteiler für ihren Fehrenbach begehrten, und es handelte sich um die Verteilung der sechzehn Ministerportefeuilles, von denen die Sozialdemokraten acht erhalten sollten und Demokraten und Zentrum je vier. Am Morgen vor der Eröffnungssitzung bat mich der demokratische Parteiführer Fischbeck, – mit dem ich oft in Konflikt geriet und den ich doch für weit klüger hielt, als den großen Parteiredner und ideologischen Apostel Friedrich Naumann – zu Brockdorff-Rantzau zu gehen und ihn zu fragen, ob er nicht in die demokratische Fraktion eintreten wolle, was, da er dann als einer ihrer Vier gezählt 321 worden wäre, die Lösung des Problems hätte erleichtern können. Im anderen Falle sollten die Demokraten nur drei Portefeuilles haben, also genötigt sein, hinter dem Zentrum zurückzustehen. Ich besuchte am folgenden Tage Brockdorff-Rantzau im Schloß, wo er ein Arbeitszimmer an der Parkfront hatte, mit sehr schönen alten Möbeln, mit Aussicht auf die weiß bedeckte Parklandschaft und an diesem Wintertage angenehm warm. Er erklärte mir, daß er sich keiner Partei anschließen wolle, und gab seine Gründe an. Der Minister des Äußern müsse neutral bleiben, die Kontinuität wahren, nicht bei jeder Kabinettskrise mit den anderen solidarisch sein. Das war auch meine Meinung, und ich pflichtete ihm bei. Er fügte noch hinzu, er vermöge nicht für jeden einzelnen Punkt des demokratischen Parteiprogramms zu stimmen. In manchen Fragen, zum Beispiel in der Frage der Sozialisierung, stehe er sogar weiter links. Seine Laune war an diesem Tage vorzüglich, er war sehr glücklich in seiner Aufgabe und in seiner Stellung, die nervösen und »dekadenten« Züge seines Wesens waren weit weniger zu bemerken, er war voll Kampflust, Tatendrang und Selbstvertrauen. In diesem Optimismus glaubte er, mehr erreichen zu können als ein Orpheus, der die wilden Tiere bändigt und um sich schart.

Am 12. Februar wurde Ebert zum Präsidenten der Deutschen Republik gewählt, am 14. Februar hielt Graf Brockdorff-Rantzau seine Rede in der Nationalversammlung, und gleich hinterher reiste ich nach Berlin. Brockdorff-Rantzau, auf der Bühne des Theatersaales, las die Rede ab, ohne vom Manuskript aufzublicken, ziemlich tonlos, wirklich ohne besonderes Vortragstalent. Die Rede war eine jener anständigen, sorgfältig überlegten und sauber ausgearbeiteten Programmerklärungen, die eine ehrenvolle Aufnahme verdienen, ohne epochale Ereignisse zu sein. Es war schade, daß der Mann, der in der Intimität so sehr bestricken konnte und auch dann, wenn man sich über ihn ärgerte oder ihn kritisch betrachtete, immer interessierte, einer großen Versammlung gegenüber viel von seinem farbigen Glanz verlor. Die Sprünge des Temperamentes, die Lichterspiele des Geistes und alle 322 originellen Nuancen der Persönlichkeit konnten sich nur im kleinen Raum zeigen und auswirken, und bei offiziellem Anlaß, vor der Öffentlichkeit, erdrückten das Gefühl der großen Verantwortung und die Würde des Augenblickes das individuelle Leben und ließen nur einen steifen Umriß zurück. Ganz wie die olympischen Götter, wenn sie nach ihren privaten Erlebnissen auf den Höhen wandeln, eine Haltung annehmen, die sie zu gesuchten Modellen für Akademiemaler werden läßt. Natürlich mußte auch hier in einer Umgebung, die dem suchenden Blick wenig zu bieten hatte, die gräfliche Erscheinung auffallen, Aufmerksamkeit und Neugierde erregen, und manche Neulinge auf der Publikumstribüne fanden es gewiß sehr eigentümlich, daß da zwischen den demokratischen Gestalten dieser hochgewachsene, hagere, sich etwas förmlich und überhöflich bewegende Erbe feudaler Jahrhunderte saß. Der Gigant Mirabeau war auch im Äußern der revolutionäre Graf.

Als Graf Bernstorff in dem Glauben befangen war, daß er der Führer der Delegation sein werde, hatte er von den Vorbereitungen für die erwarteten Friedensverhandlungen gesprochen: »Wir arbeiten täglich viele Stunden daran.« Jetzt arbeiteten Graf Brockdorff-Rantzau, der wieder in Berlin weilte, und seine Leute im Auswärtigen Amt bis in die Nacht hinein. Zu allen Fragen, die irgendwie im Friedensvertrag berührt sein könnten, wurde ein riesiges Material angehäuft. Völkerstatistik, Handelsstatistik, Industrie, Schiffahrt, Finanzen, Heer und Marine, die Kolonien, die Geographie Europas, die nationalen und volkspsychologischen Zusammenhänge und Unterschiede, die sozialen Probleme, das Völkerrecht, die Geschichte Deutschlands und der Welt, all das und noch vieles andere wurde durchforscht, für die Fremden erläutert und erklärt. Karten wurden gezeichnet, Tabellen hergestellt. Der Fachmann bewies seine Unentbehrlichkeit. Man mußte hoffen, daß dieser Bienenfleiß, der eine ganze Enzyklopädie zusammenbrachte, sich als fruchtbar erweisen, und daß diese Masse von Argumenten Verwendung in einer Diskussion, an Beratungstischen finden werde, und nicht dazu bestimmt 323 sei, in einer amtlichen Bodenkammer in Staub zu zerfallen. Unwillkürlich tauchte in meiner Erinnerung ein Bild auf – ich sah wieder, wie der Justizberater des Auswärtigen Amtes, der Geheimrat Kriege, in der Zollhalle an der holländischen Grenze zärtlich die ungeheure Reihe der Aktenkisten musterte, mit denen er sich, dank einer solchen Papiermenge gegen alle Überraschungen gesichert, zur zweiten Haager Friedenskonferenz begab. Es waren jetzt wieder große Leistungen der Gründlichkeit, der Methode, und wenn es auch mit Politik wenig zu tun hatte, so war doch das Bestreben, für alle Fälle gerüstet zu sein, sicherlich lobenswert. Weniger rühmlich war es, daß unzählige Personen behaupteten, sie müßten Mitglieder der Friedensdelegation werden oder in irgend einer begleitenden Kommission oder Unterkommission einen Platz finden, und Himmel und Hölle in Bewegung setzten, um zum mindesten im Gepäckwagen mitzukommen. Wenn ich den Grafen Brockdorff-Rantzau fragte, ob er nach Versailles fahren wolle wie der Führer einer Cookschen Reisegesellschaft, antwortete er mit halb komischer Verzweiflung, ich ahnte nicht, wie viele er schon abgeschüttelt habe, und jeder Abgeschüttelte bleibe dann als ein giftspritzender Gegner zurück. Seit längerer Zeit schon gehörte zu den Gebräuchen des Landes dieses Bedürfnis, dem allgemeinen Wohl zu dienen, in einer Ehrenloge mit Freibillet, und selbst wenn er Figurant im Triumphzug eines feindlichen Siegers hätte sein sollen – die Bekanntgabe, daß er »unter den Anwesenden bemerkt« worden sei, hätte manchem Ehrgeizigen wohlgetan.

Unter denjenigen, die den Grafen Brockdorff-Rantzau begleiten sollten, befanden sich natürlich auch Männer von hohem Wert. Und schließlich, eine »Delegation« mußte es sein, Ratgeber, die man befragen konnte, waren notwendig, und die Anwesenheit von Ministern, die zugleich die verschiedenen Regierungsparteien vertraten, dokumentierte die Harmonie. Es ist nur ein Vergnügen, das sich die Phantasie bereitet, wenn man etwas wünscht, was man selber für unmöglich hält. So, in den Vorstellungen der Phantasie, wünschte ich, der Graf Brockdorff-Rantzau träte allein 324 vor die Versammlung der Alliierten, oder doch nicht mit einem Gefolge, dessen achtbare und ehrenwerte Mitglieder eine gewisse Ähnlichkeit mit den traurigen Bittgängern einer belagerten Stadt haben müßten, zum Beispiel mit den berühmten Bürgern von Calais. Sicherlich, man konnte, besonders nach den Beobachtungen in Weimar, nicht annehmen, daß die etwas befremdliche Erscheinung des Grafen in dem Versammlungssaal einen sehr starken Eindruck machen und eine günstige Gemütsbewegung hervorrufen würde, und ganz bestimmt würde zunächst der eine dem andern ironisch zuraunen, diese deutsche Republik habe offenbar ihren schönsten Junker schicken wollen. Aber wenn sie ihn wie eine Gestalt aus der Ritterzeit betrachtet hätten, so wäre ihnen, hätte er sich allein in die Arena begeben können, doch auch die ritterliche Tapferkeit fühlbarer geworden, und kam es übrigens auf den Eindruck der ersten Stunde an? Wenn es nur diesen ersten Eindruck gab, wenn nicht andere Eindrücke sich anreihen durften, hinter der ersten Stunde, in der die Friedensbedingungen überreicht wurden, nicht andere Stunden, Stunden des Verhandelns kommen konnten, dann war alles umsonst. Dann war auch die Beurteilung des Debuts gleichgültig, war das alles nicht wichtig für den Gang der Geschichte, sondern nur ein Detail in der Zeitchronik und ein historischer Anekdotenstoff. Fürst Bülow erzählte mir im Mai 1919, daß ihm Erzberger gesagt habe: »Brockdorff-Rantzau hat keine Replik.« Und Bülow fügte hinzu: »Dabei spricht Erzberger, der, wie Sie wohl wissen, durchaus selber Minister des Äußern werden möchte, kein Wort Französisch – er hat die Replik, aber man versteht sie nicht.« Tatsächlich war es ein nicht zu unterschätzender Mangel, daß bei Brockdorff-Rantzau die Schlagfertigkeit versagte, wenn er sich einem größeren Auditorium gegenübersah oder der Moment feierlich war. Aber in Gesprächen und Verhandlungen mit den einzelnen Gegenspielern wäre er genau so wenig verlegen gewesen, hätte er genau so viel Geistesgegenwart, Fechtersicherheit, Geschicklichkeit in der Anwendung wechselnder Mittel, und vor allem genau so viel Zähigkeit und »Besessenheit« 325 gezeigt, wie später in den Unterhaltungen mit Tschitscherin und in jeder Zusammenkunft, bei der es nicht ein paar hundert Zuhörer, Stenographen, Photographen und Filmoperateure gab. Man hätte, ihm näher kommend, ihn interessant gefunden, hätte erkannt, daß da noch etwas mehr war als nur ein »Junker«, und wahrscheinlich hätte die Konversation in den Pariser Salons sich eifriger mit ihm beschäftigt als mit vielen anderen Figuren der Konferenz. Wenn man vielleicht gezögert hätte, sich bis zur Sympathie zu versteigen, so hätte man ihn zum mindesten respektiert.

Und wo in Deutschland existierte denn der vollkommene, ideale Wortführer, den man statt des Grafen Brockdorff-Rantzau hätte entsenden sollen? Zweifellos, ein imponierender Mann des Volkes, imponierend durch Kraft und Reinheit des Geistes, durch mitreißende Beredsamkeit, durch demokratische und doch vornehme Haltung, durch die unerschütterliche Zuverlässigkeit seiner Überzeugung, durch die ruhmvollen Daten seines politischen Lebens, wäre jedem anderen vorzuziehen gewesen, aber der deutsche Boden hatte ihn nicht hervorgebracht. Walther Rathenau war für die levée en masse gewesen, und gewiß war es gut, daß man an ihn nicht denken konnte, und an Persönlichkeiten wie Stresemann konnte noch weniger gedacht werden, denn sie waren damals durch ihre Beteiligung an den Annexionskampagnen, Ubootbegeisterung und törichte Verspottung Amerikas kompromittiert. Blieb noch einer, wieder einer aus dem ancien régime, Bülow, dessen schwere Sünden schon weiter zurücklagen, in der Periode der ersten Marokkokrise und der bosnischen Annexion, und der zwar nicht gerade als ein leuchtendes Musterbild der Überzeugungstreue oder als der Repräsentant eines demokratischen Deutschland gelten konnte, aber das Rednertalent und die »Replik« besaß, in der Galerie der europäischen Staatsmänner seinen Platz hatte und erfahren war in den Kunstkniffen, den Personenlisten und den Umgangsformen der Diplomatie. Eine Zeit lang – als er noch glauben konnte, der Ausgang des Krieges werde nicht geradezu katastrophal sein – hatte er die 326 Ernennung zum Friedensunterhändler gewünscht. Da er die historischen Reminiszenzen liebte, legte er sich vermutlich eine Rolle zurecht, wie sie der Meister Talleyrand auf dem Wiener Kongreß gespielt hatte, oder Thiers bei Bismarck in Versailles, wobei er im übrigen voraussetzte, daß er nicht wie dieser gezwungen sein würde, als ein Bittsteller zu einem übermächtigen Sieger zu gehen. Auch der kleine Thiers war keine selbstlose Lichtgestalt und kein Märtyrer einer Überzeugung, auch er war lange ein Liebhaber außenpolitischer Abenteuer und dann ein verspäteter Warner, und auch er verkörperte eine ältere Epoche, und sogar drei Epochen oder vier. Freilich hatte er die Geschichte des Konsulats und des Kaiserreiches in vielen Bänden verfaßt und erscheinen lassen, und Fürst Bülow hatte die Geschichte Wilhelms II. und seines Reiches noch nicht ganz so weit gebracht. Immerhin meinte Fürst Bülow wohl, daß er einen gleichen Empfang finden würde, daß er, der nicht weniger amüsant als der kleine alte Franzose plauderte, mit den alliierten Staatsmännern Tischgespräche würde führen können, wie sie im Februar 1871 an der Tafel Bismarcks in Versailles stattfanden, und daß die fremden Kollegen bei der Nachricht von seiner bevorstehenden Ankunft die courtoisievollen Worte sprechen würden, mit denen der erste Reichskanzler die Meldung von dem Eintreffen Thiers beantwortete: »Das ist ein Mann, den man immer empfängt.« Dann wurde es zweifelhaft, ob die Alliierten den Sinn für Schicklichkeit oder den historischen Sinn haben würden, der bei solchen Gelegenheiten das Verhalten Bismarcks bestimmte, und immer deutlicher ließ sich die wahre Situation erkennen. In diesen Tagen bestand der Wunsch des Fürsten Bülow nicht mehr.

In Berlin besuchte ich dann Brockdorff-Rantzau zuerst wieder am 7. März. Es waren in Berlin Generalstreiktage, und um das Polizeipräsidium am Alexanderplatz, wo von den spartakistischen Matrosen und Soldaten sechshundert Mann der Regierungstreuen eingeschlossen waren, wurde mit Minenwerfern und Geschützen gekämpft. Brockdorff-Rantzau meinte, die strategische Lage – die am 327 Alexanderplatz – sei günstiger als die politische in der Wilhelmstraße, und er wünschte die Ausschiffung Scheidemanns. Wir überlegten, wer an die Stelle Scheidemanns in die Regierung eintreten könnte, fanden aber in den Reihen der Sozialdemokratie keinen befriedigenden Ersatz. Brockdorff-Rantzau hielt es für nicht unwahrscheinlich, daß die Entente die noch schwebenden Verhandlungen in Spaa, die sich auf die Lebensmittelfragen bezogen, zu Verhandlungen über einen Präliminarfrieden ausdehnen wolle, und sagte: »Unter keinen Umständen werde ich zugeben, daß sie dann auch noch von Erzberger geführt werden und von seiner Waffenstillstandskommission.« Ein Personenwechsel würde allerdings schwierig sein, wenn die Entente ihre Bedingungen nicht gleichfalls durch neue diplomatische Vertreter vorlegen lassen sollte, sondern wieder durch Foch. Wir sprachen von dem Wunsche der Unabhängigen, daß Kautsky Mitglied der Friedensdelegation werde, und Brockdorff-Rantzau versicherte heiter, eigentlich habe ihn Kautsky entdeckt und ins Ministeramt gebracht. Beim Studium der Kriegsakten im Auswärtigen Amt, nach der Revolution, habe Kautsky gesehen, daß ein gewisser Brockdorff-Rantzau die Dinge sehr richtig beurteilt habe, und seine Parteifreunde auf diesen Diplomaten aufmerksam gemacht. In der nächsten Zeit war jedesmal, wenn ich den Grafen Brockdorff-Rantzau besuchte, irgendein großer Streik im Gange, oder ein Straßenkrieg, aber man war schon daran gewöhnt, abends bei einem Lichtstumpf zu sitzen und das Geknatter der Maschinengewehre zu hören, oder durch die dunkle Stadt, zwischen dem Knallen unsichtbarer Gewehre, von der Arbeit nach Hause zu gehen. Im Augenblick eines Besuches am 6. April war gerade in München die Räterepublik ausgerufen worden, dann folgte der Rachefeldzug der Weißgardisten, es war ein Dramencyklus, ohne Pausen heruntergespielt. Immer fand ich Brockdorff-Rantzau sehr pessimistisch in seiner Beurteilung der inneren Situation und ziemlich optimistisch, wenn das Gespräch auf die Friedensverhandlungen kam. Er brauchte einfach den Glauben zur Erhaltung seines Kampfwillens, und so wehrte er den 328 Zweifel ab. Um ihn zu unterstützen, blieben andere, obgleich innerlich über das Ende schon skeptischer denkend, weiter bemüht, die Abgesandten der alliierten Regierungen davon zu überzeugen, daß Deutschland fest in seinem Widerstandswillen sei. Als ich am 7. April den englischen Militärattaché, Hauptmann Thornley Gibson, einen sehr verständigen und gut gesinnten Offizier, beim Nachmittagstee in meinem Hause mit einigen deutschen Persönlichkeiten zusammenbrachte, erklärte ihm Lichnowsky: »Danzig, wird nicht unterschrieben – Oberschlesien, wird nicht unterschrieben«, und immer weiter so bei jeder Bedingung, die unannehmbar erschien. Hinterher zog mich der Doktor Schacht, der als Vorsitzender bei den Einkaufsverhandlungen in Köln war, in eine Zimmerecke und setzte mir auseinander, über den ganzen europäischen Bankrott sei nur durch die Schaffung neuer Werte hinwegzugelangen. Man müsse ein internationales Abkommen zustandebringen, England müsse die Oberleitung haben, Deutschland seine Arbeitskraft und Ingenieure stellen, Rußland müsse aufgeschlossen werden, in der Ukraine lägen ungeheure Schätze, die Deutschen würden durch ihre Arbeit aus hundert Millionen zweihundert machen – sicherlich ein richtiger und ausgezeichneter Plan, nur leider gänzlich abseits von allem, was in Paris zwischen den Alliierten schon verabredet worden war.

Am 18. April wurde die deutsche Regierung aufgefordert, Bevollmächtigte nach Versailles zu senden, die den Text der festgesetzten Friedensbedingungen entgegen zu nehmen hätten und »strengstens auf ihre Rolle beschränkt bleiben sollen«. Die Einladung war kaum so höflich wie das Benehmen eines Scharfrichters gegenüber einem Delinquenten, Graf Brockdorff-Rantzau erwiderte kühl, daß er den Gesandten von Haniel mit zwei Geheimräten und zwei Bureaudienern schicken werde, und darauf bequemte sich Clémenceau, der zu fürchten begann, daß ihm die längst projektierte und erträumte Theateraufführung vereitelt werden könnte – denn mit einem Gesandten und zwei Bureaudienern ließ sie sich nicht effektvoll inszenieren – zu allen gewünschten Konzessionen und zu einem weniger herrischen Stil. Am 329 28. April fuhren Graf Brockdorff-Rantzau, die fünf anderen Delegierten, die Sachverständigen, die Mitglieder der Kommissionen, die Sekretäre und das übrige Personal, im ganzen hundertundsechzig Personen nach Versailles, in die Ungewißheit hinein. Bis dahin wußte man noch nichts Genaues über die Bedingungen, die Nachrichten waren widerspruchsvoll, und wenn sie zu ungünstig lauteten, überließ mancher sich gern dem tröstlichen Wahn, daß sie nur »Versuchsballons« seien. Die Zeremonie der Überreichung sollte am 7. Mai stattfinden, und wieder arbeiteten die Fachmänner, die Pause ausfüllend und durch Militärposten wie Gefangene abgesperrt von jedem Verkehr mit der Welt draußen, emsig an ihren Denkschriften, wieder schleppten die Sekretäre alles statistische Material herbei, klapperten unablässig die Schreibmaschinen, und Graf Brockdorff-Rantzau überwachte das alles, empfing auch dann und wann einen Emissär, der ihm angeblich etwas mitteilen wollte und nur kam, um seine Miene zu studieren, seinen physischen und geistigen Zustand zu prüfen, ihm durch mitleidige Ratschläge den Appetit zu verderben, ganz wie ein erbbeflissener Vetter der Krankheit eines teuren Verwandten durch ein scheinbar achtlos geäußertes schmerzliches Bedauern ein wenig nachzuhelfen versucht. Am Vormittag des 7. Mai erfuhr man in Berlin und in Versailles, daß die »Times« einen Auszug aus dem Vertrag veröffentlicht habe, worin es hieß, Deutschland solle »als Anzahlung« ungefähr sechzig Milliarden hergeben, nur noch eine Armee von hunderttausend Mann haben, die Entscheidung über das Saargebiet bleibe offen, Danzig werde »freie Stadt«. Mir schien das nur der erste Teil einer Liste zu sein, Oberschlesien und der Osten würden wahrscheinlich auch noch nachkommen, und ebenso noch irgendetwas über das Rheingebiet. Der Gesandte Viktor Naumann telephonierte mir aus dem Auswärtigen Amt, leider müsse man die Informationen der »Times« für authentisch halten, worauf ich antwortete, leider hielte ich sie für unvollständig, man habe nur erst einen Arm und ein Bein abgehackt, und zweifellos werde die Prozedur noch weiter gehen. Am Abend 330 wurde dann, durch Mitteilung des Reuter-Bureaus, die vollständige Wahrheit, oder eine annähernd vollständige, bekannt. Ich schrieb einen Artikel »Nein« und mußte dann bald erkennen, daß der Ruf gerade dort, wo er sammeln sollte, beinahe so verhallte wie der Ruf von Rolands Horn im Tal von Ronceval.

Die Sitzung am 7. Mai in Versailles, die Clémenceau wie eine öffentliche Gerichtssitzung, wie die Urteilsverkündung in einem Sensationsprozeß arrangiert hatte, ist von denen, die dabei waren, oder nach ihren Berichten genügend geschildert worden, alle Einzelheiten der Szene wurden von den Augenzeugen aufnotiert. Clémenceau hatte in der französischen Deputiertenkammer mit der geschärften Degenspitze seiner Rede und rücksichtlosem Hieb viele Gegner niedergestreckt, sein Klopffechtertemperament hatte gegen Jules Ferry gerast, bis er auch ihn demoliert hatte, aber das alles war, trotz der echten Wutausbrüche, doch nur Zeitvertreib, Ablenkung, Bewegungssport und Turnier, verglichen mit dem großen Kampfideal, dem niemals vergessenen Ziel. Seit 1870, seit der Belagerung von Paris, sah er es vor sich, und wenn er Jules Ferry so ohne Gnade verfolgte, wurde er von der zornigen Erkenntnis angetrieben, daß dieser Staatsmann die französische Politik nicht nur unter der Herrschaft eines einzigen Gedankens leitete, sondern unmittelbare Vorteile für Frankreich suchte und fand. Ein paarmal konnte ich mit Clémenceau über die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich sprechen, und so friedfertige Worte er auch wählte, immer blieb die Empfindung, daß er sich so wenig offenbarte wie ein tibetanischer Dalai-Lama gegenüber dem Fremden, und daß in diesem einzigartigen mongolischen Schädel der lauernde, feindselige Gedanke eingeschlossen war. Er hat einmal gesagt, die große Revolution sein ein »Block«. So, als etwas Unteilbares, stellte seine Persönlichkeit sich vor. Er hatte die Kunst, Sätze so zu formen, daß sie monumental wurden, etwas Definitives, Abschließendes zu enthalten schienen und in ihrer Knappheit die Breite einer großartigen Geste hatten, wie Verse von Corneille. Mit mehr Selbstkritik und 331 literarischem Takt, ohne die Schwelgerei in klassischen Vergleichen, in der Heraufbeschwörung aller antiken Helden, in der Ausbeutung des Plutarch, war er, wie die Männer des Convent, in den großen, dramatischen Momenten seiner Rhetorik ein Römer, Cato von Utica. Diese Kunst, Sätze wie eherne Inschriften auf römischen Münzen zu prägen, war bisweilen, so bei seinem Auftreten im Zolaprozeß, in einem philosophischen Brei zerronnen. In dem Feuer des Krieges, im Triumphgefühl, Führer Frankreichs, Rächer und Weltrichter zu sein und den großen patriotischen Traum erfüllt zu sehen, hatte sie sich wieder gehärtet, jedes Wort in der Rede sollte Geschichte sein, und selten schuf man dem Wunsch, einen besiegten Feind zu demütigen, eine so gehämmerte Ausdrucksform.

Es wäre schön gewesen, wenn Graf Brockdorff-Rantzau eine Antwort auf die Rede Clémenceaus hätte improvisieren können, und drei oder vier Sätze, stolz ohne Herausforderung und jedem einzelnen draußen auf der Weltgalerie faßbar, in jedem Ohr haftend, hätten genügt. Aber er konnte sich nicht auf seine Befähigung zu schneller Replik verlassen, und wenn er selbst das Talent der Improvisation gehabt hätte, so hätte er es vermutlich nicht anwenden dürfen, denn er hatte neben sich die anderen Mitglieder der Delegation und mußte handeln, wie es in den gemeinsamen Beratungen beschlossen worden war. So las er die Rede vor, die zum mindesten Aufmerksamkeit verdient hätte, nicht nur im Rahmen des historischen Aktes, sondern auch als ein Dokument von vornehmer geistiger Qualität. Das internationale Publikum, wie zum Stiergefecht herbeigeströmt, in turbulenter Festlaune, noch im Entzücken über die Kunstfertigkeit des Matadors und überdies der deutschen Sprache meist unkundig, ließ die deutsche Rede wie ein langweiliges Klavierstück zwischen den Tänzen an sich vorübergehen. Im allgemeinen waren die Darlegungen, die unter der Leitung Brockdorff-Rantzaus aus den Werkstätten der Delegation hervorgingen, mit einer Zugabe ausgestattet, von der ich keinen glücklichen Eindruck erwartete und die mir mißfiel. Es wurde dort, meiner Meinung nach, 332 zu viel und mit zu starken Unterstreichungen von den demokratischen Pflichten und den sozialen Aufgaben gesprochen, deren Lösung Europa unternehmen müsse, und es konnte aussehen, als zeige eine Familie von Neureichen mit übertriebenem Eifer den erst frisch erworbenen Schmuck. Natürlich brachten die Delegierten, Männer des neuen Regimes und der demokratischen Parteien, hier nur ihre längst gehegten Anschauungen vor, und keiner von ihnen war aufrichtiger als der Graf Brockdorff-Rantzau, der auch nach seinem Rücktritt, in seinem Abschiedsbrief an Ebert, schrieb: »Das deutsche Volk ist jetzt in der Welt der Vorkämpfer der demokratischen Ideen«, es handele sich »um eine Weltmission«, und »die Daseinsberechtigung des deutschen Volkes« liege in der »klaren, unzweideutigen Vertretung einer Politik demokratischer Selbstbestimmung und sozialer Gerechtigkeit«. Aber es klang doch beinahe wieder nach der alten Verheißung, daß »am deutschen Wesen die Welt genesen« solle, und jedenfalls konnte es einem noch in der Kriegspsychose befangenen Ausland so klingen. Jetzt an das Wort »camouflage« gewöhnt, vermutete man in der demokratischen und sozialen Tendenz nur wieder die Maskerade, hinter der sich das listige und in keiner Weise veränderte Deutschland des Krieges verberge, und man nahm es mit einem Achselzucken auf, daß die alten demokratisch organisierten Nationen solche Lehren von einem Grafen Brockdorff-Rantzau empfangen sollten, der ihnen als ein – bei der Geburt mit untrüglichen Merkmalen versehener – Repräsentant der hochmütigsten Kaste erschien. Denn sie sahen ja von den drei Gesichtern nur das eine, das von George Groß gezeichnete Gesicht.

Während der Text der Antwortrede nur Ungeduld erregte, war es eine Sensation, daß der Graf Brockdorff-Rantzau nicht aufstand, sondern bei der Verlesung auf seinem Platze sitzen blieb. Das nannte man herausfordernd, Verletzung der Anstandspflichten, und hatte doch eine Regung des Respektes und die Empfindung, daß da ein Besiegter nicht klein gewesen sei. Graf Brockdorff-Rantzau sagte mir einige Zeit darauf, er habe sich absichtlich nicht erhoben 333 und habe sich das vorher überlegt. Wenn Clémenceau eine ausführliche, sachliche Rede gehalten hätte, so wäre er aufgestanden, hätte den ausgearbeiteten Text unberührt gelassen und frei gesprochen, aber er sei entschlossen gewesen, sitzen zu bleiben, falls Clémenceau meinen sollte, die deutsche Delegation mit ein paar Phrasen abspeisen zu können. So oder ähnlich pflegte auch der Bruder Ernst den Vorgang auszulegen und darzustellen, und die Zeitgeschichte hat diese Darstellung übernommen. Ich habe an eine so absolute Planmäßigkeit, an dieses Vorausbedenken und Unterscheiden zwischen zwei Möglichkeiten nicht so unbedingt geglaubt und finde es wahrscheinlicher, daß eine vielleicht unklar aufgetauchte Absicht durch die Nerven zur Verwirklichung gedrängt wurde und sich eine instinktmäßige Handlungsweise ergab. Wie es sich damit aber auch verhalten möge, – dieser Verzicht auf die Höflichkeitsbezeugung, als Antwort auf einen Faustschlag, ist symbolisch für die Haltung des Grafen Brockdorff-Rantzau an dem Tage von Versailles geblieben, und ist das, was davon in der Erinnerung weiterlebt. Von einer großen Existenz ist oft nur eine Geste, ein Wort in das Volksgedächtnis eingetragen, und danach wird sie angesehen und beurteilt, gerecht oder ungerecht. Brennus ist der Mann, der das Schwert in die Wagschale geworfen hat, und der Kaiser Heinrich IV., von dem sich Besseres berichten ließe, hat im Büßergewande an die Tür in Canossa gepocht. Galilei lebt durch ein Wort, durch das herrlichste und stärkste, jeder Dummheit ins Gesicht treffende und in jeder Geistesnacht die unausbleibliche Wiederkehr des Lichtes verkündende: »Und sie bewegt sich doch!«

 

Das Richtigste wäre wohl gewesen, Graf Brockdorff-Rantzau wäre sofort nach Berlin zurückgekehrt. Ernst Rantzau sagte mir, daß er es seinem Bruder telephonisch geraten habe, aber ohne Erfolg. Graf Brockdorff-Rantzau löste sich nicht los von der Maschine der Kommissionen, die rings um ihn herum musterhaft produzierte, und seine Besessenheit, eine verzweifelte Besessenheit, suchte ihr Ventil in dieser Arbeit, von der sich kaum noch ein Ergebnis erhoffen ließ. 334 Widerlegungen und Gegenvorschläge, neue Noten und Memoranden entstanden, die Maschine war ohne Unterbrechung in Betrieb. Man kam auf diese Weise zu einer Taktik, die vielleicht, im besten Falle, an irgend einem Nebenpunkt etwas von der langen Reihe der Forderungen abbröckeln konnte, aber es war nicht möglich, so zu einer politischen Strategie zu gelangen. Und indem man diese taktischen Bemühungen, trotz ihrer Aussichtslosigkeit, sechs Wochen lang fortsetzte, verringerte man die Chancen der strategischen Tat. Unmittelbar nach dem 7. Mai, nach der Bekanntgabe der diktierten Bedingungen, in der ersten Aufwallung der Empörung, war der Widerstandswille im Volke noch aufrecht zu erhalten, in Bewegung zu setzen, aber wenn das Wort, daß Begeisterung keine Heringsware ist, zu allen Zeiten zutrifft, so mußte es hier tausendfach zutreffen, wo der Hunger, die Entbehrungen, unendliche Leiden ein Volk umklammert hatten, die Zustimmung zu neuen Opfern, zu einem Weiterwandern auf steilen, unbekannten Elendswegen einem schon übermäßig geschwächten Organismus zugemutet wurde und es den unterminierenden Anhängern der Unterzeichnung nicht schwer sein konnte, in solchem Boden vorwärts zu dringen. Graf Brockdorff-Rantzau, die Delegation, die Kommissionen, die Sachverständigen aller Art vollbrachten in Versailles vorzügliche Leistungen, aber sie konnten doch nur papierene Kugeln gegen die Festungsmauern senden, hinter denen der Gegner, immer unsichtbar, niemals heraustretend, weniger ihre Noten als die Stimmungsberichte aus Deutschland erwartete, scheinbar Langmut übte und genau wußte, wie nützlich es für ihn war, wenn eine Woche nach der anderen verstrich.

Am 12. Mai traten die Abgeordneten der Nationalversammlung, die ihre Beratungen in Weimar unterbrochen hatten, in Berlin, in der großen Aula der Universität, zu einer Sitzung zusammen. Diese Sitzung war als eine Protestkundgebung gegen die Friedensbedingungen, als eine Manifestation des Widerstandes gedacht. Man hatte mir gesagt, Scheidemann, der Ministerpräsident, sei unsicher geworden, zweifle und schwanke bereits. Aber in seiner Rede brachte 335 er das »Unannehmbar« noch mit einer Kraft des Tones heraus, die vielleicht eine andere, fehlende Kraft ersetzen sollte, und alle Abgeordneten, mit Ausnahme der Unabhängigen, und alle Tribünenbesucher standen auf und applaudierten minutenlang. Die Parteiführer, die dann noch sprachen, variierten das »Unannehmbar«, und keiner wollte hinter dem anderen zurückbleiben, jeder legte in seine Worte und Betonungen möglichst viel Entschiedenheit. Draußen traf ich den Oberbürgermeister Wermuth, ehemals kaiserlicher Staatssekretär, der mir – er hatte Verbindung mit den Unabhängigen angeknüpft – etwas säuerlich bemerkte, man habe sich wohl zu sehr festgelegt und hätte sich vorsichtiger ausdrücken sollen. Ich sammelte in der nächsten Zeit in sehr verschiedenen Kreisen sehr viele Stimmungssymptome, wobei freilich zu bedenken war, daß der Mund nicht immer die geheimen Gedanken und Wünsche wiedergab. Bei einem Abendessen, zu dem Herr von Holtzendorff, der Direktor der Hamburg-Amerika-Linie, eingeladen hatte, und an dem der Admiral von Trotha, Dernburg, der Abgeordnete Schiffer und andere teilnahmen, wollte man die Folgen einer Ablehnung ziemlich optimistisch beurteilen, und auch Graf Bernstorff, der neben mir saß und ganz gewiß nicht die Eigenschaften eines sich aufblähenden Renommisten hatte, war der Meinung, acht Tage oder spätestens vier Wochen nach der deutschen Weigerung würden die Alliierten mit Vermittelungsvorschlägen kommen. Nachdem in Versailles die deutschen Gegenvorschläge überreicht worden und gerade sehr pessimistische Nachrichten über ihre Aufnahme, über die Haltung Clémenceaus und Wilsons, eingetroffen waren, sprach ich, am Abend des 3. Juni, bei dem preußischen Minister des Innern Heine mit Ebert, Noske und Scheidemann. Zu meiner Überraschung war jetzt Noske voll Bedenken: die Unabhängigen könnten den Generalstreik proklamieren, die innere Situation sei überaus schwierig, in Berlin und in ein paar großen Städten würden die »Noskegarden« wohl ausreichen, aber natürlich nicht im ganzen Lande, und jedenfalls – hier ließ er, wie gewöhnlich in solchen Momenten, sozusagen die Muskeln 336 spielen – brauche er dann die Genehmigung zum allerschärfsten Belagerungszustand, sonst garantiere er für nichts. Scheidemann hörte ein wenig elegisch zu. Ich wiederholte das schon oft Gesagte, daß von der Entscheidung auch die ganze Zukunft der Demokratie abhinge, daß die Republik keinen Bestand haben werde, wenn spätere Generationen, die von den Nöten dieser Gegenwart nichts mehr wüßten, ihr die Annahme eines solchen Vertrages vorwerfen könnten, und daß man über den Tag hinausdenken müsse, zu dessen Sicherung die Noskegarden geschaffen worden seien. Ebert kam mir zu Hilfe, indem er erklärte: »Man kann die Sache hin und her drehen, man kann stundenlang darüber reden, und sie läßt sich gewiß verschieden ansehen, und es ist klar, daß es das Für und das Wider gibt. Aber ich bleibe dabei, als anständige Menschen können wir einen solchen Frieden einfach nicht unterschreiben, und wenn wir eine anständige Politik machen wollen, müssen wir nein sagen, falls man uns nicht doch andere Bedingungen gibt, was ja kaum zu erwarten ist.«

Wollte man all diejenigen, die für die Unterzeichnung waren, schablonenhaft tadeln, so wäre das eine große Ungerechtigkeit. Es gab unter ihnen sehr viele, die ihr Land mindestens so sehr liebten und mindestens so viel Nationalgefühl hatten wie mancher andere, der sich sehr stark und bedeutend vorkam, wenn er, ohne irgendeine Verantwortung zu tragen oder übernehmen zu wollen, seine Unnachgiebigkeit in der Sonne blinken ließ. Sie waren der Ansicht, das Volk würde unter der neuen Prüfung bald zusammenbrechen, und man müsse ihm nach den vier furchtbaren Kriegsjahren eine Atempause gönnen. Zunächst gelte es, nicht ein Chaos hereinbrechen zu lassen, das Volk am Leben zu erhalten, den Zerfall des Reiches zu verhindern, Zeit zu gewinnen. Diese anständigen, keineswegs kaltherzigen oder feigen Anwälte einer Politik, die ihnen als einzig mögliche Realpolitik erschien, hätten sich auf das Beispiel Frankreichs berufen können, auf Thiers, der seine Autorität gegen Gambetta, gegen die Parole vom »Krieg bis zum Äußersten«, einsetzte, zu Bismarck ging und, wenn auch unter sehr 337 anderen Bedingungen, Frieden schloß. Und allen Beschuldigungen gegenüber könnten sie daran erinnern, daß in Frankreich der schwere und quälende Schritt dem Staatsmann, der ihn unternahm, nicht Makel, sondern höchste Ehrung eintrug, und daß in der Parlamentssitzung vom 16. Juni 1877 Gambetta, der Organisator des Widerstandes, der enthusiastisch erregten Versammlung die berühmten Worte zurief: »Le libérateur du territoire, le voilà!«

Aber mußte der Widerstand gegen die Unterzeichnung denn ein Widerstand mit den Waffen und eine Fortsetzung des Blutvergießens sein? Walther Rathenaus Aufruf zur »levée en masse« war mir zu theatralisch, ich glaubte nicht einen Augenblick lang an den Erfolg, und jeder Widerhall blieb aus. Nach dem kurzen Kriege von 1870 hatte man in Frankreich noch an die Aufstellung eines Volksheeres denken können. Der deutsche Vorrat an kriegstauglichen Menschen war in vier Jahren bis auf den letzten Rest verbraucht. Möglich war nur der passive Widerstand. Die feindlichen Armeen einmarschieren lassen, jeden Kampf vermeiden, den Führern der Okkupationstruppen keinen Grund oder Vorwand für große Strafhandlungen geben – natürlich würde es eine harte Zeit werden, aber auch sie müßte vorübergehen. Wie lange würden die Regierungen in London, Rom und Washington ihre Soldaten von dem Freudenfest der Heimkehr ausschließen und sie in dem fremden, verbitterten, verhungerten Land zu einem wenig ruhmvollen Wachdienst zwingen? Und würde Frankreich allein Deutschland vom Westen bis zum Osten und vom Süden bis zum Norden militärisch beherrschen wollen?

 

Gambetta war der Mann der Linken, ungleich radikaler in seinem Republikanismus als der vorsichtig zur Republik hinübersteuernde Thiers. Und es war die Pariser Commune, die sich gegen die Übergabe der belagerten Stadt erhob. Man mußte also nicht unbedingt links stehen, wenn man einen drückenden Frieden annahm, und man brauchte nicht unbedingt ein Verräter am Proletariat oder »juste milieu« zu sein, wenn man ihn verwarf. In Deutschland ergab sich 338 jetzt für viele die entgegengesetzte, ganz schiefe Auffassung, weil die Unabhängigen die einzige Partei waren, die geschlossen die Unterzeichnung forderte und diese Forderung demonstrativ in Massenversammlungen, in ihren Zeitungen und auf der Straße vertrat. Der Austausch von Freundlichkeiten zwischen dem Grafen Brockdorff-Rantzau und denen um Hugo Haase hatte aufgehört. Die Führer der Unabhängigen hielten, ganz abgesehen von allen anderen Beweggründen, die Unterschriftsfrage für das richtige Mittel, um die friedensbedürftigen Massen den Ebertsozialisten abspenstig zu machen und zu der radikaleren Richtung herüber zu ziehen. Oberstkommandierender des Rückzuges aber war Erzberger, der rosige Weihnachtsengel auf dem kahl gewordenen wie vorher auf dem frisch prangenden Tannenbaum. Während der ersten Kriegsjahre hatte er sich eher zu den Annexionisten gehalten, jetzt predigte er, ebenso wie der noch wandlungsfähigere Harden, eine Unterwerfung mit allen Konsequenzen, und gern wäre er mit solchen Vorsätzen als Friedensdelegierter nach Versailles gegangen. Der Verlauf seiner Begegnung mit Foch, zu dem er als Unterhändler für den Waffenstillstand gekommen war, hätte ihn allerdings belehren können, aber seine sprachliche Unkenntnis hatte ihn davor behütet, das Französisch des Generalissimus zu verstehen. Um ihn einigermaßen zu befriedigen und um ihn etwas besser an der Leine zu haben, hatte Graf Brockdorff-Rantzau ihm einen Platz in der Delegation angeboten, aber Erzberger wollte Anführer und nicht Begleiter sein. Nun trieb dieser allzu bewegliche Geist in Berlin seine eigene Politik. Als seine Rührigkeit gefährlich und ein Warnungssignal nötig wurde, schrieb ich gegen ihn einen Artikel, der am 10. Juni erschien. Er schickte mir einen klugen Sekretär und ließ mir mitteilen, einem besonders unerfreulichen Interview, das in der Auslandspresse erschienen und mit der Bezeichnung »aus der Umgebung Erzbergers« versehen war, stehe er fern, und ich beurteilte ihn falsch. Ich antwortete, wenn er seine Solidarität mit Brockdorff-Rantzau feststellen wolle, so würde ich diese Erklärung gern veröffentlichen, und mit dem 339 herzlichsten Kommentar. Abends, bei einer Zusammenkunft in einem Ministerium, saß ich mit einigen Bekannten an einem Tisch, als Erzberger durch den Saal ging und, da gerade neben mir noch ein Stuhl unbesetzt war, sich bei uns niederließ. Er plauderte unbefangen, mit der netten und im Grunde gutmütigen, fast naiven Unbefangenheit eines süddeutschen Naturburschen, über alles Mögliche, sprach nur von dem Angriff nicht, mißbilligte es dagegen, daß gewisse Zeitungen durch Aufzählung aller Leiden, die dem deutschen Volke bei Ablehnung der Unterschrift bevorständen, die Stimmung beeinflußten, und war mehr als je wie ein Gummiball, der immer gleich elastisch bleibt und auf dessen Rundung, auch wenn er noch so stark anprallt, keine Spur eines Eindruckes bemerkbar ist.

 

Die deutschen Gegenvorschläge wurden abgelehnt, nur winzige Konzessionen wurden den vor der Tür wartenden Deutschen hinausgereicht, die Unterzeichnung wurde nun innerhalb einer kurzen Frist verlangt. Am 17. Juni reisten Graf Brockdorff-Rantzau und die ganze Delegation nach Weimar ab. Graf Brockdorff-Rantzau hoffte, von den anderen Mitgliedern des Kabinetts und von der Nationalversammlung die Zustimmung für Politik des Widerstandes zu erhalten, und war so voll Kampfgeist und lebte so in der Idee, neben der es für ihn gar keine andere gab und geben konnte, daß es ihm nicht möglich war, sich vorzustellen, in Weimar könnte man vielleicht anders denken und zu einer anderen Entscheidung kommen. Von den fünf Persönlichkeiten, die mit ihm die Delegation bildeten – die Minister Landsberg und Giesberts, der Präsident der Preußischen Landesversammlung Leinert, Schücking und Doktor Melchior – mochte dieser oder jener innerlich nicht ganz so überzeugt vom Erfolge sein, aber er hatte sie alle mitgerissen, und in dem Zug, der sie nach Deutschland zurückbrachte, bestätigten sie noch einmal ihren Beschluß und ihre Einmütigkeit. An den Tagen, die dann in Weimar folgten, habe ich einiges vom Miterlebten aufnotiert. Ein paar von diesen Notizen will ich hier wiedergeben, da die frischgepflückten Eindrücke 340 auch dann, wenn sie inzwischen etwas von der unvermeidlichen Herbariumsfarbe angenommen haben, in ihrer Aneinanderreihung ein Ringen von Gegensätzen, ein Gleiten der Stimmungen vielleicht besser erkennen lassen als eine glatt ablaufende Erzählung, die man mit literarischem Bemühen konstruiert.

 

Weimar, 18. Juni. Morgens, nach meiner Ankunft, treffe ich im Speisesaal des Hotels zuerst den Unterstaatssekretär Baake, der dort beim Frühstück sitzt. Ich frage ihn, wie die Dinge in Weimar ständen, und er antwortet gemächlich, indem er sich hauptsächlich für die Beschaffenheit des Hotelkaffees zu interessieren scheint, daß die meisten für die Unterzeichnung seien. Ich frage: »wer?« und er sagt: »die Mehrheitssozialisten größtenteils, aber das Zentrum und die Demokraten auch.« Als ich bemerke, daß er sich hoffentlich irre, hat er als Entgegnung nur ein Achselzucken, wobei er sich behaglich und ohne Aufregung noch ein Brot mit der Ersatzbutter bestreicht. In der Hotelhalle und draußen auf der Straße andere Begegnungen, und zuerst fast nur ungünstige Prophezeiungen und die Verlegenheit von Leuten, denen man den kommenden Umfall schon ansieht und die noch den Schein wahren wollen. Das Achselzucken des Herrn Baake ist hier offenbar zu einer Lieblingsbewegung geworden und ungefähr so allgemein wie das Kopfnicken bei den Porzellanchinesen, die man früher auf jedem Salontisch sah. Glücklicherweise kommt dann Walter Schücking auf mich zu, der mit dem Delegationszuge eingetroffen ist. Wir machen gemeinsam einen Spaziergang durch die Stadt, und Schücking erklärt mir unterwegs mit außerordentlicher Wärme, man dürfe diesen Vertrag nicht unterzeichnen, das sei ganz unmöglich, gerade für einen so überzeugten Pazifisten wie ihn eine absolute Unmöglichkeit. Ludwig Haas, jetzt badischer Minister, schließt sich uns an, denkt und spricht genau wie wir beide, wir promenieren zu dreien, ich sage, daß meine ersten Eindrücke in Weimar jämmerlich wären, und Haas erwidert, leider sei dieser erste Eindruck der richtige, es sei zwar noch nicht ein allgemeines 341 Davonlaufen, aber die Zahl der Unterzeichnungswilligen nehme in jeder Stunde zu. Haas spricht zornig und heftig, und noch ausdrucksvoller spricht sein schönes männliches Gesicht. Andere Abgeordnete begegnen uns, einer behauptet, acht Tage nach dem Einmarsch fremder Truppen würde infolge des Kohlenmangels das ganze Transportwesen desorganisiert sein und Hungersnot ausbrechen, und ein zweiter befürchtet, die Süddeutschen würden auf eigene Faust Frieden schließen und Deutschland würde auseinanderfallen. Der Württemberger Payer, der seine Landsleute kenne, trete für die Unterzeichnung ein. Die Bayern hätten eigentlich nicht nachgeben wollen, aber der Demokrat Müller-Meiningen, der während des Krieges so schön nationalistisch war, habe sie schon eines besseren belehrt. Unverkennbar sind die Rabiatesten von gestern die Zahmsten von heute, und da sie gelernt haben, so flüssig die Aktivform: »ich zerschneide« anzuwenden, wird ihnen, wie gelehrigen Schülern, die Passivform auch nicht schwer.

Nach diesen Erlebnissen kehre ich zum Mittagessen in das Hotel »Fürstenhof« zurück, wo sich der Gesandte Viktor Naumann zu mir setzt. Er sagt gleich: »Sie werden sehen, daß unterzeichnet werden wird.« Dieser gute Viktor Naumann, dessen Äußeres so wenig Diplomatisches hat wie seine mitteilsame Natur, der auch während des Krieges stets der bestinformierte Mann sein wollte und wie Erzberger, wenn auch nicht mit dessen unwiderstehlichen Ellenbogen, sich überall dazwischen schob, ist jetzt wirklich, seit er mit dem Gesandtentitel ins Auswärtige Amt gelangt ist, ein Mann, dem man zuhören muß. Aber seine pessimistischen Tischreden verderben mir um so mehr den Appetit, da ich sie nicht mehr für unbegründet halten kann, und schon um seine Redseligkeit einzudämmen, sage ich, ich wolle ins Schloß zu Brockdorff-Rantzau gehen. Er ist sofort bereit, mich zu begleiten und mich bei seinem Chef anzumelden, der mit Ebert und den Ministern speist. Auf dem Wege treffen wir diesmal nur den Hamburger Demokraten Blunck, der mir Komplimente über meine Haltung macht und sie für die 342 einzig richtige hält. Brockdorff-Rantzau ist noch nicht vom Mittagessen zurück, aber nach einigen Minuten kommt er in den Salon, in dem ich warte, und zieht mich in sein Arbeitszimmer, mit einer liebenswürdigen, wohl auch etwas nervösen Hast. Er will mir danken, besonders auch für den Artikel gegen Erzberger, und sein Gesicht hat, als er diesen Namen ausspricht, einen unübertrefflichen Ausdruck von eisiger Feindseligkeit. Ich finde ihn, trotz sichtbarer Übermüdung, vorzüglich in Form. Er ist gestrafft wie ein fest gespannter Bogen, seine Willensstärke, seine Leidenschaft gehen über alle physischen Hemmungen hinweg und zwingen die innere Unruhe nieder, der Blick verliert sich nicht in verschleierndem Nebel, sondern ist klar geradeaus gerichtet, alles Preziöse, leicht Manirierte, Dandyhafte ist abgestreift. Es ist sehr traurig, daß dieses Kraftaufgebot doch nichts helfen wird. Weiß er das oder hat er noch Illusionen? – aber wenn er die Niederlage bereits sähe, ganz nahe und unabwendbar, könnte sein Elan nicht so ungebrochen sein. »Ich stehe und falle mit der Ablehnung der Unterschrift«, sagt er mir. Dann fragt er, wie ich die Stimmung in Weimar beurteilte, und so peinlich es mir auch ist, seine Hoffnungen zu dämpfen und ihn dadurch vielleicht zu lähmen – ganz verschweigen läßt sich die Wahrheit nicht. Während ich sagen müßte, das Eis sei wie bei Tauwetter schon im Rutschen, sage ich nur, es habe bedenkliche Risse und sehe nicht mehr sehr haltbar aus. Einige Abgeordnete sprächen von einem Kompromiß, man solle dem Ultimatum der Entente gleichsam ein deutsches Ultimatum gegenüberstellen, mit ein paar ganz bestimmten Änderungsvorschlägen, und erklären, unter diesen Voraussetzungen, aber nur dann, sei man zur Unterzeichnung bereit. Brockdorff-Rantzau entgegnet, es gebe für ihn kein Kompromiß. Auch wenn die Voraussetzungen so beschaffen wären, daß er das Angebot noch vertreten könne, würde er hinterher demissionieren, denn er sei der Mann einer anderen Politik, und darüber dürfe keine Unklarheit entstehen. Er glaube aber auch, mit seiner Ansicht durchdringen, sie durchsetzen zu können. Ja, ich sei zu pessimistisch, er hoffe, daß er die 343 Nationalversarnmlung »herumkriegen« werde, und dem Kabinett habe er schon wieder das Rückgrat gestärkt, dort hätten in der ersten Sitzung seine Ausführungen bereits »etwas gewirkt«. Er werde in der Nationalversammlung sprechen, seine Rede sei fertig, dort in der Ledermappe auf dem Schreibtisch liege sie. Sie werde doch wohl Eindruck machen, auch ich würde sie, obgleich ich sein strenger Kritiker sei – diese Schmeichelei war ein kleiner Rückfall in frühere Konversationstöne – gewiß gut finden, und es sei auch allerlei Neues, noch nicht Gesagtes darin. Nach einer Weile verlasse ich ihn, da hinter seiner energischen Anstrengung allmählig doch die Müdigkeit sichtbarer wird und er bald wieder zu einer Kabinettssitzung muß. Ich gehe in das obere Stockwerk hinauf zu Hugo Preuß, der mir erklärt, »mit Ausnahme von Erzberger und einigen anderen« sei die Regierung noch ziemlich fest, was ungefähr so klingt, als ob man konstatierte, mit Ausnahme der Niere, der Lunge und einiger anderen Kleinigkeiten seien die Organe des Patienten noch ziemlich gesund.

Überall in der Stadt ausländische Zeitungskorrespondenten, zumeist von der Presse der Ententestaaten, die, als sie mich erwischen, das Allerneueste von mir erfahren wollen. Unter ihnen sind einige, die es wirklich gut meinen und die Vertragsbedingungen verurteilen, und man muß bei jedem einzelnen wissen, wie er die Auskunft, die man ihm gibt, verwenden wird. Abends halten im »Fürstenhof« die Demokraten eine Beratung ab. In einer Ecke des Saales sagt mir der Eisenbahnminister Öser, ein Generalstreik der Eisenbahner sei nicht ausgeschlossen, die Lage sei sehr düster, trotzdem müsse man gegen die Unterzeichnung sein. Der Vorsitzende Petersen verliest einen von Schücking stammenden Bericht über die Kabinettssitzung, der Abgeordnete Pachnicke spricht äußerst diplomatisch, Quidde sehr energisch und scharf. Ein süddeutscher Journalist kanzelt in belehrendem Ton alle ab, die den Vertrag nicht annehmen wollen, und dann ist es Zeit, schlafen zu gehen.

Weimar, 19. Juli. Viktor Naumann, rührend bestrebt, mich an seinem Wissen teilnehmen zu lassen, kommt schon um 344 acht Uhr morgens zu mir in den »Fürstenhof« und erzählt von der Kabinettssitzung, die bis halb drei Uhr nachts gedauert hat. Besonders Noske habe für die Unterzeichnung gesprochen, außerdem Wissel und der Ernährungsminister Schmidt. Die drängende Sprache dieser drei sozialdemokratischen Minister, vor allem natürlich Noskes, habe schon schwankenden Seelen noch einen gehörigen Stoß gegeben, die Tugend liefere nur noch das übliche letzte Scheingefecht und sei dicht vor dem Sündenfall. Sogar Ebert gerate unter den Einfluß Noskes und sehe ja auch, daß alles um ihn herum fortschwimme, aber er sträube sich noch und sei wirklich sehr unglücklich über die Entwickelung, die sich hier vollzieht. Brockdorff-Rantzau sei matt gewesen, habe während der Sitzung »mit geschwollenen Adern« dagesessen, und leider habe, wie gewöhnlich, die Schlagfertigkeit gefehlt. Er habe meistens geschwiegen, habe an der Diskussion nur wenig und dann ohne Schwungkraft teilgenommen. Du lieber Himmel, in den paar Stunden zwischen meinem Besuche im Schloß und der Kabinettssitzung hat er wohl viel Gelegenheit gehabt, die Wahrheit zu erkennen, und das stolze Segel hängt schlaff, weil die frohe Zuversicht verschwunden ist. Sehr brav, berichtet Viktor Naumann weiter, habe sich der demokratische Minister Gothein verhalten, er habe alle Argumente Noskes zu widerlegen versucht. Im übrigen werde jetzt nur noch nach der »rettenden Formel« ausgespäht, die den Umfall einigermaßen anständig einkleiden soll. Das bißchen Parfum dürfte zu finden sein.

Auf dem Wege zum Theater, das heißt zur Nationalversammlung, treffe ich Hugo Haase, und obgleich ich mir über die Nutzlosigkeit der Bemühung klar bin, will ich ihm doch beweisen, daß die Weigerung das einzig Richtige und Vernünftige sei, und zwar gerade vom Standpunkt pazifistischer Realpolitiker aus. Wenn er mit seinen Leuten sich an die Spitze der Widerstandsbewegung gestellt hätte, wie es seine französischen Gesinnungsgenossen 1871 taten, so wäre das meiner Meinung nach eine ungeheuer kluge Politik gewesen und hätte die ganze Zukunft beeinflussen können. Er findet, ich betrachtete die Dinge zu sehr unter dem innerpolitischen 345 Gesichtspunkt, während mir scheint, daß er und die Seinigen, die den Mehrheitssozialisten die Arbeiterwähler abgewinnen wollen, diesen Fehler begehen. Er sagt, das Volk habe zu viel gelitten, und wenn er die Parole des Widerstandes ausgegeben hätte, so hätten die Massen nicht mitgemacht. Man würde auch mit einer Weigerung nichts erreichen, und er erwarte viel mehr von der Demobilisierung in den Ententeländern, dann werde der Umschwung dort ganz von selber kommen. So erwartet jeder, der nicht handeln will, die erlösende Tat von den anderen, und wenn es ihm nicht ganz sicher scheint, daß es so sein werde, findet er sich doch in dem angenehmen Gedanken an solche Zukunftsmöglichkeiten leichter mit der Gegenwart ab. In dem Wandelgang des Theaterhauses, in dem Abgeordnete und Journalisten gruppenweise plaudern, sitzt auf einem komfortablen Lehnstuhl der Professor Haguenin, so ganz heimisch und behaglich wie ein lieber Gast. Rund um ihn herum oder auch dicht bei ihm wird laut davon gesprochen, daß Deutschland nur noch für vier Tage Kohlen habe, was übrigens eine falsche und zu ungünstige Rechnung ist. Als Haguenin mich erblickt, fragt er von seinem Lehnstuhl aus: »Sind Sie mir sehr böse, wegen des Vertrages, es kommt mir so vor?« – »Ich habe keine Ursache, Ihnen persönlich böse zu sein, aber was mit dem Vertrag gemacht würde, wenn es nach meinen Wünschen ginge, ist Ihnen ja bekannt.« – »Und was würden Sie damit erreichen, Sie würden doch nur Foch einen Gefallen tun?« – »Man würde ja sehen, ob auch den Ententevölkern eine Weigerung so willkommen wäre, und wenn das der Fall ist, warum empfiehlt man uns so dringend die Unterzeichnung, warum redet man uns so eifrig zu?«

Da an dem Endresultat niemand mehr zweifelt, bleibt eigentlich nur noch die Frage, ob die Demokraten aus der Regierung austreten sollen. Wenn die Fraktion, wie es wahrscheinlich ist, ihren Beschluß, die Unterzeichnung abzulehnen, unverändert läßt, so ergibt sich die Zurückziehung ihrer Minister als selbstverständliche Konsequenz. Abends wieder Fraktionssitzung, in der Walter Schücking eine brillante Rede hält und noch einmal alles, was sich gegen die 346 Unterzeichnung sagen läßt, in prägnanten Sätzen zusammenfaßt. Dann wird abgestimmt, nur ein einziger Abgeordneter ist für bedingungslose Annahme, sieben, darunter Herr von Payer, sind für die Absendung neuer Vorschläge – ohne sich aber zu verpflichten, nach dem voraussichtlichen Fehlschlagen eines solchen Schrittes den Vertrag zu verwerfen – und achtundfünfzig lehnen, falls die unannehmbaren Forderungen nicht aus dem Vertrage entfernt würden, die Unterzeichnung ab. In der Nacht, um ein viertel nach zwei, meldet man mir, daß das Kabinett zurückgetreten sei. Schücking, der im »Fürstenhof« wohnt, bittet mich, noch zu ihm zu kommen, und wir bleiben bis um drei zusammen, auch darüber der gleichen Meinung, daß jetzt alle Gegenvorschläge und »Voraussetzungen« sinnlos sind, da die Entente sich so wenig darum kümmert, wie die Köchin um das letzte Zappeln des Fisches, der vor ihr auf dem Küchentisch liegt.

Weimar, 20. Juni. In aller Frühe neue Sitzung der Demokraten, die, wie es scheint, nach der von Tacitus beschriebenen Sitte der alten Germanen, in der Nüchternheit des Morgens noch einmal über das beraten müssen, was am Abend vorher bei immer neu gefüllten Trinkhörnern beschlossen worden war. Und der Himmel weiß, daß die demokratischen Abgeordneten auch gestern nicht den Eindruck von Menschen machten, deren Geist unter der Wirkung des Alkohols das Schlüsselloch nicht mehr finden kann. Aber heute sind aus den sieben um Payer dreizehn geworden, und auch Gothein hat sich zu der »bedingten Unterzeichnung« bekehrt. Während der Nacht hat ihn Ebert bearbeitet, er ist auch durch die pessimistischen Erklärungen Noskes beeinflußt worden, außerdem sind seine Nerven in einem sehr schlechten Zustand, und er soll in der Sitzung dem Weinen nahe gewesen sein. Als ich ausgehe, treffe ich Erzbergers intimen Mitarbeiter, Herrn von Stockhammer, der sich die Schaufenster betrachtet und das nachgoethische Weimar studiert. Er sagt mir, daß Erzberger keinesfalls das Auswärtige übernehmen wolle, höchstens irgendein anderes Portefeuille, und ich erwidere, das sei bei seiner zweifelhaften Begabung für 347 auswärtige Politik auch wünschenswert. Am Nachmittag zeigt mir Schücking den jetzt fertiggestellten Text der »bedingten Ja-Note«, die der Entente geschickt werden soll. Sechs »Voraussetzungen«, bei deren Erfüllung man unterschreiben wolle, und das Ganze furchtbar dilettantisch und ein in jedem Sinne blamables Kompromiß. Schücking und Melchior meinen wie ich, daß der Eindruck im Ausland miserabel sein würde, und daß man die Absendung verhindern müsse, und wir beschließen, gemeinsam zu Brockdorff-Rantzau zu gehen. Im Schloß treffen wir Brockdorff-Rantzau nicht an und beim Abendessen erfahren wir, daß die Note nicht abgehen soll – eine Mitteilung, die ziemlich allgemein mit einem Gefühl der Erleichterung aufgenommen wird.

Weimar, 31. Juni. Unter den Demokraten sind einige, die nicht gern auf die Teilnahme an der Regierung verzichten möchten, – der eine oder der andere, der bisher zum Kabinett gehörte, geht nur ungern heraus, und mehr als einer ginge gern hinein. Wenn es nur jene Streber, jene Schürzenjäger der Staatsstraße wären, die auch die reizloseste Gelegenheit nicht verschmähen, so wäre das gleichgültig, aber ich bin doch ein wenig verblüfft, als sich auch bei Männern von unbestreitbarem Wert ziemlich unverhüllt die gleiche Neigung zeigt. Der Ehrgeiz klettert, wie der Efeu, an jedem und auch am brüchigsten Gemäuer empor. Indessen, er muß sich diesmal bescheiden, denn die demokratische Fraktion hat heute morgen einstimmig beschlossen, daß keines ihrer Mitglieder in das neue Kabinett eintreten dürfe, und auch diejenigen, deren Hoffnungen so durchkreuzt wurden, mußten anstandshalber für diese Resolution stimmen und bohrten sich, mit heimlichen Verwünschungen, selber den Dolch ins Herz. Vollkommen zu verstehen ist es, daß Hugo Preuß den Zwang, aus der Regierung auszuscheiden, bitter empfindet, denn er, der die Verfassung entworfen hat, weiß jetzt nicht, wie er an diesem Werk weiter mitarbeiten soll. Er ist nicht Abgeordneter, er ist auch nicht mehr Minister, er kann also an der Verfassungsdebatte überhaupt nicht mehr teilnehmen, und das ist in der Tat eine groteske Situation. Er ist blaß, und die innere Erregung ist 348 ihm anzusehen, als er mir jetzt seine letzten Erlebnisse erzählt. Ebert hat ihn durchaus zum Bleiben bewegen wollen, ist außer sich gewesen, hat wirklich geweint und hat gesagt, die Demokraten dürften ihn jetzt nicht im Stich lassen, sie verdankten ja auch ihre Ministerposten der Sozialdemokratie. Das ist nicht ganz richtig, da sie schon am Kabinett des Prinzen Max von Baden beteiligt gewesen sind. Preuß hat geantwortet, er könne ohne seine Fraktion nichts tun, und Ebert hat ihm dann die Veröffentlichung einer Erklärung angeboten, die ihm bescheinigen werde, daß er nur bleibe, um die Verfassung fertigzustellen, und in der Unterzeichnungsfrage anderer Meinung sei als das Kabinett. Wir essen zusammen mit Leinert, dem Präsidenten der Preußischen Landesversammlung, der bei Tisch den sehr vernünftigen Ausweg findet, das Kabinett müsse Preuß für die Verfassungsdebatte zum Regierungskommissar ernennen. Nach dem Mittagessen gehe ich mit Preuß, den dieser aussichtsvolle Vorschlag beruhigt und aufgeheitert hat, zum Schloß, da Brockdorff-Rantzau mich zu sprechen wünscht. »Wenn andere in solchen Fällen«, sagt Preuß, jetzt ganz vergnügt und mit seinem gutmütigen Lachen, »immer behaupten, sie seien froh, ihr Ministeramt loszuwerden, so heucheln sie wahrscheinlich ein bißchen, und ich für mein Teil gestehe, daß ich sehr gern Minister bin.«

Ich befürchtete, Brockdorff-Rantzau wie einen Abgestürzten zu finden, der nach hohem Flug zerschlagen daliegt oder doch, völlig betäubt, sein Schicksal noch nicht begreift. Es ist nicht ganz so schlimm, auch der Zorn, der Grimm sind Stimulantia, die dem Menschen über gefährliche Depressionen hinweghelfen können. Allerdings sieht er, als er mich aus dem Vorraum in sein Arbeitszimmer holt, furchtbar elend aus. Seine Gesichtsfarbe ist jetzt gelblich, das dünne Haar vorn über der zerarbeiteten, leidenden Stirn scheint schwitzend an der Schädelhaut zu kleben, die Augen sind nicht mehr fest auf ein Ziel gerichtet, sondern blicken mit dem ohnmächtigen Groll des überwundenen und gefangenen Kampftieres durch das Gitter, und die hagere, schlanke Gestalt hat etwas fast krankhaft Ausgemergeltes, obgleich 349 sie ihre aufrechte stolze Haltung bewahrt und sich in manchen Augenblicken sogar hochmütig reckt. Ich beginne: »Sehen Sie, hier war nichts mehr zu machen, Sie wollten es nicht glauben, aber es war alles nur noch ein zerfließender Brei.« Er sagt zornig: »Ich war dicht am Ziel, aber dieser verbrecherische Erzberger hat alles ruiniert.« Mit dem Urtrieb von Naturen, die weit primitiver sind als er, sucht er für seinen Haß ein einzelnes Objekt oder entladet ihn auf das einzelne schuldige Haupt, das man ihm hinschleift, und er ist auch darin »besessen«, daß in seiner Phantasie nur immer der eine vor ihm steht. Er spricht über die Intrigen und Chikanen Erzbergers und fragt nur nebenbei, sich unterbrechend, was ich von einem seiner Freunde oder Verwandten dächte, und ob dessen Verhalten nicht auch etwas zweifelhaft gewesen sei. Dann bedauert er, daß er den Aufenthalt in Versailles nicht wenigstens zweimal unterbrochen habe, um in Berlin die Leute zur Raison zu bringen. Die Einheitlichkeit des Auftretens in Versailles hätte freilich darunter gelitten, aber vieles, was durch seine Abwesenheit von Berlin möglich wurde, wäre doch nicht passiert. »Das Volk muß geführt werden«, sagt er, und er wiederholt noch einmal diesen Ausspruch, der so wahr und selbstverständlich und im Grunde ein Gemeinplatz ist und doch zugleich wie das Echo einer letzten Selbsttäuschung klingt. Jetzt könnte man, ohne natürlich den Vergleich ausdehnen zu wollen, wirklich an Mirabeau denken, der sich überrannt sah und in den Sturmszenen seines pathetischen Endkampfes sich vergeblich mit seiner massigen Führerfigur dem Strom entgegen warf. Brockdorff-Rantzau will morgen nach Berlin fahren, sich mit einer Ansprache von seinen Beamten verabschieden und sich dann aufs Land zurückziehen, nach Annettenhöh. Er war doch, nehmt alles nur in allem, ein schöner Fechter und die tragische Muse hat manchem Schlechteren eine Denksäule in ihren heiligen Hainen gegönnt.

Weimar, 22. Juni, Sonntag. Ich will abends, nach der Sitzung der Nationalversammlung, die um zwölf Uhr beginnen soll, abreisen und erhalte sogar noch ein Schlafwagenbillet von 350 Wolfgang Heine, der mit einem früheren Zuge fährt. Da der Streik der Eisenbahner noch immer nicht ganz beendet ist, läßt sich nicht genau vorher sagen, wann ein Zug in Berlin eintreffen wird. Vor dem Nationaltheater ein neugieriges, schaulustiges Sonntagspublikum rund um den Platz. Die Sonne hat eine Festbeleuchtung veranstaltet, die bei diesem Anlaß wie ein Regiefehler wirkt. Drinnen auf den Tribünen zumeist die Weimarer Damenwelt. Hinter mir der kleine magere General Märker und Offiziere, die nicht glauben, ihre abfällige Meinung über die Unterzeichnung und über Erzberger leise äußern zu sollen. Der neue Reichskanzler Bauer liest eine vermutlich von Ulrich Rauscher verfaßte, recht gut gemachte Rede vor, die Parteiführer, die dann auftreten, sprechen teils zu pathetisch und teils uninteressant. Fast alle Demokraten sind ärgerlich darüber, daß ihr Vorstand statt Walter Schücking, der gerade als ein in der ganzen Welt angesehener Pazifist der berufene Redner gewesen wäre, den Abgeordneten Schiffer vorgeschickt hat. Haase spricht sehr schlecht, es kommt zu einer kurzen Auseinandersetzung zwischen ihm und Bauer, auf den Tribünen wird gelacht, was sehr unpassend ist, und schließlich gelangt man zur Abstimmung, wobei die Damen aufstehen, um besser zu sehen. Die Mehrheit für die Unterzeichnung ist noch größer, als angenommen worden war. Draußen wieder die Schaulustigen, der Sonnenschein, Sommersonntag, weimarisches Idyll. Aus einem Restaurationsgarten die Töne einer liebenswürdigen Musik.

 

Im Hotel finde ich eine Photographie Brockdorff-Rantzaus mit einem Abschiedsgruß vor. Es ist eigentlich nur eine »illustrierte Postkarte«, und Brockdorff-Rantzau, der sich entschuldigt, nichts anderes schicken zu können, hat unter das Bild seinen Namen und das Datum dieses Tages geschrieben, an dem sich in Weimar der Schlußakt des Dramas vollzog. Bei der Ankunft in Berlin vor dem Anhalter Bahnhof die gewohnte Reihe jämmerlicher alter Gefährte, das letzte Gerümpel der Remisen, durch noch besonders phantastische Exemplare vermehrt an den Tagen, an denen die 351 Straßenbahn oder die Untergrundbahn oder ein Elektrizitätswerk streikt. Ein alter Droschkenkutscher, der mich nach Hause fährt und ganz abgezehrt und krumm auf seinem Bock sitzt, zeigt mir den Peitschenstumpf, mit dem er seinen elenden hinkenden Gaul vorwärts treibt. Er erzählt mir, – die Langsamkeit der Fahrt gestattet eine Unterhaltung – eine Peitsche koste jetzt sechsundzwanzig Mark. Sie habe sogar schon sechsunddreißig gekostet, kein ehrlicher Mensch könne das erschwingen. »Das kann man nicht mehr«, sagt er kopfschüttelnd, »so kann man nicht mehr leben, lieber Herr, es muß unterzeichnet werden, da hilft nun mal alles nichts.« 352

 


 


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