Theodor Wolff
Der Marsch durch zwei Jahrzehnte
Theodor Wolff

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Fürst Bülow am Fenster

Es war ein heilloser Skandal, als die Memoiren des Fürsten Bülow erschienen und man sich diese Hinterlassenschaft besah. Seit der Comte de Mirabeau, am Vorabend der Revolution, der Madame Le Jay, der Dalila in der Galerie seiner Frauengestalten, das Manuskript der »Correspondance secrète« über Berlin und den Hof Friedrich Wilhelms II. ausgeliefert hatte, war keine Stinkbombe von diesem Kaliber geplatzt. Die gutgesinnten Kreise in Deutschland – die Kreise, in denen man den Marschallstab im Tornister und die Einladung zum Hofball in der Tasche trug – hatten allerdings an den Memoiren, die aus ihrer Mitte hervorgegangen waren, niemals viel Freude erlebt. Das hatte schon mit den Tagebüchern Varnhagens begonnen, war in einer späteren Periode weitergegangen mit denen des Kaisers Friedrich, mit den Kapiteln über Wilhelm II. in den »Gedanken und Erinnerungen« des Fürsten Bismarck, mit den Aufzeichnungen des Fürsten Hohenlohe und des Grafen Waldersee, und an diese gewissermaßen klassischen Werke hatten sich, wie in Frankreich die Literatur der »petits maîtres« an die Dichtungen der Großen, die Bücher des Freiherrn von Eckardtstein, des ehemaligen Hofmarschalls von Zedlitz-Trützschler, des Geheimrats Hammann angereiht. Aber teils wegen der Art, wie Fürst Bülow das Gift zubereitet hatte und verabreichte – in so enormer Quantität und dabei aus so zierlich geschliffenen Flacons –, und teils wegen der Stellung, die er eingenommen hatte, wurden seine Memoiren besonders ruchlos gefunden, war der Zorn über seine Untat grenzenlos. Wären auf öffentlichen Plätzen Denkmäler des Fürsten Bülow vorhanden gewesen, so hätte man die Bronze eingeschmolzen, den Marmor zertrümmert, 14 jede Spur ausgetilgt. Glücklicherweise hatte die Verehrung nicht voreilig zum härtesten Material gegriffen, sondern sich mit dem Porträt in Öl begnügt.

Auch die meisten derjenigen, denen gegenüber Fürst Bülow gelegentlich Andeutungen über seine Arbeit gemacht hatte, waren überrascht, hatten sich das Werk jedenfalls nicht ganz so vorgestellt. Wenigstens muß ich für mein Teil bekennen, daß ich weit eher jene weiße Salbe erwartet hatte, mit der eine diplomatische Heilkunst Beulen und Geschwüre milde überstreicht, als das berüchtigte weiße Pulver aus der Apotheke Cesare Borgias. Wenn Fürst Bülow in Plauderstunden von Wilhelm II. sprach, der ja auch manche Fehler habe und vor allem so schlecht bedient werde, kam die Wahrheit, die leider gesagt werden mußte, stets in Begleitung eines innigen Bedauerns heraus. Natürlich konnten unterrichtete und einigermaßen verständnisvolle Zuhörer die Leichtgläubigkeit nicht allzu weit treiben und nicht meinen, Grillparzers »Treuer Diener seines Herrn«, dessen demütige Treue durch keinen Schimpf und keine Schändlichkeit erschüttert wird, sei in dem Fürsten Bülow wieder auferstanden, aber sie dachten, die staatsmännische Miene der vornehmen ironischen Überlegenheit werde sich in dem Buche wiederfinden, und die Ranküne werde sich nicht allem Marktpublikum zeigen wollen, sondern verborgen bleiben hinter jener Noblesse und jener Eleganz, die dem Weltmann eigen sind. Auf diese weltmännischen, eleganten Lebensformen hatte ja Fürst Bülow immer sehr viel Wert gelegt, er war das Muster des feingebildeten europäischen Staatsmannes, Würde und Grazie vereinigten sich in seinem Wesen, und ein kleiner Schönheitsfehler lag nur darin, daß er, der doch kein bürgerlicher Parvenu war, zu viel Zufriedenheit über diese Vorzüge erkennen ließ. Allzuoft verglich er in seinen Memoiren die distinguierten Manieren, das sichere Auftreten und den geschulten Takt derjenigen, die wie er in der »großen Welt«, in der europäischen Gesellschaft zuhause waren, mit dem Benehmen demokratischer Eindringlinge, über die sich sein mitleidiger Spott ergoß. Und nun las man, gleich auf der nächsten Seite, zwischen den hübschen Bosheiten, die den 15 männlichen Objekten seiner Abneigung galten, beleidigende Indiskretionen über Frauen, über allerhöchste Damen sogar. Der Lack der weltmännischen Vornehmheit hatte weite Risse, und unglücklicherweise hatte zeitweilig auch – und das war die einzige wirkliche Überraschung – die Bremse der Vorsicht und der Klugheit versagt.

Ich fand es weit weniger peinlich, daß er sehr häufig die Wahrheit übermalte, ihr ein verändertes, neues Aussehen verlieh. Wer Gelegenheit hatte, ihn in näherem Verkehr zu beobachten, wußte genau, wie in seinen Erzählungen die Tatsachen bisweilen einen allmählichen Umformungsprozeß durchmachten, der Pinsel immer noch Lichter hinzufügte und den Schatten revidierte, und der ursprüngliche rohe Stoff so zum Kunstwerk gedieh. Auch bei dieser künstlerischen Ausgestaltung der Tatsachen verfuhr er freilich oft mit einer bedauerlichen Nonchalance, und man brauchte nicht den geschärften Blick eines Eifersüchtigen zu haben, um die allzu deutlichen Spuren der Untreue zu erkennen. Aber wenn die empörten Tugendgeister ihn nun Lügner und Betrüger nannten und total aus dem Häuschen gerieten, so bewiesen sie bei dieser Gelegenheit einen Wahrheitsfanatismus, der sie in zahllosen anderen Fällen weit weniger beseelt. Sie schlürfen doch sonst so gern alle Legenden ein, lassen sich so wollüstig die Pflicht eigenen kritischen Nachdenkens abnehmen, halten sich für das Publikum Kants und sind das ewige Publikum des Jahrmarktes, und denen, die sich so erhaben über die Verehrer des heiligen Rockes von Trier dünken, braucht man nur einen anderen Rock hinzuhängen, um sie zur höchsten Gläubigkeit und zur höchsten Begeisterung zu bringen. Und haben nicht fast alle, die auf öffentlicher Bühne standen oder zu stehen meinten, ihre Rolle im täuschenden Schein des Theaterlichtes gesehen, lassen sich die Grenzlinien zwischen den Einbildungen der Phantasie, der instinktiven Verteidigungsgeste und der beabsichtigten raffinierten Entstellung immer mit Sicherheit ziehen? Ja, sind nicht auch die tapfersten Offenherzigkeiten gewöhnlich nur Selbstbespiegelung und Eitelkeit? Der herrliche Dulder, der »erfindungsreiche« Odysseus, wie Johann Heinrich Voss 16 so vortrefflich übersetzte, konnte dem edlen Phäakenbeherrscher Alkinoos und seinem Hofstaat, und später auf Ithaka der Gattin, dem Sohn und dem treuen Hüter der Schweine viel von seinen Abenteuern erzählen, da seine Reisegefährten auf dem Meeresgrund lagen und keine beweiskräftige Widerlegung zu befürchten war. Zweifellos hat auch dieser Erfindungsreiche sich in der Schilderung seiner eigenen Schlauheit starke Übertreibungen gestattet, und wer weiß. wie sich die Geschichte mit der Überlistung des Polyphem in Wirklichkeit zugetragen hat.

Der Sinn für Nuancen ist ein hauptsächliches Merkmal kultureller Fortgeschrittenheit und Verfeinerung. Aber als Fürst Bülow nach dem Erscheinen seiner Memoiren sich den allgemeinen, ihm freilich nicht mehr vernehmbaren Unwillen zugezogen hatte, war er nur noch der elende Charlatan, der infame Schwindler, der Urheber alles deutschen Unglücks und der Schmierfink, der sein eigenes Nest beschmutzt. Natürlich warfen gerade diejenigen, die ihn in den Tagen seiner Macht und seiner großen politischen Sünden liebedienerisch verhimmelt hatten, ihm nun die dicksten Steine auf das Grab. Auch die besten von ihnen vergaßen, wankelmütig wie die Römer, ihre Liebe von gestern, als er, zwar nicht mit dem Dolch des Brutus, aber mit der Feder des Memoirenschreibers, die empfindlichsten Stellen des Cäsar traf. Vielleicht darf man der Ansicht sein, daß die Figur des Fürsten Bülow kräftiger, ihr Rückgrat fester erschien, als offenbar wurde, wieviel aufgespeicherten Haß und welch konsequente Rachsucht dieses Gemüt in sich trug. Man hatte bei ihm immer nur die kleinen, halben Gefühle gesehen, und daß er zwischen den Blumen im Garten von Klein-Flottbeck oder im Park der Villa Malta so lange dieses Schlangennest versteckt gehalten hatte, war ein vielleicht nicht edler, aber angenehm gradliniger Charakterzug.

Fürst Bülow

Fürst Bülow

Wahrscheinlich wird eine spätere Zeit finden, daß von all den Erinnerungswerken, in denen hohe Mitwirkende die wilhelminische schilderten und sich selbst verteidigten oder verherrlichten, wenige so lesbar und so lesenswert wie das 17 Buch des Fürsten Bülow seien. Trotz Klatschsucht und Selbstgefälligkeit, trotz Taschenspielerkünsten und allen trüben Wassern, die in dem Buch zusammenfließen, ist aus diesem Zeitgemälde mehr für das Verständnis der Epoche zu entnehmen als aus den grautönigen Arbeiten ehrbarer Historienmalerei. Keinem Kenner Saint-Simons braucht man erst noch zu sagen, daß der geschliffene, geglättete Geist des Fürsten Bülow, wie geschaffen für die Kunst der wirksamen Pointe, nicht mit diesem Genie, mit dieser einzigartigen, instinktiv waltenden, in keiner Schule herangebildeten Kraft konkurrieren konnte, die geheimnisvoll, gierig und erbarmungslos die nichtsahnende Hofgesellschaft von Versailles umlauerte – er glich, sagt Saint-Beuve einmal, einem Wolfe, der in eine Hürde eingebrochen ist – und hinter ihren Physiognomien das Innerste herauszusaugen schien. Aber wenn Fürst Bülow nicht, wie Marcel Proust, dieser großartigen Schloßgalerie ein modernes Gegenstück geben wollte, so besteht doch zwischen ihm und dem französischen Herzog eine Ähnlichkeit, die freilich, genauer betrachtet, zur Unähnlichkeit wird. Auch Saint-Simon konnte nicht »objektiv«, nicht unparteiisch sein, und er wußte es, und da er ein Moralist war, empfand er bisweilen Reue und klagte darüber, daß er gezwungen sei, immer wieder in die Sünde der Ungerechtigkeit zu verfallen. Fürst Bülow watete tief in dieser Sünde, aber er war kein Moralist und wurde in der Heiterkeit der Rache nicht von Gewissensbissen geplagt.

Sind übrigens nicht auch das Falsche, Unechte, die durchsichtige Scheinheiligkeit und die Pose der Grandezza Objekte der Beobachtung, die Vergnügen und Genuß bereiten können? Gewiß, nämlich dann, wenn man eine solche Persönlichkeit mit Humor, mit einem ironischen Humor, genießt. Man könnte eine umfangreiche Abhandlung darüber schreiben, ob es Historikern gestattet sei, Humor zu haben und die Menschheit und ihre einzelnen Gipfel gelegentlich mit einem Lächeln, einem sarkastischen oder verzeihenden, anzusehen. Aber wenn sie diesen Humor besitzen, so verjagen sie ihn aus ihrem Arbeitszimmer, als befürchteten sie von ihm eine 18 Beeinträchtigung ihres guten Rufes, ihrer Autorität bei den Fachgenossen oder ihrer richterlichen »Objektivität«, die sich nur wie ein in der Spiritusflasche abgeschlossenes Präparat bewahren läßt. Sogar Voltaire machte als Historiker Ludwigs XIV. unter der Hofperücke sein frömmstes Gesicht, ein Gesicht ohne ein einziges mokantes Zucken, ein richtiges Gesicht für die Huldigungsfeier gelehrter Vereinigungen, das Gesicht des »Historiographe du roi«, und nichts von der lächelnden Philosophie des »Candide« glitt in den pompösen Hymnus hinein. Einmal hat er sich mit der Bemerkung entschuldigt, er habe patriotische Zurückhaltung üben wollen, – und leuchtet nicht, ganz wie bei ihm, bei neunundneunzig von hundert neueren Geschichtsschreibern die Sonne des Patriotismus so hell, daß dem geblendeten Auge die Wahrheit nicht sichtbar wird? Der seinen Bewunderern zu früh entschwundene Lyton-Strachey, der den subtilsten Sinn für das Ungewisse, Schwebende, Zwielichthafte besaß und mit auskostendem Behagen den Menschen auf seinen Fehlern und Schwächen ertappte, beachtete mit vollendetem Taktgefühl die Grenzlinie, an der selbst der leiseste ironische oder humoristische Unterton sein Recht verliert. So ließ sich die Gestalt des Generals Gordon dem Betrachter näher bringen, ein solches Scheinwerferlicht könnte man sogar über Charakterseiten Napoleons, Friedrichs des Großen und über das Irdische in dem privaten Olympier hinhuschen lassen, aber nicht einmal sekundenlang dorthin richten, wo in lückenloser Vollendung, wie bei Dante und Schiller, die Harmonie zwischen der Erhabenheit der Schöpfung und der Reinheit des Schöpfers vorhanden ist. Ebensowenig kann irgend eine linde Spielart des Humors das geeignete Hilfsmittel für die Schilderung von etwas brutal Infamem sein. Aber wenn man sich dem Fürsten Bülow gegenüber befindet, der mit viel Anmut zwischen der Höhe und der Tiefe wandelte, ist das ewige Stirnrunzeln der Pedanterie nicht unbedingt erforderlich.

Dieses Vergnügen, das uns die falschen und sofort als falsch erkannten Töne bereiten, – und das neben dem Vergnügen an brillanten Talenten ungemindert einhergehen kann – 19 verspürte ich, als ich zum ersten Mal in die Nähe des Fürsten Bülow geriet. Es war bei irgend einem großen, zu Ehren eines ausländischen Gastes veranstalteten Empfang im Reichskanzlerpalais, und ich hatte nicht absagen können, wie ich es sonst prinzipiell und regelmäßig tat. Da ich mich genötigt fühlte, den Reichskanzler Bülow ziemlich unablässig wegen seiner inneren und wegen seiner äußeren Politik anzugreifen, trug ich kein Verlangen nach einem persönlichen Verkehr, durch den man unter solchen Umständen sowohl sich selbst wie dem anderen gegenüber nur in eine zweideutige Lage gerät. Fürst Bülow war ein gefährlicher Herzensbrecher, ein unwiderstehlicher Menschenfänger, und so sehr man auch gegen Verführungskünste gefeit sein mag, – für gesellschaftliche Liebenswürdigkeiten am nächsten Morgen mit neuen Stichen gegen die Politik des Hausherrn danken zu müssen, ist nicht allzu angenehm. Diesmal entging ich dem Schicksal nicht. Der Gesandte von Flotow, Bülows diplomatischer Adjutant und später Botschafter in Rom, wurde ausgeschickt, mich zu holen, und ich wurde, nachdem ich die Vergeblichkeit weiteren Sträubens eingesehen hatte, in ein kleines Zimmer geschleppt, das abseits vom Gewühl lag und in dem gleich darauf, aus einer anderen Tür tretend, der gefürstete Reichskanzler erschien. Was er mir im Verlauf der kurzen Unterhaltung sagte, weiß ich nicht mehr und ich habe nur noch den Klang von ebenso schmeichelhaften wie unglaubwürdigen Komplimenten im Ohr. Aber ich weiß noch, daß er in eine zu pralle Husarenuniform eingezwängt war, daß seine Körperformen sich gegen die enge Haft auflehnten und daß der kriegerische Schmuck zu der wohllebigen Gestalt und dem runden und damals noch glatten Gesicht so wenig paßte, wie auf dem Gemälde Tizians im Pradomuseum die metallene Rüstung, in der am Morgen nach der Schlacht von Mühlberg Karl V., die stählerne Lanze tragend, auf geharnischtem Streitroß reitet, zu der dürftigen Erscheinung dieses Weltherrschers paßt. Es ist ja bekannt, und es steht so ziemlich in jeder »Psychologie de l'amour«, daß oft schon die geringfügigste Äußerlichkeit, und besonders eine, die einen Beigeschmack von Komik hat, die 20 Stimmung eines Rendezvous verdirbt. An diesem Abend war ich nicht verführt.

Wie ich dann mit dem Fürsten Bülow, nachdem er vom Gipfel der Macht zur Ebene des Privatlebens hatte niedersteigen müssen, in rege Beziehungen kam, ist anderswo erzählt worden und gehört nicht hierher. Er hat mir freigebig aus seinem Schatz von Dichtung und Wahrheit gespendet, er hat mit gleicher Grazie die echten Brillanten und die beinahe echten funkeln lassen, ich habe manches Wissenswerte von ihm erfahren, habe im gleichen Augenblick die Bewegungen des virtuosen Prestidigiateurs zu verfolgen versucht, dann oft wieder seinem witzig formulierten Urteil zugestimmt, und habe in diesen Unterhaltungen neben der Bereicherung meiner Kenntnisse das künstlerische Amüsement gefunden, das man früher von einem souverän gespielten französischen Salonstück empfing. Allerdings war es nicht immer ganz einfach, den Fürsten Bülow bei einem bestimmten Gesprächsgegenstand festzuhalten oder ihn dorthin zurückzulenken, aber man gewann darin allmählich eine technische Geschicklichkeit. In seinen letzten Jahren wiederholte er bisweilen eine schon kurz vorher erzählte Geschichte oder ein Witzwort, und er wirkte dann auch etwas ermüdend, aber beim nächsten Besuch sagte man sich wieder, daß er doch immer noch erstaunlich sei. Jedes Mal, wenn er in Berlin eingetroffen war und ich, zu sehr beschäftigt oder unlustig, ihn noch nicht aufgesucht hatte, sandte er mir einige Zeilen, oder er ließ durch seinen Kammerdiener telephonisch eine Aufforderung an mich ergehen. Ich folgte dann gehorsam und fast immer gern dem empfangenen Wink. Manchmal vor dem Kriege kam er auch selber, und ich sehe noch, wie er eines Abends, als er bei mir dem Grafen Keyserling am Tische gegenübersaß, sehr unzufrieden und ungeduldig den interessanten, aber schwer zu hemmenden Redestrom des großen Reisephilosophen, der keinen anderen Propheten neben sich duldete, vorbeirauschen ließ. Während des Krieges war er besonders mitteilsam, und dieses Bedürfnis, sich auszusprechen, hatten ja in diesen Jahren sehr viele Menschen und vor allem viele von denen, die sich 21 zu den »führenden Kreisen« zählten und sich allabendlich in den Klubräumen der für solche Kriegszwecke gegründeten »Deutschen Gesellschaft« einfanden, um in diesem Delphi den Orakeln zu lauschen oder ihre eigenen letzten Orakelsprüche herauszubringen. Fürst Bülow konnte nicht den Markt der Gerüchte aufsuchen, aber mußte seine Besorgnisse mitteilen und die mißbilligenden Gedanken äußern, die ihn erfüllten, wenn er die Fehler seines Nachfolgers und die furchtbare Unzulänglichkeit der diplomatischen Gehilfen sah. Ich war zwar ein Gegner seiner Politik gewesen, aber ich fand die Politik des Herrn von Bethmann-Hollweg und des Herrn von Jagow noch unverständlicher und war für ihn ein bevorzugter Gesprächspartner, denn wenn unsere Ansichten bei der Station Bülow, die schon ferner lag, weit auseinander gingen, so kamen sie bei der Endstation Bethmann unfehlbar zusammen.

Ich möchte einiges aus diesen Kriegsgesprächen mit dem Fürsten Bülow wiedergeben, und wenn diese Aufzeichnungen gewiß der historischen Forschung nichts Neues liefern, so wird man vielleicht finden, daß die Methode, eine Persönlichkeit sich durch die charakteristische Art ihrer Rede selbst schildern zu lassen, nicht nur in Romanen und auf der Bühne ihre Vorzüge hat. Fürst Bülow, der beim Ausbruch des Orkans in Klein-Flottbeck war, kam am zweiten August nach Berlin, als er die Nachricht erhalten hatte, daß sein Bruder, der Generalmajor, gefallen sei. Am Tage nach seiner Ankunft ging ich, um ihm zu kondolieren, ins Hotel Adlon, wo unten in der Halle die reichen amerikanischen Familien beieinander standen, auf die Möglichkeit zur Abreise wartend und sehr umschmeichelt, da Amerika für »deutschfreundlich« galt. Oben in dem kleinen Salon, der regelmäßig dem Ehepaar Bülow reserviert wurde, traf ich zuerst nur die Fürstin an – in Halbtrauer, schwarz mit weißem Kragen und einem das Haar überhüllenden schwarzen Schleierbehang. Sie sagte mir, wie sehr ihr Mann diesen Bruder geliebt habe, und dann: »Ich gestehe Ihnen, mir ist dieser ganze Krieg schrecklich, ich kann noch immer nicht begreifen, daß Leute, die sich gestern gekannt haben, 22 heute aufeinander schießen können.« Ich antwortete, es ginge mir wie ihr, und es sei sehr schwer, solche Gedanken und Gefühle beiseite zu drängen. In diesem Augenblick trat Bülow ins Zimmer, etwas schmäler als noch kurz vorher, und nachdem ich mein Beileid geäußert hatte, erzählte er, wie er in Hamburg den Tod seines Bruders erfuhr. »Ballin kam zu mir und fragte mich, ob ich nichts gehört habe, es gehe das Gerücht, mein Bruder sei gefallen. Ich wußte nichts, ich hatte ein paar Tage zuvor einen Brief von meinem Bruder erhalten, worin er mir schrieb, er gehe ins Feld und sage mir für alle Fälle Lebewohl. Ich bat Ballin, nach Berlin an den Großen Generalstab zu telephonieren, und Ballin telephonierte in meinem Zimmer im Hotel. Ich saß auf dem Sofa und wartete, und nach zwei Minuten kam die Antwort durchs Telephon – ich hörte sie von meinem Platz aus –, es sei wahr, mein armer Bruder sei tot.« Von seiner persönlichen Trauer ablenkend, wandte er sich dem großen allgemeinen Drama zu und erklärte, er habe zu dem Generalstabschef von Moltke, den er genau kenne, volles Vertrauen. Den Einmarsch in Belgien halte er für richtig und teile meine Einwendungen und Bedenken nicht.

Von Italien habe er doch mehr erwartet und er finde die italienische Politik auch nicht sehr klug. Natürlich fürchte Italien, seiner langen Küste wegen, die Feindschaft Englands, aber die Engländer würden schwerlich Genua und Neapel bombardiert haben und hätten sich das wohl zweimal überlegt. Das deutsche Volk sei in dieser Stunde so einfach, so natürlich, so ohne Pose, wirklich bewundernswert – »zum Küssen«, habe die Fürstin gesagt. Er schätze ja auch die Franzosen, sie hätten ausgezeichnete Eigenschaften, aber etwas Pose sei immer dabei. In dieser Unterhaltung war er selber einfacher und natürlicher als an vielen anderen Tagen, denn unter dem Eindruck der Todesnachricht empfand er die Eitelkeit der Dinge, und es lag über ihm wie ein milder Schein. Ich glaube, daß das Gefühl für einige wenige Personen, die ihm verwandtschaftlich am nächsten standen, das einzige warme Gefühl war, das nicht an der Oberfläche flackerte und nicht in schönen Worten verdampfte, und man 23 hat das ja auch sehen können, als er, viel später, still und ohne auf diesem Wege eine lästige Teilnahme zu suchen, den Sarg mit der toten Frau nach Klein-Flottbeck geleitete und, gleichgültig gegen religiöse und andere Vorwürfe, nur darauf bedacht war, die letzten Wünsche der Lebenskameradin zu erfüllen.

In den ersten Tagen des Dezember 1914 wurde der Beschluß, den Fürsten Bülow als Sonderbotschafter nach Rom zu entsenden, nach längerem Geisterkampf endgültig gefaßt und bekannt gemacht. Der zähe Widerstand des Staatssekretärs von Jagow und seiner Gruppe im Auswärtigen Amt hatte diesen Beschluß auf die Dauer nicht verhindern können, da der öffentlichen Meinung gezeigt werden mußte, man habe, um Italien von der Kriegserklärung zurückzuhalten, alles versucht und nichts versäumt. Am zweiten Dezember erhielt ich einen Brief von Bülow, der mir schrieb, er wolle mit mir »Eindrücke und Gedanken austauschen«, und am Nachmittag ging ich zu ihm ins Adlon, nicht sehr austauschfähig, da ich nichts zu geben hatte, aber sehr bereit, seine Eindrücke und Gedanken zu empfangen. Die Weihe des Schmerzes umgibt ihn nun nicht mehr, die Tatsache, daß er zur wichtigsten Mission berufen wurde und wieder auf den großen Schauplatz der europäischen Politik zurückkehren kann, hat ihn sofort wieder in Schwung gebracht. Er ist nicht mehr ein geistvoller Privatmann, ein »Ehemaliger«, der nur Erinnerungen und Lesefrüchte auftischt, sondern ein aktiver Staatsmann, und unwillkürlich hat seine Ausdrucksweise, trotz ungemindert fortdauernder Gesprächigkeit, wieder an Schärfe und Präzision gewonnen. Auch körperlich ist er behender, elastischer, und auch die Brust ist wieder unternehmungslustiger gewölbt. Es wäre natürlich unsinnig, ihm die Genugtuung über die neue Wirkungsmöglichkeit übel zu nehmen, und jeder Ehrgeizige von geringerem Kaliber und glanzloseren Eigenschaften hätte prahlerischer und geschmackloser in solchem Glück gestrahlt. Fürst Bülow, als alter Routinier schließlich doch an Größe gewöhnt, schlägt kein Pfauenrad, sondern ist nur aufgepolstert, erfrischt und angeregt. Alles ist wieder 24 da, auch das leichte, wohltönende Pathos, das manchmal so herrlich nach Theater klingt, obgleich er es nicht erst hatte lernen müssen, wie Napoleon vom Tragöden Talma den kaiserlichen Schritt. Er kommt mir mit den Worten entgegen: »Es ist eine ernste Zeit, eine ernste Zeit.« Bei dieser zweimaligen Feststellung scheint sein nachdenklicher Blick auf das dunkle Schicksal gerichtet zu sein, das rätselhaft am fernen Horizonte steht. In Wirklichkeit sieht er sich inmitten dieser ernsten Zeit, wie er mit seinen Pairs, den anderen Staatsmännern von Rang, die von den kleinen Stümpern und Dilettanten heillos verpfuschte Weltsituation wieder in Ordnung bringt. Der alte Hexenmeister der Ballade, der das von den täppischen Zauberlehrlingen angerichtete Malheur reparieren muß. Da er gerade Ursache hat, zufrieden zu sein, spricht er von diesen ungeschickten Zauberlehrlingen nur ein bißchen von oben herab und geht diesmal noch verhältnismäßig sanft mit ihnen um. Immerhin, auf eine sachliche Kritik braucht er auch in verantwortlicher Stellung nicht zu verzichten, und er verzichtet nicht darauf. Vorher aber kommt die große Arie, wie in der italienischen Oper vor dem Tode des Troubadour.

»Man darf diesem Volke, das so wunderbar ist, nicht den Glauben nehmen, daß der Krieg unvermeidlich war. Nicht den Glauben nehmen – Sie haben das auch sehr schön geschrieben, es hat den Glauben, ich empfinde da ganz wie Sie. Sehen Sie, ich war in Hamburg vier Stunden in einem Lazarett. Ich habe einen Mann gesehen, dem beide Beine abgenommen waren, er hat mir gesagt, ob ich die Stumpfen sehen wolle. Ich habe die Decke emporgehoben und habe sie mir angesehen, mit den blutigen Schnitten daran. Ich habe ihm gesagt: Sie sind ein braver Mann. Er hat mir geantwortet: Ich habe nur meine Pflicht getan. Ich versichere Sie, ich bin nicht sentimental, aber ich hatte ein Gefühl der Verehrung, es ist etwas Heiliges, etwas Großes darin. Das Volk ist so gläubig – wie das Kätchen von Heilbronn an seinen Ritter glaubt.« Natürlich sind die Bewunderung und die Verehrung, die er so ausspricht, Gefühle, die jeder noch nicht in Verrohung verfallene Mensch in dieser Zeit, ebenso wie ein 25 ungeheures Mitleid, in sich trägt. Kein Zweifel, daß Fürst Bülow sich nicht mit einer fremden Pietät schmückt und nicht einem Touristen gleicht, der ohne innere Frömmigkeit, des besseren Eindruckes wegen, in der Peterskirche niederkniet. Es ist bei ihm nur alles zu schön gerundet, in eine Melodie gefaßt. Während er seine Szene schildert, blickt er mich wieder nicht an, sondern sieht über sein Publikum hinweg. Es gibt vielleicht Dinge, die man nicht zu gut vortragen soll. Aber wie man, nach der Fabelweisheit Lafontaines, sein Talent nicht forcieren darf, so kann man auch nichts machen gegen sein Talent. Fürst Bülow verweilt nicht länger bei dem Lazarettbilde und ganz wie die anderen, die sich für tiefer veranlagt halten und doch nach einem Abstecher in die Welt der Schmerzen mit gutem Appetit dinieren, kommt er von den Eindrücken, die das Herz belasten, zu dem Thema, das der kritische Gedanke mit begreiflicher Hartnäckigkeit umkreist:

»Ich schätze ja Jagow, und Bethmann ist ein vornehmer, durch und durch anständiger Mann. Er will das Beste, ganz gewiß. Aber ein Mann von diplomatischer Erfahrung hätte es nie zu diesem Kriege kommen lassen – niemals, dieser Meinung sind Sie ja auch. Böswilligkeit lag nicht vor, bestimmt nicht, es fehlte also doch wohl an Geschicklichkeit. Ich habe 1905 den Krieg vermieden, und 1909. Niemals hätte ich es so weit kommen lassen, ich glaube, daß ich das von mir sagen darf. Jeder Diplomat von Erfahrung brauchte doch auf das österreichische Ultimatum nur mit dem Finger hinzutippen und mußte die Stelle herausfinden, wo die Serben nicht mehr nachgeben konnten und die Russen eingreifen würden. Alexander II., der auch lieber zuhause geblieben wäre, ist aus solchen Gründen gegen die Türkei in den Krieg gezogen, und Nikolaus I. hat den Krieg gemacht, und der jetzige Zar, der auch lieber still bei Mutter gesessen hätte, mußte auch. Das war doch vorauszusehen. Und warum hat man das Mittel, das Cambon in seiner Unterhaltung mit Jagow vorschlug, nicht angenommen? Warum wollte Jagow nicht, daß die vier Mächte, Deutschland, Italien, Frankreich und England sich zusammentaten, um eine Einigung 26 zustande zu bringen? Von den vier Mächten waren mindestens drei, Deutschland, Italien und, ich bin überzeugt, auch Frankreich, nicht für den Krieg. Von England möchte ich das nicht ganz so sicher sagen, über den guten Grey bin ich nicht ganz der Meinung unseres gemeinsamen Freundes Lichnowsky, mir scheint er doch etwas undurchsichtig zu sein. Aber es genügte, daß die drei anderen friedlich waren – warum hat Jagow diesen Vorschlag abgelehnt? So haben wir fortwährend den Verdacht auf uns gelenkt, daß wir den Krieg wollten, zuerst durch das Ultimatum, dann durch die Ablehnung der Vorschläge, und schließlich haben wir auch noch den Krieg erklärt. Ich weiß schon, was man mir in Rom sagen wird. Ich brauche es garnicht erst zu hören: wir haben den Krieg gewollt, das tapfere belgische Volk vergewaltigt, und dann die Verwüstungen in Belgien und Nordfrankreich, das doch ein Trümmerhaufen ist. Es war, als wenn zwei Züge auf einander losfahren – niemand hat verstanden, sie aufzuhalten, da sind sie gegeneinander gepufft. Und wenn man dann wenigstens mit Italien und Rumänien verhandelt hätte, als noch Zeit dazu war. Oder vielmehr, man mußte – Nibelungentreue hin, Nibelungentreue her – den Österreichern sagen: wenn Ihr wollt, daß wir Euch mit dem Blute unseres ganzen Volkes beistehen sollen, dann sorgt dafür, daß Italien und Rumänien sich verpflichten, mitzugehen. Wir lassen Euch vierzehn Tage Zeit, um Eure Sache mit den beiden ins reine zu bringen. Das wäre gewiß nicht ganz leicht gegangen, aber es mußte gemacht werden, schließlich hing doch viel davon ab. Wenn Italien den Trentino haben wollte – es hätte sich vielleicht auch mit weniger begnügt. Ich habe noch nach dem Ausbruch des Krieges einen Brief von San Giuliano bekommen, der mir auch in diesem Sinne schrieb. Wir haben das alles versäumt, und Barrère, der französische Botschafter in Rom, hat das natürlich ausgenutzt. Barrère ist übrigens ein alter Freund von mir, wir kennen uns seit vierundzwanzig Jahren, ein hochbegabter Mann. Cambon wird ja wohl auch nach Rom kommen, da werden wir uns wiedersehen.« Ich frage, wie seiner Ansicht nach Jules Cambon und die anderen Botschafter der 27 feindlichen Staaten sich verhalten werden, wenn er ihnen begegnen werde, was ja wohl zu erwarten sei. Er erwidert: »Öffentlich, vor aller Welt, werden sie wohl sehr stolz tun, und wenn wir uns abseits treffen, werden sie sagen: Quel Malheur! Mit Jules Cambon stand ich trotz aller politischen Differenzen immer gut. Ich schätzte ihn sehr, er mich auch. Er sagte, als ich fortging, ich hätte ihm manchmal das Leben schwer gemacht, aber ich verstände den französischen Charakter, und daß ich fortgehe, tue ihm sehr leid. Ich antwortete ihm: Das sagen Sie nur so – aber er blieb dabei. Non, sagte er mir, en toute sincérité. Vous nous avez mal traité, assez souvent, mais vous connaissez la France. Vous savez ce qui est impossible en France. Après vous d'autres viendront qui voudront forcer la note. Er hatte recht, ich kenne Frankreich, ich habe gern in Paris gelebt, es ist für jeden im Grunde die schönste Zeit gewesen, für Sie gewiß auch, und die Franzosen haben ausgezeichnete Eigenschaften, ein hochbegabtes Volk. Wenn ich auch glaube, daß es nicht möglich gewesen wäre, mit ihnen zu etwas zu kommen.«

»Also auf gut deutsch«, frage ich, »Sie gehen mit leeren Händen nach Rom?« – »Ganz mit leeren Händen, allerdings. Es gibt eine Anekdote, Sie kennen sie gewiß, von einem Pelzhändler, der kein Geld hat, seine Gläubiger zu bezahlen, und ihnen dafür Scherze erzählt. Man will, daß ich wie der Pelzhändler Geschäfte machen und dafür Scherze erzählen soll. Es ist keine Phrase, keine Redensart, aber ich kann wirklich sagen, ich habe mich nicht dazu gedrängt. Es ist nichts für mich dabei zu holen, die Aufgabe ist sehr undankbar, sehr undankbar. Aber ich habe wirklich die Empfindung, daß ich in einer Zeit, wo jeder arme Mann sich für das Vaterland die Glieder zerschießen läßt, nicht ruhig in der Villa Malta sitzen kann. Ich habe zu sehr das deutsche, das preußische Gefühl, darum habe ich ja gesagt.« Als wir dann von Friedensmöglichkeiten sprechen, bekennt er sich zu einem einigermaßen »harten« Frieden, mit den Franzosen sei doch nichts zu machen, dreiviertel des Volkes seien friedlich, aber die Entscheidung liege immer bei der Minorität. Im Falle eines Sieges müsse man zum mindesten auf der 28 Herausgabe von Antwerpen und von Belfort bestehen. Übrigens werde er selber erfreulicherweise nichts damit zu tun haben, Bethmann habe ihm ganz ehrlich geschrieben, er wolle den Frieden allein machen, und das sei sehr mutig und eigentlich, da Bethmann ja auch die Politik, aus der alles entstanden sei, gemacht habe, ein schöner Beweis von Pflichtgefühl. »Wer nach diesem Kriege den Frieden machen will, der muß einen dicken Überzieher haben, er wird reichlich Scherben zugeworfen bekommen.«

Er hatte sich noch nicht genügend ausgesprochen und vier Tage später läßt er mir telephonieren, er würde mich vor seiner Abreise nach Rom, die am Abend stattfinden solle, gern noch einmal sehen. Diesmal marschiert, als ich im Hotel in seinen kleinen Salon trete, draußen, Unter den Linden, Infanterie mit Musik vorbei. Bülow steht am Fenster, voll Andacht ganz in das Schauspiel versenkt. »Wie viele von diesen prächtigen Jungens«, sage ich, »werden wiederkommen?« Die Musik verhallt schon fern, er wendet sich zu mir und sagt im Tone eines aus tiefstem Herzen kommenden Bekenntnisses: »Jeder Mensch hat seine Tokade – meine Tokade ist, daß ich ein begeisterter Preuße bin. Ich fühle das jedes Mal, wenn dort unten Soldaten vorüberziehen.« Und dann, zu den Geschäften übergehend, sagt er, daß er mich noch einmal sprechen wollte, denn er halte die Situation in Italien für sehr ernst. Das »für sehr ernst« wiederholt er, wie es seine Gewohnheit ist, wenn er bei einem Gedanken verweilt oder ihn als besonders bedeutsam unterstreichen will, – wobei es dann immer den Eindruck macht, als stiegen die Worte langsam aus dem Ziehbrunnen der Überlegung herauf. »Die Mutter meiner Frau hatte doch recht, als sie mich warnte, sie ist sehr klug, ungewöhnlich klug. Vorläufig werden sie ja nicht losgehen, sie sind erst Ende Februar mit ihren Rüstungen fertig, aber dann werden sie auf einen Vorwand warten, auf eine Gelegenheit. Es ist sehr schlimm. Das Verhältnis zwischen Österreich und Italien muß mit der äußersten Vorsicht angefaßt werden, mit der äußersten Vorsicht, und mit den Österreichern ist nicht zu reden, sie wollen die Situation nicht sehen. Ich habe heute mit dem 29 österreichisch-ungarischen Botschafter, dem Prinzen Hohenlohe, sehr eindringlich gesprochen, ich habe ihm alles gesagt, freundschaftlich, aber natürlich auch sehr bestimmt, wir sind beinahe aneinander geraten. Sie wollen eben nicht. Man braucht doch den Italienern garnicht zu erklären: Wir geben Euch den Trentino – ich kenne sie wirklich, ich habe so lange unter ihnen gelebt – alles bei ihnen ist »una combinazione« – das muß man nur verstehen. Wenn man im Orient zu einem Teppichhändler kommt, verlangt er dreihundert Lire für einen Teppich, und dann sucht man una combinazione, und schließlich einigt man sich. Ihr wollt den Trentino? – darüber können wir sprechen – aber seht mal, der Kaiser Franz Joseph ist alt, man kann ihm das jetzt nicht antun, vielleicht gefällt Euch etwas anderes, wir werden zusammen una combinazione suchen, una combinazione, die Euch etwas sehr Großes und Wertvolles gibt.«

Fürst Bülow geht im Zimmer auf und ab, er hat wieder, wie so oft, wenn er im Reichstag redete, die beiden Daumen in die Ärmelausschnitte der Weste geschoben, blickt sinnend, und dann bleibt er vor mir stehen und sagt: »Wie konnte Bethmann das tun? Ich begreife ihn nicht, er ist ein edler Mensch, ein Schulmeister, wie Ballin sagt, aber gerade darum doch gewissenhaft. Wie will er vor dem Jüngsten Gericht antworten, wenn man ihn fragt: Hast Du das österreichische Ultimatum vorher gekannt? Ja? – und dann hast Du nicht begriffen, daß es zum Kriege führen mußte, und hast nicht die gefährlichsten Punkte daraus entfernt? Nein, sagst Du und Du versicherst, Du habest es nicht gesehen? Aber warum hast Du Dich nicht darum gekümmert, wie konntest Du dann siebenundsechzig Millionen Deutsche mit ihrem Gut und Blut engagieren, wie das Deutsche Reich auf diese Karte setzen, die Du nicht gekannt, nicht gesehen hast?« Vermutlich hat Fürst Bülow, obwohl er ein großes Geschick im Improvisieren besitzt, sich dieses Verhör, das Herr von Bethmann-Hollweg vor dem Jüngsten Gericht zu bestehen haben werde, oftmals in seinen Gedanken zurechtgeformt. Jetzt hält er einen Augenblick lang inne, das Mitgefühl mit dem Mann, den er sich in der himmlischen Gerichtsszene 30 vorstellt, nötigt ihn offenbar zu dieser Pause, aber dann muß er doch etwas über Herrn von Jagow sagen, und da bedarf es keiner Sentimentalität. »Dieser Jagow! – ich bin ja auch ein Junker, aber ich habe nicht all die Eigenschaften der Junker, ich habe andere Länder und Völker kennen gelernt. Jagow hat all ihre kleinlichen Fehler, alles, was schlecht an ihnen ist. Er ist ja eigentlich meine Kreatur. Wir hängen ab von denen, die wir schaffen, das ist der Lauf der Welt.« Sicherlich ist diese Meinung über den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes nicht beeinflußt durch die Tatsache, daß Herr von Jagow, seit langem ein Feind des Fürsten Bülow, auch jetzt wieder sich gegen die Entsendung des Fürsten nach Rom ausgesprochen hat. Es ist nur gerade einer der Tage, an denen Fürst Bülow nicht die etwas scheinheilige Miene der frommen Nachsicht annimmt und der beißende Geschmack der Rede durch kein kleines Stück Zucker gemildert wird. Der englische Botschafter Goschen hat berichtet, in der letzten Unterredung nach der Kriegserklärung Englands habe Jagow ihm gesagt: »the pestilential Berliner Tageblatt« sei, weil es durch ein Extrablatt die Kriegserklärung Englands verkündete, schuld an den feindseligen Manifestationen vor dem Botschaftspalais. In Wahrheit hatte das Auswärtige Amt dieses Extrablatt genehmigt, und Herr von Jagow hat mir erklären lassen, er habe den unliebenswürdigen Ausdruck »pestilential« nicht gebraucht. Fürst Bülow erinnert sich dieser Angelegenheit und bemerkt: »Ich kenne Goschen, er ist sehr langweilig, aber er ist ehrlich, der Enkel eines deutschen Buchhändlers, wie Sie wissen, ein absolut anständiger Mann. Ich habe neulich Freunden von mir gesagt: »Wie kann ein deutscher Staatssekretär, um sich herauszureden, ein deutsches Blatt, und eines der größten und wichtigsten Blätter, gegenüber einem fremden Botschafter bloßstellen – in dem Augenblick, wo der Krieg ausbricht, gegenüber dem Botschafter einer feindlichen Macht! Der König von Rumänien, der an gebrochenem Herzen gestorben ist, weil er sein Lebenswerk durch die Überhebung in Wien und die Unfähigkeit in Berlin vernichtet sah – der König Carol war einmal dabei, als ein Fremder, 31 der sein Gast war, über den »Adeverul« abfällig sprach. Der »Adeverul« war nur ein kleines Blatt, aber der König war sehr empört darüber, daß ein Fremder in seiner Gegenwart etwas gegen eine rumänische Zeitung sagte, und er verbat sich das mit großer Entschiedenheit.

Fürst Bülow ist der Meinung, Herr von Bethmann-Hollweg wünsche eine Verständigung mit Rußland, während man im Auswärtigen Amt behauptet, daß das nicht seine Absicht sei. »Bethmann«, sagt Fürst Bülow, »ist sehr pessimistisch geworden, ganz anders, als er beim Beginn des Krieges war. Damals sprach er von Odessa und Riga, jetzt erklärt er, den Russen sei nicht beizukommen. Ich glaube nur, daß man in Petersburg garnicht daran denken würde, auf solche Pläne einzugehen. Und wenn man sich mit Rußland wieder versöhnen will, dann hätte man nicht die Telegramme des Zaren veröffentlichen dürfen, das verzeiht man uns in Petersburg nicht, es gibt Dinge, die man nicht machen kann. Man veröffentlicht nicht die Briefe und Telegramme der Monarchen – Bismarck hat das nicht getan.« Ich frage: »Haben Sie den Kaiser gesehen?« – Bülow, als hätte es keinen Moment der Ungnade gegeben: »Gewiß!« – »Wie fanden Sie ihn?« – »Oh, sehr ernst – wenn Sie wollen, in einer sehr schönen Stimmung, aber sehr ernst.«

Als im Laufe dieser Unterhaltung Fürst Bülow bemerkte, daß man in Italien alle Schwierigkeiten durch »una combinazione« zu überwinden pflegte, war es interessant, zu beobachten, wie er bei diesem Wort verweilte, es wiederholte, sich an seinem Wohlklang zu erfreuen schien. Er liebkoste es gewissermaßen, und wenn er auch nicht die unvergeßliche Stimme der Duse hatte, so konnte man doch beinahe an die Zärtlichkeit erinnert werden, mit der diese Göttliche im letzten Akt der »Kameliendame« das »Amando, Amando« sprach. Nicht nur durch seine Frau und durch die Schwiegermutter Laura Minghetti – in deren römischem Salon allerdings sein Geist sich weitergeschult hatte – fühlte er sich gern jenen italienischen Politikern verwandt, die als Meister der Geschicklichkeit gelten und denen die übrige Welt weniger Vertrauen zu widmen pflegt als Bewunderung. Für 32 ihn war die Diplomatie eine Kunst, und eine elegante Kunst. »Una combinazione« – so gewandt, wie es plumpe Hände niemals vermögen, einen scheinbar unentwirrbaren Knoten aufzulösen, in kritischer Situation den versteckt gehaltenen rettenden Einfall hervorzuziehen, in geistreichem Geplauder den Teppich auszuhandeln, das entsprach seinem Geschmack und seinem Naturell. Dieses Talent für die »combinazione« hatte er ja meistens auch bewiesen, wenn er vorher die Dinge so in einen Engpaß hatte hineintreiben lassen, daß eben nur noch durch einen Kniff herauszukommen war. Einige Male, wie in der Konferenz von Algeciras, hatte Deutschland sich freilich bei dem Handel sozusagen ins eigene Fleisch geschnitten, obgleich Fürst Bülow hinterher dem ungläubigen Publikum klar machen wollte, es sei ein vorzügliches Geschäft. Der echte Teppich, den er einkaufte, konnte sich bei näherer Betrachtung als eine zweifelhafte Ware herausstellen, – aber die glückliche Wendung, durch die im letzten Augenblick, schon an der Tür, plötzlich der Streit beendet, die Einigung erzielt worden war, hätten ihm nicht viele nachmachen können. Fürst Bülow hatte nicht die etwas derbe Art eines Edgar Wallace, der auf dem Höhepunkt der Verwickelungen durch einen Überraschungstrick Probleme löst, sondern die liebenswürdige und leichte Manier eines Eugène Scribe. Sich selbst an der Begabung erfreuend, die ihm die Grazien verliehen hatten, pflegte er in der Diplomatie diesen feineren Komödienstil.

Reichskanzler Bethmann Hollweg

Reichskanzler Bethmann Hollweg

Am Morgen nach diesem Gespräch rief mich telephonisch der Gesandte Graf Wedel aus dem Auswärtigen Amte an. Man wisse, sagte er, daß ich den Fürsten Bülow gesprochen habe, und wahrscheinlich habe ich dabei allzu pessimistische Eindrücke von der Situation in Italien empfangen. Fürst Bülow habe hier in deutlicher Absicht die Dinge so dargestellt, als wäre Italien sehr geneigt, an der Seite der Ententemächte in den Krieg zu gehen. Er habe die Schwierigkeit seiner Mission übertrieben, um dann um so besser mit seinem Erfolge paradieren zu können. Ich hatte nicht den Eindruck, daß Fürst Bülow in seinen Äusserungen zu pessimistisch gewesen sei. Mein Gefühl war eher, daß er die Reise, auf der 33 ihn das Wohlwollen des Auswärtigen Amtes begleitete, mit zu viel Unternehmungslust angetreten habe, im Glauben an seinen Stern und an die Wirkung seiner Persönlichkeit. In Rom entwickelten sich die Dinge nach dem Gesetz der Schwere, der fallende Stein vollzog seinen Lauf. Anfang Mai gab es in Berlin noch Leute, die den ganzen italienischen Kriegslärm für einen Bluff hielten, und der Unterstaatssekretär des Auswärtigen Amtes, Herr Zimmermann, sagte mir: »Ich glaube doch noch, Giolitti wird es machen«, aber der Botschafter von Flotow, der aus Italien kam, sah richtiger, und auch Jagow behauptete nicht mehr, der Fürst Bülow habe die Situation zu schwarz gemalt. Die Überzeugung, daß gleich nach Italien auch Rumänien sich der feindlichen Front anschließen werde, kam zu den anderen Sorgen hinzu. Am 20. Mai verschwand der letzte Zweifel, das italienische Parlament hatte sich für den Krieg erklärt, der große Taktiker Giolitti, von dem man in den politischen Blindenhäusern noch das Wunder erwartet hatte, war schon vor der Sitzung zu seinem provinziellen Ruhesitz zurückgekehrt. Drei Tage später verließ Fürst Bülow Rom. Mit ihm, nach schwerem Abschied, seine Frau. Der Zauber seiner Konversation, seine persönliche Autorität, seine klug vorgetragenen Argumente, seine gesellschaftlichen Beziehungen – nichts hatte die Entscheidung zu verhindern vermocht. Keine »combinazione« hatte in einem Handel helfen können, wo die Konkurrenz weit höhere Preise bot. Fürst Bülow hatte das irgend Mögliche getan und konnte wohl auch behaupten, er habe durch seine hinhaltende Dialektik immerhin eine militärisch wichtige Verzögerung des Kriegsbeschlusses erreicht. Aus unleugbaren Niederlagen war er mit der unbefangenen Miene der Zufriedenheit hervorgegangen, nicht er hatte die Schlacht verloren, und so fuhr er nicht wie ein Geschlagener heim.

Nichts war ihm, als ich ihn nach seiner Ankunft in Berlin besuchte, von überstandener Anstrengung oder von Enttäuschung und Beunruhigung anzusehen. Er war frisch und lebhaft und wie einer, der immer gut geschlafen hat. Gleich nach der Begrüßung sagte er, unter all seinen 34 Reiseeindrücken habe ihn einer besonders frappiert. Das deutsche Volk sei von der Außenwelt wie durch einen eisernen Vorhang abgeschlossen und lebe in einer totalen Ahnungslosigkeit. Aber einmal müsse der eiserne Vorhang doch in die Höhe gehen. Dann begann er die Ereignisse zu berichten, wie ein Historiker oder wie ein berühmter Mediziner, der nach der Obduktion einer Leiche die von den kleineren Ärzten verschuldeten Kunstfehler konstatiert. »Ich will Ihnen erzählen, wie es in Italien war. Ich behaupte, wenn Österreich Ende Juli oder Anfang August, beim Beginn des Krieges, den Italienern die Konzessionen gemacht hätte, zu denen es jetzt, natürlich zu spät, bereit war, dann wäre Italien mit uns gegangen. Weiter: wenn man in Wien zwischen dem ersten Januar und Mitte Mai diese Konzessionen anbot, dann blieb Italien neutral. Leider versicherte man uns in Wien damals immer, die Italiener wollten nur erpressen, man dürfe sich nicht einschüchtern lassen, und die Wiener behaupteten, wir überschätzten die Gefahr. Ich hatte schon vor meiner Abreise nach Rom Privatnachrichten aus Italien, die es mir wahrscheinlich machten, daß zwischen den italienischen Staatsmännern und England Verhandlungen im Gange seien. Ich war überzeugt, daß mit der alten Schablone der Wilhelmstraße nichts mehr auszurichten wäre, daß man eine neue Basis schaffen müsse, darum lenkte ich die italienische Regierung viel bestimmter auf die Möglichkeit einer Abtretung des Trentino hin. Ich weiß nicht, ob Sie den Grafen Berchtold kennen. Er ist ein Grandseigneur, ein sehr liebenswürdiger Mann, ein großer Kavalier, wie die Wiener sagen, aber politisch etwas indifferent. Er meldete sich beim Kaiser Franz Joseph und erklärte ihm, es sei auch seine Meinung, ohne die Abtretung des Trentino gehe es nicht. Er hatte die ganz richtige Auffassung, daß Österreich-Ungarn sich in einem Kampf auf Leben und Tod gegen Rußland befinde, daß es einpacken könne, wenn es ihm nicht gelinge, mit Serbien fertig zu werden, – auf die paar hunderttausend Bewohner des Trentino, die übrigens zumeist nicht deutsch sprechen, kam es in einer solchen Situation nicht an. Der Kaiser Franz Joseph 35 antwortete: nein, das Trentino trete ich nicht ab und den Italienern gebe ich überhaupt nichts, und Berchtold sagte: Majestät, dann darf ich wohl bitten, mich von meinem Posten zu entheben, da ich an meiner Meinung festhalten muß. Davon wollte der Kaiser Franz Joseph nichts hören, – nein, mitten im Kriege, unmöglich – aber zwei Tage darauf erhielt Berchtold eine Schachtel mit dem Stephansorden darin und ein huldvolles Handschreiben, das die Genehmigung seiner Entlassung enthielt. Berchtold sagt sich: um so besser, da kann ich wieder in Ruhe meine Rehböcke schießen und zusehen, wie meine Rennpferde ihren Morgengalopp machen, und geht ganz zufrieden ab. Nun kommt Burian. Er fährt nach dem deutschen Großen Hauptquartier, und man erklärt ihm dort, es bleibe nichts anderes übrig, die Abtretung des Trentino sei eine zwingende Notwendigkeit. Er ist ganz einverstanden, erhält den Schwarzen Adlerorden, aber als in Wien dann Tschirschky – ich begehe wohl keine Indiskretion, wenn ich sage, daß unser Botschafter nicht Talleyrand ist – ihn besucht und die Sache weiter fördern soll, antwortet ihm Burian: das Trentino? völlig ausgeschlossen! keine Rede davon! Die Italiener haben ihre Leute überall, sie erfahren das, ein paar Zeitungsartikel, in denen alle Konzessionen abgelehnt werden, kommen hinzu, ein sehr unglückliches Geschwätz von Monts – mit dem gleichen Mangel an politischem judicium, den Monts immer bewiesen hat – verstimmt noch mehr. Gleichzeitig sagt in Rom der österreichisch-ungarische Botschafter Macchio zu Bekannten: die Italiener sind schlau, aber mir san noch schlauer, wir versprechen ihnen alles, aber sie bekommen nix. Sonnino fragt mich, wie es sich damit verhalte, – ich sage ausweichend, was man so sagen kann: Ce sont des potins, der Kaiser Franz Joseph hat noch nie sein Wort gebrochen, Deutschlands Garantien, die ich Ihnen verschaffen werde, müssen Ihnen genügen, lassen Sie uns nur Zeit! Aber er antwortet: Je ne veux pas être le dindon de la farce, und von da ab ist er mißtrauisch, er ist überzeugt, daß er betrogen werden soll. Haben Sie ihn einmal gesehen? Er ist kein unanständiger, kein schlechter Mann. Ein 36 Einsiedler, er lebt ganz für sich. Er erinnert sehr an Holstein, auch darin, daß beide Jahrzehnte lang eine Frau liebten – seit die Frau, die er geliebt hat, gestorben ist, hat Sonnino sich von allem zurückgezogen, er meidet den gesellschaftlichen Verkehr. Nun ist es mir nur noch möglich, die Sache hinzuziehen. Am 20. April bekomme ich ein Telegramm von Bethmann: Falkenhayn bittet Sie, vier Wochen Zeit zu gewinnen. Wegen der Karpathenschlacht. Ich habe die Depesche verbrannt. In mein Notizbuch habe ich geschrieben: 20. April. Ich habe fünf Wochen Zeit gewonnen, statt der vier.«

Als ich ihn dann frage, ob er in Rom seine ehemaligen Freunde, Jules Cambon, Barrère und die anderen nun feindlichen Botschafter getroffen habe, erwidert er: »Man hat in Deutschland keine Vorstellung von dem Haß, der uns umgibt. Es ist ein fürchterlicher Haß. Als Rod, der Engländer, mir in Rom begegnete, begrüßten wir uns – ich war überzeugt, es fiel ihm schwer, ohne eine Aussprache weiter zu gehen. Mein alter Freund Barrère, als er mich sah, machte eine Bewegung mit dem Arm, (Bülow macht mir die Geste vor) – es lag etwas sehr Schmerzliches darin – wie wenn jemand sagen will: zwischen uns ist für immer alles aus . . .« Ich erkundige mich nicht erst nach Jules Cambon. Später habe ich Bülow dann auf eine Stelle in den Memoiren Poincarés aufmerksam gemacht, die erkennen ließ, daß Jules Cambon vor der Ankunft seines »Freundes« in Rom warnende Briefe nach Paris schickte, aus denen keine übermäßig freundschaftliche Gesinnung sprach. Aber Bülow liebte es, berühmten Ausländern den Titel »Freund« zu verleihen. Er sagte: »mein Freund Tittoni« und »mein Freund Francis Charmes«. Selbstverständlich war er zu klug, um sich selber über die Zuverlässigkeit dieser Freundschaften zu täuschen, und er umgab sich nur gern mit dem Lichtschein der internationalen Intimität. Er nannte die fremden Staatsmänner und andere hervorragende Persönlichkeiten seine Freunde, wie, auf der noch höheren Stufe, die Monarchen einander »lieber Vetter« nennen.

Er spricht dann noch von dem deutschen Volk, das herrlich, 37 »wirklich Jung Siegfried« sei und so ohne Ahnung von allem, was geschehen ist, und von allem, was sich draußen begibt. Bethmann habe überhaupt keinen festen Plan, lasse sich von den Ereignissen treiben, schwanke auch in der Frage der Annexionen hin und her. Die Fürstin kommt, schon einigermaßen erholt. Sie sagt mir, wie unglücklich ihre alte Mutter sei, und ich mache ihr ein Kompliment darüber, daß der Fürst Camporeale, der Schwager Bülows, es im römischen Senat als einziger gewagt hat, gegen den Krieg zu stimmen. Dazwischen lobt Bülow weiter das deutsche Volk. Das gibt ihm Gelegenheit, zu konstatieren, wie anders es in manchen Kreisen aussieht, die nicht zum »Volk« gerechnet sein wollen. »Wenn der radikalste Sozialdemokrat käme und mir seine Hilfe anböte, ich würde sie annehmen, in vollem Vertrauen, so echt ist dort das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Aber daneben leider – wieviel Persönliches, Kleinliches, Neid und Eifersucht! Jemand hat zu einem hochstehenden Beamten gesagt: Wenn das und das geschieht, wird es dem Fürsten Bülow nicht möglich sein, mit einem Erfolg nach Hause zu kommen. Die Antwort lautete – man hat sie mir überbracht: Wer sagt Ihnen denn, daß Bülow Erfolg haben soll?« Wir gehen zusammen fort und ich begleite das Ehepaar nach der Wilhelmstraße, wo es einen Besuch zu erledigen hat. Unterwegs fragt mich die Fürstin, jetzt ganz heiter, ob der neue Panamahut ihres Mannes nicht gräßlich sei. Wirklich, Bülow trägt jetzt einen Panamahut, und diese sommerliche Kopfbedeckung, die doch immer ein wenig an heißbesonnte Tabakfelder und an die ländliche Nonchalance des Farmers erinnert, ist für ihn nicht sehr vorteilhaft. Aber er kommt jetzt in eine Periode seines Lebens, wo er auf Spaziergängen die steife Eleganz wohl absichtlich ein wenig vernachlässigt, und, mit breitrandigen weichen Hüten und um den Kragen gewundenen weißen Shawls, sich einem Genre des historischen Porträts nähert, das nicht den kleinsten frivolen Zug enthält.

Wiederum hat er noch vielerlei, was er sagen wollte, ungesagt gelassen und darum wünscht er nach einigen Tagen 38 abermals meinen Besuch. Er bringt diesmal eine Fülle von Dingen vor und vor allem ist er verblüfft und besorgt über die Ahnungslosigkeit, mit der man in Berlin der allgemeinen Weltstimmung gegenüber steht. »Ich bin erstaunt, wenn ich höre, was die Leute sich hier alles einreden, wie vollkommen unorientiert sie sind. Wenn einmal zwischen zwei Schützengräben ein paar Zigaretten ausgetauscht werden, dann legt man dem eine Wichtigkeit bei – wie groß in Wirklichkeit der Haß ist, ahnt man nicht. Eine Freundin, die aus England kam, hat mir erzählt, vor dem Kriege haben die Gelehrten dort Adressen gegen den Krieg unterzeichnet, in vielen Kirchen hat man für den Frieden gebetet – jetzt ist das alles völlig verwandelt, weniger in den unteren Klassen vielleicht als in der Gesellschaft, es herrscht dort eine große Entschlossenheit. Sonnino hat mir einmal gesagt »Avant le premier coup de canon tout était possible – beaucoup de choses étaient possibles – beaucoup de choses – qui sont devenu impossibles depuis que le premier coup de canon a été tiré.« Das ist ja auch einer der Gründe, aus denen die Italiener gegen uns in den Krieg gegangen sind. Sie wollen nicht in den moralischen Boykott mit eingeschlossen sein, den man, und England besonders, über uns verhängt. Sehen Sie von alledem ein Ende? – ich sehe keins. Und es ist entsetzlich, ja, es ist entsetzlich – das Volk leidet, wenn es auch seine Leiden mit so wundervollem Mut erträgt – mit wundervollem Mut. Die Kammerfrau meiner Frau hat eine Nichte, die hatte zwei Söhne, beide sind gefallen. Sie hat den Verstand verloren und ist in eine Anstalt gebracht worden, und die alte Kammerfrau sagt: Es muß wohl so sein, es ist fürs Vaterland. Man hat mir erzählt, ein Mann in Dortmund habe fünf Söhne im Felde gehabt. Als vier tot waren, hat er ein Gesuch eingereicht, man solle ihm den fünften zurückgeben – das Gesuch wurde bewilligt, aber gerade war auch der fünfte Sohn gefallen. Ist es nicht entsetzlich, und wie will man da heraus? Es muß ein furchtbares Gefühl für die sein, die eine Verantwortung haben, ein furchtbares Gefühl.« Ich werfe ein, herauskommen könne man am allerwenigsten, wenn man auf der Annexion fremder Gebiete bestehe und 39 Belgien ganz oder teilweise behalten wolle, aber so sehr Fürst Bülow den Krieg und die Leiden des Volkes beklagt – ob man ganz auf Belgien verzichten solle oder könne, erscheint ihm zweifelhaft. »Das ist eine sehr schwere Frage«, sagt er, »ich weiß wirklich nicht, wie man dem deutschen Volke gegenübertreten soll mit einem solchen Verzicht, nach allen Opfern, die man von ihm gefordert hat. Ballin hat mir aus Hamburg geschrieben: das englische Volk hat an Belgien seine Ehre gehängt, und das deutsche Volk seine Phantasie. So ist es auch, Ballin ist ein außerordentlich kluger Mann, alles, was er sagt, ist sehr klug.« – »Vielleicht«, gestatte ich mir zu bemerken, »weiß Herr von Bethmann, wie er mit der Annexion von Belgien zum Frieden gelangen will.« – »Ja, Bethmann – er geht herum und gibt allen Leuten die Schuld. Man hat ihn im Stich gelassen, er kann nichts dafür, daß die unglückliche Wendung an der Marne eintrat, er kann nichts dafür, daß Calais noch nicht genommen ist, er kann nichts dafür, daß wir noch nicht in Warschau sind. Er kann nichts dafür. Er hat sich seine eigene Theorie zurecht gemacht: es ist das Verhängnis, das Verhängnis hat alles gewollt. Er behauptet, daß der Krieg nicht zu vermeiden war, weil gegen das Verhängnis nichts zu machen war.«

Fürst Bülow ist nun also wieder der Mann in der Toga, der mit unermüdlicher Ausdauer und gewissermaßen verliebt in den interessanten Fall die einzelnen Punkte für die öffentliche Verhandlung überprüft, zusammenstellt, klassifiziert, ergänzt. Aber da ihm immer noch eine neue Möglichkeit, die Anklage zu begründen, eingefallen ist und er seine Rede jedesmal durch einen neuen Ausschmuck bereichert, bleibt man angenehm angeregt. »Kennen Sie die Depesche, die Jagow im Juli an Lichnowsky geschickt hat, – worin er ihm sagte, er solle nicht bekümmert sein, Rußland mache keinen Krieg? Es ist unbegreiflich, aber man hat das geglaubt. Jagow hat ja auch zu Ihnen, nicht wahr, dasselbe gesagt. Man hat in der Suggestion gelebt, der Zar könne die Fürstenmörder nicht unterstützen, und die russische Armee könne garnicht losschlagen, denn es fehle ihr an Gewehren und Munition. Wie konnte man denken, der Zar werde gegen 40 die ganze Tradition seines Hauses handeln und Serbien preisgeben – wie konnte man meinen, er werde ruhig zusehen, wenn Österreich Serbien okkupierte, ihm seine Souveränität, seine Freiheit nahm? Der Zar hätte riskiert, daß irgendein Generaladjutant zu ihm ins Zimmer getreten wäre und ihm erklärt hätte: Majestät, das geht nicht, das erlaubt Rußland nicht. Er hätte riskiert, daß man ihm die Gurgel abgeschnitten hätte – er mußte den Österreichern den Krieg machen, er wäre sonst seines Lebens nicht mehr sicher gewesen, man hätte ihn umgebracht. Nur eine völlige Inexpérience konnte das nicht sehen. Der Papst ist ein kluger Mann, ein sehr kluger Mann, und man kann manches bei ihm erreichen, wenn man es ihm richtig vorzustellen weiß. Man kann erreichen, daß er einen Bischof von Paderborn zum Kardinal erhebt. Aber man darf von ihm nicht verlangen, daß er das Bild Luthers über seinen Schreibtisch hängen soll. Das kann er nicht, und ebenso konnte der Zar nicht Serbien opfern, das war eine Unmöglichkeit.« – Ich frage noch: »Daß der Kaiser ganz und gar nicht an den Krieg gedacht hat, glauben Sie auch?« – »Er hat nicht daran gedacht. Man hat ihm natürlich gesagt, der Fürstenmord müsse gerächt werden, und man könne den Österreichern nur empfehlen, energisch vorzugehen. Sie wissen ja, wie empfänglich er dafür ist, er wird ganz dafür gewesen sein, daß sie energisch vorgehen sollten, aber er hat nicht einen Augenblick ernsthaft an den Krieg geglaubt. Er hat die Dinge aus der Ferne gesehen. Man sagt jemandem: Du sollst in vierzehn Tagen aus dem Fenster springen – er ist bereit dazu – und wenn es so weit ist, meint er, daß er auf der Leiter heraussteigen wird.«

Eigentlich wäre es nötig, die Anklagereden des Fürsten Bülow mit einigen Fußnoten zu versehen. Man könnte beispielsweise darauf hinweisen, daß er selber, indem er die Österreicher bei der überflüssigen Annexion Bosniens nibelungentreu unterstützte, das russische Nationalgefühl gewaltig aufgestachelt hat. Nachdem das zaristische Rußland diesen ersten Schlag erduldet hatte, mußte es ihm zehnfach unerträglich sein, neue Schläge zu empfangen. Der Fehler des Fürsten Bülow hatte bereits den russischen Organismus 41 außerordentlich empfindlich gemacht. Das entschuldigt freilich keineswegs die Herren von Bethmann-Hollweg und von Kiderlen, die zwar diese Politik ihres Vorgängers sehr tadelten, aber während des Balkankrieges immer wieder den russischen Schmerz verschärften, Rußland zu immer neuen Rückzügen, zu fortwährend weiterer Preisgabe seiner serbischen Freunde trieben, bis man – an die Stelle des verstorbenen Kiderlen war Herr von Jagow getreten – schließlich meinte, ihm auch die geduldige Hinnahme des österreichischen Ultimatums und die völlige Opferung Serbiens abzwingen zu können. Gerade weil, zuerst in der Ära Bülow und dann in der folgenden Zeit, die russische Seele in einen höchst gefährlichen Zustand der Überreizung hineingeraten war, mußten aufmerksam überlegende Politiker sich sagen, jetzt sei äußerste Vorsicht geboten, jetzt könne aus allzu harter Zumutung die Katastrophe entstehen. Und noch eine andere Anmerkung zu den Worten des Fürsten Bülow ist nötig, damit sich nicht ein falscher Eindruck ergibt. Ein falscher Eindruck, der durch eine sehr abgekürzte Wiedergabe von Gesprächen, die sich stundenlang hingezogen haben so leicht hervorgerufen wird. Man greift da nur einige charakteristische oder resümierende Sätze heraus. Man verzeichnet die Höhepunkte, und das Bild kann so irreführend werden, wie etwa ein Bild der Schweiz, auf dem die Berge zu eng aneinander geschoben sind. Zwischen den Bergen liegt die Ebene, das Tal. Übrigens waren auch die Ebenen in den Erzählungen des Fürsten Bülow meistens anmutig und niemals ganz dürr und unfruchtbar.

Die römische Mission war die einzige Aufgabe, zu der man in den vier Kriegsjahren den Fürsten Bülow berief. Und bis zum Ende seines Lebens hatte er keine Gelegenheit zu politischer oder diplomatischer Betätigung mehr. Vielleicht wäre es richtig, sich auch bei der Wiedergabe seiner Äußerungen auf diese kurze Episode seiner Aktivität in Italien zu beschränken und nicht noch Proben aus den späteren Kriegsgesprächen anzureihen. Aber wenn man ein Feld oder einen Wald voll Blumen einer nicht ganz gewöhnlichen Spezies vor sich hat, hilft die gute Absicht, nur ein paar Exemplare zu 42 pflücken, wenig, und verführt durch den Anblick der blühenden Fülle vergrößert man den Strauß. Ich möchte zwei Bruchstücke aus Unterhaltungen hier hersetzen, aus denen noch deutlicher hervorgeht, wie schwer Fürst Bülow es verwinden konnte, daß man ihn früher nicht zu Rate gezogen hatte und auch in der folgenden Zeit beiseite schob. Im Januar 1916 war er von Luzern, wo er mit seiner Frau mehrere Wochen lang geweilt hatte, wieder in Berlin eingetroffen, gleich nach seiner Rückkehr hatte er mir seine Eindrücke – immer die gleichen: den allgemeinen Haß gegen Deutschland und »nicht die geringste Aussicht auf Frieden« – geschildert und am 31. Januar packt er dann besonders gründlich aus.

»Neulich hat mir Bethmann gesagt: wenn ich nur eine halbe Stunde so mit Sasonow und Grey hier an diesem Tisch sitzen könnte, würden wir zum Frieden kommen. Ich habe nichts geantwortet, um ihn nicht mutlos zu machen – er ist oft sehr pessimistisch, und es wäre unrecht, ihn dann noch mehr zu bedrücken –, aber ich hätte aufstehen und den Schlüssel umdrehen und ihm sagen mögen: das halten Sie für möglich, nach allem, was geschehen ist? Sie ahnen ja garnichts von der Leidenschaftlichkeit, von der Verbitterung, die seit dem Beginn des Krieges in England und in Frankreich – weniger in Rußland, aber auch dort – sich angesammelt hat. Geben Sie einmal für vier Wochen Ihre Geschäfte ab und reisen Sie ins Ausland, nach der Schweiz, nach Kopenhagen, nach dem Haag. Dann werden Sie lernen, die Dinge anders zu betrachten als in der Berliner Atmosphäre, wo die Zensur Ihnen alles zurecht macht und man die Wahrheit nicht sehen will.« Nachdem er eine Weile lang abermals vom Juli 1914 gesprochen, den Kaiser entlastet, den Generalstabschef von Moltke einen »dickflüssigen, etwas schwerfälligen, immer pessimistischen, aber im Grunde hochanständigen Menschen« genannt und gesagt hat, dem Grafen Berchtold sei alles »fad« gewesen – »is so fad« –, und darum habe er sich in das Abenteuer hineintreiben lassen, berührt er in scherzendem Ton die Torheit, die das eifersüchtige Grüppchen der Schicksalsgötter tatsächlich und unbestreitbar beging, indem 43 es keinen erfahrenen Ratgeber zu Hilfe rief. »Ist es nicht zum verzweifeln, wenn man sich sagen muß, daß all das, was zum Ruin von Millionen Existenzen, zu so ungeheuren Opfern an Leben und Gut, zu so unendlichem Leid geführt hat und den Wohlstand Deutschlands und Europas auf lange Zeit hinaus untergraben muß, in den Händen, in den so wenig fähigen Händen von zwei oder drei Menschen lag? Der gute Bethmann – ich schätze ihn sehr, aber es fehlt ihm doch jedes savoir faire, und dieser Jagow – er war das größte Unglück und glaubte sich mit kleinen Malicen behelfen zu können – und der neurasthenische Stumm – man hat mir erzählt, daß er im Klub gesagt hat: in drei Tagen zwinge ich Rußland auf die Knie. Ich spreche wirklich nicht aus vanité, aber man hätte vielleicht doch auf den Gedanken kommen können: dieser Bülow ist zwar ein Rindvieh, aber er ist hier ganz in der Nähe, er sitzt in Klein-Flottbeck, er hat schließlich etwas von der Welt gesehen, wir brauchen ja nicht zu tun, was das Rindvieh sagt, aber rufen wir es einmal her, hören wir es an. Ich wäre natürlich gekommen und hätte ihnen gesagt: Wißt Ihr, war Ihr angestellt habt? Wenn der selige Fürst Bismarck hier vor Euch hintreten könnte, dann würde sein erstes Wort sein: wie konntet Ihr das tun, wie konntet Ihr aus einem Deutschland, das reitet, ein Deutschland machen, das von Österreich geritten wird? Ich hätte ihnen weiter gesagt: Ihr behauptet, Ihr habt das Ultimatum nicht gekannt – Ihr hättet es kennen müssen und Ihr hättet wissen müssen, daß für kein Land, nicht einmal für die Republik San Marino, der strittige Paragraph des österreichischen Ultimatums annehmbar war. Wie Ihr herauskommen sollt? Nehmt die Vorschläge Greys und Jules Cambons an, oder noch besser, arrangiert eine Zusammenkunft zwischen dem Kaiser, dem König von England und dem Zaren in Kopenhagen, wie es Ballin Euch geraten hat. Aber glaubt nicht, daß Ihr sonst den Krieg vermeiden könnt. Rußland wird Serbien nicht im Stich lassen, Frankreich, wo der point d'honneur eine so große Rolle spielt, wird den Russen sein Wort halten, ganz gleich, ob Jaurès oder ein anderer zu entscheiden hat, und England wird sich an die Seite der 44 Alliierten stellen.« Fürst Bülow liebt, wie man sieht, diese rhetorische Form des Spieles zwischen Frage und Antwort – wobei in der Verhörszene, die er sich ausmalt, der unglückliche Bethmann immer mehr in die Enge getrieben wird. Bisweilen ist es der Weltrichter, der den Angeklagten vernimmt, und bisweilen sitzt der Fürst Bülow selber dem armen Opfer gegenüber, und es bereitet ihm eine diabolische Genugtuung, die Beweise immer prägnanter zu gestalten und den Strick immer fester zuzuziehen.

Am 18. Dezember 1917 – inzwischen ist Herr von Bethmann-Hollweg gestürzt worden, und Deutschland hat, es weiß nicht warum, und für sehr kurze Zeit, einen Reichskanzler, der Michaelis heißt. In dem kleinen Salon im Hotelzimmer erzählt mir abends beim Tee Fürst Bülow mit warmer Bewegung, wie er auf der Straße bei Hamburg einen kranken Soldaten liegen sah und zusammen mit einem anderen Herrn den bejammernswerten Menschen aufhob, und daran schließen sich wieder, als Übergang zum politischen Teil, allgemeine Bemerkungen über die Not und die Tapferkeit des Volkes an. Kurz vorher war im Reichstag die Friedensresolution, Erzbergers Werk, ein Appell an die feindlichen Mächte, beschlossen worden, und Herr von Bethmann hatte aus diesem Anlaß noch vor seinem Ende eine Rede gehalten, von der die Fürstin Bülow mit Recht, und sogar mit freundlicher Zustimmung ihres Gatten, gesagt hatte, daß sie die Rede eines anständigen Mannes gewesen sei. Wir waren gleich damals einig in der Ansicht gewesen, daß die öffentliche Kundgebung des Reichstags vielleicht einen günstigen Eindruck auf das deutsche Volk, aber gar keinen auf das Ausland machen werde, und Fürst Bülow wendet jetzt noch einiges gegen die Methode öffentlicher Friedensverhandlungen ein. »Die geistvolle Französin Madame Dudeffand sagte, als man ihr erzählte, es gebe jetzt eine neue Methode, um Kinder künstlich zu erzeugen: Moi, je suis pour l'ancienne manière. Ich bin für die ancienne manière auch in der Diplomatie. Wenn ich Reichskanzler wäre, dann würde ich an meinen Freund Jules Cambon oder an meinen alten Freund Barrère schreiben – ich würde sie fragen, ob sie 45 nicht meinten, daß man ein Mittel suchen sollte, diesem fürchterlichen Krieg ein Ende zu machen und zu einem vernünftigen Frieden zu gelangen.« – Er hängt noch immer an der Idee dieser alten Freundschaften, obgleich Jules Cambon die Liebe nicht erwidert und Barrère in Rom ihm abgewinkt hat, und er ist also mindestens solch ein Optimist wie Bethmann, der meint, daß er sich nur mit Grey an einen Tisch zu setzen brauche, um die volle Harmonie wieder herzustellen.

»Ich sage«, fährt er fort, »wenn ich Reichskanzler wäre – ich preise den Himmel, daß ich es nicht bin, und Sie haben ja, lieber Freund, auch Ihr Möglichstes dazu getan, daß ich es nicht geworden bin. Glauben Sie mir, ich sage das nicht als Vorwurf – Sie haben mir vielleicht das Leben gerettet, meine Gesundheit hätte es wohl kaum noch ertragen, aber nur theoretisch gesprochen, es interessiert mich doch: würden Sie es nun wirklich für ein so großes Unglück halten, wenn ich es geworden wäre, und warum eigentlich?« Tatsächlich habe ich mich während der Kanzlerkrise einigermaßen teilnahmslos verhalten, denn so ziemlich alle Parteien und alle Volksschichten betrachteten ihn als einen alten unmoralischen Don Juan der Politik, und nur Stresemann ging als sein eifriger Werber herum. Es braucht nicht erst betont zu werden, daß er für das Amt tausendmal geeigneter gewesen wäre als der kleine pietistische Michaelis, aber von dem bizarren Einfall, aus diesem Mann einen Reichskanzler zu machen, hatte ja niemand etwas gewußt.

»Ein Unglück«, antworte ich dem Fürsten, »wäre Ihre Ernennung nicht gewesen, aber ich hielt sie für eine Unmöglichkeit. Sie haben gegen sich die intimste Umgebung des Kaisers, die Konservativen, die ganze Linke und das Zentrum – ich glaube nicht, daß Stresemann und ein paar Nationalliberale ein genügendes Gefolge sind.« – »Die ganze Linke«, protestiert er, »das ist doch nicht richtig, ich glaube, daß Sie sich da irren. Ich habe nicht nur in der Fortschrittlichen Volkspartei gute, mir wohlgesinnte Freunde, sondern, ich versichere Sie, auch in der Sozialdemokratie. Es ist wahr, ich habe die Sozialdemokratie bekämpft. Aber 46 doch nur aus sachlichen Gründen, und ich bin der erste, zuzugeben, daß sie sich in diesem Kriege großartig benommen hat, – wo wären wir geblieben, wenn es anders gewesen wäre, ohne unsere Arbeiterschaft? Und auch das Zentrum ist nicht gegen mich, ich jedenfalls bin vom Gegenteil überzeugt. Mein Freund Erzberger hat noch gestern abend bei mir gegessen, und ich hatte garnicht den Eindruck, daß ich ihm so sehr zuwider sei.« – »Sie haben während des Krieges Ihr Buch erscheinen lassen und sich darin auf Annexionen festgelegt.« – »Da sieht man doch wieder«, entgegnet er mit der heiteren Miene eines nie aus der Fassung geratenden Lebenskünstlers, »daß wir zwei gute Deutsche sind. In Deutschland sucht man immer nach, was einer früher einmal gesagt oder geschrieben hat, und man ist glücklich, wenn man darin einen Widerspruch entdeckt. Festlegen – man legt sich überhaupt niemals fest.«

Da ich ihm sage: »Sie wissen, – ich habe nie ein Hehl daraus gemacht – daß ich vieles in Ihrer Politik nicht mitmachen konnte« – antwortet er: »Man muß nicht vergessen, daß ich in einer sehr schwierigen Situation war, als ich mein Amt übernahm. Ich sollte eine Flotte schaffen, ich hatte meinen Auftrag mit der Bedingung angenommen, für diese Flotte einzutreten – und ich sollte zugleich den Frieden mit England aufrecht erhalten, das doch sehr beunruhigt über unsere Flottenbauten war. Als Bethmann kam, war die Flotte gebaut, er konnte weit leichter zu einer Verständigung mit England gelangen als ich. Ich hatte mir gegenüber den König Eduard, dessen Antipathie gegen den Kaiser wirklich groß war – Bethmann hatte sich gegenüber Sir Edward Grey, der im Grunde unbedeutend, nicht bösartig, eher gutmütig ist.« Nun beginnt eine lange historische Diskussion über die historische Vergangenheit. Über die englischen Bündnisangebote, über den Versuch des »manchmal rührenden« Wilhelm II., dem Zaren in Björkö den unmöglichsten aller Verträge abzulisten, und sogar noch einmal über die unter dem Kanzler Caprivi erfolgte Kündigung des deutsch-russischen Rückversicherungsvertrages, die Bülow natürlich verurteilt, und die ja fast allen Geschichtskritikern als ein 47 wichtiges Glied in der Kette der Fehler erscheint. Diese Nachprüfung früherer Ereignisse – sehr interessant, wenngleich nicht mehr Überraschungen ans Licht fördernd, und unterbrochen von trüben Betrachtungen über die Gegenwart – zieht sich bis zu den späten Abendstunden hin. Es würde ein ganzes Kollegheft füllen, wollte ich das, was Fürst Bülow so in guter Stimmung vorträgt, halbwegs lückenlos nacherzählen, und ich will lieber noch sagen, was er, vor dem Ausbruch der russischen Revolution, von der Lage in Rußland hielt. »Der Kaiser«, äußerte er am 7. Juni 1916, »ist nicht mehr für große Annexionen – dies ganz unter uns, nicht wahr? Im Januar wollte er noch sehr viel nehmen, er hatte große Ideen, jetzt ist er davon abgekommen. Und Rußland? – ich meine, wir müssen gewiß unsere Grenzen neu sichern, aber zu viel würde gefährlich sein. Ich kenne Rußland, ich habe ja dort gelebt, ich glaube nicht, daß man es wirklich schwächen kann. Man spricht bei uns viel von der russischen Revolution. Ich glaube, daß man auf innere Krisen in Rußland nicht rechnen soll. Die Krisen in Rußland sind wie die russischen Romane – sie versickern, sie haben keinen richtigen Schluß. Erinnern Sie sich, wie »Anna Karenina« schließt? Der Held hat Zahnschmerzen und er reist ab. So pflegen die russischen Krisen zu enden, mit Zahnschmerzen und dann ist es aus. Die Revolution ist durch Petersburg gerast, vor dem Winterpalais wurde geschossen, der Zar sah die Kanonen der Flotte in Kronstadt auf sich gerichtet, und eine Weile darauf war alles vergessen, und alles ging so weiter wie vorher.« Auch noch kurz vor der Absetzung des Zaren war Fürst Bülow der Ansicht, es werde alles so, mit ein wenig Zahnschmerzen, weitergehen, und gewöhnlich fügte er hinzu: »Ich kenne Rußland wirklich gut.« Er kannte nicht die in den Volksmassen wirkenden Triebe und Kräfte, in Rußland so wenig wie in Frankreich, er kannte nur die diplomatischen Kreise und die Leser der »Revue des deux Mondes« in Paris und die Salons in Petersburg. Aber daß er an die russische Revolution nicht glaubte und vor allem den umwälzenden Sieg Lenins nicht vorher sah, ist gewiß verzeihlich, und wer von uns kann denn behaupten, 48 er habe immer die kommenden Erdbeben vorausgeahnt? Seit dem paradiesischen Apfelbiß besteht die Weltgeschichte aus Ereignissen, die eingetreten sind, weil man nicht an sie geglaubt, sie nicht für möglich gehalten hat.

Seine Ansichten über die Probleme, die sich aus dem Kriege ergaben, waren veränderlich. Ganz unveränderlich war seine Meinung über die Leute, die nach ihm zur politischen Führung berufen worden waren, und über Abtrünnige, die sich schnell bei den neuen Herren in Gunst gesetzt hatten, und über einen ganz besonders verhaßten Gegner, den Grafen Monts. Wenn er in der Unterhaltung damals Wilhelm II. schonte, dem er dann in seinen Memoiren alles erdenkbar Böse antat, so darf man nicht meinen, er habe noch irgend ein freundliches Gefühl für den Monarchen gehabt. In jedem Augenblick war ihm gegenwärtig, wie Wilhelm ihn, »das Luder«, fortgejagt hatte, und die Rache wurde nur sozusagen auf Eis gelegt und bis zur geeigneten Stunde vertagt. Man konnte ja noch nicht wissen und auch in diesem Punkte nichts voraussehen – der Kaiser ernannte die Reichskanzler, und vielleicht würde er sich doch noch einmal entschließen, den Fürsten Bülow zu ernennen. Ein Kluger wartete ab, hütete sich, etwas zu verderben, obgleich er so gar keine Lust zur Rückkehr in das Amt hatte, und legte sich nur im stillen das Material für die Memoiren zurecht. Zu den Problemen, die Fürst Bülow, wie übrigens so viele seiner Zeitgenossen, nach dem Kriege anders betrachtete als in einer Periode, in der noch große Hoffnungen und Pläne erlaubt waren, gehörte dasjenige, das Belgien betraf. Lange nach der Billigung des Einmarsches in Belgien kam die Erkenntnis, daß der politische Fehler ebenso groß wie das moralische Unrecht gewesen war. In solchen Fragen konnte man wohl nur dann vom ersten Moment an völlig klar sehen und vor allen Schwankungen bewahrt sein, wenn man mit festen Grundsätzen ruhig und sicher durch den Sturm der Leidenschaften schritt. Grundsätze dieser Art hatte Fürst Bülow nicht.

Montaigne, der mit vergnüglichem Behagen immer wieder bei der Schilderung seines eigenen Ichs verweilte, unterstrich gern, als ein froher Lebensphilosoph, der für die ihm 49 verliehenen Glücksgüter dankbar ist, die kleinen Mängel und Schwächen seiner Natur. Bisweilen übertrieb er dabei in liebenswürdiger Selbstverspottung und so behauptete er, daß sein Gedächtnis ihn völlig im Stich lasse, sein Erinnerungsvermögen kläglich sei, obgleich doch alle Kenner der »Essais« wissen, daß er stets eine unerschöpfliche Fülle von illustrierenden Anekdoten, historischen Kuriositäten und Zitaten aus sämtlichen lateinischen Schriftstellern in Bereitschaft hielt. Er tröstet sich über den angeblichen Mangel, denn einmal sei es gut, sich nicht an empfangene Kränkungen zu erinnern, und sodann gerate derjenige, in dem nicht alles Gehörte und Gelesene haften bleibe, weniger leicht in die Gefahr, durch Weitschweifigkeit und Schwatzhaftigkeit den anderen lästig zu fallen. Und schließlich: Wer sich eines schlechten Gedächtnisses bewußt sei, hüte sich besser davor, eine früher schon erzählte Tatsache je nach den Umständen anders darzustellen, umzufälschen und umzulügen, und heute zu sagen, eine Sache sei grau, und morgen zu erklären, sie sei grün. Fürst Bülow hätte sich noch weniger glaubwürdig als Montaigne auf ein schlechtes Gedächtnis berufen können. Es war ein Gedächtnis allerersten Ranges, ein Reservoir, aus dem ihm in jedem Augenblick das Gewünschte zufloß, ohne daß er genötigt war, sich mit Suchen und Heranholen anzustrengen. Diese Fähigkeit hatte, wie aus der Wiedergabe der Gespräche schon hervorging, nicht eine Ermüdung des Zuhörers zur Folge, wogegen ein gewisses Nachlassen und momentanes Aussetzen dieser Erinnerungskraft – aber erst in seinen letzten Lebensjahren – bewirkte, daß Fürst Bülow eine Geschichte oder eine vortreffliche Äußerung wieder auftischte, nachdem ein solches Schmuckstück der Konversation eben erst verwendet worden war. Es handelte sich da, wie ich schon erwähnt habe, nur um eine kurze und nicht häufige Unachtsamkeit, und Fürst Bülow scherzte dann bisweilen darüber hinweg, indem er sagte: »Sie werden finden, daß ich ein alter Schwätzer geworden bin.« Was die Frage betrifft, ob ein vergeßlicher und seine Schwäche kennender Mensch die Wahrheit nicht so unbefangen verdreht wie ein anderer, so wird man darauf schwerlich eine allgemein 50 gültige Antwort geben können. Montaigne hat übrigens zwischen den groben, unerschrockenen und unverbesserlichen Lügnern und jenen Menschen unterschieden, deren Sündhaftigkeit sich nur bis zu den wechselnden Erfindungen und Einbildungen der Phantasie versteigt, und die, seiner Meinung nach, stets befürchten müssen, sich in dem Netz ihrer Widersprüche zu verfangen. Fürst Bülow gehörte trotz seiner Unerschrockenheit natürlich nur zu der zweiten Kategorie. Aber Widersprüche genierten ihn nicht und hatten keine Bedeutung, denn er hatte sich, wie er sagte, ja niemals »festgelegt«.

Eine kritische Betrachtung seiner politischen Handlungen und Ideen wurde hier – um auch das zu wiederholen – nicht erstrebt. Ich habe mich während seiner Kanzlerschaft und später reichlich mit dieser politischen Materie beschäftigen müssen und hatte nicht den Wunsch, darauf zurückzukommen. Wenn jetzt zwischen die Gespräche ein paar Mal Bemerkungen eingeschaltet wurden, die das Gebiet der Politik berührten, so geschah das nur, weil es des besseren Verständnisses wegen nötig schien. Indessen, eines kann noch erwähnt werden, weil es dem Bilde – dem gesprochenen Selbstporträt des Fürsten Bülow – vielleicht eine letzte Abrundung gibt. Einmal befragte ich den Fürsten Bülow über die Technik seiner Redekunst. Wie allen deutschen Reichskanzlern wurden auch ihm die großen Programmreden, die im Reichstag gehalten werden sollten, in den Büros der Reichskanzlei und des Auswärtigen Amtes entworfen und mit dem Material, das die einzelnen Ressorts lieferten, vollgestopft. Während mancher andere Reichskanzler den Entwurf einfach übernahm oder nur leicht korrigierte, gab Fürst Bülow auch der trockenen Staatsweisheit sorgfältig und liebevoll den persönlichen Schliff. Der bürokratischen Veranstaltung fügte er das Feuerwerk hinzu. Ich wollte von ihm hören, ob er sich ein Rezept für jene Reden gemacht habe, die er in den Reichtagsdebatten ohne solche Vorbereitung hielt. Er war immer am glänzendsten und sprühendsten und eigentlich in seinem wahren Element, wenn er zur Erwiderung auf eine Rede Bebels oder Eugen 51 Richters scheinbar ganz frei improvisierend – einen Vorrat von passenden Zitaten, Pointen und Effektstellen hatte er sich für solche Fälle angelegt – das Wort ergriff. »Wenn ich so unvorbereitet sprechen mußte«, sagte er mir, »ist mir natürlich das Beste erst während der Rede eingefallen. Aber ich will Ihnen ein Geheimnis verraten – wenn ich aufstand, habe ich immer den letzten Satz, den Schluß meiner Rede gewußt.« Das ist zweifellos eine ausgezeichnete Methode, und nicht nur für alle Redner, sondern auch für alle Literaten überaus empfehlenswert. Wievielen Romanen, Theaterstücken, Aufsätzen und Leitartikeln merkt man an, daß der Verfasser während der Arbeit noch garnicht sein Ziel gekannt, nicht den Schlußpunkt gesehen hat! Es gehört zur Charakteristik des Fürsten Bülow, daß er als Redner immer seines Schlußeffektes sicher war, und daß er als Staatsmann das Ende seiner Aktionen nicht so genau vorherberechnete, sondern sich meistens optimistisch auf die unfehlbare Inspiration, auf seine elegante Geschicklichkeit verließ. Man mußte nur »una combinazione« zu finden verstehen. In der Politik pflegte Fürst Bülow mit einem genau gearbeiteten Manuskript zu beginnen. Am Ende kam eine jener Improvisationen, die entweder wie glückliche Überraschungen wirken, oder denen man ansieht, daß sie als Kinder der Not geboren sind. 52

 


 


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