Theodor Wolff
Der Marsch durch zwei Jahrzehnte
Theodor Wolff

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Der Jude Ballin

Dass Albert Ballin Jude war, ließ sich weder verheimlichen – aber verheimlichen wollte er es garnicht – noch verkennen. Gesichtsbildung und auffällige Einzelheiten, wie die starken Lippen unter dem Schnurrbart, zeigten es genügend an. Eine breite, von einigen Furchen durchzogene Stirn und darüber eine bis zur mittleren Höhe schon kahle Schädelwölbung waren von ursprünglich dunklem Haar umwachsen, das besonders an den Schläfen graue Stellen hatte, als das fünfte Jahrzehnt überschritten war. Die Nase, nicht mit der gebogenen Linie, die in volkstümlichen Karikaturen die jüdischen Nasen zu haben pflegen, war kräftig und ziemlich fleischig, das Kinn rund und voll. Alle Aufmerksamkeit des Betrachters wurde angezogen durch die hinter einem Kneifer hervorschauenden lebhaften, klugen Augen, durch diese wirklich »sprechenden« Augen, in denen sich alles ausdrückte, das ernste Sinnen und der Humor, der feste, beherrschende Wille und die Güte, die Sorge und die Zufriedenheit. Wie bei allen feinen Naturen empfand man hinter jedem dieser Momentbilder noch einen inneren Reichtum, und wenn Ballin sich sorgenfrei dem Genuß der Geselligkeit zu überlassen schien, konnte man doch immer – um den Vergleich aus seinem Berufsgebiet zu entnehmen – an ein heiter bewimpeltes Schiff denken, das mit schwerer Fracht seine Straße zog. Aber die Worte, die man wie Striche aneinanderfügt, um ein menschliches Antlitz nachzuzeichnen, geben niemals das wirkliche Gesicht wieder, und die einzelnen Züge, die man herausarbeitet, fügen sich nicht zur wahren Form zusammen. Nur Hollywoodköpfe von normaler Schönheit sind leichter zu fassen, und wenn man behaupten kann, der Mann, den man 239 zeigen will, sei dem Cäsar, dem Napoleon, dem Dante oder einer anderen tausend Mal vervielfältigten historischen Büste ähnlich, hilft das der suchenden Phantasie in dankenswertester Weise nach.

Seemannsphysiognomien pflegen selbst dann noch, wenn sie schon runzlig geworden sind, einfach, unzusammengesetzt, wie die Köpfe in alten Holzschnitzereien oder wie die Gesichter in der Manessischen Handschrift zu sein. Ballins Gesicht, das von der Intelligenz so sehr belebt und durcharbeitet war, daß es darin keine leere Stelle gab, war nicht nach diesen primitiven Mustern geschnitten, aber es hatte die Seemannsfarbe, war von der Luft des Meeres und des Hafens gebräunt. Über das, was man als jüdische Züge bezeichnen konnte, hatte sich diese Patina gelegt. Man sah sofort, daß er gewohnt war, im Seewind zu leben, und nicht zu den städtischen Ferienreisenden gehörte, die von ihrem kurzen Ausflug mit einer schnell vergänglichen Renommierfarbe nach Hause kommen. Er fühlte sich am wohlsten auf einem seiner Hapagschiffe und brauchte auf Seefahrten die sonst allzu reichlich eingenommenen Schlafmittel nicht. Eine Phantasie, die sich mit der Überbrückung von Jahrtausenden belustigt, könnte herausfinden, daß sein Stammvater jener Sebulon, der Sohn Jakobs, gewesen sei, von dem es im Segen des Vaters hieß, er werde »an der Anfurt des Meeres wohnen und an der Anfurt der Schiffe« – und von dessen Drang zur See Thomas Mann im zweiten Bande seines »Joseph« etwas ausführlicher erzählt. Wenn Ballin den Yachtdreß und die Mütze des kaiserlichen Yachtclubs trug, waren diese Kleidungsstücke bei ihm selbstverständliche und in keiner Weise befremdende Bestandteile, und er trug sie mit der sorglosen Eleganz, die nur die Gewohnheit verleiht. Die Bankdirektoren und die meisten der hohen Beamten, die zu den Schiffstaufen oder zur Kieler Woche kamen, sahen in ihren seemännischen Kostümen neu eingekleidet aus, wie die Sonntagsjäger in den grünen Joppen oder wie die Norddeutschen in kurzen Lederhosen am Starnberger See.

Ballin wurzelte, so fest und so tief Wurzeln in einem Boden 240 haften können, in Hamburg, wo er geboren war. Er war kein Eingewanderter, kein Zugereister und auch nicht in einem jener Stadtteile und Berufskreise aufgewachsen, die ebenso gut anderswo existieren können, ohne lokale Eigenart und ohne Beziehung zu Meer und Hafen sind. Im siebzehnten Jahrhundert waren die Urahnen – einige aus der Verwandtschaft sollen als Kunsthandwerker in Paris gelebt haben – aus Norddeutschland oder aus Dänemark in Hamburg angelangt. Der Vater Albert Ballins betrieb unter der Firma Morris & Co. eine Agentur für Auswanderer, für die Unterbringung der Auswanderer und ihre Beförderung nach Amerika, und Kontor und Familienwohnung befanden sich, eng miteinander verbunden, in einem Hause am Steinhöft, in einem der alten malerischen Viertel am Hafen, von deren Romantik in der späteren modernisierenden Zeit ein Stück nach dem andern verschwand. Albert Ballin war zwanzig Jahre alt, als er, nach dem Tode des Vaters, die Leitung des Geschäftes übernahm. Er war ein sehr mittelmäßiger Schüler gewesen, einer der vielen, deren Anlagen sich erst zeigten, als nicht mehr das ganze Lebensschicksal von der Frage abzuhängen schien: »Wann fand die Schlacht bei Cannä statt?« In die Firma Morris, um die es nicht gut stand, kam schnell ein neuer Schwung. Die Reederei Edward Carr schloß einen Vertrag mit ihr, machte den jungen Ballin zu ihrem Generalvertreter und wurde durch seine fabelhafte Initiative, durch seine geniale Fähigkeit, die vernachlässigten Möglichkeiten des Weltverkehrs zu erkennen und auszunutzen, und durch die von ihm erreichte Verschmelzung mit anderen Reederfirmen eine solche Macht, daß die konservativen Herren der »Packetfahrt«, der Hamburg-Amerika-Linie, es geraten fanden, diese kräftige Konkurrenz dem eigenen Betrieb anzugliedern und den offenbar ganz erstaunlichen jüdischen Eroberer zum »Passageleiter«, zum Chef des ganzen Passagiergeschäftes und, zwei Jahre darauf, zum Vorstandsmitglied zu ernennen. Dies waren die ersten Stufen beim Aufstieg in Hamburg, und in seiner ganzen Persönlichkeit war Ballin Hamburger und auch, so wenig er den Porträts in den alten 241 Patrizierhäusern glich, in mancher Äußerlichkeit. Seine Sprache hatte den hamburgischen Klang und die hamburgische Manier, die den Buchstaben sauber vom nächsten trennt und darum den salopper redenden Bewohnern anderer deutscher Gegenden ein wenig spitzig und überfein erscheint. Er trank und aß und rauchte nach hamburgischer Art, und das hieß besonders damals noch, daß man sich Schweres zumutete und solche Dinge ohne hygienische Zimperlichkeit genoß.

Er hatte aber, und dies vor allem, auch den hamburgischen Stolz. Nur entstand dieser Stolz bei ihm nicht wie bei manchen anderen aus Beschränktheit und geistiger Engigkeit. Viele Abkömmlinge der alten hamburgischen Geschlechter wußten schon nichts mehr von der Tradition der freien Stadt. Die Zugehörigkeit zu feudalen studentischen Corps war das Ideal, und alles, was vom hanseatischen Trotz übrig geblieben war, äußerte sich nur noch in der eifersüchtigen Abneigung gegen das parvenuhafte, neuerungssüchtige und allzu rührige Berlin. Auch Ballin hatte zu der ungeheuer angeschwollenen Hauptstadt des Reiches keine Herzensneigung, der hamburgische Lebensstil gefiel ihm besser, war ihm vertrauter und angenehmer als die geräuschvolle berlinische Rastlosigkeit. Aber er hatte einen durch keine Vorurteile gehemmten Blick für die außerordentliche Kraft, die nie versagende Vitalität, die Arbeit und die Leistungen Berlins und sah in seiner Heimatstadt auch Kleinliches und allzuviel von jenem Lokalpatriotismus, hinter dem sich die Bequemlichkeit verbirgt. Sein Stolz begann am Hafenquai. Dort, wo er sein Werk schuf, wo unter seiner Leitung oder seinem Antrieb der Hafen sich mit einer großartigen Handelsflotte füllte, Riesenschiffe hinausfuhren und ankamen, die Anlagen sich ausdehnten, die Werften rastlos arbeiteten, Kettenrasseln, Pfeifen, der Lärm der Arbeit die Luft zerschnitten, Rauch aus zahllosen Schornsteinen quoll, Gepäck und Warenballen zu allen Erdteilen hin verladen wurden oder, aus dem Schiffsbauch herausgezogen, in den Fängen eines mächtigen Kranes über dem Landungsplatz hingen. Es ist sehr möglich, daß bisweilen beim Anblick dieses Schöpfungsbildes der Stolz des 242 Hamburgers in ihm sich mit einem anderen Stolz vereinte, und daß er einen besonderen faustischen Genuß empfand. Er konnte sich sagen, daß er diese nun vor ihm ausgebreitete grandiose Bewegung erweckt, für diese bewundernswürdige Entwickelung Unvergeßliches getan hatte, und daß er nicht der Nachkomme königlicher Kaufleute und der in den Stadtbüchern und auf Ruhmestafeln aufgeführten Hanseaten, sondern der Sohn einer kleinen jüdischen Familie am Steinhöft war.

In seinem Wesen war aber kein Atom von Überheblichkeit, von kernfester oder schmalziger Selbstzufriedenheit. Er war nicht, wie viele andere und mindere Größen der deutschen Wirtschaft, von der eigenen Bedeutung aufgeschwemmt. Merkwürdiger und fast bewundernswerter als die Entwickelung, die unter seinem Impuls die hamburgische Schiffahrt genommen hatte, war die Entwickelung seiner Persönlichkeit. Der Judenknabe von der Firma Morris & Co. war der feinste, freieste, kultivierteste Weltmann geworden, und nicht einer von denen, die immer zu sagen scheinen: »Seht, was für ein Weltmann ich bin!« Er hatte eine vollendete natürliche Gewandtheit im Verkehr, eine ungezwungene Eleganz, einen instinktiven Takt. Die gesellschaftlichen Formen des wirklichen »Kavaliers«, gepaart mit der schärfsten Intelligenz und zugleich mit Herzenswärme und einer gewinnenden künstlerischen Leichtigkeit. Ich habe ihn gesehen, wie er als Gastgeber neben Wilhelm II. an der Tafel saß. Der Tischnachbar des Kaisers wußte, daß man bei solchen Gelegenheiten von allen Seiten her sein Benehmen beobachtete, aber das bekümmerte ihn in seiner heiter ruhigen Sicherheit nicht im mindesten, er tat weder zu wenig noch zu viel, war ein Hausherr, der seinen hohen Gast unbefangen unterhielt, die kaiserlichen Scherze lächelnd, ohne unterwürfige Kundgebung eines übertriebenen Entzückens anhörte und erwiderte, und er befand sich ja auch nicht zum ersten Mal auf diesem Platz. So war in seiner Haltung, ganz gleich, in welcher Umgebung er sich bewegte, niemals etwas von Pose oder Berechnung, er spielte eine weit größere Rolle als die meisten um ihn herum, aber 243 er hat, nimmt man das Wort im Bühnensinne, seine Rolle niemals gespielt. Er war ein »Herr«, seine Augen waren gewöhnt, flink, beherrschend und befehlend den ganzen Zustand eines Schiffes und alle Teile des gewaltigsten Betriebes zu überblicken und ebenso prüfend ferne Weltwege zu kontrollieren, aber dieses Herrengefühl spreizte sich nicht, und über allem lag etwas Bestrickendes, das sich nur mit dem Fremdwort »Charme« wiedergeben läßt. »Anmut« und »Liebreiz« sind eher Bezeichnungen für weibliche Eigenschaften, während der Ausdruck »Charme« bisweilen auch bei Männern anwendbar ist. Die deutsche Sprache, die den Frauen viele Komplimente macht, besitzt für dieses Wort kein Äquivalent.

Wahrscheinlich empfanden die Regenten und Großaktionäre der »Packetfahrt«, diese gesellschaftlich eingekapselten und unnahbaren hamburgischen Patrizier, zuerst ein heimliches Unbehagen, als der neue Mann in ihre Mitte trat. In dem jüdischen Milieu, aus dem er kam, gab es nicht einmal nennenswerte Verwandtschaft und Reichtum, und er brachte zu seiner Empfehlung nicht wie der ihm in vielen Dingen ähnliche Max Warburg, der dann sein intimster Freund wurde, einen schon angesehenen Familiennamen mit. Aber sein Auftreten machte ihnen, wohl zu ihrer Überraschung, alles leicht und angenehm. Sie konstatierten auch, daß er, der die hamburgische Schiffahrt der übrigen Welt gegenüber mit unübertroffenem Glanz repräsentierte, persönlich genügsam blieb, den Nutzen seiner ungeheuren Arbeit, seiner schöpferischen Ideen und seiner Voraussicht nur der Gesellschaft zuwandte und die Anhäufung von Besitz geringer schätzte als das Bewußtsein, durch eigenes Verdienst zu dieser Gipfelstellung aufgestiegen zu sein. Schon nach kurzer Zeit war es klar, welcher Aufschwung sich für den Hafen, die Schiffahrtsgesellschaft und den überseeischen Handel vom Eingreifen seiner Tatkraft erwarten ließ. Es schien bald ganz selbstverständlich, daß man ihm die Führung und die eigentliche Macht übertrug. Er wurde unentbehrlich als Organisator der Schiffahrt, als Bahnbrecher, der die hamburgischen Dampfer über alle 244 Meere leitete, und als Klügster im Rat. Er wurde unentbehrlich durch seine Kunst, zu verhandeln und in Verhandlungen über die schwierigsten und kompliziertesten Probleme immer die beste Lösung zu erlangen. In London, in New York, in allen großen Zentren des Weltverkehrs saß oder präsidierte er am Verhandlungstisch, gegenüber den Staatsmännern, den Häuptern der alten Konkurrenzlinien, den Bankfürsten, den Morgan und den anderen Finanzmagnaten, und steigerte in jeder Erörterung von Poolfragen, von Zusammenschluß und Herrschaftsteilung so sehr die Macht der eigenen Gesellschaft, daß manchen Rivalen, die ein Privilegium auf die Beherrschung der Seewege zu haben glaubten, nur noch die Erinnerung an vergangene Herrlichkeit blieb. Er baute die gigantischen Passagierschiffe, die durch Schnelligkeit und Komfort alles Vorhandene weit übertrafen, und zog damit die reiche Kundschaft aus ganz Europa, Amerika und den exotischen Ländern an sich heran. Er unternahm weite Studienreisen, prüfte in Ostasien die wirtschaftlichen Möglichkeiten und den Nutzen neuer, in selten befahrene Räume vordringender Verbindungen und umspannte den Weltglobus mit einem in seiner Verknüpfung scharfsichtig berechneten Schiffahrtsnetz. Man muß sich vorhalten, was die hamburgische »Packetfahrt« um 1885, vor Ballins Hervortreten war. Das unscheinbare Haus, in dem sie damals residierte, genügte für die Verwaltung all ihrer Geschäfte, sie hatte sich von Bremen schlagen lassen, stand an Bedeutung und Beliebtheit weit hinter dem »Norddeutschen Lloyd« und besaß nur einen einzigen größeren, halbwegs modernen, aber ziemlich mißratenen Passagierdampfer, der den Namen »Hammonia« trug, ohne ihm viel Ehre zu bringen. Am besten kann man aus dem ausgezeichneten Buche Bernhard Huldermanns ersehen, wie Ballin diesen kläglichen Zuständen sofort ein Ende machte, und wie, immer durch seine Energie, von Jahr zu Jahr, ohne daß auch nur einmal der Siegeszug stockte, die »Packetfahrt« sich umwandelte, sich ausdehnte und die Welt durchdrang. Bei Huldermann, der ein treuer und bewundernder Mitarbeiter gewesen war, findet man auch 245 Denkschriften und Berichte Ballins, die erkennen lassen, wie unvergleichlich, bis in die letzten Einzelheiten hinein, Ballin alle Fragen des Seehandels, des Passagierwesens, der Verpflegung, der Schiffstechnik, der internationalen Verkehrsverästelung beherrschte, und sicherlich war der Biograph berechtigt, zu sagen, in keinem Lande habe irgend ein Fachmann die komplizierten Poolprobleme so gekannt und mit solcher Bereitschaft des Gedächtnisses klargelegt und entwirrt. Wirklich, die hamburgischen Großherren hatten damals, als sie ihren Familienstolz schweigen ließen und den jungen jüdischen Mann zu sich holten, keinen schlechten Griff getan. Er glich zwar nicht den Porträts in ihren Ahnenreihen, aber er glaubte nicht, wie manche Erben, Anspruch auf Bequemlichkeit zu haben, und sein Blut war, wie man auch sonst darüber denken mochte, nicht durch standesgemäße Zuchtwahl verdünnt und erschlafft. Es war eigentlich sehr sonderbar, sich sagen zu müssen, daß nun er, ein Mann von seiner Herkunft, den alten kühnen Hanseatengeist – natürlich einer anderen Technik und einer anderen Weltwirtschaft angepaßt – durch sein Beispiel wiedererweckte und zu noch großartigeren Eroberungszügen trieb.

Er umgab die Hapag mit einem nie dagewesenen Glanz der Repräsentation. Er tat das, um die Größe und Macht der Hapag zu betonen, und er tat es auch, weil es dem künstlerischen Zug in seinem Wesen entsprach. Man fuhr aus Berlin, aus dem Rheinland, aus anderen deutschen Gegenden und aus dem Ausland zu den festlichen Veranstaltungen, die ein paarmal im Jahr, als fester Brauch oder aus besonderem Anlaß, vor sich gingen. Man war immer hocherfreut und beeilte sich mit der Zusage, wenn man von ihm eine Einladung zu einer Probefahrt auf neugebauten Dampfern der Hapag, zur Kieler Woche, zur Segelregatta auf der Unterelbe oder zu einem Stapellauf erhielt. Nirgends aß man so gut, nirgends wurde mit solcher Selbstverständlichkeit und ohne protzige Prahlerei gegeben, nirgends war alles so brillant organisiert und bis ins Letzte durchdacht. Die Gäste empfanden und rühmten das »Hamburgische« dieser 246 Gastlichkeit, ganz als würde nun überall in Hamburg mit solchem Talent für die Bewirtung gesorgt. Und man fand eine Gesellschaft vor, wie sie sich sonst in Deutschland selten vereinigen ließ. Alle Sterne waren von ihren Himmeln auf das Deck des gastlichen Schiffes heruntergeeilt, und vom Mittelpunkt her verbreitete dann gewöhnlich das große kaiserliche Gestirn ein warmes, heiteres, huldvolles Licht. Albert Ballin ging unaufdringlich zwischen den Gruppen hindurch, führte diejenigen, die einander kennen lernen wollten, zusammen, stellte dem Kaiser lächelnd diesen und jenen vor und blickte wieder im Weiterschreiten forschend, kontrollierend und befehlend umher, – ob es an nichts fehlte, ob jeder in der flink bedienenden Schiffsmannschaft das Richtige tat. Wie er bis zu den fernsten Weltweiten sah, ganz so kümmerte er sich um das Kleinste und Nächste, um die Küche und die Unterhaltungsspiele, die Menus und die Zigarrenkisten, den Wandschmuck und die Beleuchtung, die Betten in den Luxuskajüten und in der dritten Klasse, und seine Festlichkeiten arrangierte und überwachte er mit der gleichen Sorgsamkeit, die eben auch einer künstlerischen Freude entsprang. Keiner in der glänzenden Gesellschaft dachte daran oder wollte daran denken, daß dem Gastgeber, hinter dessen freundlichen Augenblicksgaben das imponierende Werk stand und den der Kaiser so hoch ehrte, in den Geburtsregistern die Bezeichnung »jüdisch« oder »mosaisch« angehängt war. Allerdings waren ja in dieser Zeit sehr viele Mitglieder der oberen Klassen den sogenannten Rassenfragen gegenüber lau und lässig, und besonders dann, wenn es sich um die ganz reichen Juden handelte, gerieten die strengeren Grundsätze häufig in Vergessenheit. Aber Ballin hatte unter den bedeutenden oder im Range hoch stehenden Persönlichkeiten, die er um sich scharte, auch wirkliche, ergebene Freunde, während fast all die getauften und ungetauften Mediceer sich damit begnügen mußten, auf Herz und Magen von Geheimräten zählen zu können und ein paar Paradefiguren in ihren Prachtsalons zur Schau zu stellen. Nicht nur Bülow, dessen Freundschaften gewöhnlich so zweifelhaft waren wie die 247 Perlen einer Lebedame am Spieltisch in Monte Carlo, und Brockdorff-Rantzau empfanden für Ballin etwas anderes als jene oberflächliche Herzlichkeit, von der beim ersten Konjunkturumschwung nichts mehr übrig ist. Die persönlichen Beziehungen Ballins, die in Deutschland wie die im Auslande, waren für die Hapag und auch für die Gesamtinteressen Hamburgs wichtig und wurden nutzbar gemacht. Wenn in Berlin etwas durchgesetzt, ein Konflikt beigelegt, der Bürokratie etwas abgerungen werden sollte, war er es, der hinfuhr und, wie der führende Staatsmann eines Landes, ganz selbstverständlich die mehr oder minder schwierige Mission übernahm.

Es war ihm viel verliehen worden und alles geglückt. Ungewöhnliche Eigenschaften waren in ihm vereinigt, und er konnte sie für große Aufgaben verwerten, in der Anwendung stetig steigern und zur Geltung bringen. Keiner jener täppischen Zufälle, durch die ein Genie in das Dunkel eines elenden Winkels gebannt bleibt, sich nicht entfalten kann, verkümmert und abstirbt, sperrte ihm den Weg. Sein Geist, seine Energie, seine liebenswerte Persönlichkeit erreichten das nur irgend Erreichbare und sogar das, was unerreichbar schien. Es gab noch mehr als einen Selfmademan im wilhelminischen Deutschland, aber keiner stieg aus so ungünstigen Verhältnissen so hoch hinauf. Wie der Widder für den Opferaltar, so wird bisweilen der Mensch für die Tragödie geschmückt.

Die Geschichte von Esther, Mardochai und Haman läßt sich verschiedenartig ansehen und auch anders, als es aus reinen Liedern tönt. Ballin hatte nichts von einem Mardochai, und in seiner Zeit wurde nicht an Haman gedacht. Aber er war doch nicht nur von Freundschaft und Liebe umringt. Er wurde auch mißtrauisch und feindselig beobachtet, mit einem Mißtrauen und einer Feindseligkeit, die sich nicht offen zeigten, sondern sich zurückhielten und auf weichen Filzsohlen gingen. Einigen Leuten im Auswärtigen Amt, zum Beispiel dem Staatssekretär von Jagow, und feudalen Personen auf den oberen Regierungsposten war er teils seiner Abstammung wegen unsympathisch, teils 248 seines Einflusses wegen unbequem. Man benutzte ihn gern in delikaten Fällen, aber wenn er sich dabei den Hals gebrochen hätte, so hätte man sich sehr gefreut. Doch gefährlichere Sammelplätze der stillen Abneigungen waren die Schloßgemächer der Kaiserin. Augusta Victoria hielt es gewiß nicht für richtig, den angebeteten und leicht ungeduldigen Gemahl durch häufige und lästige Vorhaltungen zu verärgern, wenn er den Schöpfer der großen deutschen Handelsflotte zu langen Privatunterhaltungen empfing, und sie saß dem bevorzugten Gast mit höflicher Hausfrauenwürde an der Familientafel gegenüber, aber das war nur das Wunder der Gattinnenliebe und der höfischen Erziehung zur Selbstdisziplin. Man kann sich vorstellen, wie die Damen am Abend miteinander flüsterten, wenn es hieß, daß er wieder dagewesen sei. Sie saßen über eine Handarbeit gebeugt und häkelten dabei auch deutsche Geschichte nach Mustern mit Krone und vielen Adlern, im Stil der Siegesallee. Meistens war das freilich eine ebenso harmlose Beschäftigung wie »Patience«. Denn was sie zum Zeitvertreib produzierten, diente nicht zum Gebrauch. Die wenig freundliche Gesinnung ging nicht, oder nicht hauptsächlich, aus einer antisemitischen Grundstimmung hervor, die natürlich vorhanden war, aber hier nur gedämpft auftrat und gewissermaßen zur Erklärung und Beleuchtung des Falles half. Ballin war nicht nur Jude, er war »anglophil«, also selbstverständlich so etwas wie ein Anwalt englischer Wünsche, und das war noch schlimmer als die kaum anzuzweifelnde Tatsache, daß keiner seiner Urväter auf den Bärenfellen im germanischen Walde lag. In Wahrheit wünschte Ballin nur, wie alle vernünftigen und vorausschauenden Beurteiler der politischen Dinge, die Verständigung mit England, und er war immer bereit, im Interesse Deutschlands und des Weltfriedens seine Beziehungen zu den englischen Staatsmännern fruchtbar zu machen, wenn eine Gelegenheit sich bot. Aber Verständigung mit England – das hieß doch, sagten die Priester und Priesterinnen der heiligen Flamme, Unterwerfung unter den britischen Hochmut, Triumph des britischen Krämergeistes, Verzicht 249 auf deutsche Größe, auf das freie Recht der deutschen Flotte, auf die vom Kaiser so genial erfaßte deutsche Weltmission? Obenein war in Augusta Victoria die intime Abneigung gegen dieses dünkelhafte, falsche und habsüchtige England verbunden mit einer vielleicht noch stärkeren gegen den englischen Hof, gegen diese Königsfamilie, die sich offenbar für vornehmer als alle anderen hielt. Von dem unmoralischen Onkel Eduard, der sich spöttische Bemerkungen über den Neffen gestattet hatte, garnicht zu reden – die hochnäsigen Damen schienen ganz vergessen zu haben, daß auch sie aus einem kleinen deutschen Fürstenhaus stammten, und spielten sich auf, als wären sie zum mindesten Urgroßkusinen der Königin Elisabeth. Zwiespältig, zwischen Bewunderung und Eifersucht schwankend, fuhr Wilhelm II. gern zu den Regatten von Cowes, und die Gattin gönnte ihm diese Vergnügungen, die sportlichen Freuden, die Vorliebe für das englische Landleben, auch wenn das nicht ganz in das Bild des von Gott auserwählten deutschen Kaisers hineinpaßte, das sie in ihrer Seele trug. Sie gönnte ihm auch den Verkehr mit Ballin, aber sie überwachte mit sorgendem Blick diese Freundschaft, und wenn der kaiserliche Gemahl von internationalem Denken umstrickt und seine herrliche Flottenschöpfung angetastet werden sollte, dann schreckte sie, warnend und wehrend, nicht vor der Pflichterfüllung zurück. Man weiß, wie sie nach dem Berliner Besuch des britischen Kriegsministers Haldane zu ihrem Gatten ging und ihn beschwor, das von dem Schwächling Bethmann empfohlene Kompromiß über die Flotte zurückzuweisen und den höllischen Lockungen zu widerstehen. Tirpitz küßte ihr im Namen aller Patrioten dankbar die Hand, wie er es so hübsch in seinen Memoiren erzählt. Damals hatte Ballin seinen Glaubensgenossen Sir Ernest Cassel zum Kaiser gebracht und gemeinsam mit diesem jüdisch-englischen Emporkömmling, dem Genossen des Onkel Eduard, den arglos erfreuten, ja sogar entzückten Wilhelm veranlaßt, den Mister Haldane zu empfangen. Hatte man da nicht wieder gesehen, daß diesen aus anderem Stoff gemachten Menschen echte deutsche Art, deutscher 250 Idealismus fremd waren, und daß man sich selbst dann vor ihnen hüten mußte, wenn sie nicht – und Herr Ballin hatte selbstverständlich keine tückischen Absichten – in planvoller List ihre Netze spannen?

Die Kaiserin Augusta Victoria und wahrscheinlich auch mancher stirnrunzelnde Alldeutsche hielten Ballin für einen von denen, die aus Furcht vor der englischen Feindschaft den Lieblingsgedanken Wilhelms II., die Idee der Flottenmacht und der Meerbeherrschung, entwerten wollten, ungefähr wie in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts die »Kipper und Wipper« in Deutschland die Goldmünzen betrügerisch beschnitten und verfälschten, bis das Geld immer mehr von seinem Goldwert verlor. Aber die hohe Dame und alle, die befürchteten, Ballin könnte den Kaiser zum Schaden der deutschen Marine umgarnen, waren entschieden in einem Irrtum befangen. Eigentlich hätte am wenigsten gerade ihn der Verdacht treffen sollen, er gebe England zuliebe deutsche Interessen preis. Denn hatte er etwa auf die seit Jahrhunderten bewahrte Vormachtsstellung der englischen Handelschiffahrt, auf ihre Ansprüche und ihre Sorgen Rücksicht genommen, als er, ihr überall den Vorrang streitig machend, die Flotte der Hapag schuf ? Gewiß, die Verständigung mit England war seiner Meinung nach für Deutschland eine Lebensnotwendigkeit. Er unterschätzte nicht, wie so viele leichtfertige Faseler, England als Kriegsgegner, er kannte es besser und schwatzte das bedauerliche Wort Bismarcks, englische Landungstruppen werde man einfach arretieren, nicht gläubig nach. Er besaß auch zu viel Sachkenntnis und zu viel Nüchternheit, um sich durch die schmucke Schönheit der großen Panzerkreuzer blenden zu lassen, und beurteilte, trotz seiner künstlerischen Empfänglichkeit, die Dinge nach ihrem praktischen Wert. Aber es war doch ein Unterschied zwischen dem Empfinden des Menschen, der im Meerwind lebte und sich immer wieder dem Reiz der Seepoesie hingab, und dem Empfinden der Landbewohner, deren trockene Kritik unbeeinflußt von seemännischer Anschauungsweise blieb. Sein Verhältnis zur Marine und den hohen 251 Marinestellen war auch vortrefflich, eine in der gleichen salzigen Luft geschaffene geistige Verbundenheit war deutlich zu spüren, und er hatte eine Sympathie für Tirpitz, obgleich er wußte, daß der treuherzige Bart dieses Neptun nur ein biederes Verkleidungsstück war. Mehr als einmal hat er mir gesagt: »Unter all denen da ist Tirpitz doch der einzige Mann.«

Noch aus einem anderen Grunde war die Idee, Ballin bedränge den Kaiser mit allerhand der Kriegsmarine schädlichen Ratschlagen, gänzlich falsch. Zwar war er keiner von jenen Anbetern der Majestät, die sich durch fortwährende bewundernde Zustimmung die allerhöchste Gunst in jeder Stunde neu verdienen und niemals ein unbequemes Wort wagen, aber er wußte auch sehr gut, daß ein so durch Weihrauch verwöhnter Monarch nicht täglich die Wahrheit verträgt. Es war doch nötig, die Wahrheit zu dosieren und nur bei besonderen Gelegenheiten zu verabreichen, und man nutzte sich zwecklos ab und wurde nur lästig, wenn man den Wahrheitsmut nicht für solche Momente aufzusparen verstand. Auch der Marquis Posa hätte schnell ausgespielt, wenn er den König Philipp nun in jeder Audienz mit den gleichen Bitten bestürmt hätte, und was hätte die Gedankenfreiheit, was hätten die flandrischen Provinzen dadurch gewonnen? Ballin war bereit und imstande, im kaiserlichen Schloß die große Schlacht zu riskieren, aber er war nicht bereit und nicht imstande zu unablässigen Gefechten, und seinem hohen Gönner und ihm fehlte es ja niemals an weniger eckigem Unterhaltungsstoff. Hinreichend mit der höfischen Psychologie vertraut, konnte Ballin sich sagen, daß man den Löwen nicht beharrlich mit der Spitze des Spazierstockes kitzeln soll.

Ob er sich für ein staatsmännisches Amt geeignet hätte, wie viele meinten, ist mir zweifelhaft. Wenigstens dann, wenn man dabei ein politisches Ministeramt, etwa den Posten eines Ministers des Äußeren oder den des Regierungschefs im Auge hat. Er besaß, wie schon erwähnt, ein glänzendes Talent für Verhandlungen und er konnte mit dieser Begabung und seinem scharfen Verstand in Einzelaktionen 252 hervorragend sein. Aber ein großartiger darstellender Künstler ist nicht immer ein großartiger Theaterdirektor oder ein brillanter Filmregisseur. Man kann einwenden, Ballin habe ja in einem der größten Weltunternehmen seine stetige Umsicht, seinen fabelhaften Blick für das Ganze und zugleich für das Allerkleinste, seine diplomatische Geschicklichkeit und, kurz und gut, so viele Eigenschaften, die der Staatsmann haben soll, gezeigt. Darauf ist nur zu erwidern, daß diese Eigenschaften sich so gleichmäßig, ohne Nachlassen, Abschwächung oder zeitweiliges Versagen, auf einem Terrain auswirkten, auf dem Ballin heimisch war, auf dem er sich frei und mit souveräner Sicherheit bewegte, sich nicht aus undurchdringlichen Verstecken heraus umlauert fühlte und die animierende Kraft der gewohnten Luft empfand. Wahrscheinlich wären in Berlin, zwischen Bürokratie, Parteien und hundert zivilen und militärischen Stellen, zwischen den Intrigen der Vorzimmer, politischen und persönlichen Reibereien, Eifersüchteleien und Begehrlichkeiten – in dieser Atmosphäre des spätwilhelminischen Reiches – ihm die Vitalität, die Schaffensfreudigkeit, die frische Regsamkeit des Geistes sehr bald abhanden gekommen. Erfreulicherweise war er als Jude – getaufte Juden, wie Friedenthal, hatte Bismarck ohne Scheu zu Ministern erhoben – gegen alle Angebote geschützt. Seine Beziehungen und sein politisches Interesse gingen im wesentlichen auch nur zu den großen Handelsländern an den Meeren, besonders zu England und Amerika, und Frankreich, Italien und das übrige Europa lagen abseits von seiner Gedankenbahn. Darin allerdings hätte er sich nicht sehr von den meisten Staatsmännern der Epoche unterschieden, die ja sogar die auswärtige Politik ihrer Länder leiteten, ohne eine Ahnung von Menschen und Dingen zu haben, die jeder mit dem Musterkoffer herumziehende Handlungsreisende kennt. Mit den Fragen der inneren Politik hatte Ballin sich kaum befaßt, falls sie nicht die Wirtschaft betrafen – er begriff die Notwendigkeit gründlicher und rechtzeitiger Reformen, aber er vermied es, sich einzumischen, und fand eine Entschuldigung in der etwas lahmen Behauptung, 253 dergleichen sei jenseits seiner Kompetenz. In den oft schweren Auseinandersetzungen mit seinen Hafenarbeitern, mit den sozialen Forderungen, hatte er im allgemeinen die Ansichten großkapitalistischer Unternehmer, wenngleich dem einzelnen Individuum gegenüber ein gutes Herz. Soll die Frage wie dieser oder jener sich im Juli 1914, in der Unglücksstunde verhalten hätte, in der die Abgesandten Wiens dem Kaiser und Herrn von Bethmann-Hollweg das Versprechen der Waffenhilfe entlockten, als ein Prüfstein gelten, so darf man allerdings mit ziemlicher Gewißheit sagen: diese Prüfung hätte Ballin bestanden, ihn hätten nicht gefälliger Eifer, Wahn und Blindheit betört. Wenn sein Freund Bülow hinterher beteuerte, daß er den Kaiser von der verderblichen Entscheidung zurückgehalten, nie seine Zustimmung gegeben hätte, – noch weit bestimmter ist anzunehmen, daß Ballin der verhindernde und rettende Berater gewesen wäre, denn er schloß als Kaufmann Geschäfte nicht ab, ohne mit klarem Verstand alle Chancen, alle Möglichkeiten von Gewinn und Verlust und alle Gefahren vorauszubedenken und zum mindesten für sichernde Formeln zu sorgen, und die Gefahr, die in diesem Geschäft, in einer so hastigen und uneingeschränkten Zahlungsverpflichtung lag, hätte seinem klugen Geist garnicht entgehen können.

Bei seiner inneren Beziehung zu Wilhelm II. war das Herz, oder das Gemüt, beteiligt, und es lag in ihr eine besondere Sentimentalität, die man eine jüdische Sentimentalität nennen kann. Die meisten jener »großen Juden«, die aus irgend einem Anlaß, und besonders, wenn es sich um das Geld für Museumsbauten und Forschungen handelte, zu einem Bierabend ins Schloß geladen wurden, fanden in solchen Ehrungen eine Befriedigung ihrer Eitelkeit und dachten im übrigen genau so nur an sich selber und an den eigenen Nutzen, wie die echt germanischen Günstlinge, die brandenburgischen Triarier, die ostpreußischen Großgrundbesitzer und die rheinischen Industriekapitäne, aber Ballin war eine wärmere und an dieser Stelle empfindsamere, weichere Natur. Er hatte eine echte Dankbarkeit, war 254 dankbar dafür, daß ihn der Kaiser vor allen andern auszeichnete, an sich herangezogen, ihm mehr als ein gnädiges Wohlwollen bewiesen, ihn zu seinem Freund erkoren hatte, – ihn, den Sohn des kleinen Auswanderungsagenten vom Steinhöft – und die Dankbarkeit hatte sich in Liebe verwandelt, in einem schnell fortschreitenden Veredelungsprozeß. Im Jahre 1895, bei den Vorbereitungen für die Eröffnung des Nord-Ostseekanals, hatte Wilhelm II. ihn kennen gelernt und später unterschrieb er seine Briefe an den »lieben Ballin«: »Ihr treuer Freund gez. Wilhelm I. R.« Ballin schickte, abwechselnd mit Briefen an die Mutter, dem Kaiser lange Berichte aus London, aus Ostasien, aus Amerika. Das Atom von zu höfischer Beflissenheit, das in einem derartigen Schreibeifer gefunden werden könnte, verschwindet, wenn man sieht, daß Wilhelm II. ihn animierte, ihn gleich nach der Rückkehr von solchen Reisen zu sich berief, wie einen, auf den man seit langem schon gewartet hat, und sich von ihm dann auch noch mündlich informieren ließ. Ballin versuchte nicht, die kaiserliche Gunst für seine Hapag auszunutzen, und da Wilhelm II. ihn sehr oft antrieb, in Verhandlungen mit dem Norddeutschen Lloyd den schroffen Standpunkt aufzugeben, konnte sogar mit scheinbarem Recht gesagt werden, bei dieser persönlichen Freundschaft habe die hamburgische Schiffahrtsgesellschaft mehr verloren als gewonnen. Immerhin hatten diese der ganzen Welt sichtbare Freundschaft und die vielen Kaiserbesuche eine für die Aktionäre nicht unerfreuliche Wirkung, denn wenn das Prestige und die Popularität der Hapag stiegen, profitierten auch die Finanzen davon. Für sich selber begehrte Ballin keines jener Geschenke, nach denen ein mittelmäßiger Ehrgeiz hascht. Orden, die er erhielt, legte er in den Schrank, und der Name »Ballin« brauchte das Anhängsel eines dekorativen Titels nicht. Ein Titel, den die anderen nicht besaßen, der ihnen an keinem Neujahrstag verliehen werden konnte, erfreute ihn, war seine Genugtuung, die kostbare Reliquie, und besser strahlend als ein mit Diamanten besetzter Ordensstern. Der »Freund des Kaisers«, was gab es mehr?

255 Die Liebe konnte ihn nicht blind machen, und genauer als diejenigen, die draußen vor den Schloßtüren oder in den Vorzimmern kritisierten, kannte er alle Seiten der kaiserlichen Persönlichkeit. Aber er war wie Sem und Japhet, die ihres Vaters Noah Blöße zudeckten, und nicht wie der pietätlose Ham. Gerade einige von denen, für die er ein »faible« hatte, verspritzten – wie Harden, der manchmal auch zu ihm kam – ihr Gift gegen Wilhelm II. oder mischten und kochten es, wie Bülow, fleißig in wohlbewahrter Heimlichkeit. Ich glaube, daß allen gegenüber Ballin der Verteidiger war, der selbst in den verzweifeltsten Fällen auf »mildernde Umstände« plädiert. An jedem Fehler und an der gesamten schiefgehenden Politik hatten, versicherte er, die Hauptschuld die Umgebung des Kaisers, die Personen an der Spitze der Regierung, die offiziellen Ratgeber, das Auswärtige Amt. Hin und wieder ließ er einen einzelnen als lobenswerte Ausnahme gelten – den Chef des Zivilkabinetts Valentini, der dann während des Krieges von den stärkeren Patrioten beseitigt wurde, und den Hofmarschall Graf Eulenburg, der freilich, sobald man von politischen Dingen sprach, seinen feinen und überlegenen Verstand einriegelte und schweigend zur Seite ging. Wenn das Gespräch dem unvermeidlichen Thema sich zuwandte, beklagte Ballin den »armen Kaiser«, der so schlecht bedient wurde, den alle schmeichlerisch in seinen Irrtümern bestärkten, und der niemals eine unangenehme Wahrheit erfuhr. »Der arme Kaiser!« sagte er dann – bis zuletzt habe ich diese drei Worte von ihm gehört. Er hätte, beinahe wie eine gute Kinderfrau, den Kaiser gern beschützt. Er sorgte sich ehrlich um ihn.

Auch er war, wie ich schon mit der nötigen Betonung erwähnt habe, nicht ohne höfische Vorsicht, hütete sich, bei jedem Besuch im kaiserlichen Arbeitszimmer die gute Stimmung zu zerstören und sich eine dreiste Offenherzigkeit herauszunehmen, die man früher allenfalls den Hofnarren verzieh. Aber wenn Großes auf dem Spiele stand, für den kaiserlichen Freund und für das Land, und wenn kein anderer aufrichtig reden wollte, dann glaubte er, ihm sei 256 ein feiges Ausweichen nicht erlaubt. Es war die schwerste Art, Dankbarkeit und Anhänglichkeit zu beweisen, aber gerade weil es schwer war, mußte er und konnte wohl nur er es tun. Keinem anderen hatte der Kaiser so viel gegeben, und keiner konnte sich mit mehr Grund einbilden, sein warmes Wort werde imstande sein, auch eine harte Eisrinde aufzutauen. Wenn Ballin so dachte und empfand, so war das nicht Unbescheidenheit. Aber in der Idee, er müsse und könne wagen, was selbst die höchsten Ratgeber, Fürsten und Kanzler, nicht wagten, lag doch auch ein Zug von Eitelkeit. Es muß in der geheimsten seiner Seelenkammern, in die er selber vielleicht nicht hineinblickte, doch eine Befriedigung erweckt haben, daß in Schicksalsstunden alle Welt sagte, das könne nur er dem Kaiser beibringen und er müsse zum Kaiser gehen. Aber das war dann ein sehr unschuldiger und nur für ihn selber gefährlicher Glaube an eine Berufung und jedenfalls für die übrige Menschheit weniger gefährlich als die Ansprüche anderer, die angeblich auserwählt wurden und nur den himmlischen Auftrag nicht vorzeigen können.

Es ist notwendig, zu sagen, was wirklich gewesen ist. Ballin hat in keiner großen Frage, in keinem wichtigen Augenblick einen Einfluß auf den Kaiser ausgeübt. Das konstatiert auch sein Biograph Huldermann. Nur in der Vorbereitung der Verhandlungen mit Haldane wirkte er mit, und auch da kam es ganz anders, als er gewollt hatte, und er geriet in die Lage eines Friedensstifters, dem beim Fortgehen alle schnippisch sagen, so sehr wie bei ihm hätten sie sich noch niemals gezankt. Die langen Unterhaltungen mit dem Kaiser konnten sich doch immer nur um Nebensächliches drehen, die entscheidenden Probleme wurden höchstens theoretisch oder im Plauderton gestreift. Bei keiner großen Aktion, nicht bei der Agadir-Affäre, nicht während der Balkankriege, nicht bei der Zustimmung zu dem österreichischen Ultimatum an Serbien erfuhr Ballin, was vorging, niemals fragte Wilhelm II. in solchen Momenten nach seiner Meinung, niemals weihte er ihn in Absichten oder Entschließungen ein. Es hatte einmal die Tafelrunde von Liebenberg gegeben, 257 und Philipp Eulenburg hatte zwischen Jagden und süßer Romantik betriebsam an der deutschen Politik mitgesponnen. Philipp Eulenburg hatte das Herz des Kaisers wirklich besessen, und obgleich Ballin die Meergötter besser kannte, konnte er nicht, wie der gräfliche Troubadour, zusammen mit dem Kaiser »Aegir, Herr der Fluten« besingen. Trotz aller scheinbaren oder bisweilen auch echten Intimität stieß sich Ballin an der Mauer, die den Kaiser umgab. Dieser Verkehr war für Wilhelm II. eine Privatangelegenheit, wobei das Vergnügen an dem Umgang mit einem so klugen und anständigen Manne sich vortrefflich mit der Förderung von allerlei Reichsinteressen verband. Es ging Ballin wie allen anderen, die bei schicksalsschweren Entscheidungen hätten zu Rate gezogen werden können und die nicht gefragt worden sind. Wilhelm II. fand es ausreichend, die Frage, ob Deutschland den Österreichern in ihrer Ultimatumspolitik blindlings folgen solle, auf einem Parkspaziergang mit dem Reichskanzler und einem Unterstaatssekretär zu besprechen und zu entscheiden, und auch Herr von Bethmann-Hollweg hielt es nicht für erforderlich, noch andere politische Kapazitäten heranzuziehen. Der Kaiser handelte, indem er sonst niemand anhörte und unheilvolle politische Entschlüsse in Übereinstimmung mit seinem Reichskanzler faßte, durchaus »konstitutionell«. Die Vernunft kam unter die Räder, aber die Verfassung wurde nicht verletzt. Hier trat die Wirkung des folgenschwersten Irrtums ein, der in der Konstruktion Bismarcks lag und der immer in der verschleierten oder unverschleierten Herrschaft eines Einzelwillens liegt. Keine Garantien schützten das deutsche Volk gegen die Gefahr der plötzlichen Eingebungen, und der zur Täuschung über ein autokratisches System gelegte fadenscheinige Mantel schützte den Monarchen nicht.

Ballin, dessen kaufmännischer Blick so klar die Verlustmöglichkeiten erkannte, hatte in die Freundschaft mit dem Kaiser zuviel Gefühlskapital eingelegt. Er wußte, daß Fürstengunst zerbrechlicher als dünnstes Glas, rinnender als Flußwasser sei, ein zugleich flatterhafter und kurzlebiger 258 Königsfalter, aber wie alle sentimentalen Liebhaber schob er das, was er wußte, aus seinem Gedankenkreise fort. Und er war, wie gesagt, in seiner Beziehung zu dem Kaiser, dem »armen Kaiser«, in bedauerlicher Weise sentimental. Das gab seiner Persönlichkeit einen tragischen Zug. Er erlebte nicht die übliche Günstlingstragödie, die seit dem Sturz des Erzengels Luzifer und seines griechischen Vetters Prometheus ein tausendmal wiederholtes Repertoirestück der Historie ist. Nichts wie bei Shakespeare und auch keineswegs ein eklatanter Fall, wie der des Fürsten Bülow, der, als er nicht mehr ein zärtlich verhätschelter Bernhard war, »das Luder« hieß. Keine schattenhafte Ähnlichkeit mit der Tragödie jenes Fouquet, den Ludwig XIV. aus seinem eben vollendeten Schlosse Vaux le Vicomte, aus dieser mehr als königlichen Pracht, herausholen ließ und der, von La Fontaine und anderen Poeten vergeblich beklagt, wegen seines liebenswürdigen Geistes und seiner Mäzenatentugenden gepriesen und von Madame de Sevigné mit vergeblicher Leidenschaft verteidigt, bis zum Ende seines Lebens, fast zwei Jahrzehnte hindurch, in düsterer Gefangenschaft blieb. Wer einmal in Vaux le Vicomte war, dessen Gärten Le Nôtre geschaffen hatte, und das der Baukunst von Versailles voranstrahlte, hat dort noch die herausfordernde Devise »Quo non ascendat?«, »bis wohin wird er nicht steigen?«, und in einem der Salons jenes Porträt des Fräulein de La Vallière gesehen, dessen Anblick dem eifersüchtigen königlichen Herzen einen Stich versetzte, und wer die Geschichte dieses Oberintendanten kennt, der weiß, daß zwei Personen nicht verschiedener sein können als der verschwenderische, berauschte und in Geldsachen nicht zaghafte Fouquet und der so garnicht parvenuhafte und so unendlich gewissenhafte Ballin. Aber ein Vers in La Fontaines Ode zu Gunsten des Oronte – zu Gunsten des angeklagten Mäzens – enthielt einen Seufzer, der allen Lieblingen der Götter und der Könige gilt. »Le plus sage s'endort sur la foi des zéphyrs.«

Das bißchen Tragik in Ballins Freundschaftsfeerie trat nicht nach außen, blieb verborgen und wurde dann, wie ein 259 stilles Flämmchen, von dem großen Brande, in dem alles, Siegerstolz und Macht, Kaiserthron und Schiffahrt zusammenbrachen, mit aufgenommen und verschlungen. Und da alles zugrunde ging, was er geliebt und wofür er gelebt hatte, verließ Ballin in jähem Entschluß die schmucklos gewordene Welt. Die Maler der Renaissance brachten oft auf ihren Bildern, in einer Ecke oder an irgend einer Stelle, etwas wie einen kleinen Hausaltar ihres eigenen familiären Lebens, eine Figur oder eine Gruppe an, die das Gedächtnis an Vergangenes und Gestorbenes erhalten sollte und nun neben der großen Golgathaszene eine still vollzogene Kreuztragung ahnen läßt. Die Episode von Ballins unpathetischem Untergang steht so am Rande des Kolossalgemäldes, das von keinem anderen Sensationsbilde der weltgeschichtlichen Galerie übertroffen wird.

 

Noch in den letzten Julitagen des Jahres 1914 glaubte Ballin nicht an den Krieg. Wie so viele andere suchte er sich das Gespenst zu verscheuchen, indem er sich zuredete, in der Wirklichkeit der modernen Welt gebe es keine Gespenster mehr. In meinem Buch »Der Krieg des Pontius Pilatus« habe ich erzählt, wie ich dazu kam, in mehreren Artikeln die zwischen Rußland und England eingeleiteten Marineverhandlungen zu entschleiern – gestützt auf das Material, das mir das Auswärtige Amt lieferte und das der geheime Agent des Amtes, Herr von Siebert, Kanzler der russischen Botschaft in London, pünktlich, regelmäßig und pflichttreu nach Berlin wandern ließ. Ich habe erzählt, wie dann, mit dem Hinweis auf diese Artikel, Herr von Jagow an Ballin schrieb und ihn bat, nach London zu reisen und dort nachzuforschen und mehr noch zu warnen, und wie der Staatssekretär sich stellte, als kenne er selber die Quelle meiner Mitteilungen nicht. Es hat immer wie eine Schuld auf mir gelastet, daß ich Ballin gegenüber, der mir freundschaftlich nahe stand, zur Verheimlichung des wahren Herganges gezwungen war. Ich hatte die Tatsache jener Londoner Marineverhandlungen ans Licht gebracht, weil ein solches englisch-russisches Abkommen es dem deutschen 260 Flottenchauvinismus ermöglichen mußte, alle Zügel abzuwerfen, und weil man auf diese Weise sofort in unabsehbare Gefahren hineinsegelte, aber es war mir sehr peinlich, daß ich Ballin nicht aufklären durfte, der mir so freimütig sein Vertrauen gab. Er hat wohl geahnt, wie die Dinge zusammenhingen, und hat, meinen Gewissenszwang verstehend, in den Unterhaltungen mit mir diese Frage niemals berührt. Seine Antipathie richtete sich, und nicht erst seit diesem Vorfall, gegen Jagow, und unsere Freundschaft blieb ungetrübt. In London, wo er mit Churchill, Asquith und Haldane zusammenkam, ließ er sich beruhigen, und da in jenen Tagen noch die City und die englische Volksstimmung gegen jede Beteiligung an den Streitigkeiten auf dem Kontinent waren, schien ihm kein Anlaß zu allzu schwarzem Pessimismus zu bestehen. Obgleich er doch mit dem Einmarsch in Belgien rechnen mußte, dachte er nicht an die Wirkung, die dieses Ereignis haben würde, und gewissermaßen sträubte er sich, über den heiteren Sommertag, über das friedliche grüne Idyll des englischen Landschaftsbildes hinauszusehen. Auch Lichnowsky, der hundertmal, in all seinen Berichten, erklärt hatte, in einem Krieg zwischen Deutschland und Frankreich werde England ganz bestimmt und unter allen Umständen den Franzosen zu Hilfe eilen, klammerte sich im letzten Augenblick an einen Strohhalm und betäubte auf einer letzten Station durch eine Selbsttäuschung seine Angst. Es war im Grunde wie an allen Sterbebetten: die Angehörigen eines geliebten Kranken, den sie seit langem verloren wissen, wollen sich in der Stunde vor seinem Tode ein plötzliches Aufflackern noch glücklich deuten und sagen einander hoffnungsvolle Worte, während die Agonie schon angefangen hat.

Natürlich wurde Ballin in den Kriegsjahren zur Beratung über alle möglichen wirtschaftlichen und organisatorischen Fragen herangeholt. Das war für einen Mann von seiner Bedeutung keine Auszeichnung, da ja in dieser Zeit fast alle sogenannten Wirtschaftsführer wichtigtuerisch an den Kommissionstischen saßen, aber er wurde nicht nur »hinzugezogen«, sondern nahm auf Grund eines allgemein 261 anerkannten Rechtes auch an Erörterungen teil, von denen jene neuen Regierungsstützen nichts wußten, und sein Wort hatte, auch wenn es wirkungslos blieb, ein anderes Gewicht. Als sich gleich nach dem Kriegsbeginn herausstellte, daß für die Ernährung des Heeres und des Volkes so gut wie garnichts vorgesorgt, an Ansammlung und Beschaffung von Lebensmitteln kaum gedacht worden war, kamen die Vertreter der Regierung nach Hamburg, um Ballins Rat und Beistand zu erbitten, und er schlug die Begründung eines »Reichseinkaufs« vor, dem dann später die Form einer »Zentral-Einkaufs-Gesellschaft« gegeben wurde, und tat, fortwährend mit unendlichen Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten kämpfend, viel für die Ausbreitung und Verbesserung dieser angefeindeten Organisation. Es war nur ein Zufall, daß gleichzeitig, während Ballin sich um die Nahrungsbeschaffung kümmern mußte, eine andere jüdische Hilfskraft, Walther Rathenau, im Kriegsministerium für die fehlenden Rohstoffe sorgte, und ein solches zufälliges Zusammentreffen berechtigt gewiß nicht zu Betrachtungen allgemeiner Natur. Konnte Ballin trotz allen Komplimenten, die man ihm, seiner Tatkraft und seinem Wissen machte, sich der Erkenntnis verschließen, daß in dem Augenblick, wo England in Berlin die Kriegserklärung überreichen ließ, die kaiserliche Freundschaft ins Wanken geriet? War es nicht von fern her spürbar, daß nun, wenn der Name des »Anglophilen« genannt wurde, eine kühle Luft durch die Schloßgemächer strich? Äußere Umstände begünstigten jetzt die Personen in der Umgebung Wilhelms II., denen die Bevorzugung Ballins immer ein Ärgernis gewesen war. Der Kaiser weilte jetzt meistens im Hauptquartier, war nicht leicht erreichbar, und Hamburger Hafenfeste gab es nicht mehr. Wilhelm II. hatte, wie es seine Natur verlangte, auf dem Rande der diplomatischen Akten seiner Aufregung durch ziemlich wüste Äußerungen über die englischen Staatsmänner und die englische Krämerseele Luft gemacht. Vermutlich war er nicht mehr so widerstandsfähig wie früher, wenn jetzt von dem »Engländerfreund« Ballin abfällig gesprochen 262 wurde und aus weiblichem Munde der sanfte Vorwurf kam: »Ich habe ja immer vor ihm gewarnt.« Seit dem Anfang des Jahrhunderts, seit in Berlin die englischen Bündnisangebote verworfen worden waren, hatten die englischen Regierungen stets ganz offen erklärt, daß im Falle eines deutsch-französischen Krieges England an der Seite des französischen Ententegenossen stehen müsse, und Betrüger und gleisnerische Fallensteller waren sie also eigentlich nicht. Ballin hatte, wie Lichnowsky und vor allem der unerschütterliche Wolff-Metternich, die Verständigung mit England erstrebt, um die Katastrophe zu verhindern, und offenbar hatten diese Männer und alle anderen, die dem schamlosen Krämervolk die Hand hatten reichen wollen, doch nur das Verbrechen begangen, klarer als die irreführenden und die irregeführten Geister zu sehen. Das Sprichwort sagt, daß der Prophet in seinem Vaterlande nichts gilt. Aber am wenigsten gilt bei den Blinden der Unglücksprophet, der ihnen gegenüber recht behalten hat, und leidenschaftlich wird er verdammt.

Ballin, der jedenfalls nicht ganz ohne Besorgnis an die Gemütszustände des Kaisers denken konnte, tat, als sei alles ganz wie früher, und beschwichtigte sich wohl mit dem Gedanken, daß es ihm nicht schwer fallen würde, das Vertrauen des kaiserlichen Freundes zurückzugewinnen. Falls überhaupt, was noch festzustellen blieb, jetzt ein Schatten vorüberglitt. In Stunden der Not oder bei dem Wiederaufbau unter der hellen Siegessonne würde ein Händedruck dem Freundschaftsbunde neue Kraft verleihen. Allerdings, die Stunden der Not wünschte er nicht herbei, und zu dem Glauben an die helle Siegessonne riß er sich nur ein wenig gewaltsam und nur unter besonders günstigen Umständen empor. Es setzt ihn nicht herab, wenn man sagt, daß seine eigenen Stimmungen, und damit seine Auffassung der Kriegslage, mitunter durch den Wind beeinträchtigt werden konnten, der, von der Höhe wehend, stärkend oder deprimierend für seine Nerven war. Die meisten menschlichen Geschöpfe unterliegen ja in der Art, wie sie die Dinge anschauen, der Einwirkung zufälliger Umstände, und 263 Kunstwerke sind kritisch vernichtet, entscheidende politische Momente verpaßt worden, weil ein Liebesbrief ausblieb, und Antonius verlor die Schlacht bei Actium, weil er die treulose Flucht der Kleopatra sah. Ballin war, wie mir schien, von dieser Sensibilität des Liebenden nicht frei. Wenn er auch nicht nur zwischen dem »himmelhoch jauchzend« und dem »zu Tode betrübt« hin und her glitt, konnten doch ein guter Empfang im kaiserlichen Arbeitszimmer und die Überzeugung, daß er die Freundschaft Wilhelms II. wiedergefunden habe, ihn für eine Weile über viele Sorgen und Befürchtungen hinausheben, und ein Lächeln, das den engen Raum mit Licht erfüllte, erhellte auch den Horizont.

Das war wenigstens mein Eindruck während der ersten Kriegsmonate, mag die Beobachtung nun richtig oder falsch gewesen sein. Als ich Ballin am 20. November 1914 zum ersten Mal wiedersah, – zum ersten Mal seit dem Juni, seit der Regatta auf der Unterelbe und dem Kaiserdiner, wo ich sein Gast gewesen war – fand ich ihn furchtbar niedergedrückt, pessimistisch über das Schicksal Deutschlands denkend, voll Bitterkeit und Gram über die Zerstörung seiner Lebensarbeit und gleichsam wie einen, der sich in seinen Kummer hineinbohrt und Zuspruch von sich weist. Er sagte – mit ähnlichen Worten wie sein Freund Bülow –, das Volk verstehe garnicht, in welcher Situation es sich befinde, in welcher entsetzlichen Situation. Man müsse die Pressezensur abschaffen und es den Menschen möglich machen, die Wahrheit zu sehen. Als ich, nur um in die melancholische Unterhaltung einen anderen Ton zu werfen, die inhaltlose Phrase aussprach, der Friede könne vielleicht einmal über Nacht kommen, entgegnete er beinahe grimmig: »Das glauben Sie –?« Natürlich wußte er, daß ich es nicht glaubte und nur wahllos zu einer der Kindereien gegriffen hatte, mit denen man das Publikum bei Laune erhielt.

Ungefähr in der gleichen Stimmung war er auch, als ich vierzehn Tage später bei Hiller mit ihm dinierte, – obwohl gesprächiger, bereitwilliger, sich durch Mitteilung Luft zu 264 machen, und trotz allem Pessimismus ersichtlich auch bestrebt, nicht in die dunkelste Hoffnungslosigkeit zu verfallen. Diesmal erzählte er sehr ausführlich von der Reise nach London, die er Ende Juli auf Jagows Wunsch unternommen hatte, um dort mit den englischen Ministern über meine angeblich aus Paris stammenden Informationen zu sprechen, – er hatte Jagow gegenüber den Pariser Ursprung angezweifelt, aber Jagow hatte ihm erklärt, aus Berlin sei mir das Wissen nicht gekommen – und er schilderte seine Dinerunterhaltung mit Grey und Haldane und seine allgemeinen Eindrücke bei diesem letzten Besuch. Dann sprachen wir von dem General von Falkenhayn, der jetzt im Westen den an der Marne verunglückten und völlig zusammengeklappten Moltke ersetzte, bei Wilhelm II. in hoher Gunst stand und außerhalb des Hauptquartiers nur als eleganter Streber und ideenloser Menschenverbraucher galt. Ballin erzählte, daß er Bethmann gefragt habe: »Warum sagen Sie nicht dem Kaiser, daß er Falkenhayn fortschicken müsse?« und daß Bethmann geantwortet habe, das könne er doch nicht. Darauf habe er, Ballin, weiter gefragt: »Soll ich es dem Kaiser sagen, soll ich zu ihm gehen?« Herr von Bethmann sei von diesem Anerbieten peinlich berührt gewesen und habe ihn dringend gebeten, jetzt den Kaiser nicht aufzusuchen, dessen Gemütsverfassung schonungsbedürftig sei. Hatte Bethmann, indem er Ballin so ermahnte, nur an das schonungsbedürftige Gemüt seines Souveräns gedacht? Vermutlich wollte der Reichskanzler das Recht, dem Kaiser in wichtigen Fragen Vortrag zu halten, nicht mit einem unberufenen Privatmann teilen, und neben dieser begreiflichen Regung mag ihn auch der Gedanke durchzuckt haben, daß eine solche Audienz ganz anders verlaufen könnte, als Ballin, in seinem unvorsichtigen Selbstvertrauen, es für möglich hielt. Es zeigte sich doch wieder, nicht wahr, daß nur der erfahrene Staatsmann das bei Hofe unentbehrliche Tastgefühl besitzen konnte, und daß selbst der klügste Dilettant höchstens eine sehr mangelhafte Kenntnis dieser schwierigen Künste erwarb. Ballin seinerseits, der diese Episode erzählte, 265 verglich Bethmann mit einem gekränkten Schulmeister, – er jammere unablässig über den Undank Englands und behaupte, die Engländer, denen er doch immer die Versöhnungshand entgegengestreckt habe, hätten an ihm, an seiner Person, den schwärzesten Verrat verübt. Ballin hat, wie er erzählte, Herrn von Bethmann scharf vorgehalten, daß er den Österreichern keine Blankovollmacht hätte geben dürfen, und ihm gesagt: »Da habe ich nun, wenn ich von mir reden darf, mein Leben hindurch etwas aufgebaut, das dem Deutschen Reich doch ungeheure Werte verschafft hat, und da kommen Sie und ein paar andere und werfen das alles um. Und ich bin nur ein Beispiel, dem ganzen Volk und der ganzen Volkswirtschaft geht es ebenso.« An diesem Tage, als wir beieinander saßen, hielt Ballin einen »ehrenvollen Frieden« für möglich, mehr aber werde nicht zu erreichen sein, und wenn der Krieg sich in die Länge ziehe, wahrscheinlich nicht einmal das. Als von der Annexion belgischen Gebietes gesprochen worden sei, habe er sich dagegen gewendet und zu Bethmann geäußert: »Legen Sie, wenn Sie können, die Hand auf die Eisenbahnen und schaffen Sie ökonomische Verbindungen, aber nehmen Sie kein Land und lassen Sie dem König seine Krone, er hat sich doch ganz anständig benommen.« Solche Tischgespräche hatten wir während des Krieges oft, wenn Ballin sich zu irgendwelchen Verhandlungen in Berlin befand. Fast immer saßen wir in dem Zimmer, das man ihm im Restaurant Hiller, Unter den Linden, reservierte, und das für ihn der angenehmste Ort in Berlin, beinahe ein Stück Hamburg war. Er hatte dort seinen eigenen Cognac, seine eigenen Zigarren, er war Hausherr und lud seine Freunde ein. Man brachte ihm die Gerichte, die er bevorzugte, und wußte, welche Weine bei großen und kleinen Diners bereit zu halten seien.

Am Nachmittag des 19. Februar 1915 traf ich ihn am Potsdamer Platz, er willigte gleich ein, mich durch den Tiergarten zu begleiten, und diese Flaneurlaune und der freiere Gesichtsausdruck ließen schon erkennen, daß ihm eine Last von der Seele genommen war. Er war am Abend vorher 266 beim Kaiser gewesen, und wirklich schien keine tiefere Entfremdung und jedenfalls kein unheilbarer Riß zu bestehen. Ballin erzählte, der Nervenzustand und die Stimmung des Kaisers seien sehr ungleich, wechselten schnell, und Wilhelm II. nehme jetzt Schlafmittel, was er früher nicht tat. Aber gestern sei er ruhig und verständig gewesen, sogar als das Gespräch sich um England drehte, und habe ohne leidenschaftliche Ausbrüche diskutiert. Er denke nicht daran, sich jetzt von Bethmann zu trennen, und einen Besseren habe er ja auch nicht. Den General von Falkenhayn habe er aller Kritik gegenüber verteidigt – der »arme Kaiser« wisse nicht, wie rücksichtslos man ihn bloßstelle und wie wenig man darauf bedacht sei, ihn durch eine gute Inszenierung dem Volksempfinden näher zu bringen. Ballin war jetzt der Meinung, Deutschland solle Zeebrügge pachten, und Antwerpen müsse von einer Hafenkommission verwaltet werden, und als ich ihm ein wenig erstaunt vorhielt, solche Bedingungen würden die gerade von ihm gewünschte Aussöhnung mit England verhindern, entgegnete er, das glaube er nicht. Ich sah, daß er nun etwas mehr als einen »ehrenvollen Frieden« erwartete und sogar einen nicht zu fernen Frieden für möglich hielt. Man werde, sagte er, doch mindestens alle paar Tage ein englisches Schiff versenken, und das werde die Engländer friedlicher stimmen. Eine wundertätige Magie hatte bewirkt, daß durch den Winter des Mißvergnügens etwas wie ein zartes Frühlingsweben ging.

Man darf aber nicht denken, bei seinem Tun, Planen und Urteilen habe ihn immer der Gedanke an den hohen Freund inspiriert. Besonders wenn es sich um die deutsche Handelsschiffahrt, um seine Hamburger Schiffahrt, um die Interessen und die Macht der Hapag drehte, hatte er niemals einer Inspiration bedurft. Dann hatte es sich ja auch immer gezeigt, wie dumm es war, ihn als »Engländer« zu stempeln und sich einzubilden, er erweise den Engländern auf Kosten Deutschlands Gefälligkeiten, ungefähr wie ein undelikater Gatte die Perlen, die seine Frau erhalten sollte, seiner Geliebten schenkt. Er hatte die Religion der deutschen 267 Flagge, und auch während des Krieges war er, so sehr er die Verständigung mit England wünschte, gegen Konzessionen, die seiner Ansicht nach eine Beleidigung dieser Flagge gewesen wären und das deutsche Prestige hätten schädigen können. Ich erinnere mich an eine Diskussion zwischen ihm und Bernhard Demburg, der kurz vorher von seiner amerikanischen Propagandatour zurückgekommen war. Ende Juni 1915, bei Hiller, in dem gewohnten Zimmer, saßen rund um den Tisch Ballin, Demburg, der ehemalige Botschafter in London Graf Wolff-Metternich, der Direktor von Holtzendorff von der Hapag und ich. Am Vormittag hatte eine Kommissionsberatung stattgefunden, an der die meisten der Anwesenden teilgenommen hatten, und deren Aufgabe es gewesen war, den Text einer Antwortnote an Amerika festzustellen. Ballin sagte ärgerlich, alles, was er mit Tirpitz und Jagow endlich zustande gebracht hatte, habe Demburg in dieser Vormittagssitzung wieder zerstört. Man hatte den Amerikanern erklären wollen, falls sie glaubten, daß für die Sicherung des regelmäßigen Personenverkehrs und der Frachtenbeförderung nach Europa ihre eigenen Schiffe und die neutralen nicht ausreichten, sollten ihnen noch vier Schiffe, und zwar zwei englische und zwei deutsche, zugestanden werden, aber da sei plötzlich Demburg gekommen und habe gesagt, die zwei deutschen Schiffe seien für Amerika unannehmbar, die amerikanische Regierung werde nicht daran denken, auf diesen Vorschlag einzugehen. Damit habe Demburg die Sitzung gesprengt. Jagow habe sich verzweifelnd in einen Sessel geworfen und wieder einmal gestöhnt, er sei am Ende seiner Kraft. Jetzt bei Hiller ging diese Auseinandersetzung zwischen Ballin und Demburg weiter, und es wurde ein ziemlich lebhaftes und scharfes Wortgefecht. Ballin sagte, trotz den enormen Verlusten, die er als Leiter der Hapag erleiden würde, – denn viele seiner Schiffe lägen in amerikanischen Häfen – halte er es nicht für möglich, vier englische Schiffe zu bewilligen, und auch Tirpitz könnte das nicht zugestehen. Wirklich, Ballin war in all diesen Fragen total verschieden von dem Bilde, das in beschränkten Gehirnen 268 haftete, und er wurde, wenn andere die Gesetze der Flagge nicht ebenso begriffen, sogar starrköpfig und schroff. Freilich, als die Agitation für den unbeschränkten U-Bootkrieg begann und immer lauter wurde, widersetzte er sich, und nur leider erfolglos wie alle andern Vernünftigen, diesem Wahnwitz, denn er kannte besser als diejenigen, die versicherten, daß Amerika nicht Schiffe bauen und nicht Krieg führen könne, die amerikanische Psychologie, die unerschöpflichen Hilfsquellen und die Tatkraft der Menschen dort drüben, und sein kaufmännischer Geist unterschied klarer als die militärische Mentalität.

Im Juli 1915 kamen dann auch wir, Ballin und ich, an einen Punkt, wo unsere Meinungen auseinander gingen. Es war die Frage der »Kriegsziele«, in der er, ganz wie sein Freund Bülow, nicht mit mir einverstanden war, aber wir vermieden es beide, eine lange Verärgerung entstehen zu lassen, und er war doch ein so prachtvoller Mensch, daß immer schnell das Herz sprach, wenn einmal der Verstand ihm nicht hatte folgen können. Seit dem Anfang des Jahres 1915 hatte die annexionistische Propaganda sich sehr stürmisch betätigt und unaufhaltsam zugenommen. Mit reichen Mitteln gespeist von Schwerindustriellen, die aus den Blutseen der Schlachtfelder schon soviel Gewinn fischten und nun ihre Hände auch nach dem Besitz der Mineralgebiete von Longwy und Briey und nach den belgischen Kohlengruben ausstreckten, hatte diese Bewegung die Stammtische begeistert, sechs »nationale Verbände« marschierten voran, und tausend naive, ahnungslose Hochschullehrer ließen sich vor den Wagen der Herren spannen. Zur Abwehr dieser unmoralischen Spekulation, die über jedes Völkerrecht hinwegging, jeden Friedensschluß unmöglich machte und unerhörte Menschenopfer nicht scheute, mußte etwas geschehen. An jenem Abend bei Hiller sprach ich von dieser Notwendigkeit. Ich fragte die vier, die mit mir dort waren, ob sie einen Satz unterschreiben würden, der ungefähr lautete: »Wir sind grundsätzlich gegen Annexion oder Unterdrückung unabhängiger und selbständiger Volksteile«, und alle vier schienen bereit zu sein. Ich hatte den 269 Eindruck, daß Ballin ein wenig vom Thema abzulenken suchte, indem er dann gleich ein amüsantes Detail aus seinen Unterredungen mit Bethmann zum besten gab. Herr von Bethmann-Hollweg hatte ihm gejammert: »Ich möchte tot sein«, und darauf hatte er, Ballin, entgegnet: »Kennen Sie die Geschichte von dem Unteroffizier, zu dem ein Gemeiner ganz ebenso sagt: »Ich wäre am liebsten tot –?« Der Unteroffizier antwortet ihm: »Verfluchter Kerl, das könnte Dir so passen, den janzen Tag über im Sarg zu liegen und nischt zu tun!« Ballins Erzählung war sehr hübsch. Und es war, wie gesagt, nur ein bißchen auffällig, daß er so schnell von der Hauptstraße des Gespräches abbog und sich in den heiteren Gefilden der Anekdote erging.

Da ich hörte, daß der Fürst Hatzfeld, Herzog zu Trachenberg, und Hans Delbrück auch eine Aktion gegen den Annexionismus planten, setzte ich mich mit ihnen in Verbindung, und wir verabredeten, gemeinsam vorzugehen. Am Abend des 7. Juli fanden sich in einem Saal des Preußischen Abgeordnetenhauses ungefähr fünfzig Personen, hervorragende Vertreter der Handelswelt und der Wissenschaften, Parlamentarier, ehemalige Diplomaten und Mitglieder des Hochadels ein. Fürst Hatzfeld leitete die Versammlung und teilte mit, nur die belgische Frage stehe diesmal zur Diskussion. Dann sprachen sehr vernünftig und sehr anständig der nationalliberale Professor Wilhelm Kahl und der konservative Professor Seering gegen jede Annexion, der liberale Professor Anschütz sprach reichlich konfus mit Für und Wider, Dernburg ließ nur eine Zollunion gelten, und die schönste Rede hielt Hans Delbrück, oft bis zur Leidenschaftlichkeit warm. Schließlich wurde – kurz habe ich das schon in der Geschichte vom Briefschreiber Bülow erwähnt – Hatzfeld ersucht, ein engeres Komitee für die Abfassung einer Erklärung zu bilden, und Hatzfeld berief Delbrück, Kahl, Dernburg, August Stein von der »Frankfurter Zeitung« und mich. Ich hatte schon einen fertigen Entwurf in der Tasche und gab ihn Delbrück, der mir im Austausch drei andere Entwürfe, von ihm, Hatzfeld und Lujo Brentano verfaßte, 270 übergab. Im Saal hatte ich auch Ballin bemerkt. Aber er war gleich nach der Rede Kahls verschwunden, und ich hatte eine unangenehme Empfindung, als ich ihn so, wie aus einer uninteressanten Vorstellung im Theater, fortgehen sah.

Zwei Tage darauf berieten wir, das Komitee, in der Villa Hans Delbrücks im Grunewald, über den Text der Erklärung, und mit einigen Änderungen wurde mein Entwurf angenommen. Die drei anderen Entwürfe waren matter, ohne kräftige Formulierung der Hauptsachen und mit Ausnahme einiger Sätze nicht besonders »repräsentativ«. Ein guter Passus aus Dernburgs Konzept wurde eingefügt, das von mir geforderte grundsätzliche Bekenntnis, daß die Einverleibung oder Angliederung politisch selbständiger und an Selbständigkeit gewöhnter Völker zu verwerfen sei, fand die allgemeine Billigung. Kahl wünschte, mit Rücksicht auf schwer zu gewinnende Universitätskreise, einen Schlußsatz, der in unbestimmter und darum vieldeutiger Fassung von einem »den Opfern entsprechenden« Frieden sprach, und da Dernburg und ich sehr entschieden Einspruch erhoben, wurde als Schiedsrichter der in der Nachbarschaft wohnende Adolf von Harnack, Delbrücks Schwager, herbeigebeten, dessen Schiedsspruch dann auf die Gefühle der Universität Rücksicht nahm. Wir schickten die so geformte Erklärung an eine Anzahl gewichtiger Persönlichkeiten, und unter den ersten, die sie mit ihrer Unterschrift zurückgaben, waren Siemens, Franz von Mendelssohn, Graf Monts, Graf Wolff-Metternich, der Oberkonsistorialrat Lahusen, der in der protestantischen Kirche eine große Autorität war, und Fürst Henckel-Donnersmark. Aber Ballin unterzeichnete nicht und teilte mir in einem langen Brief seine nicht sehr überzeugenden Gründe mit. Er habe, schrieb er, dem Reichskanzler von der Sache erzählt, und Herr von Bethmann-Hollweg habe gemeint, es sei für eine solche Kundgebung noch zu früh. Den in dem Manifest enthaltenen Satz, daß auch Sicherungsmaßregeln nicht auf Umwegen zu Annexionen führen dürften, fand Ballin mißverständlich und zu radikal. Ferner lege er Wert darauf, daß die 271 Erwerbung des Belgischen Kongo erwähnt werde, und auch über die Pachtung von Zeebrügge müßte etwas in der Erklärung stehen. Das Manifest dürfe auch nicht von einer sogenannten Elite unterzeichnet werden, sondern müsse mit hunderttausenden von Unterschriften an die Öffentlichkeit kommen. Ich antwortete Ballin gleichfalls ausführlich: Bethmanns Wünsche seien nicht ausschlaggebend, wir seien nicht seine Schleppenträger, sondern hätten eine Überzeugung und hielten es für unsere Pflicht, sie offen und klar zu bekennen. Wer den Grundsatz unterschreibe, daß selbständige Völker nicht annektiert werden dürfen, ehre sich selbst. Eine solche Kundgebung sei ein moralischer Akt. Wenn man Auslandspropaganda treiben wolle, so sei dies sicherlich die beste Art. Die Erklärung schließe eine Erwerbung des Kongostaates nicht aus. Hunderttausende von Unterschriften wären leicht zu beschaffen, sogar Millionen, dazu genüge zum Beispiel eine Einladung an die Sozialdemokratische Partei, aber das sei nicht der erstrebte Zweck. Am 18. Juli schrieb Ballin mir abermals. Er plane eine weitergehende Resolution – wie sie aussehen solle, sagte er nicht. Unterschreibe er die unserige, so würde ihm für später seine Absicht durchkreuzt. Wenn ich aber durchaus wolle und ihm sonst böse sei, so solle ich seinen Namen unter die Kundgebung setzen, er gebe dann seinen Widerstand auf. Mittags aß ich bei seinem Direktor, Herrn von Holtzendorff, mit dem Unterstaatssekretär Zimmermann, dem Major Deutelmoser und dem Bruder des Hausherrn, dem Admiral. Holtzendorff sagte mir, Ballin, der ihn soeben antelephoniert habe, bitte mich, seinen Namen nicht zu unterschreiben, und hoffe, sich bald mündlich mit mir aussprechen zu können. Ich antwortete, auch ohne diesen Widerruf hätte ich von der ja doch nur widerwillig erteilten Erlaubnis natürlich keinen Gebrauch gemacht.

In Huldermanns Ballinbuch heißt es: Ballin habe an die Erwerbung einer Flottenstation am Atlantischen Ozean, etwa in Nord-Afrika, gedacht, im übrigen aber an einen Frieden »ohne Annexion und ohne Entschädigung«. Er sei fest davon überzeugt gewesen, daß auch nach einem 272 Kompromißfrieden der Eindruck der deutschen Leistung in der Welt überwältigend sein werde und Deutschland deshalb keinen Landgewinn und keine Entschädigung brauche, und weil er bei dieser Anschauung geblieben sei, habe man ihn zu den »Flaumachern« gezählt. Hier stimmt etwas nicht. Gewiß war das Ballins Überzeugung, aber er äußerte sie erst spät und dann wohl auch nur am häuslichen Kamin. Gerade seinem scharfen kaufmännischen Verstand konnten die Fehler in der Rechnung, die er anpries, unmöglich entgehen. Sollte man dem deutschen Volk am Schluß des ungeheuren Krieges sagen: Eure Väter, Brüder und Söhne sind nicht umsonst gefallen, und all die Opfer sind nicht vergeblich gewesen, denn seht, wir haben den Belgiern, die sich gegen den von uns verübten Rechtsbruch auflehnten, dies Paradies am Kongo abgenommen? Die Gegend am Kongo pflegte, und namentlich seit der Agadiraffäre, das deutsche Volk sich als das Paradies der Stechmücken, des Sumpffiebers und der Schlafkrankheit vorzustellen. Ohne Zweifel hätte es einen Versöhnungsfrieden ohne solche Verzierung besser gewürdigt, ebenso wie eine nackte grüne Tanne schöner gefunden wird als ein mit ein paar verfaulten Nüssen dekorierter Weihnachtsbaum, und sollte ein Feilschen um so elenden Gewinn am Schlusse dieses Krieges etwa das deutsche Prestige erhöhen?

Das alles wußte auch Ballin. Er erfand diese Ausflüchte nur und tat vor anderen und vor sich selber, als seien sie etwas sehr Ernsthaftes, ungefähr wie ein Junge die unwahrscheinlichsten Dinge vorschützt, wenn er seine Schularbeiten nicht machen will. Er wollte sich seine Wege möglichst von Verpflichtungen frei halten, und die Aufforderung, einen Standpunkt zu wählen, war ihm unbequem. Obgleich er in jeder moralischen Beziehung bis zur Empfindlichkeit auf Sauberkeit hielt und ein starkes Rechtsempfinden hatte, betrachtete er die Politik nicht nach Prinzipien, und wahrscheinlich sah er in der Betonung allgemeiner Grundsätze eine unweltmännische Pedanterie. Er figurierte auch nicht gern in einer Menge, selbst dann nicht, wenn es eigentlich keine Menge, sondern eine recht 273 gewählte Gesellschaft war. Brauchte man den Tell »zu bestimmter Tat«, so konnte man auf ihn zählen, aber dem Rütli blieb er fern. Und dann, Ballin empfand, und vielleicht zu sehr, eine diplomatische Verantwortung. Er war gewöhnt, an Staatsaktionen teilzunehmen, und glaubte auch – da er nun einmal als Freund des Kaisers galt – besondere Verpflichtungen zu haben, und Tätigkeit, Rücksichten und Neigung gaben ihm einen diplomatischen Schliff. Man braucht nicht erst zu sagen, daß er mehr Klugheit und Weltkenntnis und auch mehr Frische und Freimut als die meisten Mitglieder dieses Corps besaß. Aber bisweilen zog sich dieses freimütige Wesen hinter die Allüren eines Staatsmannes zurück, der nicht wie der »Mann auf der Strasse«, oder selbst wie irgendeine Koryphäe der oberen Stände, all seine Gedanken ungeniert ausplaudern darf. Sogar kleine oder mittelmäßige Journalisten fühlen sich, wenn sie einen Leitartikel über eine Frage der auswärtigen Politik schreiben, oft so diplomatisch gehemmt, daß kein einfacher, verständlicher Satz aus ihrer Feder kommt. Es war nicht der Kongo, den Ballin wichtig fand, sondern es war diese Verantwortung, die er wichtig nahm.

Einige Zeit nach diesen Vorgängen sagte er mir, Herr von Bethmann-Hollweg habe ihn gebeten, nicht zu unterschreiben, und er habe gemeint, diese Bitte erfüllen zu sollen. Übrigens habe er sich das Wohlwollen des Herrn von Bethmann-Hollweg trotzdem verscherzt, denn er habe, als Tirpitz mit seinem Rücktritt drohte, dem Kaiser telegraphisch geraten, den Chef der Marine nicht gehen zu lassen, und das habe ihm der Reichskanzler übelgenommen. Im Februar 1916 erzählte er, als Lichnowsky und ich mit ihm bei Hiller saßen, er habe dem Kaiser einen Brief geschrieben und ihn vor den Alles-Torpedierern und dem Plan eines unbeschränkten Unterseebootkrieges dringend gewarnt. Diesmal hatte er durch seine Intervention den Generalstabschef von Falkenhayn gegen sich aufgebracht. In einer Aussprache mit diesem General habe er wieder betont, man dürfe den Kaiser nicht so im Hintergrund verschwinden und dem Volke fremd werden lassen, und 274 Herr von Falkenhayn habe ihm die seltsame Antwort gegeben, daß ihm für solche Regiekünste »sein Kaiser zu schade sei«. Darauf habe er, Ballin, gesagt: »Er ist auch mein Kaiser und der des ganzen deutschen Volkes, und wenn man nichts tut, um ihm das Vertrauen des Volkes zu erhalten, dann versündigt man sich an ihm.« Als im August 1916 das »Berliner Tageblatt« wieder einmal wegen meiner Angriffe gegen die annexionslüsterne Schwerindustrie verboten worden war, und zwar auf unbestimmte Zeit und mit der deutlichen Drohung, die Zeitung zu ruinieren, kam Ballin mir zu Hilfe und unternahm die notwendigen Schritte bei dem Generaloberst von Kessel, dem Höchstkommandierenden in den Marken und in den Kasematten der Zensur. Er tat es noch schneller als Herr von Bethmann, der immer sehr erfreut war, wenn ich den wildgewordenen Nationalismus bekämpfte, und hinterher mit melancholischem Lächeln zu äußern pflegte, man reize den miles gloriosus nicht ungestraft. Gewissermaßen als Randbemerkung möchte ich hier einfügen, daß mir Herr von Bethmann-Hollweg trotz der Resignation, die bisweilen in seinen Mienen und Gesten sich ausdrückte, erheblich an Persönlichkeitswerten gewonnen zu haben schien, seit er sich im fortwährenden Kampf mit diesem miles gloriosus und den Patrioten der Verbände – und unter einer gewissen Reue, die unbestreitbar auf ihm lastete – abquälte und zerrieb. Das war auch die Meinung Ballins. Nach dem Sturz des Herrn von Bethmann wünschte Ballin die Ernennung Bülows oder des Grafen Bernstorff, aber diese Wünsche konnten nicht bis zu dem von seiner Umgebung streng bewachten Kaiser vordringen, und besonders eine Kandidatur Bülows war aussichtslos. Die Personen, die in der Nähe des Kaisers sein durften, bescherten dem verdutzten deutschen Volke den Doktor Michaelis, vielleicht in der Idee, das um Deutschland geschlungene Netz müsse zernagt werden und dazu brauche man die Kirchenmaus. Wenn man noch nicht geahnt hatte, wie die Fahrt durch den Orkan enden werde, so schwand jeder Zweifel, als man aus der Wahl dieses Reichskanzlers die geistige 275 Beschaffenheit im Großen Hauptquartier, die Abwesenheit einfachsten politischen Verstandes sah. Ballin erhielt in diesem Jahre 1917 von der Weisheit, die das Reich regierte, noch einen speziellen Schlag. Ein sehr großer Teil der Hapagflotte lag, als der Krieg ausbrach, in fremden Häfen, in Italien, Portugal, den Vereinigten Staaten, Brasilien, Argentinien und anderswo. Es wäre nicht schwer gewesen, sie zu retten, denn das »Relief Committee«, das Hilfskomitee, das die belgische Bevölkerung während der Okkupation mit Nahrungsmitteln versorgte, wollte sie erwerben, und hinterher konnte man sie von Rotterdam, wo sie stationiert werden sollte, nach Hamburg bringen. Der deutsche Admiralstab, dem Ballin die Sache auseinandersetzte, verweigerte die Erlaubnis und ließ ebensowenig den Verkauf der Schiffe an neutrale Mächte, an Argentinien zum Beispiel, zu. Die österreichischen Schiffahrtsgesellschaften, die niemand verhinderte, veräußerten alles, was sich draußen befand, und ihre Verarmung wandelte sich in Reichtum um. Als nun der unbeschränkte U-Bootkrieg proklamiert wurde und Amerika mit der Kriegserklärung antwortete, wurden die Schiffe der Hapag beschlagnahmt, und die deutsche Admiralität befahl, die Maschinen zu zerstören, soweit das noch rechtzeitig möglich war. Ballin konnte in einem grimmigen Beschwerdebrief an den Staatsminister des Innern, der ihm keinerlei Beistand geleistet hatte, schreiben, die Hapag, »welche die größte Schiffahrtsunternehmung der Welt war und bei Ausbruch des Krieges über Schiffe von etwa 1.500.000 tons verfügte«, habe »diese bis auf einen geringen Teil verloren«, und das sei »viel weniger durch Kaperungen und Versenkungen im Dienste der kaiserlichen Marine, als durch die Handlungen unserer eigenen Regierung« geschehen. Er hatte all diese schönen Schiffe bauen lassen, eines nach dem andern, hatte ihre Entstehung auf der Werft zärtlich betrachtet, hatte sie mit liebevoller Sorgfalt bis ins kleinste Detail hinein gepflegt und ausgestattet, hatte ihnen mit frohem Stolz nachgesehen, wenn sie, von Musik, Hochrufen und Tücherschwenken gegrüßt, ihre erste Fahrt begannen. Er sah jedes auch jetzt und wußte von jedem, 276 in welchem fremden Hafen es geopfert wurde – unnötig im Stiche gelassen, nutzlos zum Opfer gebracht.

Wenn die Mitteilungen Huldermanns nicht lückenhaft sind, und wenn ich meine eigene Kenntnis zu Hilfe nehme, so läßt sich ausrechnen, daß Ballin in den vier Kriegsjahren fünfmal bei dem Kaiser gewesen oder mit ihm zusammengetroffen ist. Vielleicht ist dabei eine Begegnung übersehen worden – und sonderbarerweise hat Huldermann, der aus Ballins Tagebüchern schöpfte, auch den ersten Empfang vom Februar 1915 nicht aufnotiert. Am 10. Januar 1916 dinierte Ballin mit noch zwei anderen Gästen bei dem Kaiser und der Kaiserin – im ganzen fünf Personen – in Potsdam, im Neuen Palais. Nach Tisch wurde viel über die U-Boote und ihre Möglichkeiten gesprochen, und der Kaiser hatte den Eindruck, Ballin habe ihm, wie Tirpitz und wie diejenigen, die über ihrem Bett oder ihrem Sofa den frohmütigen Wahlspruch »Feste druff!« angeheftet hatten, eine große U-Boot-Aktion zur Niederringung Englands empfehlen wollen. Gegenüber Herrn von Bethmann-Hollweg, der anders dachte als die Marine, berief sich Wilhelm II. auf das Urteil Ballins, oder auf das, was er für Ballins Urteil hielt. Herr von Bethmann wandte sich mit der Bitte um Aufklärung an Ballin, der darauf dem Kaiser schrieb, er habe vertrauliche Aufschlüsse über die wahre, sehr geringe Zahl der verfügbaren U-Boote erhalten, und mit so wenigen Booten könne man »England wohl die Haut ritzen, aber sicherlich nicht zum Frieden zwingen«. Im Mai 1917 erhielt Ballin von der Obersten Heeresleitung eine Einladung in das Große Hauptquartier und sprach dort, wie er in seinem Tagebuch vermerkte, mit dem Kaiser »nach der sehr kurzen und kriegsgemäßen Mahlzeit mehrere Stunden allein«. Er fand ihn, ebenso wie Ludendorff, »in einer viel zu optimistischen Stimmung«, viel zu überzeugt von der Wirksamkeit des U-Bootkrieges und blind für die Tatsache, daß man durch diese Methoden die ganze Welt in Wut versetzte und die noch Zögernden zum Anschluß an die feindliche Koalition bewog. Am 14. September 1917, nach dem Sturz Bethmanns, hielt sich der Kaiser, der von Helgoland kam, 277 einen Tag lang in Hamburg auf. Er war, wie Ballin in sein Tagebuch schrieb, »in rosenfarbigster Stimmung« und »von einer Siegeszuversicht, die meines Erachtens in den Verhältnissen absolut nicht begründet ist«. In Briefen an einen ihm gut gesinnten Herrn der kaiserlichen Umgebung – vermutlich Herr von Reischach – versuchte Ballin, den Bewohnern des Großen Hauptquartiers die Wirklichkeit zu schildern, aber man ließ dort den Kaiser gern in seiner glücklichen Abgeschlossenheit, in der nur die rosafarbige Beleuchtung geduldet wurde, und hielt das harte Tageslicht fern. Ballin beklagte in diesen Briefen auch immer wieder, daß man den Kaiser der Nation entfremde, und bewies immer wieder mit unwiderlegbaren Argumenten den Irrtum des U-Bootkrieges, aber das war nutzlose Anstrengung, vergebliches Anrennen der Vernunft, machtloser Wellenanschlag an einen von blinden Wächtern bewohnten Turm.

Welche Temperatur in diesen Jahren die kaiserliche Freundschaft hatte, läßt sich natürlich nicht sagen, und selbst wenn es sich nicht um ein so großes Gestirn handelt, sind bei irdischen Lichtkörpern die Berechnungen nicht möglich, durch die man die Wärmestrahlung der Sonne festgestellt haben will. Das Gefühl ist selten einheitlich, fast immer durchkreuzt und abgelöst von anderen Gefühlen, und wenn man es in einer Reihe von Momentphotographien auffangen könnte, würde nur in Ausnahmefällen eines der Bilder dem vorigen ähnlich sein. Bei Wilhelm II. vollzog sich der Übergang von der einen zur anderen Empfindung bekanntlich besonders schnell. Außerdem trug sein Herrscherbewußtsein dazu bei, daß er sich gestattete, die Menschen nach momentaner Eingebung zu behandeln, und wenn er ihnen sein Inneres nicht zeigen wollte, half seine schauspielerische Gewohnheit über jede Situation hinweg. Ballin gegenüber blieben die Riten und Gebräuche der Freundschaft gewahrt. Die Beziehungen konnten im Kriege nicht so intensiv gepflegt werden wie in der Friedenszeit, aber es wurde Wert darauf gelegt, sie nicht abreißen zu lassen, und die Freundschaft war nur, wie Beamte, die man nicht verabschiedet, zur 278 Disposition gestellt. Ohne die Genauigkeit des Thermometers zu verbürgen, möchte ich annehmen, daß die kaiserliche Herzlichkeit, die sich gewiß bei jedem Wiedersehen unverändert äußerte, doch ein wenig der Rivierasonne im Winter glich. Die Bewohner der südfranzösischen und italienischen Küstenstriche können kein rechtes Vertrauen zu dem Strahlenglanz haben, der auch dann, wenn ihn im Augenblick die Haut heiß verspürt, nur wie ein dünnes Goldgewebe vor den kühlen Luftmassen liegt. Nach dem Tode Ballins hat Wilhelm II., obgleich mit den Anordnungen in dem holländischen Asyl beschäftigt, seine Teilnahme an der Familientrauer und seine eigene Ergriffenheit bekundet, und gewiß gingen, soweit die Umstände es zuließen, auch bedauernde Gedanken zu der entschwundenen Gestalt. Aber als Wilhelm II. seine Erinnerungen niederschrieb, zog er es vor, sich nicht mehr als der »treue Freund« erkennen zu geben, und der »liebe Ballin« wurde nun »Herr Ballin« genannt.

Eine letzte Begegnung zwischen dem Kaiser und Ballin fand am 5. September 1918 im Schloß zu Wilhelmshöhe statt – nach dem Zusammenbruch der großen Offensive im Westen und zu einem Zeitpunkt, wo kein Zweifel mehr daran bestehen konnte, daß man der Schlußkatastrophe entgegenging. Auf Wunsch Ludendorffs und seines begabtesten und gefährlichsten Mitarbeiters, des alldeutschen Oberstleutnants Bauer, war Hugo Stinnes nach Hamburg gefahren und hatte Ballin gedrängt, den Kaiser über die Situation aufzuklären und ihm vor allem auch vorzuhalten, daß die Ersetzung des Herrn von Hertling durch einen weniger schlafbedürftigen Mann nicht länger zu vermeiden sei. Bei Wilhelm II. befand sich jetzt, statt des redlichen Herrn von Valentini, dessen Beseitigung die »Vaterländischen« durchgesetzt hatten, ein neuer Chef des Zivilkabinetts, strenger Schloßvogt und schlechter Ratgeber, der sehr konservative Herr von Berg. Er hatte es so eingerichtet, daß diesmal Ballin nicht intim empfangen, sondern »zum Vortrag« bestellt wurde, was ihm selber gestattete, mit dabei zu sein und abwehrend einzugreifen, wenn sich der 279 Gast zu bedenklichen Aufrichtigkeiten verstieg. Der Kaiser ging mit Ballin, den er ungeduldig erwartet hatte, spazieren, und Herr von Berg schritt aufmerksam und wachsam nebenher. »Ich fand«, schrieb Ballin in sein Tagebuch, »den Kaiser wieder sehr mißorientiert und in der gehobenen Stimmung, die er gern in Gegenwart eines Dritten zeigt«. Man hatte ihm die Dinge so verdreht, daß aus dem schweren Mißerfolg der Offensive ein Erfolg geworden war. »Das alles wird dem armen Monarchen, wie gesagt, so serviert, daß er das Katastrophale garnicht merkt.« Ballin äußerte seine Befürchtungen und riet dringend, sofort Verhandlungen mit Wilson zu beginnen. Wilson sei ein Ideologe, aber wenn man noch zögere, werde die Kriegspartei ihn einwickeln und zu sich herüberziehen. Der Kaiser war auch für Verhandlungen und glaubte nur, es eile damit nicht so sehr. Man müsse bis zum Herbst warten und dann, wenn die Westarmeen die neuen Stellungen bezogen hätten, werde man durch Vermittelung der Königin von Holland zu einer Aussprache mit den feindlichen Mächten kommen. »Da, wo ich zu freiheitlich wurde, griff Herr von Berg geschickt ein«, steht in dem Tagebuch. Hinterher sagte dieser Schutzengel zu Ballin, man dürfe »den Kaiser nicht zu pessimistisch machen«, und da Wilhelm II. nicht pessimistisch gemacht werden durfte, war der Besuch ganz zwecklos gewesen, und der Besucher verließ das Schloß, in dem nach Sedan Napoleon III. gewohnt und Muße gehabt hatte, über die Verderblichkeit der Illusionen nachzusinnen.

Ich habe Ballin noch einmal, und zum letzten Mal, an einem Abend im Oktober gesehen. Er hatte meine Frau und mich gebeten, mit ihm zu essen, und wir saßen wieder in dem Hinterzimmer bei Hiller, wo in den vier Kriegsjahren so viel über die Dinge und die Menschen, über die Fehler und die Schuldigen, über die täuschenden Siege, die noch denkbaren Chancen und den unaufhaltsamen Niedergang gesprochen worden war. Jetzt war über all das nichts mehr zu sagen, und eine Konversation, die um dieses Thema kreiste und doch nicht von ihm loskam, konnte sich nur schleppend vorwärtsbewegen, wie ein Leichenzug. Niemand 280 hatte zu flinker Rede und Gegenrede noch Lust. Ballin war wie eingesponnen in Schwermut, er sah schlecht aus, die früher so frische braune Gesichtsfarbe war, da er nicht mehr durch den Meerwind fahren konnte, schon seit langem abgeblaßt, die Furchen hatten sich vertieft. Aber er war in aller müden Gedrücktheit noch galant und ritterlich. Obgleich es in jener Zeit nur sehr selten und nur sehr wenigen möglich war, so zu dinieren, wie es die Speisekammern dieses Restaurants immerhin noch gestatteten, glaube ich nicht, daß einer von uns das richtige Vergnügen dabei fand. Wenn meine Erinnerungen nicht trügen, war auch Ballin nicht der starke hamburgische Esser von früher, füllte nur sein Glas mit dem aufgesparten alten Cognac und rauchte seine schweren Zigarren. Meine Frau sagte ihm, daß ich den Rotwein entbehrte, den ich des Nachts oder vielmehr des Morgens, vor dem Schlafengehen, zu trinken pflegte, und der mir zwischen Arbeit und Schlaf so angenehm gewesen sei. Einige Tage darauf traf aus Hamburg, mit Grüßen von Ballin, eine große Kiste mit spanischem Rotwein ein. Es war, was er selber nicht wußte, sein Abschiedsgruß. Am 9. November, am Tage der Revolution, am Tage, da Wilhelm II. nach Holland floh, nahm er, der Erregung unterliegend, aus dem Schubfach seines Schreibtisches im Direktionsbüro der Hapag die Veronalpastillen oder ein anderes Gift, das ihm als Schlafmittel diente, und als er, in wieder klarerer Erkenntnis, sich seinem Freunde Max Warburg und der ärztlichen Hilfe anvertraute, war es zu spät.

In Europa ist es nicht wie in Japan üblich, daß hohe Würdenträger, Offiziere und auch andere Patrioten aus Trauer über eine Niederlage sich den Bauch aufschlitzen, was ja noch angesichts einiger unbedeutenden Fehlschläge während des russisch-japanischen Krieges geschah. Das Harakiri aus nationalen Gründen hat in unseren Breitengraden ebensowenig Nachahmung gefunden wie der freiwillige Flammentod der indischen Witwen, und auch die Nächstbeteiligten, Staatsmänner, Diplomaten, Generäle und sonstige hochstehende Persönlichkeiten, haben nach verlorenen Kriegen 281 und angesichts umgestürzter Throne stets auf europäische Weise weitergelebt. Allerdings fand man es rühmlich, daß deutsche Kapitäne selbst dann, wenn die Besatzung gerettet war, mit ihrem versinkenden Schiffe untergingen. Verständige Menschen haben die Auffassung, daß die Ehre ein solches nutzloses Opfer gebietet, niemals zu teilen vermocht. So ist es auch durchaus zu billigen, daß mit einer Ausnahme kein einziger der von Wilhelm II. gelobten und verwöhnten »treuen Triarier«, niemand aus den besseren monarchistischen Gesellschaftskreisen und kein Vorsitzender vaterländischer Vereine und Stammtische nun in der selbstverständlichen Gemütsdepression auf Selbstmordgedanken kam. Die eine Ausnahme war ein alter Offizier, der den Zeitungsberichten zufolge zur Pistole griff, weil er nach dem Zusammenbruch von Kaiser und Reich das Leben nicht mehr lebenswert fand. Wenn nach dem Tode des Cassius bei Philippi der treue Titinius sich mit dem Schwert des gefallenen Führers ersticht, läßt Shakespeare ihn ausrufen: »Verzeiht, Ihr Götter! – dies ist Römerbrauch!« Es war tatsächlich eine römische Sitte, im Schmerz über erschlagene Größe bis zur Selbstvernichtung zu gehen. Freilich war ähnliches auch schon bei orientalischen Völkern und zum Beispiel beim Volke Israel vorgekommen. »Da nun sein Waffenträger sah«, heißt es im Alten Testament, »daß Saul tot war, fiel er auch in sein Schwert und starb mit ihm.« Übelgesinnte könnten also behaupten, Ballin habe auch durch sein freiwilliges Ende, durch einen so unüberwindbaren Schmerz über die Katastrophe der Monarchie und des Landes, bewiesen, daß er ein Fremdling in Germanien war. Diese Behauptung wäre ebenso unsinnig wie etwa der Versuch, Ballins Verzweiflungstat pathetisch und rühmend der kühleren und elastischeren Auffassung derjenigen echtblütigen Getreuen gegenüber zu stellen, die nach dem Verschwinden von Krone und Szepter ein hohes Alter erreichten und die man nicht selten auch unter dem neuen Regime auf den hervorragendsten Plätzen sah. Falsch wäre freilich auch die Deutung, Ballin habe nur zu den Giftpillen gegriffen, weil die Niederlage und die Revolution seine 282 eigene Schöpfung zertrümmert hatten und sein Lebenswerk den vernichtenden Schlag erhielt. Der größte und schönste Teil der von ihm geschaffenen Handelsflotte war schon während des Krieges vernichtet worden, Schlimmeres konnte kaum noch kommen, im Gespräch und in Briefen hatte Ballin oft erklärt, daß er sich nach dem Kriege ins Privatleben zurückziehen werde, und am 9. November ist ihm nur Ähnliches wie sehr vielen von uns geschehen, und nichts, was sich nicht ertragen ließ. Ohne die Wirkung anderer Eindrücke zu unterschätzen, muß man sagen, daß der »Freund des Kaisers« unter der Tragik der Herzensbeziehung zerbrach, die ihn an dieses Reich und an die Person dieses nun zum Flüchtling gewordenen Monarchen band. Er hatte nicht die taustarken Nerven und die feste Haut der anderen und war entschieden zu sentimental. 283

 


 


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