Theodor Wolff
Der Marsch durch zwei Jahrzehnte
Theodor Wolff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ludendorff bei Nacht

Während des Krieges organisierten in einigen der Länder, deren Armeen einander gegenüberlagen, die Propagandachefs der Heeresleitungen Besuchsfahrten, Ausflüge ins Kampfgebiet, zu denen Einladungen an Parlamentarier, Journalisten und andere nicht für den Kriegsdienst taugliche oder unabkömmliche Personen ergingen. Es wurden Führungen an der Front veranstaltet, wie es Führungen durch die Museen und in Paris die nächtlichen Rundreisen durch die angeblich dunkelsten Höhlen gibt. Unter den vielen Neuerungen, die der moderne Krieg brachte, ist auch diese erwähnenswert. Die deutschen Kriegstouristen hatten den Vorteil, daß sie nicht nur Schützengräben besichtigen konnten, sondern auch eroberte Gebiete, und gewöhnlich wurden sie auch im Großen Hauptquartier empfangen. Wenn sie heimkehrten, deuteten sie in ihren Erzählungen bescheiden an, daß der Besuch, natürlich in den vordersten Linien, doch äußerst tragisch hätte enden können, und man erfuhr oder durfte ahnen, daß eine Granate dicht neben ihnen eingeschlagen war. Ich habe die sogenannten Schlachtenbummler, die dort bummelten, wo die anderen kämpften, litten und starben, nie sehr sympathisch gefunden und mir immer ausgemalt, mit welchen Empfindungen die Soldaten diese kriegssportlich gekleideten Sammler interessanter Impressionen betrachten mußten, die ihnen zu sagen schienen: Ihr seid Helden, wir würden gern bei euch bleiben, aber unser Zug fährt Gott sei Dank schon in einer halben Stunde ab. So habe ich die Freikarten für die Kriegsarena immer den Liebhabern solcher Weekendpartien überlassen und weder mit der Uhr in der Hand einen Unterstand gesehen noch einen strategischen Vortrag im Hauptquartier mit 225 angehört. Übrigens wurde mir, um es offen zu gestehen, der Verzicht bald ziemlich leicht gemacht, denn seit ich, um die oft wiederholte dringende Bitte des Herrn von Bethmann-Hollweg zu erfüllen und aus eigener Überzeugung, gegen die Annexionspläne, den unbeschränkten U-Bootkrieg, die Unterschätzung Amerikas und die chauvinistische Verblendung schrieb, erreichten mich die Einladungsbriefe nicht mehr.

Eine Gelegenheit, dem General Ludendorff zu begegnen, habe ich also in den vier Kriegsjahren nicht gehabt. Bisweilen kam etwas von ihm zu mir, aber es war ein Zeichen seiner Ungnade, ein Verbot, ein Bannstrahl, und wenn ich dann zu Bethmann ging, der doch gewissermaßen mitverantwortlich für meine Sünden war, und ihm berichtete, sagte er achselzuckend und schmerzlich lächelnd: »Der miles gloriosus, was wollen Sie!« Die Persönlichkeit Ludendorffs entwickelte sich ja in ungeahnter Weise, sie war überall oder verlangte doch, überall zu sein. Allmählich schien sich diese militärische Willenskraft zu einer übermäßigen Herrschsucht auszuwachsen, und offenbar stritt eine gewisse Finsternis des Charakters mit dem Licht der Intelligenz. Als eine Weile lang in naiver Schulbüchermanier und in der Lust an Legenden erzählt worden war, wie Hindenburg in seiner Ruhezeit den Plan zur Schlacht bei Tannenberg ersonnen habe, kamen die besonders gut informierten Leute mit der Behauptung, jener General Ludendorff, der den Feldherrn begleitete, sei der eigentliche Sieger und habe das Beste getan. Und dann sollte es auch nicht mehr Ludendorff gewesen sein, sondern der Dritte, der General Hoffmann, und Hoffmann hat es selber ungefähr so dargestellt, und bald nach der Revolution, auf einem nächtlichen Spaziergang durch den Tiergarten, hat er es mir noch ein wenig deutlicher gesagt. Der General Hoffmann, der zweifellos ein ungewöhnlich fähiger Soldat war, – groß und wuchtig in seiner äußeren Erscheinung, mit allen Wassern gewaschen und mit allen Weinen getränkt – hatte eine nicht ganz zuverlässige Condottiere-Seele, eine etwas unpreußische Unabhängigkeit und einen Ehrgeiz, der nach 226 dem jähen Abschluß der regulären Karriere zu den abenteuerlichsten Projekten griff. Bald sah er sich als Volksgeneral, als Diktator der Republik, bald wollte er Moskau erobern, um dort den Bolschewismus niederzuringen. Weder ihm, dem frühzeitig der Lebensfaden abriß, noch dem General Ludendorff, der seinen eigenen Aberglauben haben und keinen anderen daneben dulden wollte, war das große Spielerglück, der politische Aufstieg, vergönnt. Die Leute, die zuviel dachten, erschienen dem Volke wie dem Cäsar gefährlich, und das Gemüt sehnte sich nach einem seßhaften Geist, dessen Schlichtheit eine Bürgschaft wäre, und nach der Treue, die zu den schönsten deutschen Sagen gehört. Man hat viel darüber gespottet, daß der General Ludendorff einer Revolution, die kaum eine war, so weit, bis nach Schweden hin, aus dem Wege ging und dabei sogar, um von etwaigen Verfolgern nicht erkannt zu werden, eine blaue Brille trug. Andere waren ebenso wie er auf ihre Sicherheit bedacht, und der konservative Führer Graf Westarp beispielsweise kam sehr besorgt zu Ebert und bat, durchaus nicht mehr mit der früheren Schärfe des Tones, um Schutz und um hilfreiche Papiere, die ihm der verwunderte Volksbeauftragte gern und unter stärkendem Zuspruch gab. Gewiß konnten die Tadler Ludendorffs sagen, daß in dieser Revolution Leben und Freiheit der Personen, die das zusammengebrochene Regime repräsentierten, nicht im mindesten angetastet worden seien. Es wurde wohl auch die Meinung geäußert, daß Männer, die ein Kraftideal verkörperten und dem Volke die Kriegstugenden einprägten, gewisse Verpflichtungen hätten, die der nach keinem Kriegsruhm verlangende Bürger nicht in gleichem Maße zu verspüren braucht. Aber wir haben wirklich kein Recht, dem General Ludendorff einen Vorwurf daraus zu machen, daß er in den unruhigen Tagen den Schauplatz der Ereignisse verließ, und ich für mein Teil habe den Witz, den man an diese Tatsache verschwendete, niemals geschmackvoll finden können. Ein General, der den Verhaftungsbefehl oder den Überfall an einer Straßenecke fürchtet, wird oft die heldenhaftesten Eigenschaften 227 entfalten, wenn er in seinem militärischen Beruf ist und die animierende Atmosphäre des Kriegslagers ihn umweht. Gerade Ludendorff hatte ja bei Lüttich diesen soldatischen Mut gezeigt. Denn obgleich das eigentlich garnicht zu seinen Aufgaben gehörte, war er – und dies ist keine Legende – mit geschwungenem Säbel vorausgaloppiert und mit kleinem Gefolge als erster in eines der Forts eingedrungen. Napoleon war kaltblütig in der Schlacht. Aber nach der Abdankung hatte er Furcht, verkleidete sich mit der geliehenen Uniform eines österreichischen Oberst, der Mütze des preußischen und dem Mantel des russischen Kommissars und zitterte bei jedem Geräusch.

General Ludendorff

General Ludendorff

Eines Tages sagte mir ein Bekannter, der vom Kriegsschauplatz her Beziehungen zu Ludendorff unterhielt, der General sei aus Schweden zurück und würde gern mit mir zusammenkommen. Er wünsche sich auszusprechen, alle hätten ihre eigene Schuld auf ihn abgeschoben und ihn zum Sündenbock gemacht, und es liege ihm daran, das einmal festzustellen. Ich hatte keinen Grund, die Begegnung zu vermeiden, und weit eher Gründe, mich über die Aufforderung zu freuen. Denn mit der gemeinen Gewohnheit, aus einzelnen Menschen und Menschenklassen Sündenböcke zu machen, hatte ich nichts zu schaffen, die Maßregeln der Zensur hatten sich logisch aus der militärischen Mentalität ergeben und keine Wunden hinterlassen, und Plato, der nicht zu dem Tyrannen gehen wollte, wäre gewiß zu einem entthronten Tyrannen gegangen. Es wurde verabredet, daß Ludendorff und ich bei dem Herrn soupieren sollten, dem die Rolle des Fadenknüpfers zugefallen war. Die Frauen würden mit eingeladen, auch der Adjutant Ludendorffs und seine Gattin, und wir würden also acht bei Tische sein. Ich war, zum mindesten für den Moment des ersten Eindruckes, auf die übliche Enttäuschung gefaßt. Ob man jeden berühmt gewordenen Heerführer für einen Halbgott oder, wie Tolstoi, Paul-Louis Courier und andere, das militärische Genie für einen Bluff halten will – selten wirkt ein General im Privatleben und im Zivilkleid sehr imposant. Ich erinnere mich, daß der spanische General 228 Weyler, der auf Cuba ein grausamer Unmensch, ein blutdürstiges Scheusal gewesen sein sollte und den Amerikanern viele Vorwände für ihre Kriegserklärung gegeben hatte, mir in seiner Wohnung in Madrid, nach seiner Rückkehr aus der Niederlage, in buntgestickten Pantoffeln entgegenlatschte, und daß sich bei diesem Anblick ein kalter Zweifel, etwas wie ein Protest gegen die Greuelberichte, in mir erhob. Und man denke sich Napoleon mit einer »Melone«, statt mit dem »petit chapeau«.

Diesmal blieb eine Enttäuschung aus. Oder es gab doch nur die angenehme, die man empfindet, wenn zu Pfingsten der angekündigte Regen nicht niedergeht. Der Gastgeber und seine Gattin waren von ihrem Gut gekommen und bewirteten ihre Gäste in der hübschen kleinen Wohnung, die ihnen, nahe bei der Gedächtniskirche, für gelegentlichen Aufenthalt in Berlin zur Verfügung stand. Es war eine Wohnung zu ebener Erde, zu der man durch eine Seitentür gelangte, und da sie beinahe etwas Verstecktes hatte, schien sie für diese Gelegenheit besonders zu passen, ein stimmungsvoller Rendezvousort. Auf den vielen Bildern, mit denen die Kriegsphotographen die illustrierten Zeitungen versorgten, hatte der General Ludendorff älter, auch körperlich schwerer ausgesehen als jetzt, wo er mit seiner damaligen, sehr gewinnend wirkenden und sehr gut gekleideten Gattin und dem Adjutanten-Ehepaar in den Salon der Katakombenwohnung trat. Er war damals – später, als er für kurze Zeit in den Reichstag kam, hatte seine Gestalt sich sehr verändert – überraschend jugendlich, schlank und elegant in einem vortrefflich sitzenden Smoking, und nur durch die charakteristische Steifheit der Haltung »pensionierter Offizier«. Indessen, es war ihm irgend etwas aufgeprägt, was nach dem Worte des Dichters die Vertraulichkeit entfernte, und was nicht nur Würde und Höhe war. Und es war auch nicht nur der Ernst der Zeit, der dunkel auf ihm lag. Bei Tisch wurde zunächst nur über Belangloses gesprochen oder über die bedauerlichen Wirren der schlimmen Gegenwart. Jene natürliche Reserviertheit, Gespanntheit, die einer erwarteten Diskussion vorangeht, wurde hinter 229 der Beschäftigung mit den Speisen und Weinen einigermaßen verborgen, ungefähr wie in der Schulaula vor der Verkündung der Examensresultate, der Versetzungen und der Durchfälle ein feierliches Lied das nervöse Pochen der Herzen übertönt.

In den Tagen vor unserer Zusammenkunft hatte eine Demonstration ehemaliger Offiziere stattgefunden, und man hatte bei dieser Affäre, die nach reaktionärem Komplott aussah, auch Ludendorffs Namen erwähnt. Er fing an, von diesem Vorfall zu sprechen, und sagte, eine Reaktion sei jetzt ganz unmöglich, und man habe die Sache töricht aufgebauscht. Er selbst verberge seine Ansichten nicht, er sei Monarchist, und vielleicht werde man eines Tages wieder für diese Idee eintreten können. Jetzt denke doch niemand daran. Ich erwiderte, ja, solche Pläne wären jetzt in der Tat aussichtslos. Auf beiden Seiten, bei den Linksleuten und auch bei den ehemaligen Offizieren, müsse man jetzt sehr viel Takt zeigen – das sei in einer Zeit der Gärung nicht ganz leicht, aber wir ständen vor den Friedensverhandlungen, und dem Interesse des Landes werde am wenigsten durch Anstiftung neuer Zwistigkeiten gedient. Ludendorff blieb noch eine Weile bei dem Thema und meinte, im Sommer werde ein neuer bolschewistisch-spartakistischer Angriff kommen. Was not tue, sei eine Armee ohne Soldatenräte, mit Manneszucht.

Allmählich kam dann die Unterhaltung in das richtige Fahrwasser, wobei sie allerdings zunächst aufhörte, eine Unterhaltung zu sein, und in einem Monolog bestand. Der General Ludendorff plädierte, während der Zuhörerkreis schwieg. Es war ein fließendes und mit ebenso viel Gewandtheit wie Bitterkeit vorgetragenes Plädoyer. Ein bißchen zu glatt, zu advokatorisch und zu deutlich bemüht, über unbequeme Tatsachen hinwegzugehen. Keine Spur vom rauhen Krieger, nichts vom Haudegen, sondern ein brillant geformter Offizier mit einem nicht geringen Talent für Dialektik, für die Kunst, die alles zu beweisen vermag. Aber er hatte nicht das Bewußtsein, dialektisch die Wahrheit umzubiegen, er war überzeugt von seinem Recht und 230 dem ihm zugefügten Unrecht, und sein ganzes Reden war von einem tiefen, leidenschaftlichen, nur durch die gesellschaftliche Erziehung gebändigten Groll durchdrungen. Man konnte trotz der konventionellen Ruhe, zu der er sich zwang, – und sie hatte etwas von festgefrorener Ranküne – ohne weiteres erkennen, daß dieser Groll unablässig an ihm nagte, in ihm wühlte, zum beherrschenden Gefühl geworden war. Selbstverständlich bedrückte ihn das tragische deutsche Allgemeinschicksal, aber auf dem Hintergrunde der Volkstragödie spielte sich, dicht vorn an der Rampe, die Tragödie des verkannten, von den Hohen und den Niederen mit schreiendem Undank belohnten und verratenen General Ludendorff ab. Sein Geist trug den zweifachen Flor. Um Deutschland und um Ludendorff.

»Man behauptet«, sagte er in diesem Ton scharfer Gegenwehr, »ich habe Politik gemacht. Ich habe nie Politik gemacht, ich habe nur das getan, was ich im Interesse der Kriegsführung für nötig hielt. Darüber mögen ja die Ansichten auseinander gehen. Aber im Krieg ist die Politik nicht vom Militärischen zu trennen. Ich habe immer loyal gehandelt, wer etwas anderes sagt, der sagt eine Unwahrheit, aber sollte ich ruhig zusehen, wie die Regierung untätig blieb und zu keinem Entschluß und zu keiner Entscheidung kam? Wenn ich dann sah, daß nichts geschah, dann bin ich natürlich manchmal losgefahren, und auch mit Verve, das gebe ich zu. – Ich soll verantwortlich dafür sein, daß das Königreich Polen geschaffen worden ist. Das ist ganz einfach eine Lüge, ich war am allerwenigsten schuld daran. Bethmann und Czernin haben zusammen den Beschluß gefaßt. Natürlich hatten sie schon lange vorher darüber beraten, denn ehe die zwei einen Entschluß faßten – das ging nicht so schnell. Als dann das Königreich Polen da war, habe ich gesagt, daß ich polnische Soldaten haben wollte, wir konnten den Zuwachs gebrauchen, die Lage war damals nicht ganz leicht, die Rumänen gingen gerade los. Aber ich habe das erst gesagt, als über Polen schon entschieden war. – Der unbeschränkte U-Bootkrieg soll auch nur auf unsere Veranlassung beschlossen worden sein, 231 die Oberste Heeresleitung habe es verlangt, und da habe Bethmann nicht widerstehen können. Die Wahrheit ist: Herr von Bethmann hat sich hinterher auf die Oberste Heeresleitung berufen und ihr die Schuld gegeben, das war ihm so bequem. – Für den Besitz der flandrischen Küste hätte ich den Krieg nicht weitergeführt. Auch nicht für das Erzbecken von Longwy, obgleich es für die deutsche Industrie wichtig war. Aber so wie der Krieg sich entwickelt hatte, mit all den neuen technischen Erfindungen und Verbesserungen, war ich allerdings der Meinung, daß wir unsere Industriegebiete nicht ungeschützt lassen dürften und daß wir genötigt wären, das bei unseren Friedensbedingungen in Erwägung zu ziehen. Wir haben nun einmal das Unglück, daß unsere wichtigste Industrie so dicht an der Grenze liegt. Ich mußte als Militär mich fragen, ob ich die Verantwortung dafür tragen wolle, daß dem Feind die Möglichkeit gelassen werde, in einem neuen Kriege ohne weiteres in diese Gebiete einzufallen. Darum war ich allerdings dafür, daß man in Belgien Sicherungen nehmen müsse, Lüttich und so weiter – daneben konnte dann ein wirtschaftliches Abkommen stehen. Aber ich habe erklärt, daß ich daraus keine conditio sine qua non machen würde, und wenn man zu einem guten, einem halbwegs guten Frieden hätte gelangen können – ich hätte für diese Forderungen den Krieg nicht fortgesetzt. Man hat mir aber niemals eine praktische Lösung gezeigt. Man sprach nur immer ganz allgemein von Frieden und Verständigung. Mit Theorien konnte ich mich nicht abgeben, das hatte für mich keinen Sinn. – Gewisse Leute haben mich einen »genialen Hasardeur« genannt. Ich soll leichtfertig gewesen sein. Dagegen wehre ich mich. Es ist eine dreiste Unwahrheit, wenn so etwas behauptet wird. Ich dränge mich nicht vor, aber ich werde in dem Buch, das ich schreibe, sagen, was ich zu sagen habe, und dann wird man ja sehen. Ich habe lange genug geschwiegen, wie mir scheint . . .«

Dies ist natürlich nicht im entferntesten eine vollständige Wiedergabe seiner Worte, denn er äußerte sich weit ausführlicher zu jeder einzelnen Beschuldigung. Die paar aus seiner 232 Verteidigungsrede herausgerissenen Sätze geben nur einen sehr unzureichenden Begriff von seiner mit Heftigkeit, aber auch mit bedeutendem Anwaltstalent vorgetragenen Argumentation. Es ließ sich sehr viel gegen seine Aufklärungen einwenden, das war nicht besonders schwer, die Tatsachen waren ja bekannt, und als er eine Pause machte, gleichsam um die Wirkung seiner Rede abzuwarten, sagte ich, warum ich in diesem und jenem Punkte nicht überzeugt worden war. Er nahm diesen Widerspruch mit ersichtlichem Mißvergnügen auf, antwortete nervös, und die Temperatur des Festes, die niemals einen sehr hohen Wärmegrad erreicht hatte, kühlte sich spürbar noch weiter ab. Selbstverständlich verzichtete ich in meinem Laiengefühl darauf, strategische oder rein militärische Fragen zu berühren, und so wurden auch die Katastrophe der Westoffensive, der Irrtum über die angeblich total vernichteten, in Wahrheit im Walde von Villers-Cotterets verborgenen Reserven Fochs, der Mangel an Informationen über die Auflösung des bulgarischen Heeres und ähnliches nicht erwähnt. Höchstens eine Andeutung lag in der Bemerkung, gewisse Fehler würden den Mitarbeitern Ludendorffs angekreidet, und da habe wohl die Organisation bisweilen versagt, vielleicht weil sie zu sehr auf die Überwachung der eignen öffentlichen Meinung gerichtet gewesen sei. Er schien zu verstehen, denn er erwiderte, seine Mitarbeiter seien ausgezeichnet gewesen, nur der Nachrichtendienst habe vielleicht nicht allen Anforderungen genügt. Dann lenkte er ab, sprach von den Offizieren im allgemeinen, rühmte mit Recht die aktiven Offiziere, die zuerst an die Front kamen, und gab zu, daß im jüngeren Nachschub sich manche weniger geeigneten Elemente befunden hätten – die Menschenbehandlung sei nicht so leicht zu erlernen, und es seien allerlei Mißstände vorgekommen.

Während er sich in Verteidigung und Anklage ausgab, konnte man sich fragen, ob etwas von Größe an ihm sei – von Größe der Leidenschaft, wenn auch nicht des Genies. Es war vielleicht nicht Größe, aber doch starkes Format. Die Oberlehrer der Mathematik versichern, ohne ihre 233 Wissenschaft gebe es keine Philosophie, kein logisches Denken, und niemand steige zu den Höhen des Geistes, der nicht die schwierigsten Gleichungen errechnet hat. Aber man kann hervorragender Mathematiker sein und doch kein Kant. Als die Kampfhandlung, der hauptsächliche Programmteil der Veranstaltung, für abgeschlossen gelten konnte, blieben wir noch bis nach Mitternacht zusammen. Es entwickelte sich nicht gerade eine Fidelitas, aber auch Disharmonien schienen mit dem Zigarettenrauch davonzuziehen. In dem Augenblick, wo wir uns voneinander verabschiedeten und noch an der Haustür standen, bemerkte ich, daß Frau Ludendorff vor ihrem zurückbleibenden Gatten auf die schwach beleuchtete Straße hinaustrat und aufmerksam nach allen Seiten sah. Als sie erkannte, daß mir das kleine Manöver nicht verborgen blieb, sagte sie, halb entschuldigend: »Dafür ist er doch zu schade, nicht wahr?«

An diesem Abend ließ noch nichts vermuten, daß der glänzendste Repräsentant der Generalstabsschule – dieser Schule, in der Aufmarschlinien und alle Marschzurüstungen mit unendlicher Genauigkeit bis ins Letzte festgelegt wurden und der Sinn für Ordnung und Exaktheit keine Abweichung von der Vorschrift gestattete – bald auf krausen Wegen herumschweifen würde, in einem geistigen Labyrinth. Nichts ließ ahnen, daß der Spezialist der militärischen Mathematik seine Kraft in mystischen Spekulationen ausgeben und dort an den Beweis setzen würde, zwei mal zwei sei fünf. Vielleicht war es eine zwar nicht notwendige, aber auch nicht ganz fernliegende Konsequenz der Kadettenerziehung und der militärischen Kastenabsperrung, daß eine einmal in Bewegung geratene und überhitzte Phantasie gleich zu bizarren Einbildungen ausartete und sich auf der Jagd nach großartigen Entdeckungen absonderlich überschlug. Wer sich in das neue Leben nicht einzuordnen verstand oder sich nicht einordnen wollte, befaßte sich mit Entwürfen und Unternehmungen, die hoch über die Häupter der blökenden, nach armseligem Futter schnuppernden Herde hinweggingen, und abenteuerte teils 234 auf Erden und teils in den luftigen Regionen der Idee herum. Und da der Wall, mit dem sich die Kaste umgeben hatte, dem täglichen Einblick in das bürgerliche Durchschnittsleben, in die wirtschaftlichen Erfordernisse und die sozialen Zusammenhänge sehr hinderlich gewesen war, wurde der Gedankenflug nicht durch Rücksicht auf zu viel Realitäten gehemmt. Vielfach, natürlich keineswegs in einer Mehrzahl der Fälle, bestand eine gewisse Ähnlichkeit mit Klosterbewohnern, deren Einbildungskraft sehr anspruchsvoll zu werden pflegt, wenn sie einmal die strengen Regeln durchbrochen hat und die Klostermauer überspringt. Der General Ludendorff ergab sich, wie Faust, der Magie. Sein Forschungsdrang umfaßte die Magie der germanischen Mysterien, die Magie der Edelrasse, die Magie des Blutes, die Magie des Goldes, und wohl so ziemlich allen Zauber, der vom Altertum über das Mittelalter hinweg bis in die aufgeklärte Gegenwart hinein konserviert worden ist. Er wurde Priester an Odins Opfersteinen und Anführer in der antisemitischen Walpurgisnacht. Er verwarf den unbefriedigenden blassen Christenglauben und vernichtete Jesuiten, Juden und Freimaurer mit einem einzigen Keulenschlag. Als er nach der Scheidung von seiner ersten Frau wieder heiratete, verband er sich in der erwählten Gattin eine Kennerin all dieser geheimnisvollen Lehren, eine schon geprüfte Gehilfin, eine begeisterte Adeptin und rastlose Kämpferin Walhalls, und mit ihr trafen zur Ergänzung des barocken Hausrates noch mancherlei Kuriositäten ein. Wer darüber witzelte, daß der General Ludendorff den Goldmacher Tausend in seine Dienste nahm und ihm sein Geld hinwarf, der verstand nicht, daß auch der Schmelztiegel in das Bild hineingehörte, und dem war die Fähigkeit des artistischen Genießens versagt.

Einem späteren Dichter, der unter den Gestalten dieser Zeit eine Auswahl treffen will, bietet Ludendorff viel. Er ist eine starke, durch eigene Fülle und Farbigkeit wirksame Bühnenfigur. Coriolan fand seinen Shakespeare, Wallenstein wurde von Schiller dichterisch erhöht. Coriolan hatte nicht Ludendorffs Mystik, Wallenstein nicht seine 235 Leidenschaftlichkeit. Bisweilen auch kehrte der General Ludendorff aus der Phantasiewelt in die Nüchternheit zurück. Das geschah, wenn es sich um die Aufgaben seines alten Metiers, um die Erörterung militärischer Dinge handelte, und wenn er den schlechten Schülern zeigen wollte, wie der Krieg beschaffen sein würde, nach dem ihre prahlerische Torheit sich zu sehnen schien. Seine Autorität bäumte sich dann auf, er trat mit eiskaltem Tadel vor die unwissende Klasse hin und bläute ihr die Wirklichkeit ein. Der knurrende Pudel des Okkultismus blieb unbeachtet auf der Schwelle, das Laboratorium mit Phiolen, Retorten, Kesseln und dicken Folianten wandelte sich wieder in ein Generalstabszimmer um.

Immer, im Licht des kritischen Denkens wie in den Dämpfen seiner Phantasieküche, hatte der General Ludendorff, seit ihm der feile Wankelmut der Menschen so fühlbar geworden war, den herben Stolz, den sympathischen Hochmut der Einsamkeit. Darin nahm er es mit jedem vom Volke und vom Senat verstoßenen römischen Feldherrn auf. Wenn er sich für kurze Zeit anderen anschloß, so blieb er doch immer abseits, ein Einzelner, dessen Stimme nur noch zu einer kleinen Gemeinde dringt. Wenn er auch Redegewandtheit besaß – es war nicht die Rhetorik, deren Rhythmus zwanzigtausend oder dreißigtausend Zuhörer in Begeisterung versetzt. Auch sein Haß hatte Format, sein Hirn war nicht mit Bildern von Verfolgungen und Strafen angefüllt. Ihn interessierte der große Schlag, die Durchbruchsoffensive, und für die systematische Arbeit des offiziellen Anklägers Fouquier-Tinville hätte er kein Verständnis gehabt. Sogar seine Halbbildung verfiel nicht in die Banalität. Es gibt Personen, in deren pompösesten Erzählungen der Mount Everest niedrig wirkt.

Die Idee, daß die Juden eine Rasse seien, denen ihr Jehovah und ihr Talmud die Vernichtung des Germanentums vorschrieben, kam ihm erst, als er sich auch in diese Probleme zu vertiefen begann. Da, unter der richtigen Anleitung, fielen ihm, wie man zu sagen pflegt, die Schuppen von den Augen, und er begriff, daß der Krieg nicht infolge der 236 feindlichen Übermacht, nicht durch das Eingreifen der Amerikaner, nicht durch die verspotteten Tanks, nicht durch strategische Fehler, nicht durch die Irrtümer der Westoffensive, nicht durch das Hervorbrechen der tot geglaubten französischen Armee beim Walde von Villers-Cotterets, sondern einzig und allein durch die Gebote des Talmud verloren und zugleich er selber von einem alttestamentarischen Komplott erdolcht worden war. Damals, an dem Abend in der Wohnung unserer gemeinsamen Bekannten, war ihm das alles nur noch nicht klar, und darum kam in seinen langen Darlegungen, in denen doch nichts vergessen wurde, weder ein Dolchstoß noch eine Rassenfrage vor. Die Angeklagten waren damals der schwache Bethmann, die Berliner Regierungen, die Nächsten, die ihn im Stiche gelassen, und alle, die ihn geopfert hatten, um die eigene Verantwortung verschleiern und sogar noch Dank und Ehren ernten zu können.

Übrigens fehlt in dem Bericht über jenen Abend noch ein kleines Detail. Der Vollständigkeit halber mag auch das erwähnt werden, obgleich es von sehr geringer Bedeutung ist. Der – nun auch schon verstorbene – Gastgeber verdankte seine persönlichen Beziehungen zu dem General Ludendorff dem Umstande, daß er im August des Jahres 1914 in das Automobilkorps eingereiht und nach Ostpreußen geschickt worden war. Er war ein sehr tüchtiger Automobilist, und wurde, als Hindenburg, begleitet von Ludendorff, das Kommando in Ostpreußen übernahm, mit seinem Auto den beiden Generälen zugeteilt. Seine Vorgesetzten konstatierten, daß er nicht nur als Chauffeur die Tugend der absoluten Zuverlässigkeit besitze, und da er ihr besonderes Vertrauen genoß, wurde er gelegentlich zur Erledigung diskreter Aufträge ausersehen. Er lenkte das Auto der Heerführer auch bei Tannenberg. Niemals prahlte er, wie mancher andere es getan hätte, mit diesen Kriegserlebnissen und seinen hohen Verbindungen, niemals sprach er davon. Stets bewahrte er eine Zurückhaltung, die ganz im Einklang mit seinem stillen, bescheidenen Wesen stand, und die Schlacht von Tannenberg hatte er nicht gewonnen. 237 Alle wußten – die Heerführer so gut wie die Offiziersburschen –, daß er und die Seinigen nicht zu denen gehörten, denen die Rassenforschung das Zertifikat des Ariertums zuerkennt. Man brauchte dabei nicht erst die alten Familienpapiere zu prüfen und auf frühere Generationen zurückzugehen. 238

 


 


 << zurück weiter >>