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Der pathetische Stil ist auch im rhetorischen Gebrauch meistens ungesund. Die Ehrlichkeit braucht sich nicht so geschwollen auszudrücken, und in sehr vielen Fällen – Jaurès war der ganz andere Fall – dient das Pathos der Rede nur dem glattesten Volksbetrug. Wenn die Geschichtsschreibung pathetisch wird, ist das fast immer grauenhaft. Auch da gibt es seltene Ausnahmen: Michelet, dessen Sprache auf breiten Flügeln die Idee der Aufklärung, der geistigen Befreiung, durch alle Nächte einem fernen Morgen entgegen trug. Unerträglich, wenn Merejkovsky im exaltierten Ton einer rasenden Seherin uns Napoleon neu offenbart und als den allein wahrhaftigen Richter die Volkslegende preist. Ziemlich schlimm schon, wenn Carlyle wie ein alter, Pantoffel tragender Lehrer seiner Klasse die Heldenverehrung einpauken will. Wenigstens vor solcher lyrischen Schwärmerei, solcher stilistischen Überspanntheit, fühlt sich der Historiker, der über die deutsche Revolution vom November 1918 schreibt, instinktiv bewahrt. Bei der Berührung mit diesem Ereignis verflüchtigt sich aus der Sprache des Chronisten gewissermaßen mechanisch jedes Atom einer pathetischen Substanz. Jahrmarktspropheten mögen auch da ihren Effekt aus einer erkünstelten Aufregung ziehen. Ein Geschichtsschreiber, der bei der Darstellung dieser Revolution nicht vollkommen nüchtern bliebe, wäre wie ein Redner, der am Grabe eines Kollegen aus dem Postbüro ausruft: »Denn er war unser«, oder eine andere ebenso passende Goethestelle zitiert.
Alle anderen Revolutionen hatten ihr Kostüm. Die große französische Revolution hatte das ihrige, es entsprach dem Siege des dritten Standes über die Hofpartei und die 181 Aristokraten, es war zugeschnitten auf den jugendlichen Enthusiasmus Camille Desmoulins, auf die gewaltige Kraftnatur Dantons, auf die affektierte Tugenddiktatur Robespierres. Die deutsche Revolution von 1848 hatte eine prachtvolle Trachtengalerie, einen köstlichen Phantasiereichtum in der äußeren Inszenierung der Persönlichkeit. Friedrich Hecker und der Badenser Gustav Struve waren mit ihren Blusen und beschnürten Jacken, ihren breitkrempigen Hüten, an denen kühn die Feder stak, und ihren umgeschnallten Schleppsäbeln unverkennbare Führer von etwas abenteuerlichen Freiheitsarmeen. Die alten Bilder, auf denen irgend ein Aufmarsch dieser Freiheitsgruppen dargestellt ist, zeigen die liebenswerte naive Begeisterung und zugleich das Bestreben, sich als Revolutionskämpfer zu drapieren, Eindruck zu machen und Männer zu sein, die ebenso das Gewand der Knechtschaft fortgeworfen haben wie den Untertanengeist. Erinnerungen an die malerischen Erscheinungen der Konventsheere wirkten mit, aber die damals noch vorhandene deutsche Romantik fügte ihre eigenen Züge hinzu. Im November 1918 war der Rock nur das abgeschabte, fadenscheinig und dürftig gewordene Gewand des kleinen Mannes, niemand suchte die malerische Wirkung, und woher hätte man sie in dem grauen Elend auch nehmen sollen? Diese Revolution konnte kein Kostüm haben, niemand schien auch Wert darauf zu legen, die Phantasie konnte nach den vier Kriegsjahren nichts mehr erzeugen, nicht einmal das Halstuch wurde aufrührerisch geschlungen. Und wenn die anderen Revolutionen ihre besonderen Attitüden, Formen der Haltung und des Geistes gehabt haben, die von 1789 die römische Linie und die von 1848 die Geste des Barrikadenkämpfers und Freischärlers, so wies auch derartiges die von 1918 nicht auf. Man hatte, um sich nach den Mustern der Tragödie zu bewegen, zu viel Tragisches erlebt. Fünfzehn Jahre später schneiderten andere, die mehr Zeit und Sinn für solche Erfindungen hatten, sich und ihrer Gefolgschaft die interessante Uniform. Jener November war für Schöpfungen der Mode keine Saison.
Unter dem ermüdeten Novemberrock schlug auch nur 182 selten ein leidenschaftlich revolutionäres Herz. Keine Literatur hatte die Geister auf die Republik vorbereitet, kein Freiligrath, kein Herwegh hatte mit der Wucht des poetischen Wortes an den Fürstenthronen gerüttelt, und die Prosa der radikalsten Kritiker hatte gerade bei der Staatsform am wenigsten verweilt. Es gab, nimmt man die eine Rosa Luxemburg aus, keine starke revolutionäre Figur. Der zapplige Liebknecht, den diese merkwürdige Frau nur aus opferbereiter Treue nicht verließ, war ein schmächtiger Tribun. Die sozialdemokratischen Führer waren wie ein Mime, der immer fleißig und anständig die Rolle des alten Vater Miller in »Kabale und Liebe« gespielt hat und plötzlich den jungen feurigen Ferdinand darstellen soll. Sie waren gezwungen, die revolutionäre Sache in die Hand zu nehmen, weil es eine proletarische Bewegung war und weil sie nicht zulassen konnten, daß der unausgereifte Rebell und der bolschewistische Spartakismus ihnen die Arbeiterschaft entrissen und ein Chaos erzeugten, vor dem ihre alte, an Ordnung, Vernunft und Disziplin gewöhnte Gewerkschafterseele Abscheu empfand. Einige dieser sozialdemokratischen Führer wurden ausgezeichnete Minister, entwickelten sich, obgleich der kaiserliche Staat ihnen keinerlei Gelegenheit zu Vorstudien gegeben hatte, zu staatsmännischen, vielleicht allzu staatsmännischen Persönlichkeiten und bewiesen mehr Regierungstalent als sehr viele ihrer Vorgänger unter dem alten Regime. Ebert, Otto Braun und Severing, die nicht auf hohen Schulen gewesen, nicht durch Examina gegangen, nicht in einer Beamtenkarriere aufgestiegen waren, hätten in jedem modernen Staat, demokratischer Republik oder liberaler parlamentarischer Monarchie, sich vortrefflich bewährt. Sie kamen in den ungeheuren Wirren der Niederlage, mußten das Volk aus der Sintflut auf den festen Boden führen, mußten, wie niemals Regierende vor ihnen, zwischen fortwährenden Schwierigkeiten, Widerwärtigkeiten und Gefahren hindurchfinden, hätten für ihre Leistung ganz besonders den Dank der bürgerlichen und adligen Kreise verdient und wurden unablässig beschimpft und bedroht. 183 Sie waren, ganz wie so viele bürgerliche Politiker, gegenüber skrupelloseren Parteigängern nicht immer klug und vorsichtig genug und nicht immer geschickt in der Auswahl ihrer Hilfskräfte, aber sie und die ungeheure Mehrzahl ihrer Genossen waren ehrbar, bescheiden, uneigennützig und blieben in langer Amtszeit arm. Der Reichspräsident Ebert wollte nicht, daß einer seiner Söhne auch nur den kleinsten Posten im Staate erhielt. Man weiß, daß diese Anschauungsweise nicht zur Tradition geworden ist.
Aber den Revolutionsführern wider Willen – Severing und Braun waren noch nicht im vordersten Gliede, und ihre Anwesenheit dort hätte nichts geändert – fehlte vom ersten Augenblick an das heilige Feuer, und sofort begann, in dem Kampf gegen die radikaleren Geister, das Hinübergleiten zu unzuverlässigen Bundesgenossen und das Abgleiten von allem, was dem Wesen und Sinn einer sozialen Revolution entsprach. Sie empfanden die Aufgabe, die ihnen zugefallen war, als eine peinliche Last, sie und die deutsche Sozialdemokratie hatten sich nach der umstürzlerischen Tat nicht gesehnt, August Bebel hatte die Monarchie für eine ganz erträgliche Staatsform gehalten, die Republik war ein Märchen gewesen, der Ehrgeiz war garnicht so hoch gegangen. Ich habe zu denen gehört, die das parlamentarische System forderten, nachdem durch die leichtsinnigen Entscheidungen vom Juli 1914 die ungeheure Gefährlichkeit einer völlig unkontrollierten und unkontrollierbaren Staatsleitung nur allzu überzeugend dargetan worden war. Das Schicksal des Volkes sollte nicht noch einmal von den Ideen, den plötzlichen Eingebungen eines Einzelnen abhängen, der diese Dinge mit ein paar kopfnickenden, im Gefühl ihrer hohen Bedeutung und Weisheit schwelgenden Untergebenen erledigte, ohne daß die Nation und ihre Vertretung ahnen konnten, was sich hinter den Schloßmauern begab. Aber die Sozialdemokratie mußte, in allen Ländern, umsomehr von ihrem Elan einbüßen, je mehr sie auf dem parlamentarischen Terrain gedieh. Überall erschlafften in der Gewohnheit und Bequemlichkeit des 184 parlamentarischen Tagesgeschäftes die revolutionären Energien. Die deutschen Sozialdemokraten begnügten sich, wie die Genossen in England und Frankreich, längst schon mit der »Evolution«, und auch damit eilte es nicht sehr. Nein, sie waren nicht vorbereitet, sie überschritten mit Unlust den Rubicon. Wenn man wie Byron eines Morgens beim Erwachen berühmt war, mochte das ein Hochgefühl sein, aber sich beim Erwachen als Oberbefehlshaber der Revolution wiederzufinden, nachdem man eben noch gut bürgerlich schlafen gegangen war, erschien nicht so angenehm. Besonders wenn man überzeugt war, es sei da etwas ungemein Dummes geschehen. Unmöglich konnten ja Politiker der Linksparteien, wenn sie noch einen klaren Verstand hatten und Vorteil und Nachteil abzuwägen wußten, gerade in diesen Novembertagen den Sturz der Monarchie wünschen und die Sehnsucht verspüren, allein oder doch führend selber an die Macht zu kommen. Sie waren an den Handlungen, die dem Kriege vorausgingen, nicht beteiligt gewesen, hatten keinen Einfluß auf die Kriegführung gehabt und die militärische Niederlage nicht mitverschuldet, und sie sollten nun diesen Frieden schließen, der nur unter ungeheuer schweren, vielleicht vernichtenden Bedingungen zu erlangen war? Sie sollten ihren reaktionären Gegnern diesen Gefallen tun, ihnen gestatten, sich schmunzelnd beiseite zu drücken und bequem, aus der Ferne, die Stunde der Rückkehr erwartend, sich das tragische Ringen und die unvermeidlichen Demütigungen anzuschauen? Das war ebenso gegen alle politische Vernunft wie gegen alle Logik und Gerechtigkeit. Tausendmal klüger wäre es gewesen, dem Kaiserreich, seinen Parteien, seinen Paladinen, seinen Generälen die furchtbaren Verpflichtungen der Verhandlung und des Friedensschlusses zu überlassen, nicht die eigene Unterschrift unter den Vertrag zu setzen, nicht diesen unheilvollen Schatten auf den Weg einer neugeschaffenen Republik fallen zu lassen, nicht mit dieser Seite das neue Kapitel der Geschichte zu beginnen. Daß nach diesem Frieden Wilhelm II. nicht Kaiser bleiben würde, war klar, und bis dahin hätte man sich in Ruhe mit der Organisation 185 des Staates befassen können. Aber solche Überlegungen wurden durch die Explosion in die Luft gesprengt. Revolutionen haben sich niemals so gehorsam verhalten, wie es den Taktikern gepaßt hätte, und sie sind immer denjenigen davongelaufen, denen der richtige Moment noch nicht gekommen schien. Auch die russische bolschewistische Revolution ist nicht nach dem Plan und den Entwürfen Lenins gemacht worden, und das, was heute so aussieht, als sei es von Anfang an ein fertiges und durchdachtes System gewesen, wurde dem führenden Geist allmählich und stückweise von der vorwärtstreibenden Bewegung abgewonnen. Lenin hat die Masse, aber ebenso hat die Masse den Leninismus geformt.
Es wäre Sache einer tendenzlosen, objektiven Geschichtsschreibung, die Quellen aufzuzeigen, aus deren Vereinigung der revolutionäre Sturzbach geworden ist. Aber wann wäre eine Geschichtsschreibung, die eine noch in die Gegenwart hineinragende Vergangenheit beurteilen soll, tendenzlos und objektiv? Als eine unsagbare Plattheit würde es mir erscheinen, wollte ich in ein paar hurtigen Sätzen von den großartigen Kriegstaten sprechen und den Leiden, die das deutsche Volk vier Jahre hindurch ertrug. Das Wunder, daß sie ertragen werden konnten, wird nur übertroffen durch das Wunder, daß sie so bald vergessen worden sind. In allen kriegführenden Ländern schlugen die Todesnachrichten aus dem Felde in den Familienkreis ein, und es war in allen Sprachen der gleiche Schmerz. Hier aber kam die Nachricht zu geschwächten, durch Hunger zermürbten Menschen, zu verzweifelt umherirrenden Müttern, die um ein bißchen miserable Ersatznahrung für ihre wimmernden Kinder rangen. Unpsychologischer Hochmut, Gewinnsucht und Kastengeist verdarben viel. Das Kleinste konnte die größten Wirkungen haben, Menus der Offizierskasinos konnten stärker aufreizen als ein Schlachtbefehl, der ohne Nutzen Tausende in das Massengrab warf. Vier Jahre lang hatte man immer wieder die Fahnen hinausgehängt. Zuletzt noch hatte die Heeresleitung versichert, alle Reserven des Feindes seien vernichtet, und diesmal komme 186 man nach Paris. All das war nichts gewesen als Täuschung und Selbstbetrug. Plötzlich stand vor jedem die Wahrheit, brach alles zusammen. Agitatoren waren herumgegangen, hatten in den Hinterhäusern, in den Höfen, an den Straßenecken, in Gruppen von schüchternen Zuhörern gegen die Fortsetzung des Krieges gesprochen, Flugblätter und Broschüren waren verteilt worden, und viele bekümmerte Herzen hatten die verbotenen Belehrungen bereitwillig in sich aufgenommen. Aber es war dabei fast immer nur die Rede von der Notwendigkeit des Friedens, von der schamlosen Gewinnsucht der Kriegsindustrie, von dem verbrecherischen Übermut der annexionistischen Heimathelden, von Militarismus und Kapital und von dem sozialen Paradies, in dem nach dem Beispiel Moskaus das proletarische Volk herrschen solle, und obgleich der Begriff der Republik damit natürlich verbunden war, kam in den Schriften und Gesprächen das Wort nur selten vor. Die meisten hatten auch nicht mehr genug geistige Regsamkeit und Konsequenz im Denken, um sich Zukunftsbilder auszumalen, und nur in ganz unbestimmten Farben und Umrissen huschten solche Ideen vorbei. Die Vorstellungskraft ging nur bis zu der Sekunde der Erlösung, bis zu dem Signal, das dem Gemetzel und allem Elend Halt gebieten würde, ganz wie der Gefangene in seiner Zelle immer wieder auf die angesägte und schon wankende Gitterstange blickt.
Gegen den Kaiser empfand das Volk eigentlich keinen Haß. Kein so starkes Gefühl äußerte sich, wenn man, was nur noch selten vorkam, von ihm sprach. Seine Persönlichkeit war nicht einheitlich genug, um solche Gefühle erregen zu können. Man hatte auch so viel Witze über ihn gemacht, daß der Übergang zu leidenschaftlichem Zorn sich nicht leicht ergab. Mit Erbitterung gehaßt wurden die industriellen Kriegsprofiteure, für die der Krieg möglichst lange dauern sollte, und all die Leute, die, in den Etappen und daheim bequem eingerichtet, immer noch behaupteten, ohne einen großen Gewinn für Deutschland und für sie selber sei kein Friedensschluß erlaubt. Gehaßt wurden die Besitzer der reich versorgten Speisekammern, in denen phantastische 187 Reihen von Schinken hängen sollten, und die Ärzte, die herzkranken Familienvätern bescheinigten, daß sie »kriegsverwendungsfähig« seien. Wilhelm II., der in den Manövern den Feldherrn spielte und Reiterattacken kommandierte, hatte sich während der ganzen Kriegszeit nicht vorgedrängt und wurde für die Irrtümer und Fehlrechnungen der Strategen nicht verantwortlich gemacht. Einen Stoß gab der Dynastie die überall herumgetragene Spottfrage: welche Familie kehrt aus dem Kriege mit sechs lebendigen Söhnen heim? In den Tagen des Friedens hatte Wilhelm II. immer nur festliche, hochrufende, spalierbildende Mengen gesehen. Beim Ausbruch des Krieges hatte er zum Volke gesprochen, vom Balkon herab. In schwarzen Krisentagen hatte er gemeint, nur nichtswürdige Verführer hätten die Leute gegen ihn aufgehetzt, und er sei geliebt und populär. Jetzt hätte er bei dem Volk weilen und nicht in ehernen Tiraden aus der Höhe, sondern als Schicksalsgenosse mit ihm sprechen müssen, aber die einfache Sprache dieser Männer und Frauen war ihm fremd. Sein Gottesgnadentum war nur mit einigen modernen Allüren aufgeputzt, unterhalb der Triarierklasse hatte es für ihn nur »Untertanen« gegeben, und wenn man ihm zugemutet hätte, an eine Volksmenge heranzutreten oder gar ihre Hände zu drücken, so hätte eine ganz ehrliche Furcht vor Bazillen genügt, ihn von solchen Extravaganzen abzubringen. In dem Augenblick, wo er diesen Menschen hätte nahe sein müssen, floh er sie.
Am 31. Oktober erfuhr man, am Morgen sei Wilhelm II, heimlich, ohne die Regierung des Prinzen Max zu benachrichtigen, zum Großen Hauptquartier abgereist. Er war mißtrauisch, Berlin hatte jetzt etwas Unheimliches, die Menschen schlichen wie drohende Gespenster herum, in seiner eigenen Umgebung gab es nur nervös besorgte Gesichter, eine Atmosphäre und eine Schweigsamkeit, wie in einem Krankenhaus. Er fürchtete, daß dieser Prinz Max und seine Komplizen den Skandal auf die Spitze treiben, ihm schließlich zumuten würden, abzudanken, und hier konnte man sich auf niemanden mehr stützen, hier war man von Verrat umringt. Sicherheit war nur bei der Armee, die für 188 ihren Kaiser kämpfen und sterben würde, und so schnell als möglich, ohne noch eine Stunde zu verlieren, mußte man dorthin. Die Regierungskreise und die Politiker waren, als die Flucht – denn anders wurde diese Abreise nicht genannt – bekannt wurde, ungeheuer aufgeregt. Das Kabinett trat zu sofortiger Beratung zusammen, der Kaiser sollte zur Rückkehr bewogen werden, das Große Hauptquartier wurde telephonisch angerufen, aber nichts half. Wilhelm II. ließ sich nicht zurücklocken, gab keine Antwort, rührte sich nicht, blieb hinter den breiten militärischen Rücken verschanzt. Die Berliner sagten, er habe sich in den Schutz der reaktionären Generäle begeben und wolle die Truppen gegen das Volk marschieren lassen, und so konnte allmählich wirklich etwas wie eine revolutionäre Gereiztheit entstehen. Als Wilhelm II. so leise seine Gemächer verließ, schloß sich hinter ihm die Tür, und er hatte sich selber ausgesperrt.
Am nächsten Morgen sprach alle Welt von kommenden Unruhen, in den Familien bereitete man sich, so gut wie das noch ging, auf Streiktage vor. Nachmittags telephonierte mich der Staatssekretär Wahnschaffe, der Chef der Reichskanzlei, an, bat mich, ihn zu besuchen, und schickte mir sein Amtsauto – eine notwendige Erleichterung in einer Zeit, in der es nur wenige Fahrgelegenheiten gab. Herr Wahnschaffe war ein schöner Mann, groß gewachsen und schlank, mit jener Gradlinigkeit, die aus einem ehemaligen preußischen Offizier kein Tanzlehrer herausbringen kann. Er hatte einnehmende, regelmäßige Gesichtszüge, einen kurzen, sorgfältig geschnittenen blonden Kinnbart, und wer aus der etwas zu steifen Gestalt auf einen Mangel an geistiger Schmiegsamkeit geschlossen hätte, wäre fehlgegangen. Herr Wahnschaffe besaß sehr viel natürliche, ritterliche Liebenswürdigkeit und ein immer taktvoll angewendetes und die richtige Grenze einhaltendes Vermittlertalent. Da man wußte, daß er nur das Beste wollte und sich nicht bürokratisch den Realitäten verschloß, war er eigentlich bei allen Parteien beliebt. Er war keine Erfindung der neuen Richtung, sondern hatte sich schon unter 189 allen Kanzlern der Kriegszeit bewährt. Jetzt war er Verbindungsmann zwischen der Regierung des Prinzen Max und dem Großen Hauptquartier.
Er empfing mich gleich mit der Bemerkung, daß er mit mir über die Kaiserfrage sprechen wolle, und das hatte ich mir ja natürlich gedacht. In München, sagte er, sei die Aufregung sehr groß, der Ministerpräsident von Lerchenfeld sei äußerst nervös, heute abend fänden wieder überall Versammlungen statt. Das Gerede, daß der Kaiser einen militärischen Putsch unternehmen wolle, sei besonders auch in München verbreitet, aber daran sei doch kein wahres Wort. Der Kaiser sei nur militärischer Fragen wegen zum Hauptquartier gereist und beabsichtige, bald zurück zu kommen. Ich warf ein, daß man an diese Versicherungen wohl nicht unbedingt zu glauben brauche, und er ließ, in Gebärden und in ausweichenden Worten, den gleichen Zweifel erkennen. Aber ob ich nicht meine Mitarbeiter in München telephonisch beauftragen wolle, dem Sozialdemokraten Auer, der die Versammlungen leiten werde, zu erklären, in Berlin halte man alle Putschgerüchte für Erzeugnisse einer irrenden Phantasie? Wenn man den Gerüchten in München nicht entgegentrete, würden wahrscheinlich bereits an diesem Abend die Pflastersteine fliegen, und vielleicht würde irgendetwas Unreparierbares geschehen. Ich erfüllte seinen Wunsch, telephonierte gleich aus seinem Zimmer mit München und war dabei überzeugt, daß er diese bajuvarische Geschichte nur benutzt habe, um das Gespräch daran anzuhaken, denn die Regierung hatte in München genug Vertrauensmänner, die, mit größerer Autorität, die amtlichen Beruhigungsworte hätten verbreiten können. Er ging denn auch gleich hinterher zu einer allgemeinen Erörterung des Problems über, gab zu, daß die Abdankung unvermeidlich sein werde, wünschte aber, daß man schonend verfahre und dem Kaiser Zeit lasse, sich an die Idee zu gewöhnen, und war auch wegen der Reichseinheit besorgt. Ich erwiderte, gerade nach dem, was er soeben von Bayern erzählt habe, wäre doch für die Reichseinheit eine Verweigerung der Abdankung die weit größere 190 Gefahr. Dann meinte er noch, eigentlich sei man dem Kaiser gegenüber doch ungerecht, Wilhelm II. habe ja gewiß viel Schuld und habe schwere Fehler gemacht, aber den Krieg habe er nicht gewollt, und er, Wahnschaffe, habe ihn sehr traurig darüber sprechen gehört. Worauf ich nur entgegnen konnte, daß das alles ganz richtig und nur leider die Situation nicht mit Sentimentalitäten zu meistern sei. Jetzt könne man nur noch versuchen, den Akt des formellen Verzichtes bis zum Friedensschluß hinauszuzögern, und die ungeschickte Abreise habe auch das sehr erschwert. Herr Wahnschaffe hatte ein melancholisches Kopfnicken, und obgleich er sich auf diese Geste beschränkte, war seine Beurteilung der Dinge offenbar von der meinigen nicht allzu weit entfernt. Schon am folgenden Tage rief er mich wieder an. Ich konnte in jeder Stunde beobachten, wie sich die Möglichkeiten für eine Hinausschiebung der Kaiserkrise verminderten, denn von allen Seiten her wurde man gedrängt, den Rücktritt zu fordern, und Leute wie Harden, die an Wilson glaubten, erklärten ihrem Publikum mit blendender Bestimmtheit, nach dieser Opferung des kaiserlichen Isaak werde man den günstigeren Frieden erlangen. Österreich und Ungarn hatten die Waffenstillstandsbedingungen, die ihnen diktiert wurden, angenommen. In Berlin hatten diese Bedingungen einen verblüffenden und beinahe schon grotesken Eindruck gemacht, und nun war Deutschland auf dieser Seite jedem Angriff ausgeliefert und an all seinen Grenzen bedroht. Herr Wahnschaffe wollte mich besuchen, aber ich zog es vor, zu ihm zu gehen. Er hatte das Bedürfnis, sich abermals über die Kaiserfrage zu unterhalten, und aus all seinen diplomatisch andeutenden Worten ging hervor, daß Wilhelm nicht daran dachte, abzudanken, und, hinter den militärischen Postenketten sich gesichert wähnend, jeden, der ihm ein bißchen Wahrheit beibringen wollte, für einen Lügner und Verräter hielt. Ich sagte, dann hätten ja Ratschläge keinen Zweck. Ob ich bestimmte Ratschläge meine, fragte Wahnschaffe, und welche das seien. Wenn ich ein Freund des Kaisers wäre, erwiderte ich, so würde ich ihm raten, nach dem Empfang der 191 Waffenstillstandsbedingungen im Einverständnis mit dem Reichskanzler ein Telegramm an Wilson zu schicken und darin zu erklären: »Ist, wie es aus Ihren Noten hervorzugehen scheint, meine Person das Hindernis, das einem für Deutschland annehmbaren Frieden im Wege steht? Ich bin bereit, mich für das deutsche Volk und den Frieden der Welt zu opfern und auf den Thron zu verzichten, falls ich damit mildere, erträgliche Bedingungen erkaufen kann.« Entweder werde dieser Vorschlag angenommen werden, und dann träte der Kaiser ohne Demütigung und in guter Haltung zurück. Oder das Angebot werde abgelehnt, was ja wahrscheinlicher sei, und dann würde vorläufig, natürlich nur vorläufig, die Volksstimmung nicht ganz so ungeduldig sein, und man würde vielleicht doch noch das Regime bis zum Friedensschluß halten können. Wahnschaffe fand diese übrigens ziemlich naheliegende Idee »sehr beachtenswert« und »sehr interessant«. Aber ersichtlich war er überzeugt, auch diese Medizin würde dem so schwer zu behandelnden Patienten nicht gefallen. Gleich nach dieser Unterhaltung kamen die ersten Nachrichten vom Matrosenaufstand in Kiel, am nächsten Tage wurde der volle Sieg der Revolutionäre gemeldet, am 6. November war es ebenso oder ganz ähnlich in Hamburg, Lübeck, Geestemünde, Schwerin und an vielen anderen Stellen im Lande, überall regierten bereits Soldatenräte, die Flut war schon dicht vor Berlin. Jede Diskussion über die Wahl des »besseren Zeitpunktes« war nur noch nichtig, inhaltslos und lächerlich.
Die Revolution vom 9. November habe ich nicht an ihren Ausgangspunkten und in ihren Zentren, sondern nur am Rande der Ereignisse gesehen. Aber hat nicht Stendhal die Schlacht von Waterloo beschrieben, indem er nur Fetzen von Pulverdampf, das Phänomen einer vorbeifliegenden Reiterschar, Sekunden von Episoden, die entfernten Ausläufer der eigentlichen Handlung gab, und wird nicht diese Schilderung mit Recht unerreichbar gefunden und von allen künstlerisch Wissenden weit über die »vollständigen« Schlachtengemälde gestellt? Und Stendhal war garnicht bei Waterloo gewesen, so wenig wie bei vielen kriegerischen 192 und friedlichen Ereignissen, bei denen er mitgetan haben will, – nur am Mincio hatte er gekämpft, den russischen Feldzug und die Schlacht bei Bauzen in bequemer Kalesche miterlebt – aber er hatte, wie Taine von ihm sagte, »admirables divinations« und hinter seinen »petits faits«, seinen aus dem Zusammenhang gerissenen Details spürte man das Hinundherwogen des Kampfes, die Schicksalswende und den napoleonischen Zusammenbruch. Geht nicht manchmal in den Kirchen Italiens von einem alten, halb zerstörten Mauerbild gerade deshalb eine lebendige Berührung, eine Poesie, etwas Fesselndes und Überraschendes aus, weil man nur noch Bruchstücke, den Kopf eines Apostels, die halbierte knieende Gestalt eines Stifters, die Reste einer Madonna erkennt? Die Einzelheiten, die scheinbar nebensächlichen sogar, können mehr vom wahren Eindruck nachempfinden lassen als die gründliche Darstellung des Ganzen, das doch niemals das Ganze ist. Das alles sage ich, um die Dürftigkeit der Tagebuchnotizen zu entschuldigen, die ich damals einzeichnete und hier wiedergeben will:
8. November. Die Spannung ist fieberhaft. Wird der Kaiser abdanken oder wird er Widerstand leisten wollen? Da die Sozialdemokraten gestern nachmittag beschlossen haben, aus der Regierung auszutreten, wenn die Abdankung nicht komme, wird bei einer Weigerung oder auch schon bei zu langem Zögern das jetzige Kabinett verschwinden und wahrscheinlich, wenn auch nur für den ersten Augenblick, die Einigung der Arbeiterschaft sich vollziehen. Die Führer werden dann einfach mitgeschleift. In jeder Minute telephoniert irgend ein Bekannter oder Unbekannter bei mir an, der wissen will, Wilhelm habe bereits abgedankt, oder er weigere sich, oder er sei mit einer Armee gegen Berlin unterwegs. Aus dem ganzen Lande Meldungen über die Fortschritte der Revolution, nirgends rühren die Kreise, die sich so kaisertreu gebärdeten und so stolz mit ihren Orden waren, auch nur einen Finger für die Verteidigung der Monarchie, und die Soldaten laufen überall aus den Kasernen heraus. In Berlin sind die Bahnhöfe militärisch besetzt, vor den 193 Palais, dem Kriegsministerium und anderen Gebäuden stehen noch Doppelposten, äußerlich ist das alles wie sonst. In den Köpfen unter den Helmen wird wohl der Gedanke rumoren, dies sei die letzte Wache, und morgen oder heute abend schon werde das freie Leben beginnen. Im Bürgerpublikum sind viele ängstlich, nervös, verstecken ihre Geldscheine, versorgen sich, um für alle Fälle eine Beleuchtung zu haben, mit den kleinen Karbidlampen, die so entsetzlich stinken, und einige Villenbesitzer, die ich kenne, ziehen aus dem Grunewald oder von den Havelufern, wo sie sich zu einsam und ungeschützt fühlen, in die Stadt. Sie alle haben Angst vor dem Spartakismus, und ihre einzige Hoffnung ist jetzt die Sozialdemokratie, die ja vernünftig ist und nicht gleich alles kaputtschlagen wird. Um ein Uhr ist noch keine Antwort des Kaisers da. Der sozialdemokratische Parteivorstand, der so dringend eine Regelung in Güte wünscht, will sich noch gedulden und verlängert die Ultimatumsfrist. Gegen Mitternacht telephoniert mir aus dem Auswärtigen Amt Ferdinand von Stumm, der Kaiser werde gewiß nachgeben, aber das alte Regime könne sich leider nicht so schnell umstellen, kostbare Zeit gehe verloren, nun würden wir morgen auch in Berlin die Revolution haben, und ob man dann dem Bolschewismus werde entgehen können, sei doch sehr zweifelhaft. Gleich darauf Konrad Haussmann am Telephon: an der Regierung liege es nicht, sie habe dem Kaiser die Lage so bestimmt wie nur möglich geschildert und ihre Ansicht gesagt. Dann wird in der Nacht noch bekannt gegeben, daß der Generaloberst Linsingen, der Oberkommandierende in den Marken, der militärische Befehlshaber von Berlin, zurückgetreten sei. Also diese eben noch so großartigen Diener der Monarchie denken auch in Berlin an keinen Widerstand mehr und räumen das Feld, ohne den Degen zu ziehen.
9. November. Morgens erzählt mir mein Barbier, der Ausgang der Hohenzollernstraße, in der wir wohnen, zur Königin-Augustastraße hin, die Kanalbrücke davor, alle anderen Kanalbrücken und die ganze Gegend seien mit Truppen und Maschinengewehren besetzt. Das 194 Reichsmarineamt in der Königin-Augustastraße, dem Kanalufer, dicht in unserer Nachbarschaft, soll verteidigt werden, und wir sind also mitten im Kampfgebiet. Ein wenig unangenehm wegen der Kinder, die aus der Schule kommen. Natürlich beschäftigen sie sich auch gleich sehr intensiv mit den Handgranaten, deren Zweck und Gebrauch ihnen ein freundlicher Soldat erklärt. Ich gehe zur Redaktion, finde unterwegs alles so ziemlich normal. Nur an manchen Straßenecken Militärposten und in der Linkstraße, nahe dem Potsdamer Platz, eine Kompagnie, feldmarschmäßig ausgerüstet, mit einem älteren Offizier, der schweigsam auf und ab geht und dann und wann musternd seine Truppe überblickt. An allen »strategischen Punkten«, besonders auch in der Umgebung des Schlosses, werden der Bevölkerung noch solche Verteidigungsmaßregeln vorgeführt. Es scheint also, daß nach der eiligen Abreise des Herrn von Linsingen doch noch irgendwo eine Kommandogewalt existiert.
Um ein viertel vor ein Uhr gleitet aus dem Ferndruckapparat der Redaktion die Meldung heraus, der Kaiser habe abgedankt. Während ich meinen schon vorbereiteten Artikel schreibe, werden mir, von Sekunde zu Sekunde und einander jagend, die Nachrichten über die neuesten Ereignisse ins Zimmer gebracht. Auf dem Gebäude des »Vorwärts« hat man die rote Fahne gehißt. Das Kaiser-Alexander-Regiment ist zur Revolution übergegangen, aus den Kasernentoren sind die Soldaten herausgeeilt, haben sich mit der jubelnden Menge, die dort wartete, verbrüdert, Männer haben ihnen gerührt die Hand geschüttelt, Frauen und Mädchen haben ihnen Blumen angesteckt und sie umarmt. Nacheinander kommt von allen anderen Regimentern her der gleiche Bericht. Die Schildwachen, Postenketten und Maschinengewehre, die noch vor ein paar Stunden das Scheinbild eines Verteidigungsplanes boten, sind plötzlich verschwunden und mit ihnen die breitschulterigen Schutzleute, Säulen und Symbole der kaiserlichen Ordnung, strenge Vormünder des Untertan. Der fahrige, aufgeregte Liebknecht hat vom Balkon des Schlosses eine Ansprache 195 an seine Anhänger gehalten, und die Wahl dieser Rednertribüne sollte wohl dem Volk zu verstehen geben, daß nun er der neue Herr und kein anderer neben ihm sei. Meine Mitarbeiter kommen und erzählen, daß man – überflüssig und häßlich – den Offizieren die Kokarden und Tressen abreißt, daß die Straßenbahn den Verkehr eingestellt hat, daß die Revolutionäre das amtliche Wolffsche Telegraphenbüro besetzt haben, und daß jetzt auch auf dem Brandenburger Tor die rote Fahne weht.
Ulrich Rauscher, animiert und erlebensfroh wie immer, und der Doktor Kurt Hiller warten – in der trügerischen Hoffnung, von mir etwas Besonderes zu erfahren, oder in dem Bedürfnis, sich auszusprechen – schon seit langem in der Redaktion auf mich. Hiller, eine hartkantige Natur, ein Schriftsteller mit immer geschliffener Waffe, in der pazifistischen Diskussion ein überspitzender Doktrinär, hat sich oft mit mir herumgestritten, und ich wundere mich ein bißchen, ihn an diesem Tage zu sehen. Um vier Uhr gehen wir drei durch die Leipzigerstraße nach dem Westen zu. Auf dem Fahrdamm wallen ununterbrochen endlose Demonstrationszüge von Soldaten und Arbeitern, oder eigentlich nur ein einziger, immer fortdauernder Zug, nach Osten hin an uns vorbei. Die Häuserfassaden sind wie tot, da vor allen Schaufenstern und Ladentüren die Rolljalousien heruntergelassen sind und in den vom Personal geräumten Geschäftsgebäuden auch an den oberen Fenstern kein lebendes Wesen sichtbar wird. Eigentlich ist das ja hier an jedem Sonntag so, und es ist nur aus der Stimmung zu erklären, daß es heute einen ganz anderen, befremdlichen Eindruck macht. Auf dem Bürgersteig eilen die Ladenbesitzer und die Angestellten, die ganze männliche und weibliche Bevölkerung dieses Kaufmannsviertels, nach Hause, die meisten suchen hastig vorwärts zu kommen, andere sind neugierig und bleiben dann und wann zuschauend am Straßenrand stehen. Es sind auch Personen in guter Bürgerkleidung aus anderen Stadtvierteln, aber nicht gerade viele, zu bemerken, einige sogar mit Damen, unternehmungslustig herumwandernd wie kühne 196 Cookreisende, die bei den Pyramiden das Gruseln des Abenteuers erleben wollen. In dem Zuge gehen Arbeiter und Soldaten nebeneinander, wie man sich zufällig zusammengefunden hat. Die Arbeiter, in der Mehrzahl ältere mit ernsten bärtigen Gesichtern, sind nicht so wie die Krieger für Strapazen gedrillt, aber sie haben den gewerkschaftlichen Korpsgeist, sie marschieren pflichtbewußt in Reih und Glied, und manche haben ein Gewehr, das ihnen an einem Sammelplatz hingereicht worden war, über die Schulter gehängt. Den Soldaten baumelt das Gewehr auf dem Rücken, sie haben die Mützen auf dem Kopf schief geschoben, gebärden sich keck und fröhlich, rauchen gewaltig und winken den Mädchen zu. Alle Teilnehmer des Zuges haben in einem Knopfloch oder auf der Brust eine rote Schleife, die daneben schreitenden Ordner, mit dem Gewehr am Schulterriemen, zeichnen sich durch rote Armbinden aus. Mitten in der langsam vorbeiziehenden Masse werden große rote Fahnen getragen, das Tuch weht breit über den Köpfen, und es ist erstaunlich, daß in einer Zeit, in der alle Stoffe knapp sind und requiriert wurden, von dieser roten Ware so viel übrig blieb. Auf dem Damm neben dem Zug jagen in schnellem Tempo die Autos der Revolution vorüber, sicherlich mit wichtigen Aufträgen, denn warum sonst diese Hast? Rot beflaggte Lastautos, aus den Militärdepots herausgezogen, mit Soldaten und rotbebänderten Zivilisten, die dort oben neben Maschinengewehren hocken, sitzen, knien und stehen, alle in irgend einer Kampfstellung und schußbereit, obgleich ringsumher kein Feind sich blicken läßt. Auch elegante kleinere Autos, in denen fünf oder sechs Soldaten ebenfalls schußbereit die Stadt durchqueren, auf Patrouillenfahrt. Und ich sage mir, daß dies die modernen Kriege und Revolutionen von den früheren unterscheidet: bei jedem Kriegsausbruch und in jeder Revolution werden sofort und zu allererst den Autobesitzern ihre Wagen fortgenommen, und jeder Kampf um Macht oder Freiheit beginnt mit dem stolzen Glück der neuen Rennfahrer, mit ihrer Freude am Schnelligkeitsrekord.
In dem Zuge, der kein Ende nimmt, versuchen hier und 197 da einige, ein Lied anzustimmen. Aber der Gesang pflanzt sich nicht sehr weit fort und verstummt dann wieder bald. Von Zeit zu Zeit kommt aus den Reihen ein Hochruf, ein Hoch auf die Revolution oder auf die Freiheit und das Volk. Manchmal wird dann auch in den Gruppen der Zuschauer am Straßenrande Hoch gerufen, aber es ist zu bedenken, daß in dieser nüchternen Geschäftsstraße der Sinn für laute Kundgebungen sich noch nicht entwickelt hat. Unter den Marschierenden sehe ich ein paar Soldaten, die ihre Uniformjacken ausgezogen haben und lose, wie Pelerinen, auf dem Rücken tragen, und zwar so, daß das Innere nach außen gewendet ist. Um die Wirkung noch zu erhöhen, haben sie sogar die Ärmel umgekrempelt, die nun, mit der ans Licht gebrachten Futterseite, wie leere Wursthäute schlotterig herunterhängen. Es ist das einzige Pittoreske in diesem Zuge, eine pittoreske Liederlichkeit zum Zeichen, daß es nun aufgehört hat mit Krieg und Kriegsdisziplin. Man kann die Uniform jetzt tragen, wie man will, und es sind gar keine Uniformen mehr, sondern nur noch mitgeschleppte Überbleibsel aus einer langen Zeit voll Wahnsinn und Grauen. Man ist endlich wieder ein Mensch, ein Mensch, der nicht mehr blind gehorchen muß, nicht mehr gezwungen werden kann, zu töten, aus verfaulten Gräben in den Granatenhagel hinauszustürzen und gegen Stacheldrähte anzurennen. Als müßte man sich selber – denn auf dem Hirn liegt noch der dumpfe Druck, und es ist alles noch halb wie ein Traum – durch etwas Sichtbares fortwährend daran erinnern, daß man nun ein freier Mensch ist, hat man das Innere der Ärmel nach außen gekehrt.
Aber es gibt in der unablässig vorbeiflutenden Masse natürlich auch andere Figuren, die mit strammem Schritt vorwärtsgehen und denen solche Schlampigkeit gewiß nicht behagt. Und die meisten Führer und Ordner, und alle, die auf den Lastautos bei den Maschinengewehren sind oder in den entführten Privatautos den Gewehrkolben auf die Knie stützen, zeigen dem Bürger die Mienen und die Haltung eiserner revolutionärer Entschlossenheit. Sie sind von Luft und Sonne gebräunt, und wahrscheinlich haben sie noch vor 198 kurzem in Frankreich oder in Rußland oder auf dem Balkan gekämpft. Manche sind mit ihren harten Gesichtern, ihren gestählten Muskeln, ihrem etwas finsteren Selbstbewußtsein und ihrem scharfen Befehlsblick wie Gestalten aus dem Heere Cromwells und haben eine gewisse sehnige Eleganz. Ganz gleich, ob sie früher Schlosser oder Chauffeur oder Akrobat gewesen sind. Es ist nur eine andere Eleganz als die der Gardeoffiziere mit der schmalsten Taille, und nicht die einer gepflegten Gartenblume, die sich aristokratisch auf langem Stengel wiegt.
Vor dem Kriegsministerium in der Leipziger Straße stehen jetzt statt der königlich preußischen Schildwachen, die noch am Morgen dort die Tore hüteten, revolutionäre Posten, und ganz ebenso manierlich und vom Bewußtsein ihrer Pflicht erfüllt. Und vor dem Reichsmarineamt am Kanal, das die Admirale noch gestern hatten verteidigen wollen, versehen Soldaten und Matrosen mit roten Armbinden den Wachdienst, und zwei große Autos mit Besatzung, Maschinengewehren und roten Fahnen warten auf den Abfahrtsbefehl. In den Straßen treiben sich auch viele Halbwüchsige, bewaffnete Einzelgänger von fragwürdiger Natur und wenig vertrauenerweckendem Aussehen und das unverkennbare Gesindel der Spelunken herum. Es zeigt sich deutlich, daß die wirklichen Revolutionäre, Arbeiter und Soldaten, jede Berührung mit diesen Elementen zu vermeiden suchen, und daß das für sie eine Ehrensache ist. Der so ganz veränderte Eindruck, den Berlin macht, und die überall entlangwallenden endlosen Demonstrationszüge wirken trotzdem auf viele ohnehin schon erschütterte sensitive Personen unheimlich und nervenerregend, und der alte Arzt, ein bekanntes Berliner Original, den ich bei mir zuhause vorfinde, jammert verzweifelt, brüllt wütend meine Jungen an, die sich, um einen vorbeimarschierenden Zug zu sehen, aus dem Fenster hinauslehnen, und prophezeit alle apokalyptischen Scheußlichkeiten und den Weltuntergang. Aber wenn jeder sich seinen kleinen privaten Nervenchok leisten will, wird es nicht möglich und nicht einmal lohnend sein, aus dem Chaos etwas Neues zu formen und eine Ordnung hineinzubringen.
199 Um sieben Uhr abends begebe ich mich wieder auf den Weg zur Redaktion. Die Straßenbahn fährt nicht, anderer Wagenverkehr war schon in den letzten Kriegsjahren immer dünner geworden und hat nun ganz aufgehört, und über die leeren schwarzen Dämme, auf die an einzelnen Stellen der schwache Lichtschein aus den wenigen noch benutzten, schon längst nur noch mit halber Leuchtkraft funktionierenden elektrischen Lampen fällt, rollen die immer gleichen Autos mit den schußbereiten Bewaffneten, jetzt in der fast vollständigen Dunkelheit noch phänomenhafter als am Nachmittag, in der frühen Novemberdämmerung. Spärlich und wie Lot nicht zurückblickend eilen die Fußgänger heim. Aber rund um den Potsdamer Platz steht dicht gedrängt eine schaubegierige Menge, die einigen gewehrtragenden Ordnern, bescheidenen Zivilisten, ganz ebenso willig gehorcht, wie sie sich früher respektvoll von dem Schutzmann dirigieren ließ. Als ich in der Leipziger Straße an der Kreuzung der Charlottenstraße angelangt bin, geht ein mächtiges Schießgeknatter los. Es ist so laut und scharf, daß man meint, die Kugeln schlügen in die nächsten Häuserwände ein. Von einem jungen Menschen, der es nicht eilig hat, erfahre ich, daß mit Maschinengewehren um den Marstall gekämpft wird, aus dessen Fenstern königstreue Offiziere und Kadetten auf die Revolutionäre geschossen haben sollen. Das klingt sehr wenig glaubhaft, denn die Offiziere und Kadetten werden sich schwerlich mitten in der Stadt in einer so unhaltbaren Festung eingenistet haben, um von dort aus ein ebenso heldenhaftes wie verrücktes Bombardement zu beginnen. Wahrscheinlich hat die aufgeregte Phantasie aus einem vergessenen Stalljungen und dem Portier eine todesmutige Offiziersbesatzung gemacht. Auch an anderen Punkten schmückt sie die ruhige und kampflose Revolution mit einiger Romantik aus.
Um ein Uhr nachts ist die Morgennummer fertig, ich kann den Setzersaal verlassen, wo alle ganz so sorgfältig wie in weniger revolutionären Nächten gearbeitet haben, und kann, nach einem kurzem Aufenthalt in den 200 Maschinenräumen, beruhigt nach Hause gehen. Mit einem Freunde abermals durch die Leipziger Straße, die nun verödet ist, und in der nur dann und wann ein paar Matrosen und Soldaten mit zärtlich umschlungenen Mädchen uns entgegen kommen. Niemand bestraft sie jetzt, wenn die Liebe sie erst am Morgen losläßt, und zum ersten Mal haben sie keinen »Urlaub« gebraucht. Als wir zum Leipziger Platz kommen, ist die Straße durch eine Postenkette gesperrt. Ungefähr fünfzig oder sechzig neugierige Nachtbummler beiderlei Geschlechts warten auf irgend etwas, was interessanter sein könnte als ihre Betterlebnisse, und stieren über die Absperrungslinie hinweg in die jenseitige Dunkelheit. Die Soldaten der Postenkette sagen uns: »Auf dem Potsdamer Platz wird geschossen. Sie können hier nicht durch.« Wir antworten, wir müßten nach Hause, und einen anderen Weg gebe es nicht. Einer sagt: »Wenn Sie's riskieren wollen – versuchen Sie's dort rechts am Palasthotel vorbei und laufen Sie am Potsdamer Platz über den Damm, aber machen Sie schnell!« Wir wenden uns nach rechts hinüber, gehen im Eilschritt um das Halbrund der Rasenanlagen, zwischen dem Gitter und den Häusermauern, und als der angrenzende Potsdamer Platz erreicht ist, sehen wir, daß seine ganze Fläche links bis zum Bahnhof hin mit Truppen besetzt ist, die in Gefechtsstellung auf das Kommando zum Losknallen harren. Es sind für unser Auge eigentlich nur Schattenbilder, in ihren Umrissen aus der Nacht auftauchend, denn der Platz, auf dem man das Laternenlicht abgedreht hat, liegt in völliger Finsternis, aber gerade deshalb wirkt alles ungeheuer phantastisch und geisterhaft. Wir jagen hinüber, auf die Bellevuestraße los, ein zum Kommandanten avancierter Unteroffizier galoppiert, Befehle schreiend, auf einem ungebärdigen Pferde über den Asphalt, der Aufschlag der Hufe tönt hart und metallen, vom Bahnhof her kommt im Laufschritt, aber in tadelloser Ordnung, ein Bataillon Matrosen, das offenbar aus einem Bahnzug gestiegen ist, und gerade in diesem Augenblick geht, wir ahnen nicht, wo und mit welchen Zielen, ein wildes Schießen los. Drüben stürzt aus der Bellevuestraße eine 201 andere Abteilung mit vorgestreckten Gewehren heraus, beinahe prallen wir mit ihr zusammen, aber wir gewinnen noch rechtzeitig den linken Bürgersteig und die Einbuchtung des Hotel Esplanade und fühlen uns dort unter einem Portalbogen angenehm gedeckt. Hotelbediente pressen drinnen in der Halle die Nasen gegen die Türscheibe, das Haus ist gut verriegelt und verbarrikadiert. Die stürmende Abteilung – was zum Teufel will sie erstürmen? – ist schon auf dem Potsdamer Platz, die Straße vor uns ist leer. Als wir ein wenig verschnauft haben, bemerke ich in der Dunkelheit, daß wir nicht allein sind, daß der schmale Portalbogen noch anderen Zuschauern als Zuflucht und Theaterloge dient. Drei weibliche Wesen teilen mit uns dieses Versteck. Drei Straßenhändlerinnen der zahlbaren Lust. Die eine schäbig aufgedonnert mit einem großrandigen, über die Kriegswirren hinübergeretteten Federhut, die beiden anderen unauffällig, ohne verführerische Toilettenpracht. Sie stehen starr, stumm und unbeweglich da, bleiche Larven aus einer nichtklassischen Unterwelt, und unsere Gegenwart reizt sie zu keinem auffordernden Blick oder Wink. Wie hingerissen stieren sie durch die Nacht zu dem Platz hinaus. Wird man töten, werden die Gladiatoren in der Arena sich zerfleischen, worauf warten die Männer noch? Das fortwährende Getöse der durcheinander streichenden Gewehrsalven ist aufregend, peitscht die Sinne, aber man sieht niemanden fallen. Nach einigen Minuten wagen wir uns weiter, gelangen zu dem dunklen Tiergarten und setzen die Heimwanderung ohne neue Zwischenfälle fort. Die drei Nachbarinnen am Hotelportal haben nicht im mindesten beachtet, daß wir von ihnen gingen.
10. November. Die ganze Nacht hindurch ist auf dem Potsdamer Platz geschossen worden, und ich kenne noch immer nicht die Ursachen und die strategische Bedeutung dieser Schlacht. Wahrscheinlich ist es gar keine Schlacht gewesen, da es keinen Feind gegeben hat. Für die Revolutionäre sind die totale Ohnmacht der Monarchisten und, um es milde zu sagen, der völlige Mangel an Widerstandsgeist, die kampflose Preisgabe des alten Regimes durch all seine 202 Anhänger und privilegierten Beschützer so überraschend, daß sie noch garnicht so recht daran glauben können. Sie denken immer noch, wie gestern beim Marstall, ein zum Äußersten entschlossener Gegner halte sich verborgen, und in irgend einem Hinterhalt bereite sich ein Angriff vor. So haben sie anscheinend in der vergangenen Nacht an einen Anmarsch königstreuer Regimenter von Potsdam her geglaubt. Die tolle Schießerei, die ohne Pause bis zum Morgen weithin vernehmbar war, wird dadurch freilich noch nicht erklärt.
Bald nachdem ich in der Nacht in meine Wohnung zurückgekehrt war, läutete es in dem Telephonapparat, der zu meiner direkten Verbindung mit der Redaktion und dem technischen Betriebe dient. Aus dem Hörer drang eine Stimme zu mir: »Hier ist Adolf Hoffmann, ich bin in Ihrer Setzerei und wollte Ihnen mitteilen, daß ich mit meinen Genossen Ihre »Berliner Volkszeitung« übernommen habe, die morgen früh als unser Organ, als Organ der Unabhängigen und des Arbeiter- und Soldatenrates erscheint.« Ich kannte den Abgeordneten Adolf Hoffmann nicht persönlich, aber er war berühmt wegen seines saftigen Witzes und seiner ungeniert verübten Verstöße gegen die Grammatik und sehr populär. Die »Volkszeitung«, die er und die Unabhängigen – der linke radikale Flügel der Sozialdemokratie – »übernommen« hatten, gehört zum gleichen Verlag und wird in dem gleichen Gebäude wie das »Berliner Tageblatt« hergestellt. Ich erwiderte Adolf Hoffmann, die »Übernahme« sei ein Witz, der schlechter sei als seine sonstigen Witze, und ich bedauerte sehr, gerade vor seinem Eintreffen fortgegangen und so um das Vergnügen einer Begegnung gekommen zu sein. Darauf sagte er, der »Lokalanzeiger« sei das Organ Liebknechts und der Spartakisten geworden, die Unabhängigen müßten auch eine Zeitung haben, und jetzt gebe es nur das revolutionäre Recht. Dann solle er, verlangte ich, wenigstens an der Spitze der Morgennummer den überrumpelten Abonnenten erklären, die Unabhängigen hätten das Blatt gewaltsam beschlagnahmt und gegen den Willen des Verlages zu ihrem 203 Sprachrohr gemacht. Damit war er einverstanden, und so verging der Rest dieser Nacht.
Am Morgen gehe ich mit meiner Frau und den Kindern spazieren, die durchaus Revolution sehen wollen. Durch die Luft kommt, mit einigen Zwischenpausen, der schon gewohnte knallende Ton mysteriöser Gefechte, und die Autopatrouillen sind unablässig unterwegs. Eine mächtige rote Fahne auf dem Reichsmarineamt. Unter den Linden drängen sich viele tausend Menschen, in der Hoffnung auf ein Erlebnis und offenbar angelockt durch das Gewehrgeknatter, das aus der Gegend des Schlosses herüberschallt. Durch die »Linden« ist viel Geschichte gezogen, und zwischen anderen Erinnerungen taucht denen, die dabei waren, das Bild des großen Trauerzuges auf, der den Sarg des alten Wilhelm I. langsam, unter Trommelwirbeln zur Gruft geleitete, und an dessen Spitze, unübertrefflich im majestätischen Ernst seiner Weltabgewandtheit, der Enkel schritt. Auf dem Brandenburger Tor, das damals mit langem schwarzen Fahnentuch dekoriert war, wehen jetzt die roten Fahnen im Novemberwind.
In meiner Wohnung suchen mich am Nachmittag sechs Herren auf, drei, die ich kenne, und drei, denen ich bisher nicht begegnet bin. Rechtsanwälte, Industrielle, ein Professor, ein Privatdozent. Sie wünschen, daß ich die Gründung einer großen demokratischen Bürgerpartei in die Hand nehme, und sind der Meinung, daß ich, wegen meiner Haltung während des Krieges, dazu am ehesten imstande sei. Ob das Befähigungsattest, das sie mir ausstellen, berechtigt ist, will ich nicht untersuchen, aber ich habe seit gestern schon den gleichen Plan erwogen, und da die Deputation aus angesehenen Persönlichkeiten besteht und außerdem in diesem Augenblick Unentschlossenheit das dümmste Übel wäre, sage ich zu. Das Bürgertum ist verwirrt und eingeschüchtert, ratlos und haltlos, die meisten flattern wie Vögel, die aus dem Nest gefallen sind, und wissen nicht, wohin. Man muß sie wieder in ein Nest setzen und muß denen, die immer nur fragen: »Was soll nun werden?« den Mut geben, der ihnen nur in größerer Gemeinschaft 204 und nur dann leidlich wächst, wenn sie sich anlehnen können. Bisher ist für einen freiheitlichen neuen Staat auf die Sozialdemokratie und das Zentrum zu rechnen, und das ist zwar der Zahl nach sehr viel, aber doch nicht genug. Sozialdemokratie und Katholizismus sind unbestreitbar zwei ungeheuer wichtige, und gegenwärtig die wichtigsten Kräfte, – sie haben nicht nur die großen Scharen hinter sich, sondern sind auch, als einzige, heute noch in sich geschlossen und fest gefügt. Aber Deutschland ist Deutschland, und wer die Wirklichkeit sieht, und über den Tag hinaus, kann nicht meinen, diese beiden starken Pfeiler genügten, um einer Republik – denn jetzt ist die Republik das einzig Mögliche geworden – auf die Dauer den nötigen Halt zu verleihen. Ob sie sonst ein langes Leben haben wird, ist heute nicht zu entscheiden, aber wenn sie nur den sozialdemokratischen und den katholischen Taufzeugen hat, ist sie vom ersten Augenblick an mit einer Unsumme von Abneigungen und Feindschaften belastet und für fast alle, die vielleicht aus anderen Lagern zu gewinnen wären, diskreditiert. Deshalb muß man jetzt diejenigen Schichten des nichtkatholischen Bürgertums, die den demokratischen Ideen einigermaßen geneigt sind, für die hoffentlich nicht ausbleibenden Wahlen zur Nationalversammlung organisieren, auch wenn man weiß, daß nicht alles Erz ist, was man da zusammenschweißt. Natürlich werden ja sehr viele sich an dieses Rettungsseil nur anklammern, um der Lebensgefahr zu entrinnen, die sie angeblich bedroht. Ich erkläre also den sechs Herren, ich sei bereit, wolle zunächst eine Anzahl gut ausgesuchter, nicht kompromittierter Personen zu einer Besprechung einladen, einen Aufruf verfassen, sofort beginnen. Hinterher bitte ich telephonisch den Professor Alfred Weber um seine Mitwirkung und vernehme mit Vergnügen den Ausbruch von Enthusiasmus, mit dem er den Plan begrüßt.
11. November. Am Nachmittag gehe ich mit Otto Nuschke, dem Chefredakteur der »Volkszeitung«, zum Reichskanzlerpalais, wo wir mit Scheidemann und anderen »Volksbeauftragten« – diesen Titel haben die Mitglieder 205 der improvisierten sozialistischen Regierung vorläufig für den richtigsten gehalten – über den Coup Adolf Hoffmanns und der Unabhängigen sprechen wollen. Wir werden im unteren Stockwerk von denselben alten, wohlerzogenen, geräuschlos waltenden Dienern, die in der wilhelminischen Epoche hier die Türen öffneten und schlossen, in den Salon geführt, der das Vorzimmer Bethmanns war. Zuerst erscheint, mit den äußeren Merkmalen erfreulichen Wohlbefindens, Herr Kurt Baake, bisher Redakteur am »Vorwärts«, jetzt Chef der Reichskanzlei. Dann tritt hastig und nervös Scheidemann herein. Während wir den Vorfall berichten, gibt er bisweilen durch ein Kopfschütteln seine Mißbilligung zu verstehen. Bevor Scheidemann diese Gesten durch Worte ergänzt, sagt Kurt Baake sanft und gleichsam von Weisheit triefend, er könne nur raten, der Gewalt zu weichen und die Dinge zu nehmen, wie sie nun einmal seien. Ein wenig überrascht frage ich Scheidemann: »Denken Sie ebenso?« Er hebt verlegen die Arme und antwortet: »Ja, die Unabhängigen haben nun einmal die Macht, ich habe keine Soldaten, was soll ich tun?« Ich bemerke ihm, daß doch gestern in der Versammlung der Arbeiter- und Soldatenräte im Zirkus Busch die Soldaten mit den Mehrheitsozialisten gestimmt hätten, aber das Argument versagt, und er wiederholt nur: »Ich habe keine Soldaten« und richtet den Blick in irgendeine Weite, in der er offenbar die fehlenden Soldaten sucht. Nun kommt noch Landsberg, der ein sehr gescheiter Rechtsanwalt war und neben Ebert und Scheidemann als dritter Mehrheitssozialist – die anderen drei sind die vom radikalen Flügel Hugo Haases – der provisorischen Regierung angehört. »Ja«, sagt er, als wir auch ihm die Sache vorgetragen haben, »wir sind in einer unhaltbaren Situation. Haase ist viel mächtiger als wir – wenn das so weiter geht, bleibt uns nur übrig, uns zurückzuziehen.« In diesem Augenblick meldet ein grauhaariger Diener mit derselben Stimme, mit der er früher die Botschafter hier anmeldete: »Der Oberste Soldatenrat.« Es entsteht eine peinliche Bewegung, die Angemeldeten sind offenbar nicht sehr willkommen, Landsberg flüstert: 206 »Auch das noch!«, und Scheidemann sagt mit einem wütenden Achselzucken: »Sind die schon wieder da!« Wir empfehlen uns still. Die Szene macht beinahe den Eindruck, als stände der Scharfrichter mit seinen Gehilfen vor der Tür.
Draußen im Vestibül wartet schon ungeduldig der Oberste Soldatenrat. Es sind, ich kann mich verzählt haben, vier oder fünf Männer, alle in untadeliger, sauber gebürsteter Offiziersuniform, mit einer ganz breiten roten Armbinde, alle sehr groß und schlank und alle bemüht, finster und verschlossen zu erscheinen, in der Pose eines strafenden Saint-Just. Ich erkenne den Literaten Colin-Ross, den ehemaligen Abgeordneten Cohen-Reuß und Brutus Molkenbuhr. Eigentlich waren das immer ganz umgängliche, nette Menschen, jetzt sind sie Statuen, sie wollen meine Anwesenheit nicht beachten, und nur Cohen-Reuß gibt mir flüchtig und sehr reserviert die Hand. Brutus Molkenbuhr ist etwas kleiner als die anderen, aber er hat von einem verdienstvollen sozialdemokratischen Vater den Namen und besitzt dazu noch den Vornamen »Brutus« – eine ungeheure Chance in einer revolutionären Zeit. Man ruft: »Hauptmann von Beerfelde!« und aus einem anderen Wartesalon kommt Beerfelde, hoch und starr aufgerichtet, majestätisch, prachtvoll, überernst, mit dem ungewöhnlich interessanten Kopf, mit den dickbuschigen Augenbrauen, aus denen einzelne Haare wie Nadeln spitz herausstechen, und mit dem Schritt des jungen Napoleon. Ich war mit diesem Generalstabsoffizier, der zuerst mit einer Mission aus dem theosophischen Salon der Frau von Moltke zu mir kam, auf seinen seltsamen Wegen manchmal zusammengetroffen, und wenn gewisse Handlungen, durch die er, wie in der Affäre der Lichnowsky'schen Denkschrift, Gutes zu bewirken wähnte, mir nicht zusagen konnten und ich ihm sogar entgegentreten mußte, so habe ich, wie wohl alle, immer für ihn die Empfindungen gehabt, die ein in diese Zeit verirrter schöner Schwärmer in uns hervorrufen kann. Kein Schwärmer und Phantast konnte selbstloser, aufrichtiger und reiner sein als er, und keiner war so zeitfremd 207 wie dieser Gralsritter und kindliche Abenteurer des Glaubens, in dem sich die Mystik mit dem sozialen Idealismus vereinte, und der immer außerhalb aller Parteien und auch jetzt ebenso abseits von jeder der verschiedenen revolutionären Richtungen stand. Aber an diesem Nachmittag geht er, den anderen Mitgliedern des Obersten Soldatenrates voraus, zu der provisorischen Regierung, unter den borstigen Augenbrauen streng und befehlshaberisch geradeaus blickend, um im Namen des Volkes Rechenschaft zu verlangen. Ich sehe gerade noch, wie sich vor ihm die Tür öffnet, und wie er an der Spitze der Gruppe mit festem Herrscherschritt in das Zimmer tritt, und verlasse dieses Haus, in dem ich viel Interessantes erlebt habe, und in dem doch von all meinen Erlebnissen keines überraschender war.
Während der nächsten Tage hatte ich wegen der Parteigründung viele Besprechungen und Konferenzen und viele lästige Scherereien. Ich mußte mit Leuten verhandeln, die mir nicht allesamt sympathisch waren, und dazwischen, und in den Momenten zwischen meiner sonstigen Tätigkeit, schrieb ich den Aufruf an eine demokratisch gesinnte Wählerschaft. Am 14. November kam zu einer Konferenz in meiner Redaktion mit mehreren seiner Freunde auch Doktor Hjalmar Schacht, damals Direktor der Nationalbank und Chef einer Gruppe, die sich »Jungliberale« nannte und, eine meist schon ältere Jugendgarde der gichtigen Nationalliberalen, den Eindruck erwecken sollte, als wachse an diesem alten, verdorrten Stamm noch ein frischer Zweig. Schacht und seine Freunde wünschten sich uns anzuschließen und dann wohl auch ihre alte Parteifamilie mitzubringen. Sie wollten sich freilich nicht, wie es in dem Aufruf hieß, »zur Republik bekennen«, sondern nur »die Republik anerkennen«. Aber nach einer ziemlich hitzigen Debatte entschlossen sie sich auch zum Bekenntnis und gaben ihre Unterschrift her. Es zeigte sich sehr schnell, daß wir nicht einen Mangel an Zulauf zu befürchten hätten, und daß ganz im Gegenteil die Gefahr in der allzu großen Anziehungskraft der neuen Parteibildung lag. Der preußische 208 Handelsminister Fischbeck sagte mir sogar, daß die Großindustriellen Stinnes, von Borsig und noch einige ihrer Gattung »umgelernt« hätten und gern aufgenommen werden würden, und es kostete bisweilen Mühe, sich einer so überraschenden Liebe zu entziehen. Als am 16. November der Aufruf erschien, – es hieß jetzt ziemlich unschön darin: »Wir stellen uns auf den Boden der republikanischen Staatsform« – wurde er äußerst beifällig begrüßt, aber nicht ganz mit Unrecht konnte bemerkt werden, es gäbe in der Liste der Unterzeichner etwas zu viel Großkapital. Ich kam mir in dieser ganzen Zeit vor wie der Vater Noah, in dessen Arche sich alles hineindrängen will, und der immer sagen muß: »Bedaure, wir haben für Sie leider keinen Platz.«
Man hat mir in einer späteren Zeit oft vorgeworfen, daß ich damals auch Stresemann nicht in der demokratischen Arche mitfahren ließ. Als Stresemann wirklich »umgelernt« hatte und der vom Nationalismus verfolgte Reichskanzler geworden war, erklärten die klugen Leute, es sei ein furchtbarer Fehler gewesen, ihn zurückzustoßen, statt ihn freudig willkommen zu heißen und für die Partei als Führer zu gewinnen. Aber im November 1918 konnte man in keinem Zauberspiegel den Stresemann von 1925 sehen, sondern man sah nur den Stresemann, der während des Krieges ein Annexionist und ein Anhänger von Tirpitz gewesen war und versichert hatte, Amerika brauche man garnicht zu scheuen, denn die Amerikaner hätten keine Schiffe und könnten nicht über den Ozean kommen. Und wenn mir der Zauberspiegel den Stresemann der Zukunft gezeigt hätte, so hätte das auch nichts genutzt, und ich hätte nicht anders gehandelt, denn die Mehrzahl der Wähler, auf die man rechnete, hätte doch nur das Gegenwartsbild gelten lassen und einer Partei, auf deren Liste ein mit solchen Irrtümern belasteter Kandidat stand, ihre Stimme nicht geben wollen. Es war indessen eine peinliche Szene, als wir ihn abweisen mußten, und in der Periode, in der ich ihm dann politisch und menschlich nahe kam und ihn bis zuletzt schwer am Gift der Krankheit und an dem häßlicher Feindschaften leiden sah, war es mir eine nicht angenehme Erinnerung. 209 Am 18. November war er mit mehreren seiner nationalliberalen Parteigenossen, mit den Abgeordneten Friedberg, Lucas und Weber, unangemeldet zu einer Sitzung erschienen, die wir im Hause des Reichstagspräsidenten abhielten, und ebenso uneingeladen und unerwünscht hatten sich einige »Freisinnige« eingefunden, deren Namen gleichfalls nicht anziehend klangen. Professor Max Weber, der auf meinen Wunsch den Vorsitz im Gründungsausschuß übernommen hatte, erhob sich sofort und sagte, er sei beauftragt, jedes Zusammengehen mit den Mitgliedern der alten Parteien abzulehnen, die nicht unbedingt das neue Programm annähmen oder die durch ihre frühere Politik belastet seien. Wir hätten einen Riesenzustrom, und fast jeder, der zu uns komme, ermahne uns: Kein Kompromiß mit diesen diskreditierten Parteien! Alfred Weber, der ein heftiges Temperament hatte, trug das alles sehr bissig vor. Ein halbes Dutzend Mal warf er den Eindringlingen die Bemerkung ins Gesicht, sie seien kompromittiert. Es gab eine hitzige Auseinandersetzung, die Gemüter wurden sehr gereizt. Während des ganzen Wortstreites saß Stresemann schweigend da. Ich beendete den unerfreulichen Zank durch den Vorschlag, die Sitzung zu unterbrechen, und erwartete, Stresemann und seine Freunde würden es selbst für das Klügste halten, in der Pause fortzugehen. Diese Erwartung erfüllte sich, die Stühle, auf denen sie gesessen hatten, blieben beim Wiederbeginn der Sitzung leer.
Die provisorische Regierung bemühte sich redlich, die Ordnung zu sichern, die Bevölkerung zu beruhigen, den Hungrigen Nahrung zu verschaffen, und die Häuserwände wurden mit zahllosen ermahnenden, beschwörenden und verheißungsvollen Proklamationen beklebt. Im Generalkommando des Gardekorps und in anderen Amtsgebäuden traf ich junge Männer, Militärs und Zivilisten, die sich dort verantwortungsfreudig auf die verlassenen Bürostühle gesetzt hatten und mit optimistischem Arbeitseifer und ohne Erfahrung versuchten, eine fortwährend hilfeheischende, klagende und anklagende Menge zufriedenzustellen. Aber auch die Spartakisten waren sehr rührig, arbeiteten unter 210 russischen Lehrmeistern, durften auf den Haß der Unabhängigen gegen die Mehrheitssozialisten und auf den Beistand des sogenannten Polizeipräsidenten Eichhorn – eines wildgewordenen Kleinbürgers, Typ des jakobinischen Budikers – zählen und hatten es leicht, weil von ihnen das Volk einstweilen nur Worte verlangte, und von ihren Gegnern Brot. Die aus dem Felde mitgebrachten, in den Wohnungen verwahrten oder für ein paar Pfennige an jeden Liebhaber verkauften Gewehre waren immer hörbar und warteten in ihren Verstecken auf ein Signal zu größerer Betätigung. Viele Gebäude und auch diejenigen Zeitungshäuser, die mit einem Überfall beehrt werden konnten, erhielten Schutzwachen, und Noske, der als Kriegsminister und Oberbefehlshaber die Verteidigung organisierte, bot mir für das Tageblatthaus hundert seiner »absolut treuen und zuverlässigen« Matrosen an. Ich sagte, hundert seien zu viel, zwölf genügten mir, und die zwölf, nette und frische Burschen, wurden einquartiert und verpflegt.
Kurt Eisner, Ministerpräsident der bayrischen Republik, kam am 22. November nach Berlin, zur Konferenz aller republikanischen Regierungshäupter, und telephonierte mir am nächsten Morgen, daß er erfreut wäre, mich zu sehen. Ich kannte ihn nur wenig, war ihm seit zwanzig Jahren nicht mehr begegnet und ging nun, ein wenig neugierig, am Nachmittag zum Palais der bayrischen Gesandtschaft, in dem er abgestiegen war. Auf der Treppe kam mir ein junger Student entgegen, mit herabgerutschter Krawatte und nicht gerade elegant, was ja aber nicht dagegen sprach, daß er intelligenter sein konnte als mancher geschniegelte Attaché der Vergangenheit. Er sagte, Eisner erwarte mich schon, und führte mich ohne weitere Zeremonie nach oben in einen kleinen Salon. In diesem Raum stand Eisner, mit einem echten Revolutionsbart und langen grauen Haaren, in schwarzem Rock und zu kurzen grauen Hosen, und diktierte einem jungen Mann, der mit glühendem Eifer hinter einer Schreibmaschine saß. Drei andere junge Leute, wahrscheinlich Studenten aus München, bildeten eine Gruppe um den Meister, der mich mit einer Handbewegung grüßte 211 und, ohne sich durch den Besuch stören zu lassen, das Diktat etwa in folgender Weise fortsetzte: »Der bayrische Ministerpräsident legt Verwahrung ein gegen das Verhalten des ehemaligen Feldmarschalls von Hindenburg.« Er sprach mit klangvoller Stimme, ein wenig theatralisch und offenbar sehr zufrieden, noch einen Zuhörer mehr zu haben, und schloß den Protest gegen irgend eine Aktion Hindenburgs mit einer fulminanten Wendung ab. Dann setzten wir uns an einen Tisch, auf dem Tassen mit den Resten des Nachmittagskaffees standen und einige Zigarrenstummel zum Lokalkolorit beitrugen, und er erzählte mir von seiner Münchner Revolution. »Unsere Revolution war wirklich schön. Blut ist nicht geflossen, und es war ein prachtvolles Schauspiel, wir sind alle auf die Straße gegangen und haben die Kasernen gestürmt.« Nachdem er mit der Freude des literarischen Ästheten dieses historische Gemälde noch vervollständigt hatte, tadelte er scharf die Berliner Regierung, die kein Vertrauen verdiene und keine Sympathien im Ausland habe, besonders nicht bei Clémenceau. Ich betrachtete die Dinge von einem anderen Standpunkt aus, und da wir uns nicht verständigen konnten, sagte er schließlich wieder: »Unsere Revolution in München hätten Sie sehen sollen!«
Im Dezember verschärfte sich die Situation. Am Abend des 23. telephonierte mir der Professor Eberstadt, Matrosen hätten einen Sturm auf die Universität unternommen. Sie hatten noch mehr getan. Nach einem Streit über Löhnungsfragen hatten sie aus dem Kommandanturgebäude Unter den Linden den Kommandanten herausgeschleppt und ihn und seinen Adjutanten im Marstall eingesperrt. Dort und im Schloß haben sie sich verbarrikadiert. Dann sind sie in die Reichskanzlei eingedrungen, haben Ebert und Landsberg eine Stunde lang gefangen gehalten, sind aber schließlich abgezogen, als eine regierungstreue Truppe auf dem Schauplatz erschien. An den folgenden Tagen Belagerung des Schlosses durch die Regierungstruppen und gewaltiges Bombardement. Als in der Neujahrsnacht meine Frau und ich mit Max Reinhardt und anderen Freunden in dem 212 Kellerrestaurant unter dem Deutschen Theater »Sylvester« feierten, fuhren die harten Töne der nahen Schießerei mitten in die melodiösen italienischen Lieder hinein, die uns Moissi zur Guitarre sang. Am Sonntag, dem 5. Januar, brach die spartakistische Revolte erst richtig los. Das, was ich sah und miterlebte, ist in meinem Tagebuch notiert:
Sonntag, 5. Januar. Am Nachmittag gegen fünf ruft mich aus dem Hause des »Berliner Tageblatts« der Redaktionssekretär telephonisch an. Er teilt mit, etwa tausend bewaffnete Spartakisten seien vor das Gebäude gezogen und offenbar entschlossen, einzudringen. Ich frage: »Sind Sie allein?« Er ist allein, aber erfreulicherweise keine ängstliche Natur. »Und unsere zwölf treuen Matrosen, was machen die?« – »Die treuen Matrosen sind sofort zu den Belagerern übergegangen.« Ich ersuche ihn, das Haus durch eine Hintertür zu verlassen – ich würde so schnell wie möglich hinkommen, um mir die Dinge aus der Nähe anzusehen. Dann mache ich mich auf den Weg.
Es wird viel geschossen, man weiß nur nicht, wo. Als ich bei der Kreuzung der Leipzigerstraße und der Charlottenstraße angelangt bin, herrscht dort völlige Dunkelheit. Es ist sechs Uhr, im Januar kommt die Nacht frühzeitig, und die Laternen sind wieder nur lange dünne Stangen ohne Licht. Aber dann, in der Schützenstraße, in die ich von der Charlottenstraße aus hineinblicke, flackern vor der Front des Tageblatthauses, qualmig rot und hin und herbewegt vom Wind, an drei oder vier Stellen die Flammen eines Autodafés. Bei der Kreuzung der Markgrafenstraße ist die Schützenstraße, an der die eine Front des Hauses liegt, ebenso wie die ganze Umgegend durch Reihen von spartakistischen Mannschaften gesperrt. Ich sehe, daß es mir nicht möglich sein würde, durchzukommen, und kann nur vermuten, daß in den niedrigen und nicht sehr leidenschaftlichen Flammen die Flugblätter mit meinem Aufruf für die Wahlen zur Nationalversammlung verbrennen. Das schon im Dezember umkämpfte Hauptquartier der Matrosen, zu denen unsere zwölf gut ausgesuchten Beschützer 213 gehörten, befindet sich jetzt im Marstallgebäude gegenüber dem Schloß. Ich denke es mir interessant, mit den Kameraden unseres Dutzends zu sprechen, und gehe dorthin, durch leere, ausgestorbene Straßen, in denen nichts von Aufstand und Bürgerkrieg zu merken ist.
Am Tor des Marstallgebäudes erkläre ich einigen Matrosen, die dort in einer vermutlich politischen Unterhaltung begriffen sind, ich suchte den Obermatrosen Trost. Ich weiß nur aus den Zeitungen, daß der Anführer der Matrosengarde so heißt. Man antwortet, Trost sei abwesend, aber der Obermatrose Müller sei oben in seinem Zimmer, und einer führt mich hinauf. Der Obermatrose Müller, der unbeschäftigt an seinem Schreibtisch sitzt, ist ein schöner Mann, hat einen kurzen blonden Kinnbart, trägt im Gurt vor dem Bauch zwei Pistolen und hört sehr artig meine Beschwerden und Wünsche an. Er stimmt mir zu, als ich sage, die Treulosigkeit unserer Schutzabteilung verstoße doch gewiß gegen die Ehrbegriffe des Matrosenkorps. Und als ich ihn ersuche, mir zwölf andere Kameraden mitzugeben, in deren Begleitung ich dann in das besetzte Haus zu gelangen hoffe, will er diesen Wunsch sofort erfüllen und geht, um die nötigen Anordnungen zu treffen, mit mir hinunter in den Hof. In diesem großen quadratischen Hof herrscht sehr lebhafte Bewegung, und unverkennbar liegt hier, wie man zu sagen pflegt, etwas in der Luft. Matrosen stehen scharenweise debattierend herum, an einer der Wände sind Maschinengewehre aneinander gereiht, und in einem Auto, das hereinfährt, kehren andere Matrosen anscheinend von einer Erkundigungsfahrt zurück. Der Obermatrose Müller spricht leise mit den Leuten in einer der Gruppen, sie blicken zu mir hinüber, es sind famose, bildhübsche gebräunte Kerle darunter, aber aus ihren Gesten und ihren kühlen Mienen ist leicht zu erkennen, daß die Aufgabe, mich zu begleiten, ihnen nicht behagt. Sie sind schon alle bei Spartakus. Müller winkt mir, ich gehe zu der Gruppe, die meisten schweigen stirnrunzelnd, einer sagt: »Das fällt uns nicht ein, was kümmern uns diese Bourgeois?« Die Gruppe vergrößert sich, man kommt neugierig und will 214 hören, was es da gibt, und ich sage freundliche Worte und versuche die Halsstarrigen davon zu überzeugen, daß ich kein »Bourgeois«, sondern eigentlich doch auch ein Arbeiter sei. Alles umsonst. Sie lassen sich nicht erwärmen, einer fragt mich, ob ich »eine Eichhornzigarette« haben wolle, und hält mir eine Schachtel hin, die der Beherrscher des Polizeipräsidiums wahrscheinlich mit vielen ähnlichen Schachteln irgendwo, als Geschenk für seine Getreuen, aufgestöbert hat. »Dann gehe ich mit Ihnen«, sagt der Obermatrose, der zeigen will, für ihn sei ein gegebenes Wort eine Sache, mit der man nicht Schindluder treibt. Nun entschließt sich einer der Burschen, mitzukommen, und unterwegs, am Hausvogteiplatz, gesellt sich noch einer zu uns, dem wir dort zufällig begegnet sind. In der Schützenstraße sind die Feuer erloschen, es riecht nur noch nach all dem verbrannten Papier. Die Postenkette öffnet sich vor dem Obermatrosen Müller und seinen Kameraden, die schon als Freunde betrachtet werden, und mich läßt man auch passieren, da ich so gut protegiert und darum unverdächtig bin.
Im Hof, an dem die Maschinensäle, die Lagerräume und das Kesselhaus liegen, taucht aus der Finsternis eine Fülle von bewaffneten Gestalten auf. Sie stehen dort oder sitzen auf den großen Papierrollen, lassen die Beine herabbaumeln und haben die Gewehre quer über die Knie gelegt. Uniformen und armselige Zivilkleider, aber weil das alles vom Dunkel umhüllt ist, gewinnt es den Reiz nächtlichen Lagerlebens, einer Szene, wie man sie oft auf der Bühne gesehen hat. Arrangiert von einem mittleren Opernregisseur. Über die schmale Treppe, die von diesem Hof zu den oberen Stockwerken des Hauptgebäudes hinaufführt, komme ich in den langen Setzersaal, der jetzt ohne Beleuchtung ist, öde und kalt. Von dort in die Redaktion. Im Korridor streicht einer an mir vorbei, den ich frage: »Wo sind die Anführer – es muß doch jemand da sein, der kommandiert?« Er deutet auf eines der Zimmer, – sonst ist es das Zimmer eines der Redakteure vom innenpolitischen Ressort – und als ich die Tür öffne, finde ich in dem kleinen Raum 215 drei Männer, die eifrig rauchen und ein wenig erstaunt, aber ohne sich zu rühren, den unerwarteten Besucher eintreten sehen. Der Obermatrose Müller grüßt sie, stellt mich höflich vor und verschwindet dann, da er seine Mission für beendet hält. Er hat den Anstand und die Manieren eines am englischen Hof aufgewachsenen Gentleman.
Um eine angenehme Stimmung zu schaffen, beginne ich mit einem heiteren Bedauern darüber, daß wir auf den Einzug der Gäste nicht vorbereitet gewesen seien. Aber Aschenbecher – die Herren seien offenbar leidenschaftliche Raucher – seien in genügender Anzahl da. Die drei sind in ihrer äußeren Erscheinung sehr ungleich und kommen aus verschiedenen Berufen her. Einer, der neben dem Tisch steht, ist in Unteroffiziersuniform, dunkelhaarig, kantig, hat einen unfreundlichen, schroffen Ausdruck, und anscheinend herrscht zwischen ihm und den beiden anderen, die an dem Doppelschreibtisch sitzen, nicht die rechte kameradschaftliche Harmonie. Es ist mir nicht unlieb, daß er sehr bald hinausgerufen wird. Von den beiden, die zurück bleiben, ist der ältere wahrscheinlich ein Arbeiter, aber aus einer höheren, gebildeten Arbeiterschicht, Vertrauensmann in einer Gewerkschaft, übrigens auch besser gekleidet als die meisten seiner Genossen, und wortkarg, aber nicht aus Feindseligkeit. Um so gesprächiger ist der jüngere, und es ist sofort klar, daß er gewiß nicht eine handelnde Hauptperson, aber die einzige Instanz ist, die man hier, mit der Aussicht, eine Antwort zu erhalten, befragen kann. Er kann in seinem Hauptberuf, in unheroischen Zeiten, Geschäftsreisender oder Verkäufer in einem Kaufhaus sein, und ich habe den Eindruck, daß er daneben in irgendeinem Theaterverein die Aufführungen inszeniert, den Prolog dichtet, selber die flotten Liebhaber spielt und nach der Vorstellung ausgezeichnete Festreden hält. Ein fixer Junge und doch nicht, wie es nach dieser Schilderung scheinen könnte, eine komische Figur. Das hellbraune weiche Haar ist nicht künstlich gekräuselt, sondern auf natürliche Weise gewellt, und aus der Tasche des Jacketts hängt kein blauseidenes Taschentuch. »Beabsichtigen Sie, längere Zeit bei uns zu 216 bleiben?« frage ich. Er entgegnet mit einem freundlichen Lächeln: »Sie sind doch gewiß über die Lage in Berlin unterrichtet und wissen, wie die Dinge stehen?« Nein, ich weiß absolut nichts über die Lage, denn auf meinen Spaziergängen zwischen diesem Hause und dem Marstall habe ich das nicht so genau feststellen können. »Wir haben alle wichtigen strategischen Punkte in Händen«, erklärt er mir, »alle Bahnhöfe sind besetzt worden, auch die meisten öffentlichen Gebäude, morgen früh wird Liebknecht die Regierung übernehmen, jeder Widerstand ist aussichtslos.« Er sagt es in einem bescheidenen, aber deutlichen Ton des Triumphes – einer, der seiner Sache sicher ist und deshalb nicht in geschmackloser Weise dem Besiegten gegenüber zu protzen braucht. »Und dann werden Sie sich also für alle Ewigkeit – denn die Regierung Liebknecht wird natürlich dauerhaft sein – hier niederlassen und uns werfen Sie hinaus?« – »Nein«, sagt er begütigend und als hätte er darüber zu entscheiden, »wenn die Regierung Liebknecht gebildet ist, werden Sie Ihre Zeitung wieder erscheinen lassen können, selbstverständlich dann mit einer anderen Richtung, mit der Richtung Liebknecht, das ist klar.« – »Das werden Sie wohl kaum erleben, obgleich ich Ihnen ein langes Leben wünsche – wirklich, Sie stellen sich das nicht ganz richtig vor.« Er lacht mit einem überlegenen Wohlwollen und glaubt mir natürlich nicht. Die Unterhaltung geht noch eine Weile lang in angenehmster Weise weiter, und ich erfahre noch einiges über die angeblich schon vollständig gelungene Eroberung Berlins. Auch daß das Haus des »Vorwärts« ebenso wie das unserige besetzt worden ist. Unser Gebäude ist ein hervorragender »strategischer Punkt«, weil man von hier aus mit Maschinengewehren die Gegend bis zum Dönhoffplatz bestreichen kann. Es ist schön, ein strategischer Punkt zu sein, aber es ist mitunter nicht vorteilhaft.
Ich bitte um die Erlaubnis, die anderen Räume des Hauses ein wenig inspizieren zu dürfen, und die Genehmigung wird ohne Zögern und sehr entgegenkommend erteilt. Auch der stumme Gewerkschaftsbeamte gibt durch ein freundliches 217 Kopfnicken seine Zustimmung zu erkennen. »Sie haben,« frage ich, »doch nichts dagegen, daß ich einige Papiere mitnehme, die für Sie kein Interesse haben können?« Auch diese Frage, die ich nur stelle, um nicht hinterher am Ausgang Schwierigkeiten zu haben, wird ohne weiteres bejaht, und ich verabschiede mich, sehr erfreut über die tadellosen gesellschaftlichen Formen, in denen sich der Verkehr hier vollzieht. In den Räumen, die ich dann besichtige, ist alles in bester Ordnung, es gibt noch keine Spuren einer Einquartierung, die Mannschaften warten ja noch unten im Hof, und in den höheren Etagen, zu denen ich hinaufsteige, haben die Pulte der Buchhalter und die Blechkästen mit den Schreibmaschinen der Stenotypistinnen noch ihre bürokratische Korrektheit bewahrt. Schließlich gehe ich in meine eigenen Zimmer, öffne ein paar am Morgen eingetroffene Briefe, krame in den Schubkästen des Schreibtisches und in den Schränken, suche dasjenige heraus, was ich den fremden Eroberern nicht zurücklassen möchte, und packe das alles zu einem umfangreichen Paket zusammen. In einem Schrank liegt ein anderes Paket, das nichts Literarisches oder Politisches, sondern ein Kilo Zucker enthält. Zucker ist eine seltene Ware geworden, und diesen hier hat mir vor einiger Zeit ein Schleichhändler verkauft. Den Fund zurückzulassen, um so für die liebenswürdige Aufnahme zu danken, wäre ein Verzicht auf den berechtigten Egoismus und obenein eine Taktlosigkeit. Ich nehme unter jeden Arm eines der beiden Pakete und steige, mit einem unausgesprochenen »Auf Wiedersehen«, über die Treppe der Setzerei in den Hof hinab. Dort aber gibt es eine Komplikation. Nicht, wie an Zollschranken, wegen der Dinge, die ich mit mir schleppe, sondern weil die Leute dort unten meinen, ich hätte mit ihren Anführern über die Herausgabe des Gebäudes und über das Wiedererscheinen der Zeitung verhandelt und wir hätten Verrat geübt. Ich war zu lange in der Führerstube gewesen, der Eindruck auf das in der Nachtluft frierende Heer ist entschieden schlecht. Ein Haufe zornig erregter Menschen steht vor dem Treppenausgang und will mich anscheinend nicht hinauslassen, mit 218 einigen Gewehren wird, ohne die mindeste Absicht, von ihnen einen gefährlichen Gebrauch zu machen, wild herumgefuchtelt, und man schreit mir entgegen, daß die Zeitung nicht erscheinen werde, daß man das nicht dulde, daß die oben dort garnichts zu sagen hätten, und anderes dieser Art. Von einer höheren Treppenstufe aus versuche ich, die Mißtrauischen zu beruhigen, indem ich ihnen erkläre, nichts sei besprochen oder gar abgemacht worden, und auch der technischen Schwierigkeiten wegen könnte die Arbeit garnicht so schnell wieder beginnen. Ein Ordner tritt vor, sagt: »Seid doch vernünftig, laßt ihn durch!« und schiebt einen aus einer Gruppe herausgegriffenen Mann, dem ein Gewehr auf der Schulter hängt, zu mir hin. Dieser Mann geleitet mich aus der Festungszone hinaus. Die empörten Geister hinter uns haben sich wieder besänftigt, und vor uns liegt, als wir auf die weit herum abgesperrte Straße hinaustreten, lautlos und regungslos eine Nacht, die nichts Dramatisches in ihrem schwarzen Mantel zu bergen scheint. Mein Begleiter ist ein kleiner, dürftiger Mann in einem fadenscheinigen, überall zu kurzen Jackett, das er eng zugeknöpft hat, weil ihn friert. In seinem Bart scheinen die Motten genistet zu haben, die Backen sind seit langem nicht mehr rasiert worden, und dazwischen senkt sich eine spitze Nase trübselig erdenwärts. Er läßt den Kopf hinuntersinken, als ob der magere Hals zu schwächlich geworden sei, um die Last aufrecht zu tragen, aber wahrscheinlich nur aus übergroßer Müdigkeit. Er ist sehr müde, hat überdies an diesem ereignisreichen Tage vielleicht noch weniger als sonst gegessen, und seine Füße heben sich kaum vom Boden, als er mechanisch neben mir durch die Jerusalemerstraße zum Dönhoffplatz geht. Ein vom Regen und von den Schicksalsschlägen vieler Jahre aufgeriebener weicher Hut, den kaum noch ein Lumpensammler verwendbar finden könnte, klebt auf dem vermutlich bereits leicht ergrauenden Haar. Das Gewehr schlottert auf dem ausgemergelten Rücken, und den herausstehenden Knochen muß der Druck unangenehm fühlbar sein. Ich nehme an, daß der kleine Mann ein Handwerker ist, dessen Handwerk schon längst 219 keinen goldenen Boden mehr hat. Wenn er irgend einem Gedanken nachhängen sollte, so hat sein stilles Sinnen ganz bestimmt nichts mit Politik, Staatserneuerung oder wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu tun. Eher beschäftigen ihn das Problem, ob man in dem eroberten Hause genügend Essen verteilen wird, und die kummervolle Frage, warum gerade er, der so müde ist, mich durch die kalte Nacht begleiten soll. Aber dann sind wir am Dönhoffplatz, mein Beschützer gibt mir durch eine matte Handbewegung zu verstehen, daß ich frei sei und nun allein meinen Weg suchen müsse, und kehrt um, mit der traumhaften Hoffnung, vielleicht doch noch eine Tasse Kaffe zu erhalten und auf irgend einem Nachtlager sich ausstrecken zu können.
Der Spartakismus hatte nur leichte Einzelsiege errungen und beherrschte auch am nächsten Morgen noch nicht Berlin. In der Nacht wurden die Arbeitermassen alarmiert, die der Mehrheitssozialdemokratie treu geblieben waren, und in den Morgenstunden marschierten sie aus den Betrieben und von allen Himmelsrichtungen her in endlos langen Zügen zur Wilhelmstraße und verstopften mit ihren Leibern alle benachbarten Zugangsstraßen, die ganze Gegend rings um das Reichskanzlerpalais. Unsere Setzer, Maschinenarbeiter, das technische und das kaufmännische Personal, sehr unzufrieden mit der Vertreibung aus der Stätte ihrer Tätigkeit, versammelten sich am Dönhoffplatz, in einem nahen Restaurant verfertigten wir Tafeln mit der prächtigen Aufschrift: »Freiheit der Presse!« und an der Spitze unseres Bataillons zogen wir zum gemeinsamen Ziel. In der Wilhelmstraße quetschten sich Vertrauensleute der Gewerkschaften an den Reihen entlang und beriefen diejenigen, die am Kriege teilgenommen hatten, in die Voßstraße, wo sie Gewehre empfingen. Ich ging in das Kanzlerpalais, sah Scheidemann, trotz der Wintertemperatur schwitzend, in einer Fensteröffnung stehend und schon heiser, aber mit großen Gebärden zum Volke sprechend, und fand Ebert, ruhig oder doch ohne sichtbare Zeichen von Nervosität. Noske fuhr in der Stadt herum, warb Hilfstruppen an und 220 bewies schon damals den außerordentlichen Mangel an Menschenkenntnis und Voraussicht, mit dem er später den Kapp-Putsch ermöglichte und die Republik ihren Feinden in die Hände gab. Übrigens retteten an diesem Tage nicht die Weißgardisten die Republik. Das taten die Arbeiter, die durch ihren Aufmarsch den ratlosen und unentschlossenen Liebknecht verhinderten, in das Regierungsviertel einzudringen.
Um unseren hervorragenden »strategischen Punkt« aber wurde noch eine Woche lang gekämpft. Im Tageblatthaus wurden die Anführer, mit denen ich gesprochen hatte, sehr bald durch eine bedeutendere Persönlichkeit abgelöst. In die Fenster stellte man Maschinengewehre, und aus den Büchern der Bibliothek wurden umrahmende Schutzwälle gebaut. Regierungstreue Truppen beschossen von den Dächern der gegenüberliegenden Häuser und vom Turm der Jerusalemer Kirche die Festung, die Fassaden des Gebäudes waren mit Kugelspuren gespickt, und aus sicherer Entfernung beobachtete ein Publikum, das in den Kriegsjahren strategische Erfahrungen gesammelt hatte, den Verlauf der Schlacht. Führer von Kompagnien, die sich aus stellungslosen Soldaten der alten Armee gebildet hatten, erboten sich, fast immer gegen bare Zahlung, das Haus durch Sturmangriffe zu befreien. Am seriösesten war das »Regiment Reichstag«, dessen Hauptmann, ein Bankierssohn, auch als einziger unter diesen Landsknechtsführern die Sache nicht als Geschäft betrieb und nur eine Belohnung für seine Leute erbat. Ein anderer, ein grandioser Kerl in einer Offiziersuniform, rund um die Taille garniert mit Revolvern und Handgranaten, war, wie ich später erfuhr, nur ein ehemaliger Feldwebel, aber er war ein unübertrefflicher Renommist. Die strategischen Leistungen boten keinen Anlaß zu so rühmender Beredsamkeit. Dann marschierte die Brigade des Generals von Lüttwitz in Berlin ein, beschoß mit schweren Geschützen das Haus des »Vorwärts«, holte die spartakistische Besatzung heraus und füsilierte in einem nahen Hof die Gefangenen, alte Männer und Knaben, mit sinnloser Brutalität. Den Verteidigern unseres 221 Gebäudes wurde ein militärisches Ultimatum gestellt, mit der Frist bis Mitternacht. Ich verhandelte schon seit einigen Tagen durch weibliche Vermittelung mit der Garnison. Wenn sie die Festung freiwillig räume, wollte ich denen, die das bewirkten, beim Entwischen helfen, und die Erlaubnis dazu hatte ich mir besorgt. Wir bangten für unsere, von dem Bombardement bedrohten Maschinen, für die Verdienstquelle von ein paar tausend Menschen, es waren schlimme Stunden, wir wußten, daß die Rabiatesten unter den Eingeschlossenen nicht weichen wollten, aber kurz vor Mitternacht zogen alle über die Dächer oder auf anderen Wegen ab. Gleich darauf meldeten mir die Kommandanten der Freikompagnien kurz nacheinander, daß sie soeben das Haus erstürmt hätten, und der pompöse Offizier, der eigentlich nur ein Feldwebel war, wollte mich durchaus am nächsten Morgen aus meiner Wohnung abholen und mich in das Reich zurückführen, dessen Befreiung angeblich seinem Heldenmut und dem unbezähmbaren Elan seiner Leute zu verdanken war. Er erschien dann auch, ganz früh schon, mit einem halben Dutzend dieser eisernen Gesellen, in einem irgendwo entlehnten unwiderstehlichen Panzerauto, kriegsgewaltig von Kopf bis Fuß, und in der ganzen Straße wurden die »Befreier« angestaunt, gefeiert und belohnt. Ich mußte wohl oder übel mit ihnen durch die Stadt fahren, und keiner der Zuschauer ahnte, daß da nur ein Karnevalswagen vorüberfuhr. In den zurückgewonnenen Räumen sah es jetzt fürchterlich aus, viele Schränke waren aufgebrochen, Bücher lagen zerfetzt überall umher, und auf dem Fußboden lag auch noch anderes, die Schmutzerei war grenzenlos, und es herrschte ein gewaltiger Gestank. Wie sich aus dem beschriebenen Papier, das massenhaft auf den Tischen zurückgeblieben war, ersehen ließ, hatten wir auch russische Einquartierung gehabt. Aber vor allem waren da Entwürfe zu Liebesbriefen und Zeichnungen und Poesien verfaßt worden, und man hätte daraus eine ganze Sammlung von Erotika zusammenstellen können. Die von der Gefahr und der Abgeschlossenheit erzeugte Erregung hatte sich – eine nicht gerade neue Beobachtung – in 222 solchen zumeist nicht sehr zarten Phantasien ausgetobt.
Dieser deutschen Revolution waren zwei eigentümliche Wesenszüge aufgeprägt. Daß es in England, als Karl I. und Strafford zum Schafott geführt wurden, bei den Anhängern des Königs nur schweigendes Entsetzen gab, und daß in Frankreich sich nur die Schweizer für Ludwig XVI. und Marie Antoinette in Stücke hauen ließen, ist im Bilde der damaligen Zeiten einigermaßen zu verstehen. Aber die Monarchie der Hohenzollern war durch so viele scheinbar unzerstörbare Säulen gestützt, und sie beruhte doch nicht nur auf der großartigen Organisation, sondern auch auf jener berühmten Treue, die in Liedern, Reden und Schulbüchern niemals erlischt. Und nun stoben die berufenen Hüter dieser Monarchie, ihre stolzen Ritter und ihre Kostgänger auseinander und verschwanden tatenlos in eine sichere Verborgenheit. Dabei hatte diese Revolution – und das war ihre andere Besonderheit – einen so guten Charakter, eine Gutmütigkeit, wie sie in solcher Vollendung nur in einigen Figuren alter englischer Romane zu finden ist. Auf ihre Fahnen hätte sie den Wahlspruch schreiben können: »Liebet Eure Feinde mehr als Euch selbst!« Wenn es gewiß häßlich war, daß Offizieren, die ihre Rangzeichen nicht selber ablegen wollten, die Achselstücke abgerissen wurden, so kam doch dabei – mag sein, daß es nur wegen fehlender Widersetzlichkeit so vorüberging – keine Mißhandlung vor. Niemand wurde wegen seiner politischen Gesinnung verschleppt, eingekerkert, geschlagen oder gemordet, und wo Menschen an die Wand gestellt und füsiliert wurden, da wurden eben nur arme Proletarierjungen von weißgardistischen Kugeln niedergemäht. Eine anständige und naive Menschenklasse hatte ihren Einzug gehalten, ganz ohne grausame Instinkte, ohne den Wunsch nach Rache, mit jener angeborenen Achtung vor der Freiheit und dem Leben anderer, die den Zivilisierten vor dem Mißbrauch der eigenen Freiheit bewahrt. Niemand hatte sadistische Gelüste oder antwortete mit einem Achselzucken der Verachtung, wenn man von Menschenrechten und Menschenwürde sprach. 223 In dieser Revolution gab es den schwärmerischen Hauptmann mit den mächtigen Augenbrauen und der kindlichen Herzensreinheit und den schönen Matrosen mit der knabenhaften Freude am Erlebnis, das dann in einem Hof durch die Kugeln einer vortrefflich zielenden militärischen Abteilung sein Ende fand. Es gab gewiß noch manche andere eigentümliche oder abenteuerliche Gestalt. Aber diese Gestalten schritten nur nebenher, und selbst wenn sie in der Aktion führten und sich besonders hervortaten, läßt sich nicht sagen, daß das Ereignis von ihnen seine bemerkbarste Bildwirkung empfing. Im Gesamtbild treten sie hinter einer anderen Person zurück. Hinter der Person des kleinen müden und hungrigen Mannes, der in dem zu kurzen Jackett und mit dem Gewehr am drückenden Schulterriemen mich in jener Nacht begleitete – unscheinbarer und immer wieder zurückgeworfener, enttäuschter oder betrogener Mitläufer »in Reih und Glied«: Kanonenfutter der nationalen Kriegführung und der nationalen Wirtschaft, geduldiges Maultier bei allen Wanderungen, ewiger Schlemihl, »poire«, wie die Franzosen sagen, und Dupe der Weltgeschichte, dem man den kommenden Tag verspricht und den gegenwärtigen vorenthält. Frühere Revolutionen waren gestempelt mit den Namen Mirabeau, Danton, Cromwell, und der Umsturz, in dem fünfzehn Jahre später die Republik enden sollte, ist in seinem Wesen durch andere Namen gezeichnet und hätte ohne die Träger dieser Namen niemals existiert. Die Revolution vom November 1918 war die Revolution des anonymen Menschen, des Menschen ohne Namen, und sie war, will man ihr doch einen Namen beilegen, die Revolution des Schlemihl. 224