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Fünfundzwanzigstes Kapitel.
»Die alte, alte Geschichte«

Das Gerichtsverfahren gegen Mann war nahezu das aufregendste Ereignis in der Geschichte Romas und gab der Staatsanwaltschaft Veranlassung, auch noch gegen weitere acht Männer Anklage zu erheben. Jetzt, nachdem es ohne Gefahr geschehen konnte, sagten nicht nur Fitzgerald, sondern auch eine Menge andrer Leute alles, was sie wußten. Als die Bürgerschaft erfuhr, daß Mann auch hinter allen gegen Gertrud gerichteten Straftaten gesteckt hatte, verlangte sie aufs energischste seine Bestrafung. Obgleich alle Beweismittel verschwunden waren, wurde Marys Zeugenaussage dennoch zugelassen, und Gertrud und Fitzgerald traten als Hauptzeugen auf. Manns Günstlinge hatten angesichts dieser Sachlage nicht den Mut, eine Lanze für ihn einzulegen und ihm in seiner Bedrängnis beizustehen. Die Verhandlung dauerte nicht lange; die Geschworenen zogen sich nur fünfzehn Minuten zurück und verkündeten dann den Wahrspruch: »Schuldig«.

Als der Richter dann nachher das Urteil verkündete, das auf zehn Jahre Zuchthaus und Rückerstattung sämtlicher von der Stadt und durch seine Stellung bei der Stadt gewonnenen Gelder bis auf den letzten Dollar lautete, da fiel der Schuldige in sich zusammen, und der sonst so erhaben auftretende Mann war nur noch ein ärmlicher Tropf, über den niemand ein gutes Wort zu sagen wußte. Die übrigen bestechlichen Männer wurden von einem bis zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt und mußten ebenfalls alles wieder ersetzen. Von diesem Tage an hörte man in Roma nichts mehr von Bestechlichkeit oder Bestechungsversuchen. Auch das Stadtbahnprojekt wurde niemals mehr erwähnt.

Einige Zeit später erfuhr man, daß Vickory sich in Japan aufhalte, da aber die Hauptschuldigen hinter Schloß und Riegel saßen, legte man keinen besondern Wert mehr darauf, seiner habhaft zu werden.

Gleich nach der Schwurgerichtsverhandlung berief der weibliche Stadtvorstand eine Stadtratssitzung ein. Es waren sechs neue Stellen zu besetzen, denn ebenso viele der bisherigen Kollegialmitglieder saßen im Gefängnis.

»Auf welche Weise wollen wir dies bewerkstelligen?« fragte Gertrud, nachdem sie die Sitzung eröffnet und die Tagesordnung bekannt gegeben hatte. »Das Ortsstatut sieht eine Wiederbesetzung durch den Bürgermeister vor, aber unsre Vorväter, die dies bestimmt haben, konnten sich eine solche Lücke nicht träumen lassen. Ich stelle es Ihnen, meine Herren, anheim: sollen wir selbst die geeignetsten und besten Männer wählen, – denn ich würde im Leben nicht daran denken, diese Wahl ohne Ihre Mitwirkung zu treffen – oder sollen wir eine öffentliche Wahl ausschreiben?«

Nach vielem Hin und Her, wobei zum ersten Male jeder seine wahre Meinung unbeeinflußt aussprach, kam man auf einen Antrag von Geoffrey Mason zu dem Beschluß, die Stellen mit Männern von weitem Gesichtskreis, großer Intelligenz und unzweifelhafter Furchtlosigkeit aus eigener Machtvollkommenheit zu besetzen und bei deren Auswahl dem Stadtoberhaupt zur Seite zu stehen.

Dieser Antrag wurde angenommen und ausgeführt, wodurch einige der besten, mit viel Gemeinsinn begabten Männer auf die freigewordenen Stellen kamen. Endlich hatte nun Gertrud bürgerliche Kollegien, die in vollem Einklang mit ihr arbeiteten und jeden guten Plan von ihr unterstützten.

Bei der ersten gemeinsamen Sitzung der ergänzten bürgerlichen Kollegien wurde beschlossen, daß auch der kleinste Vertrag für von der Stadt zu vergebende Arbeiten nur nach öffentlichen Lieferungsausschreiben abgeschlossen werden dürfe, und ebenso wurden andre Lebensinteressen der Stadt geschützt. Nachdem die Kollegien dann noch das Ortsstatut durchberaten und abgeändert hatten, wäre es für jeden ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, das Rathaus wieder in einen Tempel der Geldwechsler und Wucherer zu verwandeln.

»Du wirst jetzt wohl zugeben, John, daß es ein glücklicher Gedanke war, das Stadtregiment einmal in weibliche Hände zu legen,« neckte Bailey seinen Freund Allingham, als sie zusammen beim Frühstück saßen.

»Das tue ich auch,« antwortete Allingham, »und gestehe es offen zu. Aber Gertrud Van Deusen ist auch eine außergewöhnliche Frau.«

»Und eine der allerbedeutendsten,« sagte Bailey.

»Darf ich dir jetzt meine Glückwünsche aussprechen?« fragte Allingham nach einer kurzen Pause.

»Woher weißt du es?« fragte Bailey rasch. »Wer hat es dir gesagt?«

»Das habe ich selbst schon lange beobachtet,« erwiderte Allingham. »Niemand hat es mir gesagt. Ja, sie ist eine prächtige Frau – die herrlichste, die ich je kennen gelernt habe.«

»Mary, ja,« erwiderte Bailey, »beinahe so prächtig wie Gertrud selbst.«

»Was?« stieß der andre hervor. »Mary Snow?«

»Ja natürlich, mein Junge,' gab Bailey zurück. »Was ist dir denn? Natürlich ist es Mary Snow!«

»Nicht Gertrud – Fräulein Van Deusen?« fragte Allingham mit halberstickter Stimme.

»Na, hör mal, für einen, der so schlau ist, daß er es schon längst gemerkt hat,« erwiderte Bailey, »hast du recht weit am Ziel vorbeigeschossen! Ich bin mit Mary Snow verlobt, seit der Nacht, wo wir sie in der Mietwohnung gefunden haben, aber sie will es nicht öffentlich machen, solange sie noch auf dem Rathaus verpflichtet ist. Gertrud! Ja – sie ist wie lauteres Gold. Früher habe ich einmal geglaubt, sie zu lieben, aber sie war klüger als ich. Mary ist für mich die einzige Frau in der Welt.« Als er dann wieder einen Blick auf das Gesicht seines Freundes warf, rief er: »Na, du bist ja gut, John! Das hätte ich mir niemals träumen lassen!«

»Meinst du denn, Bailey, ich hätte meine Gefühle zur Schau stellen sollen? Ich gestehe dir, daß –« Allingham verstummte – er konnte darüber nicht reden, selbst nicht mit Armstrong in dieser Stunde gegenseitigen Vertrauens.

»Ein weiblicher Bürgermeister? In Roma? Ich fürchte, das wird nicht wohl gehen!« foppte ihn Bailey.

»O bitte, laß dies! Das war, ehe ich sie kannte,« bat Allingham.

»Der Platz einer Frau ist im Hause ihres Gatten,« fuhr Bailey mit einem listigen Blick fort.

»Und gerade da möchte ich sie hinführen!« gab Allingham schlagfertig zurück. »Das heißt, ich möchte ihr wenigstens die Möglichkeit dazu anbieten.«

»Mach zu, mein Junge,« sagte Bailey, indem er seines Freundes Hand drückte; »ich weiß nicht, was sie empfindet oder nicht – nur das weiß ich, daß sie nicht leicht zu gewinnen ist; aber versuche es – mach voran! Dem Mutigen gehört die Welt!«

Noch am nämlichen Nachmittag sollte sich die Gelegenheit bieten. Allingham ging mit dem Fräulein Bürgermeister nach Hause. Für gewöhnlich benützte sie immer ihren Wagen, aber der klare, frische Herbsttag machte ihr Lust, zu Fuß zu gehen; Allingham traf sie an der Pforte und bat um die Erlaubnis, sie heimbegleiten zu dürfen.

»Wenn Ihnen ein kräftiger Spaziergang von zwei englischen Meilen nicht zu weit ist,« erwiderte sie heiter. »Ich nehme es Ihnen aber auch nicht übel, wenn Sie mich unterwegs im Stich lassen – selbst in diesem Fall können Sie wenigstens den Weg mitbeginnen. Spazierengehen ist eben doch das beste Mittel, die Seele von Spinnweben freizuhalten und angegriffene Nerven zu kurieren.«

»Ich mache jeden Tag in der Frühe einen Spaziergang von fünf bis sechs Meilen,« antwortete Allingham, »ich meine, daß unser Herrgott für den Menschen das Gehen vorgesehen hat.«

»Ja,« ergänzte sie seine Bemerkung, »die Natur hat das Gehen, die Menschen aber haben Wagen, Straßenbahnen und Motore erfunden. Wie kommen denn Blatchley und Watts mit – ach, da habe ich mich entschlossen, zu Fuß nach Hause zu gehen, um die Geschäftssorgen ein bißchen abzuschütteln, und da schleppe ich sie mit mir fort! Wir wollen jetzt einmal gerade tun, als ob wir ein Mädchen und ein Knabe wären, die miteinander von der Schule heimgehen,« fügte sie launig hinzu.

»Oder Mann und Frau, die miteinander durchs Leben schreiten,« warf er behende ein.

Sie antwortete nichts. Für gewöhnlich pflegten die Wendepunkte in ihrem Leben sie nicht so unvorbereitet zu finden. Schweigend gingen sie ein Stückchen weiter. Dann sprach er wieder: »Ich liebe Sie. Ich bedarf Ihrer! Wollen Sie nicht an meiner Seite weiterschreiten durchs Leben?«

Sie hatten einen schattigen Weg erreicht, der über eine kleine Brücke führte, und auf dieser machten sie unwillkürlich halt. Während sie stehen blieb, tauchte plötzlich eine vergangene Erscheinung vor ihrem innern Auge auf, und ihr Herz, das unter seinen ersten Worten erbebt war, wurde wieder ruhig und kalt. Sie sah nicht mehr den leidenschaftlichen, in Liebe erglühenden Mann, der auf der Brücke vor ihr stand – sie sah nur noch den selbstgerechten jungen Vorsteher des Bürgervereins vor sich – den Mann, der ihrer Ansicht nach am allerwenigsten Verständnis für die vielseitige moderne Frau hatte.

»Nein, nein,« sagte sie, von ihm zurückweichend. »Sie wissen ja gar nicht, was Sie sagen – das ist ganz unmöglich.«

»Ich weiß, daß unser beider Leben niemals seine volle Erfüllung haben wird, solange eines neben dem andern herläuft und nicht mit ihm in eines verschmilzt,« erwiderte er ihr tief ergriffen, »und ich weiß auch, daß Sie meiner so sehr bedürfen, wie ich Ihrer – und wir sind für einander bestimmt, weil Gott uns für einander geschaffen hat!«

»Sie wissen wirklich nicht, was Sie reden,« wiederholte Gertrud, indem sie mit raschen Schritten den Heimweg weiter verfolgte. »Es mag ja sein, daß Sie sich im Augenblick von mir angezogen fühlen, vielleicht infolge der nahen Berührung, in die uns die gemeinsame Arbeit bringt, oder vielleicht auch, weil Sie gütig genug waren, sich während meines Verschwindens um mich zu sorgen –«

»Als ob ich das hätte ändern können! Herrgott im Himmel droben – diese Tage und Nächte voll Ungewißheit und Jammer!«

»Trotz alledem werden Sie mir dankbar sein, wenn Sie sich zu Hause die Sache überdenken,« fuhr sie fort. »Wir passen nicht zusammen, wir sind nicht für einander bestimmt. Ich bin, was Sie eine fortgeschrittene, Ihre weiblichen Verwandten aber eine unweibliche, frauenrechtlerische Person zu nennen pflegen. Ich bin in diesem Sinn erzogen worden und Sie in dem entgegengesetzten – beide können wir nicht aus unsrer Haut hinaus. Sie haben das Weib stets als ein untergeordnetes Wesen angesehen – o ja, das haben Sie! Selbst jetzt würden Sie, falls ich es Ihnen gestattete, noch sagen, ich sei eine Ausnahme –«

»Bei Gott,« unterbrach sie Allingham, »bei Gott, das sind Sie auch.«

»Aber wenn ich Sie heiraten würde,« fuhr sie fort und sprach dabei in Gedanken noch immer mit dem jungen Mann, der sie gerade heute vor einem Jahr in den Räumen des Bürgervereins empfangen hatte, »so würden Sie meine Lebensauffassung ständig mißbilligen, Sie würden mich mit den unsichtbaren Mauern zu umgeben suchen, die Ihrer Ansicht nach jedes weibliche Wesen umhegen sollen – dem könnte und wollte ich mich nicht fügen und dadurch würde ich Sie zum unglücklichsten aller Männer machen.«

»Aber Gertrud, so hören Sie mich doch an,« bat er, »das vergangene Jahr hat mir eine neue Offenbarung gebracht – Sie waren mir eine Offenbarung.«

»Ja, ich!« gab sie zurück. »Aber nicht das ewige Prinzip, das Mann und Weib miteinander arbeiten läßt – verschieden und doch einander gleich – nur ich –«

»Ich schwöre Ihnen,« rief er außer sich, »ich habe es erkannt, daß eine Frau durch und durch weiblich sein und in der Welt doch ebenso viel arbeiten und leisten kann wie der Mann, und daß ihr Platz in der Welt stets da ist, wo sie der Menschheit am nützlichsten sein kann.«

»Nein,« sagte Gertrud, denn aus seinen letzten Worten klang ihr wieder die Stimme des Mannes ins Ohr, der es vor einem Jahr verschmäht hatte, einen weiblichen Bürgermeister zu unterstützen. »Nein, wir sind keine Kinder mehr, die sich trotz allen Gegensätzen ineinander einleben können – wir sind ein Mann und ein Weib, deren Ansichten im allerschroffsten Widerspruch stehen – und ich sage: ›Nein‹!«

»Vielleicht ist es am besten, wenn ich mich Ihnen hier empfehle,« entgegnete Allingham kühl, als sie verstummte. Er zog seinen Hut und bog in eine Seitenstraße ein, während sie auf dem kürzesten Weg nach Hause eilte. Als sie sich glücklich in dem Schutz der vier Wände ihres Schlafzimmers befand, warf sich der willensstarke Stadtvorstand von Roma auf sein Bett und weinte bitterlich, denn im Grund ihres Herzens fühlte sie es mit schmerzlicher Qual, daß sie unrecht gehandelt hatte – unrecht gegen einen Mann, der sie liebte, und unrecht gegen ihr eigenes besseres Selbst.

Später schritt sie kühl und würdevoll zum Essen hinab und sah heiter der Welt ins Gesicht, die nicht ahnte, daß sich hinter ihrem lächelnden Antlitz tiefes Herzweh verbarg.


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